Geschichte im Zeitalter der Globalisierung [Reprint 2010 ed.] 9783110204766, 9783110178265

This is the first comprehensive German-language account of global developments from the preliminaries to the Second Worl

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German Pages 495 Year 2004

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Inhalt
Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert
I. Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege
II. Vom europäischen zum globalen Krieg
III. Große Allianz und Teilung der Welt
IV. Offene Tür und Kalter Krieg
V. Europa und Amerika in einer sich wandelnden Welt
VI. Auflösung der weltpolitischen Blöcke
VII. Regionale Konflikte und Kriege
VIII. Europa
IX. Ein Rückblick
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Geschichte im Zeitalter der Globalisierung [Reprint 2010 ed.]
 9783110204766, 9783110178265

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I Gerhard Schulz Geschichte im Zeitalter der Globalisierung

II

III

Gerhard Schulz

Geschichte im Zeitalter der Globalisierung

Walter de Gruyter · Berlin · New York

IV

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017826-5 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: + malsy, kommunikation und gestaltung, Bremen unter Verwendung eines Fotos von photonica/ Jun Yamashita Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt

V

Inhalt Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert I Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege

1 11

Zeit der Diktaturen. Europäische Wende 11 – Führerstaat und Polykratie in Deutschland 16 – Autarkie und Expansion 23 – Eine kontinentaleuropäische „Achse Berlin–Rom“ 28 – Hitler und die Wehrmacht 31 – Großdeutschland 35 – Appeasement 36 – Vor und nach München 39 – 1939 46

II Vom europäischen zum globalen Krieg

51

Militärische Siege und Niederlagen 51 – Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 61 – Leningrad und Stalingrad 66 – Kriegsziele: Schaffung der „Vereinten Nationen“ und bedingungslose Kapitulation Deutschlands 69 – Völkerverschiebung und Vernichtung 72 – Dem Ende zu 81 – Führerstaat und Führermythos 86 – Kapitulationen 90

III Große Allianz und Teilung der Welt

94

Kriegsziele als Probleme der Allianz 94 – Pläne für ein neues Mitteleuropa und eine Weltordnung 98 – Entstehung der Vereinten Nationen 123 – Nachkrieg 126 – Deutsche Länder und deutsche Parteien 131 – Korea 134

IV Offene Tür und Kalter Krieg

136

Der „Eiserne Vorhang“ 136 – Containment – Eindämmung 144 – Westdeutschland 156

V Europa und Amerika in einer sich wandelnden Welt

164

Westeuropa-Pläne 164 – Das Ende der Kolonialreiche 170 – Der Ostblock 187 – Rußland und China 200 – Die Vereinigten Staaten von Eisenhower bis Kennedy. Kuba 204

VI

Inhalt

VI Auflösung der weltpolitischen Blöcke

212

Nach Kennedy. Vietnam 212 – Blick auf Deutschland 220 – Shoah – Holocaust 230 – Brennpunkt im Nahen Osten 233 – Neue Ostpolitik 234 – Globale Krisen 241 – Von der „Ära Breschnew“ zur Perestroika 246 – Auflösung des Ostblocks und Wiedervereinigung Ostdeutschlands mit Westdeutschland 251

VII Regionale Konflikte und Kriege

257

In globaler Sicht: ein neues Zeitalter 257 – An der Peripherie neuer Imperien 268 – Staatenlose Völker – schwache Staaten 277 – Irak – Iran 286 – Der Mittlere Osten 292 – Balkanwirren 299 – Panafrikanismus und Regionalstaaten im Widerstreit 304 – Lateinamerika 323

VIII Europa

338

Ein neues Europa 338 – Fallende Grenzen 344 – Folgen und Ausblicke 354

IX Ein Rückblick

364

Anmerkungen

393

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

1

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert In der historischen Forschung zur neueren Zeit – und nicht nur in dieser – dominiert die Selektion von Fakten, Charakteren, Gegensätzen, geistigen Befindlichkeiten, Ideen, Beziehungen, Umständen, sozialen Bedingungen, Gruppierungen und so fort. Auch das Umgebende ist mitunter gefragt; doch in selektiven Verfahren stärken sich Geist und Kenntnis. Wenn es hoch kommt, schafft es selektive Gewißheiten; häufig stellen sich neue Themen. Das Netzwerk der Zusammenhänge bleibt im Hintergrund. Frühere Versuche großer unabhängiger Geister wie Ranke und Jacob Burckhardt sind verblaßt oder gar vergessen1, Unternehmungen von Paul Kennedy, auch Samuel P. Huntington und Eric Hobsbawm seltene Ausnahmen und im deutschen Sprachbereich ohne sonderlichen Einfluß. Das Wort „global“ ist für manche bestenfalls ein Hilfsprädikat in wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen. Doch Globalisierung ist längst unaufhaltsam geworden. Sie muß bedacht und begriffen werden. Wie jedes Lebewesen beginnt der Mensch sein Dasein in enger, in der engsten Umwelt. Doch er erfährt, daß jedes Sein mit anderem Sein verbunden ist und einem größeren Sein zugehört. Die Frage nach der Form und Formung der Gemeinschaft, die das niemals isolierte Individuum benötigt und in der es aufwächst – ob in der überlieferten Obhut religiöser Riten und Überzeugungen oder in freier Wahl steter Nachbarschaft in tagtäglichen Gewohnheiten –, die Frage ihrer inneren Ordnung, Struktur und äußeren Gestaltung stellt sich permanent. Poleis und Ethnien – Völker, Stämme, Klans – alter Zeit haben in einer langen Geschichte Nationalstaaten hervorgebracht, deren Ausformungen in Europa die Geschichte bis ins 20. Jahr-

2

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

hundert bestimmten.2 Die Scheide vor neuartigen Erscheinungen ist längst passiert worden. Doch ältere Formen und Stufen der Entwicklungen existieren noch fort und behaupten sich. Mit der Sprache beginnt die intelligente Entwicklung der Menschen. Ethnische Gruppierungen, Schichtungen und Verschiebungen innerhalb Europas, dem Schauplatz großer Wanderungsbewegungen, von Eroberungs- und Kriegszügen, haben sich im Laufe vieler Jahrhunderte aus- und umgeprägt, so daß auch tiefer lotende Forschung nur selten zu bündigen, gar nutzbaren Ergebnissen gelangen konnte. Ein deutliches, dem Beobachter auffallendes Merkmal von Sonderungen ergibt sich innerhalb der Regionen des Erdteils in der jeweiligen Sprache, die außerhalb – um nicht zu sagen unterhalb – der Schriftsprache in den Dialekten eigenartige Ausformungen und Übergänge in andere sprachliche Formen entwickelt hat. Man denke etwa an die mundartlichen Ausprägungen und Eigenarten des Nynorsk neben der norwegischen Schriftsprache, dem bokmål, oder an das Okzitanische in Südfrankreich, die langue d’oc, oder gar an das ganz andersartige Bretonische, das nach dem zweiten Weltkrieg in der Basse-Bretagne auch offiziell Anerkennung als zweite amtliche Sprache gefunden hat, in Nordostspanien an das Katalanische, im Nordwesten das Galicische – neben dem kastilianischen „Hochspanisch“. Das Baskische ist wiederum eine anders geartete Sprache, deren Geltung und Anspruch mit allen Mitteln politischen Eifers verfochten wird. Doch von vier spanischen Sprachen spricht man heutzutage fast schon allgemein. In der Kathedrale von Santiago de Compostela, die jährlich von mehreren Millionen Wallfahrern aufgesucht wird, gelangen sie während der Messe zu gleichem Rang. Weitere Beispiele ließen sich anfügen. In der Ummantelung nationalstaatlicher Verfassungen, Rechtseinheiten, Ideen und Ideologien hat sich auch in Europa allenthalben der Regionalismus behauptet. Doch deutlich ist, daß unter dem Einfluß der Aufklärung sich neben einem auch in den Sprachen spürbaren Rationalisierungsschub allmählich ein normatives Menschenbild durch-

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

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setzte, das der je eigenen Würde des Individuums Bewegungsund Entfaltungsraum zugestand und auf fundamentale Rechte Anspruch erhob. Unter dieser Voraussetzung konnte sich auch eine allgemeine Anthropologie entwickeln, deren Wege hier nicht zu verfolgen sind. Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen treibt freilich ständig neue Gegensätze und Konflikte hervor. Einem großen Netzwerk gleich in vielfältigen Formen und Konfrontationen und voller Widersprüche hat sich dieses Szenarium weltweit ausgebreitet, die Welt erfüllt, in mehrfacher Hinsicht europäisiert, wie man sagen kann. Doch die globale Europäisierung scheint an ein Ende gelangt. Dies zeichnete sich schon früher ab. Der nordamerikanische Historiker Henry Adams sah 1907, nach dem Erscheinen seines Werkes über das spätmittelalterliche Frankreich, in seiner Autobiographie die Geschichte an einer Wende. Da jedes Bewegungsgesetz „irgendeine mechanische Formel der Beschleunigung einschließen muß“, gelte dies auch für die Geschichte. Die Kohleförderung der Erde habe sich zwischen 1840 und 1900 etwa alle zehn Jahre verdoppelt, und eine Tonne Kohle lieferte 1900 drei- bis viermal soviel Nutzkraft wie 1840; „keine Gesellschaft hatte jemals bis heute so große Energien in großem Maßstab benutzt …“.3 Er sah voraus, daß die sich beschleunigenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts noch größere Dimensionen erreichen würden. Dies erfordere, folgerte Adams, „einen neuen Gesellschaftsgeist … Seit fünf- oder zehntausend Jahren hatte der Geist sich bis jetzt immer und mit Erfolg angepaßt, und nichts beweist, daß er sich nicht weiter anpassen würde; aber er würde einen Sprung machen müssen“.4 Der deutsche Historiker Karl Lamprecht, kurz vor dem ersten Weltkrieg5, später ein französischer Germanist6 sammelten Belege für eine Theorie der Beschleunigungen im Geschichtsverlauf. Ebenso anschaulich wie überzeugend sind die Beweise für die „demographische Vermehrung“, die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums. Weithin besteht Übereinstimmung, daß nach dem Dreißigjährigen Kriege in Mitteleuropa, etwa um

4

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

1650 die Weltbevölkerung auf insgesamt 500 Millionen Menschen oder doch nicht viel mehr anzusetzen ist und daß einerseits, je weiter man in ältere Zeiten vorstößt, die Zahl der Erdbewohner ab-, anderseits in Richtung auf die Gegenwart stetig zunimmt. Zweihundert Jahre später, 1850, wird die Weltbevölkerung auf annähernd 1200 Millionen geschätzt. Weitere hundert Jahre danach, 1950, waren es 2,5 Milliarden, mehr als doppelt soviel, Ende 1981 schon 4,5 Milliarden. Die Zahlen für das 19. Jahrhundert sind nicht unumstritten; aber angesichts der unbestreitbaren Beschleunigung der Vermehrung ändert es im Grunde wenig an dem Ergebnis, ob die Weltbevölkerung erst 1870 oder ob sie schon 1850 auf 1,2 Milliarden Menschen berechnet und ihre Verdreifachung bis 1970 festgestellt wird.7 Im Jahr 1999 wurde die Zahl von sechs Milliarden Erdbewohnern erreicht, was immerhin einige Aufmerksamkeit fand. Während sich von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung der Erde verdoppelte, verdoppelte sie sich dann bereits in den nachfolgenden 100 bis 120 Jahren, danach in etwas mehr als 40 Jahren. Seit 1980 wuchs die Weltbevölkerung in jedem Jahr um etwa 80, in den neunziger Jahren jeweils um mehr als 90 Millionen. Je größer die Zahl der Erdbewohner, desto mehr beschleunigt sich ihre Vermehrung. Erst in den letzten Jahren ist eine Verzögerung eingetreten. In den sogenannten „Entwicklungsländern“, die es am schwersten haben, um ihre Bevölkerungen zu ernähren, scheint sich jedoch bislang die Vermehrung im letzten Takt fortzusetzen, obgleich es an Kaufkraft fehlt, Wasserknappheit, Bodenerosionen und Versalzung die Ausweitung des Ackerbaus verhindern und andere wirtschaftliche Versorgungsmöglichkeiten häufig kaum bestehen. Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert wuchs die europäische Bevölkerung rascher als die asiatische und afrikanische. Um 1750 verfügte Europa etwa über ein Fünftel, um 1920 etwa ein Drittel der Weltbevölkerung. Inzwischen ist der Anteil der Europäer und Europastämmigen an der Weltbevölkerung auf ein Sechstel gesunken.8 Demographische Katastrophen, die in früheren Zeiten in großen Regionen das Bevölkerungswachstum aufhielten

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5

und die etwa im frühen Islam nach der ersten erfahrenen großen Seuche als Gottesfügung galten, haben im 20. Jahrhundert nicht gefehlt, sind jedoch innerhalb des Wachstums der Weltbevölkerung schon in kurzer Zeit ausgeglichen worden. Die größten Kriege der Weltgeschichte und Massenvernichtungen großen Ausmaßes im 20. Jahrhundert haben diese Entwicklung kaum nennenswert beeinträchtigt. Staatlich angeordnete Geburtenbeschränkungen oder Familienberatungen in einigen großen Ländern, China, Indien, Sri Lanka, Bangladesh, Thailand, Südkorea oder Kolumbien, sind umstritten. Ihre Ergebnisse reichen bislang nicht aus, um das Wachstum der Weltbevölkerung wesentlich zu beeinflussen. Eine „demographische Zeitenwende“9 scheint unverkennbar. Fragt man nach den höchsten Wachstumsraten der Länder der Erde, so stößt man – großzügig ausgedrückt – überwiegend auf Gebiete, die in den wärmeren Zonen der Erde liegen. An der Spitze stehen Indien, China, Thailand, Nord- und Südkorea, wo sich in der Vergangenheit die Bevölkerungszahl in 35 Jahren, dann die Staaten Mittelamerikas sowie des nördlichen Südamerika, wo sie sich in wenig mehr als 30 Jahren, schließlich Sri Lanka und Südindien, wo sich die Bevölkerungszahl innerhalb von 24 Jahren verdoppelt hat. Mehr als ein Drittel der Erdbevölkerung lebt in den beiden größten asiatischen Staaten, China – mit fast einerundeinerviertel Milliarde – und Indien – mit nahezu einer Milliarde Einwohnern. Beide befinden sich offenkundig in einem Umbruch. In Indien – mit mindestens 20 Millionenstädten, von denen zwei mit ihren Vororten jeweils weit über elf Millionen Einwohner zählen, – leben noch zwei Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft, auch in China – mit mindestens 30 Millionenstädten – noch mehr als 60 Prozent. In China sind 27 Prozent der Bevölkerung, in Indien sogar 52 Prozent Analphabeten. Es läßt sich in Indien schon erkennen, daß die große Menge niedrig entlohnter Arbeitskräfte in großen Städten unter Bedingungen der modernen Verkehrstechnik und Telekommunikation zur großen „Reservearmee“ für Produktionen und Austausch auf dem globalen Markt

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Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

beitragen und in Konkurrenz zu den alten Industriestaaten treten kann. Einige Staaten mit bereits verhältnismäßig dichter Bevölkerung und begrenzten Ressourcen zeichnen sich durch extrem hohe Geburtenraten aus, etwa Afghanistan, Eritrea, der Jemen, beide Kongo-Republiken, Liberia, Niger, Oman, SaudiArabien, Sierra Leone, Somalia, Tschad und Uganda, neben einigen weiteren Ländern mit noch geringer Bevölkerungsdichte. Geht man von der Größe des jährlichen Zuwachses aus, ergibt sich eine Abfolge weiterer Staaten, zu denen außer China und Indien Bangladesh, Nigeria und Pakistan auch Ägypten, Jordanien, das palästinensische Autonomiegebiet und der Irak gehören. Dies sind die wahren Schauplätze einer von Demographen so genannten „Bevölkerungsexplosion“, zu einem Teil industriell kaum entwickelte Länder, in denen das wirtschaftliche Wachstum hinter der Bevölkerungsvermehrung weit zurückbleibt, Unterversorgung und Nöte ständig verschärfend. Was Europa anbelangt, so nahm im Laufe der neunziger Jahre die Süd-Nord-Migration um ein bis zwei Prozent zu, die Ost-WestMigration um einundzwanzig Prozent. Doch die Zahlen der Überlebensmigrationen vom Land in die Slums der überseeischen Megastädte liegen „bald jenseits der Milliardengrenze“.10 Die in jüngerer Zeit aus verschiedenen Quellen genährten Mahnungen und Warnungen vor globaler Wirkung atmosphärischer, ökologischer und klimatischer Art verweisen auf einige angenommene Folgen und zeigen zivilisatorische Reaktionen an – mit offensichtlich weithin meinungs- und parteibildenden, jedoch divergierenden politischen und unabmeßbaren demographischen Folgen. Die medienwirksamen Aktivitäten staatenübergreifender, regierungsunabhängiger („nongovernmental“) Organisationen haben sich einer Erörterung dieser Zusammenhänge bislang entzogen. So wenig strittig auch der Nutzen sein mag, den einige ihrer Aktionen stiften, so fragwürdig erscheint indessen eine totale „Erdpolitik“, die sich zur Erhaltung jedweder Form des biologisch Existierenden weltweit verpflichtet wähnt.11 Eine Gefahr, die sich abzeichnet und von Demographen in

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hochgerechneten Zahlen ausgedrückt wird, läge in einer fortgesetzten Reduzierung des Anteils der Bevölkerungen, die Träger des wirtschaftlichen Wachstums und steter Innovationen sind, an der Gesamtbevölkerung der Erde. Mögen Wandlungen im Gange sein, so sind doch deren Folgen einstweilen nicht abzusehen. Vielleicht ist ein Ausgleich durch neue Wanderungen in Sicht. Es ergibt sich eine Problematik, die das Erfordernis supranationaler Regelungen begründen dürfte. Das gilt auch für die Erzeugung und Bewirtschaftung von Energien, die zur Lebenshaltung der Menschen und ihrer Wirtschaft in permanent wachsenden Quantitäten benötigt werden. Die Beschleunigung des Bevölkerungswachstums wurde im 20. Jahrhundert von der Beschleunigung des globalen wirtschaftlichen Wachstums, des Wachstums der Produktionen auf allen Gebieten überholt. Dies ist der erwähnten Beschleunigung der technischen Entwicklungen aufgrund technischer Innovationen zu danken, die die Produktivität der Arbeitsleistungen stetig erhöht hat, wie schon Karl Lamprecht befand. In den großen Industriestaaten wirkte sich dies einerseits nach und nach in einer beträchtlichen Anhebung des Arbeitseinkommens, des Massenwohlstandes wie der Sozialleistungen aus, anderseits in einer stetigen Vergrößerung des Geldvermögens, das als Kapital wieder vermehrte Investitionen und Innovationen veranlaßt. Es ist gesagt und mit schlagenden Argumenten vertreten worden, daß die „industrielle Revolution“ letztlich den Übergang vom „linearen Wachstum zum exponentiellen Wachstum“ darstelle, das sich in Exponenten der Basiszahlen ausdrücken läßt.12 Bisher gilt dies von der in Zahlen ausgedrückten Zunahme wissenschaftlicher wie technischer Erfindungen, der Entwicklung der Geschwindigkeiten des jeweils schnellsten Fortbewegungsmittels – vom Auto bis zur Rakete –, von der Zunahme der Weltproduktion an Energie, an Stahl, veredelten Stählen, Kunststofferzeugnissen und anderem mehr, von den meßbaren Ergebnissen der fortschreitenden Präzision im Maschinenbau und schließlich in den großen jungen Bereichen der Elektronik, der Mikroelektronik und der Telekom-

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Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

munikation, der Biochemie und der Biotechnik. Sobald eine Technik – oder mit dem verbreiteten modernen Terminus ausgedrückt: eine Technologie – auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit schien, stellte sich eine neue ein, die noch größere Leistungen ermöglichte und es erlaubte, andere Techniken einer Selektion zu unterziehen oder gar zum alten Eisen zu werfen. Diese „technischen Mutationen“ haben bisher alles andere übertrumpft. Existenzfrage für die Zukunft bleibt, ob die fortgesetzte Beschleunigung der Innovationen und ihrer Wirkungen einen ähnlich hohen Grad behaupten wird wie die Beschleunigung des Wachstums der Weltbevölkerung. Auf der Hand liegt das rapide Wachstum des Bedarfs an Investitionen, die die technischen Fortschritte ermöglichen und ihre weltweite Wirkung sichern, an steten Innovationen, auf denen der ganze Prozeß gründet, und an raschen Informationen, die hierüber zu kommunizieren erlauben. Man kann von einem Wettbewerb sprechen, der auf mehreren Ebenen stattfindet und in zunehmendem Maße die Entwicklung des Gesamtsystems – global mithin – dirigiert. An der Größe des Erfordernisses ständiger Progression sind in jüngerer Zeit politische Systeme gescheitert und zusammengebrochen; und sie stellt die Existenz anderer in Frage. Die globalen Wirtschaftsverflechtungen hatte Lamprecht schon vor 90 Jahren erkannt, „die unverkennbare Tendenz des modernen Handels: die Umgestaltung der Erde zu einem einzigen großen Markte. Und schon zeigen sich die Vorteile und Nachteile dieses neuen, immer mehr breite Wirklichkeit werdenden Zustands. Ein ins Unglaubliche gestiegener Wettbewerb reibt die geistigen und sittlichen Kräfte des Kaufmanns fast auf, um ihre äußerste Verfeinerung und Stählung hervorzubringen …“. Der Markt, von dem häufig und mit gewisser Hingabe gesprochen wird, spielt eine überaus starke Rolle. Seine Erscheinungen liefern jedoch keine Erklärung für die dahinter liegenden Realitäten im Weltgeschehen, zu denen wir in erster Linie die schier grenzenlose Vermehrung der Weltbevölkerung und den stets evidenten Bedarf an Investitionen um der erfor-

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

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derlichen Innovationen willen zählen. Ein „Sprung“ war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts insofern versucht worden, als sich die zur Begeisterung gebrachten Massen unter neue Formen diktatorischer Regimes formierten, der Tyrannis in mehrfacher Abstufung, die Widerstrebende bekämpfte, niederzwang und auch vernichtete, in Rußland, in Italien, Deutschland, Spanien, auch in lateinamerikanischen Staaten, wo die Diktatur seit Bolívar in hohem Ansehen stand und sich auch im 20. Jahrhundert wiederholt erneuerte. Wir vermögen Friedrich Nietzsches Forderung an den „Übermenschen“ nicht zu folgen, wenn auch zu begreifen. Geschichte kann nicht anders mehr betrieben werden als im Bewußtsein eines Übergangs. Würde die Zeitgeschichte entfallen, gäbe es sie nicht, so würde die Geschichte gleichsam von Gegenwart und Zukunft abgehängt, bliebe sie ganz und gar „antiquarische Geschichte“ im Sinne Nietzsches13, der dies kritisch meinte. Im Folgenden soll versucht werden, wesentliche Stationen der letzten siebzig Jahre sowie die in ihnen zutage getretenen bewegenden Momente der Betrachtung zu unterziehen. Dies ist ein Zeitalter der Globalisierung, des „aktuellen Aufbruchs Afrikas und Asiens“, von dem Ernst Bloch gesprochen hat, „um der Einheit des Menschengeschlechts willen“, wie er meinte, „freilich unter einer Sonne, die doch zuerst, aktiv wie theoretisch, in Europa aufgegangen ist und die eine Gemeinschaft wirklich ohne Sklaverei bescheinen möchte. Der westliche Fortschrittsbegriff hat immerhin in seinen Revolutionen keine europäische (freilich auch keine asiatische oder afrikanische) Spitze impliziert, sondern eine – ganze bessere Erde“.14

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Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

Zeit der Diktaturen. Europäische Wende

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I Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege Zeit der Diktaturen. Europäische Wende Die Periode zwischen den Weltkriegen wurde in Europa zu einer Zeit der Diktaturen. In Rußland war das Sowjetregime unter Lenin und noch mehr unter Stalin zu einem Länder übergreifenden Leitbild kommunistischer Diktatur geworden. In Italien hatte Mussolinis Marsch auf Rom ein neuartiges System geschaffen, das die Monarchie beließ, ständische Organisationen mit dem Staat verknüpfte und dem Duce als Haupt der einzigen zugelassenen, der faschistischen Partei eine diktatoriale Allgewalt sicherte. In Portugal, wo von 1911 bis 1926 acht Präsidenten und 44 Regierungen einander ablösten, hatte nach Unruhen, Aufständen und Politikermorden General Carmona ein Militärregime geschaffen. Der 1932 zum Ministerpräsidenten berufene und bis 1968 amtierende Oliveira de Salazar begründete einen ständisch-autoritären Staat, Estado Novo, mit einer einzigen zugelassenen Partei. Polen befand sich auf ähnlichem Weg seit dem Staatsstreich des Generalinspekteurs und Kriegsministers Marschall Piłsudski 1926, der zeitweilig auch als Ministerpräsident amtierte und durch sein faktisches Patronat über die höchsten Staatsämter einschließlich das des Staatspräsidenten und durch eine Reihe von Gewaltmaßnahmen gegen Kritiker des ihn stützenden Blocks der parlamentarischen Abgeordneten eine nahezu unumschränkte Herrschaft ausübte. In der Außenpolitik schlug er nach vergeblichen Bemühungen 1933, Frankreich zu präventiven Aktionen zu bewegen, einen neuen Kurs der Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland ein. Er empfing Hermann Göring als Jagdgast auf seinem Gut in Ostpolen und ließ im Januar 1934 einen pol-

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Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege

nisch-deutschen Nichtangriffspakt abschließen. 1935 endete das Leben Piłsudskis. Sein Regime fand in der Clique der Obristen keinen Nachfolger. Andere Staaten befanden sich in Bewegung in ähnlicher Richtung. In Spanien hatte General Primo de Rivera y Orbaneja 1923 die erste, noch kurzlebige Diktatur errichtet, nach der sein Sohn 1933 eine die Diktatur anstrebende Partei, die Falange, schuf. 1936 kam es zum offenen, mehrere Jahre andauernden Bürgerkrieg, ehe sich der Diktator General Franco behauptete. Einige Merkmale waren diesen Diktaturen gemeinsam. Es gab nur eine einzige zugelassene Partei oder „Bewegung“ oder einen „Block“, deren Einfluß in die letzte Gemeinde reichte. Der Mann, der faktisch an der Spitze des Regimes stand, gebot faktisch auch nahezu unumschränkt über alle Macht im Staat. Für Gegner gab es unbegrenzte Strafen. Die gesamte Wirtschaft wurde in das Staatswesen einbezogen. Doch eine entscheidende außenpolitische Wende ging von der Entwicklung der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, von der zur Expansion drängenden Mitte Europas aus. Im Frühjahr 1934 zeichnete sich die Ergebnislosigkeit der im Februar 1933 erneut begonnenen Abrüstungsverhandlungen in Genf ab.1 Seitdem gingen die größten Staaten Europas immer offener zur Aufrüstung über. Die wirtschaftliche Depression hatte als letztes der großen Länder im Laufe des Jahres 1931 Frankreich erreicht, wo 1932 fünf Regierungen aufeinander folgten, im nächsten Jahre drei, 1934 vier. Nach einem Finanzskandal großen Ausmaßes demonstrierten auf den Straßen von Paris Kommunisten und Gewerkschaften und dann gegen sie militante Organisationen der Rechten. Streiks, anschließende Straßenkämpfe und Gewaltausbrüche erreichten am 6. Februar einen Höhepunkt. Viele Tote und mehr als tausend Verletzte gehörten zur Bilanz dieser Konfrontation, die erneut die nationale Rechte unter dem ehemaligen Präsidenten der Republik Gaston Doumergue ans Ruder brachte. Begreifliche Sorgen beflügelten die amtliche französische Außenpolitik, die Stellung Frankreichs durch Erweiterung seiner

Zeit der Diktaturen. Europäische Wende

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Bündnisse abzusichern. Nach dem überraschenden Abschluß des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes und Verständigungsabkommens im Januar 19342, einem Riß im französischen Allianzensystem, suchte Paris nach neuer Absicherung im Südosten. Von Frankreich unterstützt, schlossen Jugoslawien und Rumänien mit Griechenland und der Türkei einen Defensivvertrag, der den territorialen Status quo auf dem Balkan garantieren sollte. Am 9. Mai gab Außenminister Barthou vor dem außenpolitischen Ausschuß der Kammer eine Erklärung ab, in der er den labilen Zustand des deutschen Regimes und seine Unberechenbarkeit hervorhob, um eine Verschärfung der französischen Politik Berlin gegenüber anzukündigen. Er wandte sich dem von russischer Seite vorgebrachten Gedanken eines großen Ostpakts mit der Sowjetunion zu. Auch der radikale Pazifismus wurde vorübergehend zu einer Massenbewegung, etwa in der isolationistischen Peace-BallotKampagne in England, die sogar den Austritt aus dem Völkerbund forderte, oder in grenzüberschreitenden Versöhnungsaktionen der einflußreichen Kriegsveteranenverbände Frankreichs. Ihnen gehörten mehr als zwei Drittel der drei Millionen erfaßten Kriegsteilnehmer an. Ihr Einfluß reichte fast in jedes Dorf, was sich so kaum von einer anderen politischen Organisation in Frankreich sagen läßt. Ihre Führer hatten sich entschieden, friedenwollende Verbundenheit mit ehemals gegnerischen Frontkämpfern dauernd zu festigen. Dank der Bemühungen von Otto Abetz, des jugendbewegten Aktivisten deutsch-französischer Verständigung3, konnte Hitler im November und Dezember Führer der größten französischen Frontkämpferorganisationen empfangen und beeindrucken. Der Frieden schien in seinen Händen zu liegen. Ein ruhiger Ablauf der Vorbereitungen zur Volksabstimmung im Saargebiet im Januar 1935 wie die Aufhebung seines Sonderstatus schienen dies zu bestätigen. Am 9. Oktober 1934 wurde Barthou gemeinsam mit dem diktatorisch regierenden jugoslawischen König Alexander II . während eines Staatsbesuches in Marseille Opfer eines Anschlags.

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Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege

Spuren des Täters führten in Kreise kroatischer Extremisten, die sowohl im Ungarn Horthys als auch in Italien Asyl gefunden hatten. Die bedeutsamste Hinterlassenschaft Barthous, das Ostpaktsystem, vollendete sein Nachfolger Laval. Es bezog die Sowjetunion ein, die durch Nichtangriffspakte mit Polen, Lettland, Estland und Finnland international initiativ geworden war. Italien schien mit der Wirtschaftskrise fertigzuwerden. Die Vollendung und propagandistische Nutzung einer seit Jahrhunderten betriebenen Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe fügte sich in das Programm intensivierender Agrarpolitik, die außerhalb des Mezzogiorno vorankam und die Importabhängigkeit Italiens mindern sollte. Zollmauern schützten den Binnenmarkt, während die Zusammenfassung einzelner Industrien zu staatlichen Holdings Wirtschaft und Staat aneinander band. Die Erfassung aller Wirtschaftszweige in Korporationen ließ nur den größten Industrien mit Einfluß noch eigene Betätigung. Dies bildete die dritte Säule neben der faschistischen Einheitspartei mit ihrer verfassungsrechtlich verankerten Spitze, dem Großrat, und dem administrativen und judiziellen System, unter Kontrolle geheimer Überwachungsdienste. Über allem schwebte die Diktatur des Duce, des Regierungs- und Parteichefs Mussolini – unter einem schwachen Monarchen. Dieses korporative Gegenstück zum Sowjetsystem stellten engagierte Staatstheoretiker als Experiment eines neuartigen, Mittel- und Oberschicht bewahrenden Wohlfahrtsstaates dar – mit staatlicher Beschäftigung der Großindustrie, bei starkem Rüstungsanteil, aber gleichzeitig zunehmender „Verländlichung“, nach Ausweitung des Siedlungsgebietes in Nordafrika mit imperialem Anspruch, schließlich unter Einsatz militärischer Mittel. Als gegen Ende des Jahres ein Einvernehmen mit Frankreich zur Unterzeichnung anstand, das Kolonialkompensationen in Afrika umfaßte und geheime Übereinkommen über Abessinien vorbereitete, schien eine Eliminierung außenpolitischer Konfrontationen greifbar nahe. Blutige Aufstände sowie der Formenwandel des autoritären

Zeit der Diktaturen. Europäische Wende

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Regimes in Österreich, das sich an Italien anlehnte, zur Diktatur überging und nacheinander die kommunistische, die sozialdemokratische und die nationalsozialistische Partei verbot, zog den Interessen Deutschlands an der Alpenrepublik vorerst Grenzen, nachdem sie 1934 schon einer Bürgerkriegssituation nahe gekommen war, die ihre Existenz bedrohte.4 Der XVII ., der letzte Vorkriegsparteitag der KPSU , „Parteitag der Sieger“, wie er nach einer gewaltigen Industrialisierungskampagne in der Sowjetunion benannt wurde, hatte den zweiten Fünfjahresplan und ein Parteistatut beschlossen, die eine neue Ära der Diktatur Stalins einleiteten. Auch für ihn kam nun der Titel „Führer“ in Brauch. Aber angesichts der Suggestivkraft des Massenapplauses bei seinen Auftritten wurde dies noch überboten, „… reichte der ‚Führer‘-Titel schon nicht mehr aus, … attestierte man dem ‚großen Genius‘ Stalin … ‚Ruhm und Ehre‘“.5 Die Sowjetunion brachte das „Führertum Stalins“ als Krönung eines neuen russischen Hypernationalismus in altertümlich sakraler Tönung hervor: „… selbst die Luft der Sowjets ist uns heilig.“6 Nach der außenpolitischen Absicherung wurden „Parteidisziplin“ und „Sowjetpatriotismus“ als dominierendes Erziehungsziel der Jugend proklamiert. Nach der Ermordung des Stalin-Rivalen Kirow am 1. Dezember 1934 begann dann eine Serie von Schauprozessen und Hinrichtungen. Das Bild des westlichen Europa erscheint bunt und widerspruchsvoll. Der englische Historiker Lewis Namier schrieb: „Im Jahre 1936 konnte Frankreich sich rühmen, die reichste Sammlung an Verträgen und Abkommen zu besitzen, die seit dem Kaiser Karl VI . … jemals eine Nation abschloß“.7 Die häufig wechselnden Regierungen gaben der französischen Außenpolitik wie ihrer Verbindung zu England nach dem Weltkrieg manchen Stoß. Doch die gesamte Vorgeschichte des zweiten Weltkriegs erscheint ausgefüllt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen, Abkommen und Verträgen, deren Geltungsdauer nur geringen moralischen Respekt fand.

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Führerstaat und Polykratie in Deutschland In Deutschland führte sich die NSDAP in ihrer Aufstiegszeit in heftigen Auseinandersetzungen mit den Kommunisten8 als nationalistische Bürgerkriegspartei auf, die Kampf und Vernichtung ihrer Gegner verkündete. Auch Opfermythos und Opferlegende zählten zur deutschen Nachkriegsgeschichte. Opfertum und Heldenmut gehören in alter Mär ost- und mitteleuropäischer Überlieferung aufs engste zusammen als mythisches Antidot eines apodiktisch benannten Bösen, das nur durch Vernichtung überwunden wird. Diese prärationale Topik läßt sich bisweilen auch im Politischen konstatieren. Von dem von den Franzosen in ihrem Besatzungsgebiet standrechtlich erschossenen Albert Leo Schlageter und den von der bayerischen Polizei vor der Feldherrnhalle in München zusammengeschossenen SA-Leuten, die zur ersten Machtergreifung Hitlers im November 1923 demonstrieren wollten, über zahlreiche Straßenkampfund Hinterhofmordtaten reichte die Legende, in der sich die Nationalsozialisten als „Sieger“ in einem opferreichen Kampf gegen bösartige Feinde ausgaben. Der Opfermythos diente der Gewaltbereitschaft. Die Goebbels-Propaganda sorgte für Permanenz dieser starken Akzente. Kampf galt weithin als Legitimation und Vernichtung der Feinde als Sieg. Der staatliche Formenwandel schritt rasch voran. Ernst Fraenkel hat von einem „Doppelstaat“ gesprochen, in dem Erlasse und Entschlüsse der Führung das Gehäuse politisch ausfüllten und rechtlich entleerten.9 Reichsinnenminister Frick nannte ein vom Reichstag widerspruchslos angenommenes Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 193410 mit gutem Grund ein „erweitertes Ermächtigungsgesetz“. Er konnte feststellen, daß noch niemals in der Geschichte des Parlamentarismus ein Gesetz von so ungeheurer Tragweite in so kurzer Zeit die einstimmige Billigung eines Parlaments gefunden hatte.11 Dies hielt er für einen grandiosen Erfolg, wie vieles, was in diesen Jahren in Deutschland geschah, nur noch als Station auf einer Skala fortschreitender Erfolge nicht nur propagiert, sondern auch von Beteiligten und

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Inauguratoren so gesehen wurde. Der häufig so bezeichnete „Verfassungsminister des Reiches“ benutzte die beiden letzten verfassungsmäßigen Organe, um eine zerstörende Bresche in die Reste des noch bestehenden Verfassungsrechts zu legen. Die Öffentlichkeit wurde überrascht und überrumpelt. Die uniformierten Gefolgsleute Hitlers erteilten in theatralischer Akklamation die größten nur denkbaren Vollmachten. Eine Übergangsbestimmung sorgte dafür, daß die Verwaltungen intakt und in alter Weise tätig blieben, bis weitere Maßnahmen auf Grundlage erteilter Ermächtigungen getroffen wurden, denen sich, begrenzender Normierung ledig, weiteste Möglichkeiten eröffneten. Auch das Schicksal der Länder lag scheinbar ganz und gar in den Händen des Reichsinnenministers. Der Reichsjustizminister Gürtner, zuvor ein hartnäckiger Verteidiger bayerischer Belange, erklärte es nun für eine gleichgültige Sache, ob die „Einteilung des Reiches in Länder“ bestehen bleibe oder ob Deutschland „nach irgendwelchen verschieden nuancierten Gesichtspunkten, bald nach Stammesprinzipien, bald nach Wirtschaftsprinzipien, in Gebiete“ eingeteilt werde.12 Das Neuaufbaugesetz erwies sich als schier unerschöpfliches Reservoir von Möglichkeiten, eine Neuorganisation des gesamten Staatswesens vorzunehmen. Eine Berufung auf den schlichten Titel und Wortlaut des Gesetzes genügte, um die Rechtsförmigkeit jedweder organisatorischen Maßnahme zu wahren. Die Ermächtigung der Reichsregierung, „neues Verfassungsrecht“ zu setzen und geltendes Landesrecht zu durchbrechen, konnte sich in unvorhersehbarer Weise auswirken. Hierin lag der Keim zur Auflösung der Reichsregierung und der Entstehung neuer zentralistischer, auch die Wirtschaft erfassender sogenannter ständischer Organisationen, im Ganzen eine neuartige Polykratie13 unter der absoluten Autorität des „Führers und Reichskanzlers“ und seiner Entscheidungen von Fall zu Fall. Der Anspruch des Reichsinnenministers, eine Art Superminister mit zentraler Befugnis zu sein, ist niemals unbestritten geblieben. Doch bald der Konkurrenz des „Reichsführers SS “ ausgesetzt, ist er ihr unterlegen.

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Entscheidend blieb zunächst die Vereinigung der Innenministerien des Reiches und Preußens, die das Reich in den Besitz eines „zentralen Verwaltungsapparates“ setzte. Man glaubte, damit der erreichbaren Zwecke sicher zu sein: „Sobald der zentrale Verwaltungsapparat von Reich und Preußen … eingerichtet ist, beginnt der allmähliche Absterbeprozeß der Landesministerien, deren Aufgabe entweder zur Reichszentrale oder zu den im ganzen Reich einheitlichen nachgeordneten Behörden (Regierungspräsidenten) kommen“.14 Eine reichseinheitliche Gemeindeordnung und eine Kreisordnung sollten folgen, um den Bau der strikt zentralisierten Verwaltung einheitlich bis zur lokalen Ebene zu führen, wie ihn der deutsche Staat weder vor noch nach der nationalsozialistischen Phase kannte. Der Reichsinnenminister versuchte, „namens des Reichs“ die Polizeihoheit in seine Verfügung zu bringen, indem er „die unmittelbare Befehlsgewalt über die Landespolizei im Deutschen Reich“, für alle Landespolizei, die staatliche Revierpolizei, die Landjägerei und Gemeindepolizei, die Genehmigung zu allen grundlegenden organisatorischen und rechtlichen Bestimmungen, Beförderungen und Stellenbesetzungen, die Genehmigung von Dienstvorschriften, von Standortverlegungen und Neubauten für sich in Anspruch nahm.15 Das veranlaßte Göring, den preußischen Ministerpräsidenten, um einer Anwendung dieser Bestimmungen auf Preußen zuvorzukommen, die oberste Leitung der Landespolizei in Preußen selbst zu übernehmen und anzuordnen, daß der Leiter der Polizeiabteilung im preußischen Innenministerium für die Belange der Landespolizei dem Ministerpräsidenten unmittelbar unterstehe.16 Der Reichsinnenminister mußte in Verhandlungen nach einem Ausweg suchen.17 Inzwischen waren die Kommandoverhältnisse der Polizei infolge unterschiedlicher Maßnahmen in den Ländern unübersichtlich geworden, so daß umfassende Neuregelungen fällig schienen. Die Entwicklung der Politischen Polizei verknüpfte sich mit der Organisation und dem Aufstieg der SS , der „Schutzstaffel“, deren Verbände, soweit sie zum Polizeidienst herangezogen

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wurden, aufgrund eines Erlasses von Göring politische Polizeifunktionen übernommen hatten. Verbindungen zwischen SS und Kommandostellen der Politischen Polizei bestanden aber vorher schon in Bayern, wo Himmler das Münchener Polizeipräsidium, am 1. April 1933 die Politische Polizei in ganz Bayern mitsamt der Leitung der Hilfspolizei und der Aufsicht über die angelegten Konzentrationslager und dann unter ihm Heydrich die politische Abteilung des Präsidiums in München übernahm. Mit der Aneignung der Leitung der Politischen Polizei in den anderen Ländern während der nächsten Monate kamen Himmler und seine SS auch dort zum Zuge.18 Im April 1934 übernahm Himmler die Leitung des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin mit dem offen bekundeten Entschluß, „Beamte, die durch ihre Tätigkeit mit der Behörde in ihrer alten Organisationsform besonders eng verbunden waren, künftig nicht weiter zu beschäftigen …“.19 An ihre Stelle rückten neue Männer, darunter höhere SS -Führer, die als Leiter wichtiger Abteilungen zu den engsten Mitarbeitern Himmlers zählten, an erster Stelle SS -Gruppenführer Heydrich, der ständige Vertreter Himmlers und Chef des Sicherheitsdienstes (SD ) des „Reichsführers SS “ (RFSS ). Der SS oblag dann die Ausführung der Schläge und Mordtaten am 30. Juni 1934. Die Zusammenfassung von Zentralinstanzen verlangte aber, daß ihr die Mittelinstanz in irgendeiner Weise angepaßt werde; die Frage ihrer Organisation trieb auch die Frage nach künftigen Aufgaben und Bewegungsfreiheit der unteren Instanzen hervor. Die Stellung der Reichsstatthalter als Beauftragten des Führers an den Spitzen der Länder und die der Oberpräsidenten an den Spitzen der Provinzen in Preußen erschienen anfangs kaum vergleichbar, obgleich für beide Arten von Ämtern Gauleiter der NSDAP herangezogen wurden. Frick nutzte sein Anweisungsrecht und richtete an die Reichsstatthalter das Ersuchen, von der ihnen übertragenen Befugnis zur Ernennung und Entlassung von Mitgliedern der Landesregierungen nur noch mit seiner Zustimmung „Gebrauch zu machen“ und auch künftig keine Landesgesetze zu verkünden, solange sie nicht

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die Zustimmung der Reichsregierung gefunden hätten.20 Dieses Diktat machte aus den Reichsstatthaltern faktisch eine dem Reichsinnenminister unterstellte Mittelbehörde, sofern ihnen nicht die Länderregierungen den Rang abliefen, wie es in Bayern, zeitweilig in Württemberg geschah, während in Sachsen und Hessen die Statthalter die Regierungschefs auszuspielen wußten. Das Beamtenernennungsrecht zog im wesentlichen der Reichsinnenminister an sich. Die nächsten Versuche einer Bereinigung der Verhältnisse in der Mittelstufe trieb dann der Reichs- (und preußische) Innenminister von Preußen – unter dem Ministerpräsidenten Göring – voran. Die zweite Verordnung über den Neuaufbau des Reichs vom 27. November 193421 machte die preußischen Oberpräsidenten „bis zur Durchführung der Neugliederung des Reichs“ in ihren Provinzen auch zu ständigen Vertretern der Reichsregierung. „Daß das werdende Staatsrecht der Garant für Befreiung aller materialen Kräfte innerhalb des Nationalsozialismus und für die restlose Durchführungen seines Programms sein wird, daran besteht kein Zweifel. Das Recht des neuen autoritären und totalen rassisch-völkischen Staates wird zuletzt die Realisierung aller Forderungen der NSDAP sein“, äußerte ein zeitgenössischer Kommentator an denkwürdiger Stelle.22 Doch die Machtkonzentration des SS -Führung konnte nach und nach zur dominierenden Potenz im Führerstaat werden. Im Juni 1936 wurde Himmler Chef der Deutschen Polizei, die er fortan einheitlich nach eigenen Vorstellungen auf- und ausbaute. Schon seit September 1934 entstand unter seiner Führung innerhalb der Wehrmacht eine SS -Verfügungstruppe, aus der später, im Verein mit anderen SS -Verbänden, die „Waffen- SS “ hervorging. Im Oktober 1939 erhielt Himmler als „Reichskommissar zur Festigung des deutschen Volkstums“ eine umfassende Vollmacht zur Völkerverschiebung im deutschen Machtbereich und zur Ansiedlung Volksdeutscher in den eroberten polnischen Gebieten. Im August 1943 ernannte ihn Hitler zum Reichsinnenminister und zum „Generalbevollmächtigten für die gesamte Reichsverwaltung“, elf Monate spä-

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ter außerdem zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und zum Chef der Heeresrüstung und in der letzten Kriegsphase noch zum Oberbefehlshaber zweier Heeresgruppen – bis zu seinem strategischen Versagen an der Oder Ende Februar 1945. Das äußere, dem Publikum zugewandte Erscheinungsbild in den Medien, Presse, Rundfunk und Film, in organisierten Demonstrationen, Aufmärschen und Hitler-Reden blieb stets unverändert – unter der Regie von Goebbels und seinem Reichspropagandaministerium. Das Verderbenbringende am totalitären System aber war, daß es Mut und persönliche Verantwortlichkeit, soweit sie sich politisch zu erkennen gaben und nicht innerhalb der Bahnen dieses Systems bewegten, mit vielfältigen Mitteln unterdrückte. Jede Regung eines Widerstands bewegte sich unter Gesetzen stetig verschärften Zwanges, der variierende Formen der Vernichtung als Waffen handhabte, deren Anfänge sich frühzeitig in der Strafjustiz wie in der Geheimen Staatspolizei finden lassen. Richterliche Entscheidungen belehren, daß weitherzige Auslegungen der verschärften politischen Strafbestimmungen Platz griffen und daß die Scheidelinie zwischen der Abwehr erweisbarer Staatsgefährdung und politischen Kampf- oder gar Vernichtungsmaßnahmen in Fluß geriet.23 Roland Freisler, der im bolschewistischen Rußland zu politischen Erfahrungen gelangte Staatssekretär im preußischen Justizministerium, schuf ein justizbehördliches Gegenstück zum Geheimen Staatspolizeiamt in der Zentralstaatsanwaltschaft beim Justizministerium, die die Bearbeitung politischer Strafsachen von besonderer Bedeutung an sich zog und „frei von irgendwelchen neben der Sache liegenden Gesichtspunkten“ verfolgte.24 Hierzu bediente sie sich einer Sondertruppe, der „Feldgendarmerie“, die auch gegen lokale Sonderinteressen von NSDAP -Stellen durchgreifen sollte und „die Funktion eines Staatsanwaltes an Ort und Stelle“ übernehmen konnte.25 Das Endglied dieser Kette aus verschiedenen Entstehungsgründen herrührender Sonderinstanzen politischer Verfolgung und eines politisierten Strafrechts bildete schließlich der Volksgerichtshof als zentrale öffentliche Aburteilungsbehörde zur

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formaljuristischen Liquidation politischer Gegner. In ihrer propagandistisch genutzten Praxis läßt sich das Vorbild der Sowjetjustiz der dreißiger Jahre erkennen. Der öffentliche Ankläger spielte auch im nationalsozialistischen System eine große Rolle nur in revolutionären Phasen und in exzeptionellen Fällen. Die vollendete Diktatur bediente sich zuvörderst der Geheimen Staatspolizei als ihres perfektesten Hilfsmittels. Neben Himmler und Heydrich spielte Roland Freisler nur eine Nebenrolle. Damit ist eine Seite des nationalsozialistisch regierten Deutschlands beschrieben. Auf einer anderen Seite konnte die innere Politik nach dem Sommer 1934, teilweise schon vorher, Erfolge erzielen, die die Auswirkungen der großen Wirtschaftskrise augenfällig überwanden und unstrittig einer großen Mehrheit der Bevölkerung Nutzen brachten, was bald auch im Ausland Aufmerksamkeit fand. Die Olympischen Spiele in Berlin im Sommer 1936 – vor Beginn des Bürgerkriegs in Spanien – verbreiteten über Deutschland unter Hitler ein überaus günstiges Licht, wie es die Republik zuvor nie erreicht hatte. Die Zustimmung der Bevölkerung zu dem neuen Regime hatte den Höhepunkt erreicht. Die Arbeitslosigkeit, die im Winter 1932/33 auf den höchsten Stand gelangte, war nahezu verschwunden. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Arbeitsdienstpflicht hatte hierzu ebenso beigetragen wie die rasch voranschreitende Zunahme der industriellen Beschäftigung und Produktion. Staatliche „Ehestandsdarlehen“ für Familiengründungen oder Zuschüsse zum Bau von Einfamilienhäusern erschienen als segensreiche Neuregelungen, die einer zuvor häufig angekündigten „Ankurbelung der Wirtschaft“ realen Inhalt zu geben schienen. Das seit 1937 vorbereitete, 1938 in Wolfsburg begründete Volkswagenwerk, das später zum größten deutschen und europäischen Unternehmen der Kraftfahrzeugindustrie heranwuchs, versprach in einer frühzeitig einsetzenden Propaganda den Deutschen die Erwerbung eines Billigautos, das fast jedermann einmal zu Reisen anregen könnte, die auch den seit 1933 großzügig betriebenen Bau früher schon geplanter Reichsautobahnen im günstigsten Licht erscheinen

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ließen. Der Führer der Einheitsorganisation der Arbeitenden – „der Faust und der Stirn“, wie es hieß – der „Deutschen Arbeitsfront“, die regelmäßig am 1. Mai einen nationalen Festtag, den „Tag der deutschen Arbeit“, ausrichtete, schuf eine eigene Urlaubsflotte für gemeinschaftliche, politisch organisierte Urlaubsreisen nach dem portugiesischen Madeira. Aus all dem ergab sich der Anschein einer fortgesetzt sich steigernden Politik der Vollbeschäftigung wie der Wohlstandsförderung breiten Ausmaßes. Hitlers Ankündigung eines ersten Vierjahresplans unter dem Motto „Gebt mir vier Jahre Zeit“ konnte zu einem politischen Erfolg werden – nicht zuletzt mit Hilfe der großzügig organisierten Propagandamaschinerie. Hierzu gehörte auch der „Volksempfänger“, ein äußerst billiges Radioempfangsgerät, das meist lediglich den Empfang des größten und des nächsten der deutschen Rundfunksender ermöglichte.

Autarkie und Expansion Die zollpolitische Abschrankung gegen Importe vor allem auf dem agrarischen Sektor, der leichte Preisauftrieb für landwirtschaftliche Produkte, der wieder durch einen Preiskommissar reguliert werden sollte, die allmählich den steigenden Bedürfnissen folgende Versorgung vor allem mit Fetten, die bald den ersten Übergang zu örtlich differierenden Bewirtschaftungsformen brachte, verwiesen auf die Kehrseite des propagandistisch genutzten Schaugepränges. Die drastische Reduzierung von Auslandsreisen vornehmlich durch eine strikte engmaschige Devisenbewirtschaftung ergänzte das Bild. Der sich allmählich eines bescheidenen Wohlstands erfreuende Durchschnittsdeutsche blieb auf sein Land und auf uniforme Kommunikation und Information verwiesen. Er fand sich eingebunden in vielfältig gestufte, überwiegend disziplinär geordnete Gemeinschaften – von der frühen Jugendzeit bis in hohe Altersstufen – und innerhalb uniformer, zentral geleiteter Organisationen. Nachrichten und Filmaufnahmen vom Eroberungskrieg Italiens in

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Abessinien und dann vom Bürgerkriegsschauplatz in Spanien vermittelten den Eindruck einer abenteuerlichen Ferne, zu dem erst etwas später deutsche Interessen und Beteiligungen bekannt gemacht wurden. Die objektiven Probleme, denen sich diese Politik des ersten Vierjahresplans aussetzte, dem ein zweiter folgen sollte, ergaben sich aus der fortschreitenden Abschließung Deutschlands von dem nach dem ersten Weltkrieg wieder erneuerten System der Welthandelsbeziehungen. In modernen, aktuellen Formeln ausgedrückt, war dies der erste Versuch eines Gegenschlags gegen eine Globalisierung, die sich, von Nordamerika ausgehend, bis zum Beginn der dreißiger Jahre scheinbar schon durchgesetzt hatte. Auslandsbeziehungen wurden reduziert, auf diplomatische Kanäle oder auf Auslandsorganisationen der NSDAP mit ihren Filiationen konzentriert, die einen hohen Stellenwert in der politischen Aufmerksamkeit wie in der Propaganda erlangten. Daraus ergaben sich einige weithin bedeutsame neue Probleme, denen Hitler nicht ausweichen konnte und auch nicht ausgewichen, sondern, wie es seine Art war, in radikalster Weise entgegengetreten ist. Er förderte die Landwirtschaft mit allen Mitteln, zunächst mit Hilfe von Gedanken des der SS angehörenden „Reichsbauernführers“ Darré, eines Auslandsdeutschen aus Argentinien, der das Bauerntum den „Kraftquell der Nation“ nannte.26 Das Jahr 1932 hatte durch eine Mißernte im ganzen östlichen Europa eine Agrarkrise verursacht, die soziale und politische Folgen zeitigte, eine Hungersnot im südlichen Rußland und eine sich zuspitzende landwirtschaftliche Dauerkrise in Ostdeutschland.27 Einem heißen und wenig versprechenden Sommer folgte eine große Unwetterkatastrophe, die große Teile der Ernte vernichtete, so daß sich im Frühjahr 1933 äußerst prekäre Verhältnisse ergaben,28 unter denen die seit langem rührige Tätigkeit agrarischer Interessenverbände eine radikale politische Unzufriedenheit förderte. Sie verlangten rigorose Maßnahmen und riefen zum „Kampfe gegen die Regierung“ auf. Dieser ebbte nach der Übernahme der Reichsregierung durch Hitler

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keineswegs ab, gelangte aber unter nationalsozialistische Regie. Nachdem sich die Nationalsozialisten auf dem flachen Lande im Osten Deutschlands durchgesetzt hatten, bemühten sich deutschnationale Politiker, die selbst zu profilierten Persönlichkeiten der „Grünen Front“ zählten, vergeblich um Zusammenarbeit mit dem unter nationalsozialistischen Einfluß gelangten „Reichslandbund“.29 Dies fand auch Ausdruck in der nationalsozialistischen Ideologie, die den Bauern zum „Träger des nationalsozialistischen Staates“ und zum „Kämpfer für Volkserneuerung und Weiterführung der nationalsozialistischen Revolution“ erklärte. Die Spitzen der organisierten Bauernschaft duldeten schließlich nur noch Nationalsozialisten in den zuständigen Ministerien. Nach dem schrittweisen Rücktritt des deutschnationalen Parteiführers Hugenberg von seinen Ämtern ging sein Nachfolger im Amt des Reichs- und Preußischen Landwirtschaftsministers, Darré, unverzüglich daran, mit einem Reichserbhofgesetz die Prinzipien einer nationalsozialistischen Agrarpolitik durchzusetzen: die Idealisierung und Mythologisierung des Bauerntums, seinen wirtschaftlichen Schutz vor Überschuldung und vor Zersplitterung der Höfe im Erbgang sowie die Stützung und Festlegung des bäuerlichen Besitzes kleinerer und mittlerer Ordnung, die Durchführung der Regelung und Erledigung von Streitfragen durch besondere Gerichte in dreifacher Stufung – Anerbengerichte, Erbhofgerichte und das Reichserbhofgericht –, die im Streitfall über die Erbhofeigenschaft eines Hofes, über „Bauernfähigkeit“ und „Rasseeigenschaft“ einzelner Personen, über Nutznießung und Eigentum des Hofes sowie über Rechte des Erben zu entscheiden hatten, soweit keine gesetzlichen Regelungen bestanden. Daneben erhielten die Funktionäre des „Agrarpolitischen Apparates“ der NSDAP wichtige Funktionen zugewiesen. Kreis- und Landesbauernführer verdankten dem Reichserbhofgesetz eine maßgebliche Gutachtertätigkeit. Sie besaßen die Einspruchsbefugnis gegen Entscheidungen des Anerbengerichts bzw. des Erbhofgerichts und verfügten über die örtliche Regie der Bauernschaft. Sie wurden Bezirkschefs der ständisch organisierten Agrarver-

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waltung und bildeten die Führungselite der Bauernschaft, die sich bald eng mit der SS verknüpfte. Hierfür gab es auch unter anderen Wortführern nationalsozialistischer Observanz wirkungsvolle Unterstützung, so daß die Umrisse eines Bauernund Siedlerstaates in steter Expansion Gestalt anzunehmen begannen. Hitlers Vorstellung von Politik beruhte nicht auf Erfahrungen und steter Anteilnahme an Ereignissen, wenn man vom Kriegserlebnis, das freilich vieles ausgelöst hat, einmal absieht. Sie beruhte auf der durch Lektüre zahlreicher Schriften ausgelösten Vorstellung eines neuen erstrebenswerten Seins. Insofern war er einer jener Intellektuellen, die einer Utopie anhingen, ein Ideologe. Die Clique der nationalsozialistischen Ideologen kann man in der Tat als Anhänger von Utopien30 betrachten, die sich um der Durchsetzung ihrer Vorstellungen willen zu einer verschworenen Bande zusammentaten. Schrifttum und Einwirkungen der Zeit hatten Hitler zum deutschen Nationalisten werden lassen, der der Utopie der äußersten Expansion der Deutschen anhing – über alle Grenzen, selbstredend alle Nachkriegsgrenzen weit hinaus. Es läßt sich hören, daß er „eine zwar abstoßende, aber doch grandiose Vision von der Weltgeschichte gehabt habe, wie Reiche auf dieser Erde entstehen und vergehen,“ und daß er „beschlossen habe, durch Eroberung des Ostens noch einmal ein großes deutsches Reich zu errichten“.31 Himmlers pseudogermanischer Atavismus lieferte hierzu eine erwünschte Weltanschauung, die Ideologie, die eine neue Elite heranziehen sollte. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen war die von Konzentrationslagerhäftlingen erneuerte alte Wewelsburg in Niedersachsen als Schulungsstätte eines neuen Ordens.32 Der Neigung zur weltwirtschaftlichen Absonderung entsprach die aus mannigfachen Quellen genährte, romantisierend verklärte Sehnsucht nach einem Zug, einer Expansion in östlicher Richtung. Es gab unbestreitbar deutsche Sprachgemeinschaften im außerdeutschen östlichen Europa, die sich nach den Pariser Friedensverträgen in polnischer, tschechischer, litauischer, lettischer oder rumänischer Staatsorganisation einge-

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bunden fanden. Es schien daher ein schlicht naheliegender Gedanke die dort lebenden Deutschen politisch gegen ihre Staatlichkeiten zu aktivieren und einzuspannen. Neuer Krieg in Mitteleuropa und darüber hinaus bildeten seit Jahren ein Thema, dem sich deutsche Intellektuelle und auch Wissenschaftler nicht nur konservativer Haltung zuwandten und das sie rational zu behandeln versuchten. Von „geopolitischen“ Überlegungen waren viele beeinflußt. Das lag nicht nur an der Anerkennung, die Max Haushofer genoß, der Münchener Geographie-Professor, und seine verbreiteten Bücher, die eine eigenartige Mischung aus lebendig aufgefaßter Länderkunde in politisch-soziologischer Ausrichtung und groß angelegten Vorarbeiten zu Generalstabswerken darstellten.33 Politische Geographie und Anthropogeographie erfuhren in der Geopolitik eine breite, in Deutschland fast schon populäre Neubelebung. Dies begann mit den während des ersten Weltkriegs und danach stark beachteten Schriften des schwedischen Staatsrechtlers Rudolf Kjellén, auf den der Begriff „Geopolitik“ zurückgeht.34 Die Breitenwirkung der ganzen Richtung steht ebenso außer Frage wie die politische Relevanz jeder ihrer Spielarten.35 Die in der Wirtschaftskrise verschiedenartig begründete Notlage der Landwirtschaft in Deutschland hatte zur Opposition gegen die Republik erheblich beigetragen. Hierbei waren nicht nur wirtschaftliche Interessen im Spiel, sondern auch Gesinnungen und Anschauungen, die alte bäuerliche ländliche Überlieferungen tradierten und Gewohnheiten in Brauchtum und Praxis hohen oder gar höchsten Rang einräumten. Das ließ sich auch mit Rasse-Vorstellungen verknüpfen. Auf der anderen Seite hatte der Niedergang des Außenhandels eine Stärkung der Binnenwirtschaft erfordert. Zunächst geschah dies durch Hebung importunabhängigen Konsums und dann in zunehmendem Umfang durch militärische Rüstung. Als eine Art Synthese aus alldem bildete sich die Vorstellung vom wirtschaftlich autarken „Großraum“, dem „germanischen Großraum“, wie ihn Hitler proklamierte.

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Eine kontinentaleuropäische „Achse Berlin-Rom“ Während der erfolglosen zweiten Genfer Abrüstungskonferenz hatte 1933 Mussolini die Initiative zur Schaffung eines Viererpaktes zwischen Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien ergriffen, der die gegenseitige Zusammenarbeit zur Erhaltung des Friedens auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit der Möglichkeit einer Revision der Friedensverträge verknüpfte. Er wurde im Juni in Rom unterzeichnet, jedoch niemals ratifiziert. Mussolinis Initiative führte ins Leere. Doch Hitler reagierte auf seine Weise und erklärte unter großem rhetorischen Aufwand in einer Reichstagsrede am 14. Oktober den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. Im Januar danach schloß er den schon genannten Nichtangriffspakt und das Verständigungsabkommen mit Polen.36 Den ausländischen Militärattachés ließ Hitler die junge Existenz einer deutschen Luftwaffe bekanntgeben, um gleichzeitig Verhandlungen über eine Luftkonvention vorzuschlagen. Daraufhin beschloß die französische Regierung zunächst die Verlängerung der Militärdienstzeit von einem auf zwei Jahre. Kurz zuvor hatte sie das französisch-belgische Militärbündnis von 1924 verlängert. Das lieferte Hitler den Anlaß, nach kurzer geheimer Vorbereitung am 16. März 1935 die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu verkünden. Die politische Situation in Mitteleuropa hat sich innerhalb weniger Monate von Grund auf verändert. Gespräche in Stresa zwischen den Regierungschefs Frankreichs, Italiens und Englands führten zunächst zu einer gemeinsamen Erklärung, sich „mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Aufkündigung von Verträgen zu widersetzen, durch die der Friede in Europa gefährdet werden könnte“.37 Im April folgte dann eine förmliche Verurteilung Deutschlands durch den Völkerbund wegen des Bruchs des Friedensvertrags von Versailles. Dies war vorauszusehen gewesen und verfehlte jegliche Wirkung. England hatte sich inzwischen zu zweiseitigen Gesprächen über ein Flottenabkommen bereit gefunden, das schon im Juni zustande kam38 und eine deutsche Seerüstung auf

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35 Prozent des Standes der britischen Flotte begrenzte. Das entsprach etwa der Stärke der italienischen wie der französischen Großkampfschiffe. Dieses zugestandene Maß konnte bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs noch gar nicht ausgefüllt werden. Etwas anders sah es in der Unterseebootwaffe aus, die bald – nach Vorbildern im ersten Weltkrieg – vorrangig zur stärksten maritimen Waffe Deutschlands entwickelt wurde. Anfang Mai 1935 kam es dann zum Abschluß eines französisch-russischen Beistandspaktes, den wenige Tage später ein Bündnis der Sowjetunion mit der Tschechoslowakei ergänzte, was das Vorweltkriegssystem militärischer Verbindungen zwischen Frankreich und Rußland – nun über Polen hinweg – wiederherzustellen schien. Die wichtigsten Bestimmungen enthielten die Verpflichtung zu sofortiger gegenseitiger Hilfe, falls ein Angriff auf einen der beiden Staaten erfolgen sollte. Ein Zusatzprotokoll nahm eine ungewöhnliche dynamische und pragmatische Formel auf. Sie nannte Deutschland als möglichen weiteren Partner, legte mithin die künftigen Beziehungen gegenüber Deutschland noch nicht fest. Eine Bestimmung über die tschechisch-russischen Beziehungen schränkte die sowjetische Beistandspflicht ein auf den Fall, daß auch Frankreich dem angegriffenen Partner Hilfe leistete. Mithin blieb Frankreichs Entscheidung maßgebend sowohl für das Schicksal der Tschechoslowakei als auch für ein Eingreifen Rußlands. Frankreich erschien in bevorzugter Position. Doch die Entwicklung militärischer Machtverhältnisse beeinflußte dies nicht mehr. Mit der Begründung, daß der französisch-russische Pakt einen Bruch des Vertrages von Locarno darstelle, ließ Hitler am 7. März 1936 die entmilitarisierte Zone im Rheinland besetzen. Mit diesem dritten Coup an einem Sonnabend nutzte er wieder innerfranzösische Schwierigkeiten aus. Währendessen fand Italiens Krieg gegen Abessinien, das letzte große selbständige Land Afrikas, ein Ende. Trotz der zweideutigen Haltung Lavals und der Vorsicht Englands litt Italien zunächst – noch mehr politisch-psychologisch als ökonomisch – unter Sanktionsmaßnahmen. Da sich jedoch, neben Österreich und Ungarn, die

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dem Völkerbund nicht angehörenden Mächte, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Japan, hieran nicht beteiligten, drang die wirtschaftliche Pression nicht durch und konnte sie den Sieg Italiens nicht verhindern. Deutschland hatte sich anfangs den Sanktionen angeschlossen, sich aber durch die Annäherung Mussolinis während der deutschen Wiederbesetzung des Rheinlandes 1935 wie in der Österreich-Frage gewinnen lassen.39 Im August 1935 hatte der VII . Komintern-Kongreß die Volksfront-Politik einer Vereinigung linker Parteien unter kommunistischer Maßgabe propagiert, um den Kommunisten in Westeuropa neue Chancen zu eröffnen. Dies verschärfte die ideologischen Auseinandersetzungen in fast allen Staaten und führte zu Wahlerfolgen der Kommunisten in Frankreich und Spanien. Die Propagandaministerien und die Politische Polizei Deutschlands und Italiens vereinbarten daraufhin im Frühjahr 1936 gemeinsame Strategien. Dem folgte in Deutschland ein schärferes Vorgehen gegen Freimaurer, erneut gegen Juden40 und gegen die Kirchen auf ihren tradierten Grundlagen, was teilweise heftige innerkirchliche Gegensätze auslöste, so daß sogar von „Kirchenkampf “ gesprochen worden ist.41 Im Juli begann in Spanisch-Marokko der Aufstand nationalistischer Militärs gegen die Linksregierung in Madrid, der nach wenigen Tagen zu scheitern drohte. Italien wie Deutschland griffen ein. Auf der anderen Seite beteiligte sich Rußland. Die anfangs zur Intervention bereite französische Volksfrontregierung unter Léon Blum hielt sich alsbald ebenso wie England und die übrigen Völkerbundsstaaten an den Grundsatz der Nichteinmischung. Doch Freiwillige und ihre Anwerbung wurden nicht behindert. Vor diesem Hintergrund eines die Welt erregenden, zweieinhalb Jahre dauernden höchst blutigen Spanischen Bürgerkriegs42 unter internationaler Beteiligung und mit allen militärischen Mitteln, auch neuen Waffen, die erprobt wurden, wie einst im Burenkrieg, spielten sich die nächsten Akte ab. Im Oktober 1936 kam Mussolinis Schwiegersohn Graf Ciano als italienischer Außenminister nach Berlin, um ein Pro-

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tokoll über das politische Zusammenwirken Deutschlands und Italiens zu unterzeichnen. Mussolini sprach zum ersten Male am 1. November in Mailand von einer „Achse Rom – Berlin“.43 Zudem besiegelten am 25. der einen Monat zuvor zum deutschen Botschafter in London ernannte Joachim von Ribbentrop und der japanische Botschafter in Berlin den Antikomintern-Pakt, einen ungewöhnlichen Vertrag, in dem sich beide Mächte in globaler Weite zu einer Zusammenarbeit gegen die Kommunistische Internationale verpflichteten.44 Ein geheimes Zusatzprotokoll schloß sowohl Verträge mit der Sowjetunion als auch jede Unterstützung Rußlands im Falle eines Angriffs aus. Im Hintergrund hatten Hitlers Rüstungspläne neue Gestalt angenommen. Wirtschafts-, vor allem Außenhandels- und Devisenprobleme der auf Autarkie zusteuernden Politik verlangten nach Regelungen, die Hitler nun ganz dem Rüstungszweck unterordnete. Eine im Hauptteil von ihm selbst Ende August 1936 verfaßte Denkschrift „über die Aufgaben eines Vierjahresplanes“ schloß mit der ausführlich begründeten Entscheidung: „I. Die deutsche Armee muß in 4 Jahren einsatzfähig sein. II . Die deutsche Wirtschaft muß in 4 Jahren kriegsfähig sein.“45 Das wurde annähernd erreicht. Doch das reale Bild des Krieges, den Hitler wählte, wandelte sich in ungeahnter Weise.

Hitler und die Wehrmacht Als Hitler am 16. März 1935 der Öffentlichkeit die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht von einjähriger Dauer ankündigte, hatte die deutsche Aufrüstung längst eingesetzt. Doch erst im Oktober 1936, nach der Verlängerung der Wehrpflicht auf zwei Jahre und der Ankündigung des zweiten Vierjahresplans überschritt das Heer die von Hitler eineinhalb Jahre zuvor genannte Zahl der Divisionen. Die Untereinheiten erreichten erst nach Jahresbeginn 1938 den schon drei Jahre vorher innerhalb wie außerhalb Deutschlands genannten Stand von mehr als einer halben Million Mann. Hitler bluffte. Der Bedarf an Offizieren

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war nicht gedeckt, Homogenität wie Standard, wie ihn die Generäle wünschten, nicht erreicht. Nach den Kriegsfallberechnungen des Generalstabs wäre das Heer gar nicht voll einsatzfähig gewesen. Die Luftwaffe hatte sich allerdings schneller entwickelt, da sie auf gute technische Vorbereitung und geheime Ausbildungsgänge innerhalb der Sowjetunion seit 1927 aufbauen konnte. Im Frühjahr 1938 ließ der beschleunigte Ausbau durchgehender Befestigungsanlagen vor der deutsch-französischen und deutsch-belgischen Grenze einen 630 km langen „Westwall“ entstehen, hinter dem sich eine „Luftverteidigungszone West“ mit Flugabwehrstellungen erstreckte. Die Hast, mit der Hitler die Verstärkung der Wehrmacht vorantrieb, erklärt sich aus der Befürchtung, seine Vorhaben könnten durchkreuzt werden, wenn es nicht gelänge, eine überlegene Militärmacht aufzubauen, ehe die Gegner darauf vorbereitet waren. Schon in einer Rede vor hohen Befehlshabern der Reichswehr am 3. Februar 1933 hatte er geäußert, die gefährliche Zeit sei die des Aufbaus der Wehrmacht. Dann werde sich zeigen, ob Frankreich Staatsmänner habe; sie würden Deutschland keine Zeit lassen, „sondern über es herfallen“.46 Offenkundig enthielt Hitlers Lebensraum-Vorstellung neben dem Gedanken wirtschaftlicher Expansion den hiermit eng verbundenen weiteren der Verschiebung, Verdrängung oder gar Beseitigung fremder Völker. Er befaßte sich nie mit Integration, da sein Nationalismus ausschließlich ethnisch-rassisch determiniert war und keine multiethnische oder gar mehrsprachige Bevölkerung vorsah. Dies wäre einer Erneuerung österreichischungarischer Verhältnisse nahegekommen, gegen die er sich schon frühzeitig engagiert hatte. Einer großen deutschen Nation, die es so noch gar nicht gab, galt seine Vorstellung und sein politischer Wille. Sie zu erneuern, zu stärken, im Kampf und gar Krieg einzuschmelzen, erschien ihm als einzig lohnendes Ziel. Das schloß allerdings nie aus, daß Hitler einzelne Momente und Elemente seiner Gedanken unterschiedlich und wechselnd hervorhob, mitunter verschwieg oder gar ableugnete, je nach der Zwecksetzung seiner Reden – vor einer kleineren Zahl von

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Generälen und hohen Offizieren, in vertrautem Kreis, etwa am 3. Februar 1933, oder ganz anders vor dem Reichstag wie vor der Weltöffentlichkeit, etwa in seiner „Friedensrede“ am 17. Mai des gleichen Jahres. Eine universale Anlage seiner Überlegungen und Ziele läßt sich am ehesten aus der frühen schriftlichen Niederschrift „Mein Kampf “ sowie seinem unveröffentlichten „Zweiten Buch“ ergründen.47 Entsprechend wechselhaft konnte er sich aber auch politisch entscheiden. Vorteile, die sich in einer neuen Situation zu bieten schienen, wußte er immer zu erkennen und rasch für seine Zwecke auszunutzen – bis 1940. Fraglos ging es Hitler 1933 um die Stimmung in der Reichswehrführung und um die Identifikation ihrer Zwecke mit seinen Zielen.48 Das gelang nicht ohne Schwierigkeiten. Doch Hitler zeigte sich unbeirrbar, taktisch in Grenzen wandlungsfähig, geschickt und einfallsreich. Die alle Widerstände durchdringende Willenskraft erscheint offenkundig.49 Was Hitler plante und ins Werk setzte, geschah im Geheimen, in Eile, wiederholt als überraschender Vorstoß aus dem Verborgenen. Durch die anfänglich geheime, bald offene Beteiligung von Spezialeinheiten der deutschen Wehrmacht am Bürgerkrieg in Spanien lenkte vor allem die modern ausgerüstete Luftwaffe die Aufmerksamkeit auf sich. Nachdem Italien das Ziel seines Feldzugs in Abessinien schließlich mit Hilfe seiner Luftwaffe erreichen konnte, schien nun Spanien die Theorie des italienischen Generals Douhet zu bestätigen, derzufolge künftige Kriege durch Überlegenheit in der Luft entschieden würden. Als 1937 rüstungswirtschaftliche Engpässe infolge des raschen Aufbaus der Wehrmacht unübersehbar wurden, beanspruchte Göring, preußischer Ministerpräsident, zugleich Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Beauftragter für den Vierjahresplan, daß die neue Luftwaffe zu bevorzugen sei. Hiergegen versuchten der Oberbefehlshaber des Heeres, Frh. von Fritsch, und Generalstabschef Beck das historische Übergewicht des Heeres zu behaupten. Reichskriegsminister von Blomberg drängte auf Gleichstellung der drei Wehrmachtsteile unter seinem Oberbefehl. Diese Frage trieb auf einen Konflikt zu, bis sich Hitler ein-

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schaltete und die streitenden Persönlichkeiten am 5. November 1937 in der Reichskanzlei zur Unterwerfung unter sein Vorhaben brachte.50 Er kündigte ein Vorgehen gegen Österreich und die Tschechoslowakei an. Hitler meinte, daß im Konfliktsfall sowohl England als auch Frankreich nicht eingreifen würden. Drei der fünf Gesprächspartner Hitlers am 5. November schieden in den nächsten drei Monaten aus ihren Ämtern. Dem folgte ein umfangreiches Revirement im Auswärtigen Amt wie in der hohen Generalität. Reichsbankpräsident Schacht gab die Leitung des Reichswirtschaftsministeriums ab, zunächst an Göring, ehe Funk, der Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, an dessen Stelle trat. Hitler übernahm selbst den Oberbefehl über die Wehrmacht. An die Spitze des Heeres trat General von Brauchitsch. Der Umfang dieses Revirements und seiner innerpolitischen Auswirkungen blieb hinter dem Schlag im Sommer 1934 kaum zurück. Damals wie diesmal standen Hitler Göring und Himmler wie Goebbels als Gehilfen zur Seite. Doch große Teile der Bevölkerung blieben beunruhigt. Es regte sich ein beständiger Kern der inneren Opposition, der einen Krieg verhindern wollte.51 Unter den Opponenten befanden sich auch Persönlichkeiten, die sich zu Beginn der nationalsozialistischen Ära dem Aufbau der Wehrmacht gewidmet hatten. Allerdings gab es wenige, die Einblicke in die Lage gewannen und dann aussprachen, wozu sie sich durch ihre Einsicht gedrängt sahen. Die militärische Fronde gewann Verbindung zu zivilen Gegnern der Politik Hitlers. Dies war der Anfang einer Verschwörung zum Widerstand gegen das Regime. Gegen eine Neufassung des Wehrmachtaufmarschplans für die rasche militärische Eroberung der Tschechoslowakei verwahrte sich der Generalstabschef Beck, wie es ihm zustand, in militärisch-technischen, aber eben geistig und politisch unabhängigen Darlegungen.52

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Großdeutschland Noch bevor das Wort vom „Dritten Reich“ Popularität gewann, wurde schon von einem künftigen großdeutschen Nationalstaat gesprochen. In katholischen Teilen Süddeutschlands war man hierzu noch früher und entschiedener bereit als im konservativen preußischen Norden und Osten, nachdem ÖsterreichUngarn zerfallen war und das künftige Schicksal der Deutschen jenseits der Reichsgrenze offen schien. Vom österreichischdeutschen Volksbund bis in die sozialdemokratische Parteiführung hinein und in den Wehrverband „Reichsbanner SchwarzRot-Gold“ gab es entschiedene Bekenntnisse für ein künftiges „Großdeutschland“.53 Dies galt gar als Gegengewicht oder Korrektur eines „preußischen konservativen Nationalismus“, eines Deutschland unter der Hegemonie Preußens.54 Schließlich existierte eine Art Wahlverwandtschaft zwischen „Stahlhelm“ und „Reichsbanner“ in der „auf die Kameradschaft des Krieges sich berufenden Idee der Volksgemeinschaft“.55 Auch die NSDAP bewegte sich programmatisch in dieser Richtung, trieb aber weiter voran. Der gebürtige Österreicher Hitler brauchte nur zuzugreifen und sich zu erklären, um glaubwürdig zu erscheinen und neue Anhänger zu gewinnen. Das Jahr 1938 lieferte Beweise, wie leicht dies möglich war. Das fast spielerisch anmutende, wechselhaft reagierende und doch in Vorhaben, Erklärungen, Zielsetzungen und großen Reden völlig unbeirrte, linear erscheinende Vorgehen Hitlers läßt sich nur in einer Revue der Einzelheiten fassen, die hier nicht vermerkt werden können. Doch das umgebende Szenarium eines zerrissenen Europa, einander widerstreitender Staaten und Politiker sollte als Hintergrund der vermessenen Pläne und Entschlüsse des deutschen Führers nie übersehen werden. Hitler vermochte häufig sehr rasch aufzufassen und war immer zu schnellen Entscheidungen fähig, ganz auf sich gestellt und offenbar niemals wirklich irritiert oder gar von Selbstzweifeln heimgesucht. Als Programmatiker, für den Politik und Leben dasselbe waren, hatte er in „Mein Kampf “ bekannt, er wolle ein „Polarstern der suchen-

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den Menschheit“ sein. So verhielt er sich im festen Glauben an nichts anderes als an sich selbst.56 Auch der Zufall kam Hitler zur Hilfe. Die Nationalsozialisten Österreichs forderten ihre Beteiligung an der Politik ihrer Regierung. Daraufhin ging Bundeskanzler Schuschnigg auf einen Vorschlag des deutschen Botschafters in Wien ein, des ehemaligen Vizekanzlers von Papen, den Nationalsozialisten Seyß-Inquart zum Minister zu ernennen. Göring, der die schwierige wirtschafts- und finanzpolitische Situation in etwa überblickte, drängte Hitler zum Handeln in seinen zuvor bekannten Bahnen. Während Schuschnigg dann nach einem kurzen Zwischenspiel Seyß-Inquart die Regierungsgeschäfte übergab, erging bereits der Befehl zum Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. Das rasche und reibungslose Vorrücken schnell bereitgestellter deutscher Verbände erschien als Bewährung des Organisationssystems des Heeres. Daraufhin begann die nächste Phase in Hitlers Außenpolitik. Er wandte sich den Zielen zu, die er, nun im Besitze erforderlicher Machtmittel, erreichbar wähnte.

Appeasement In Rußland schritt Stalins „Große Säuberung“ weiter fort. Seit Anfang 1937 rottete er einen großen Teil des älteren Offizierskorps der Roten Armee aus.57 Eine Revision der sowjetischen Außenpolitik kündete sich in der Lösung aus dem Engagement im spanischen Bürgerkrieg an. Im Westen zeichnete sich die Wirkung eines neuen wirtschaftlichen Rückschlags ab. England litt unter einer vom Rückgang des Handels ausgehenden Geschäftsflaute, die mit über 1,6 Millionen Arbeitslosen Ende 1937 wieder den Stand vom Winter 1932/33 erreichte. Die britische Außenpolitik folgte nach ihren Erfahrungen mit den Friedensschlüssen dem Prinzip, für Entspannung in Europa wie in den weiten Zonen der kolonialen Interessen und der Dominions Sorge zu tragen. Die wirtschaftliche Verflechtung innerhalb des British Commonwealth of Nations be-

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stimmte das Maß. Von Lloyd George ging 1922 das Schlagwort aus; Austin Chamberlain bezeichnete dann 1929 den LocarnoPakt als Grundlage von „appeasement and reconciliation“. Liberale wie konservative Außenpolitiker und Labour-Sprecher erklärten sich für Ziel und Zweck eines „European settlement and appeasement“ wie etwa Anthony Eden und ähnlich Stanley Baldwin im Juni 1936.58 Großbritannien war als große Kolonialmacht noch weit vor Frankreich Repräsentant und Wächter einer europäischen Kultur und Aufklärung in Übersee von Südafrika bis Australien geworden. Die geistige Heranbildung von Eliten der Commonwealth-Staaten wirkte nicht weniger formgebend als die vitalen Interessen der Handeltreibenden in diesem Welthandelsstaat. Um der Erhaltung des Friedens willen und um europäische Spannungen von den Entwicklungen im Empire fernzuhalten, gedieh auf dem Boden der Versailles-Skepsis die Vorstellung eines Europäischen Appeasements, des Aushandelns friedlicher Lösungen mit den bald waffenstarken Mächten des Kontinents, sofern dies das Empire selbst nicht tangierte. Den Ausdruck „World Appeasement“ gebrauchte Lord Halifax im Februar 1932 im Oberhaus.59 Allerdings gab es Differenzen der Auffassungen, im Hinblick auf Grenzen, Möglichkeiten und die einzuschlagenden Wege. Doch friedliche Sicherung globaler Handels- und Finanzbeziehungen des bis zum ersten Weltkrieg bedeutendsten Industriestaates besaß Tradition. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Forderung nach Pazifikation der Welt häufiger und entschiedener erhoben, je deutlicher sich Krisenund Konfliktzonen abzeichneten – dramatisch seit der Mandschurei-Krise in Ostasien, dem neuen, zunächst eigenmächtigen Vorstoß der japanischen Kwantung-Armee nach China im September 1931, Attentaten auf führende japanische Politiker, dem Austritt Japans aus dem Völkerbund im Februar 1933 und der Schaffung des Satellitenstaates Mandschukuo.60 Behauptung, mehr schon Rückgewinnung der britischen Weltmachtstellung im globalen Spannungsfeld sich stetig verschärfender vielfältiger Konflikte blieb erster und bedingender Faktor dieses

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Prinzips.61 Einen weiteren bildete die Rücksichtnahme auf die Dominions – auch dies im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Potenz. Die Beunruhigung in Indien, im Nahen Osten und in den britischen Kolonien in Afrika trugen ein übriges bei.62 Von Lord Lothian wird überliefert, daß er Nehru, den Nationalistenführer Indiens, nur auf „den nächsten Weltkrieg“ warten wähnte, um „die Revolution in Indien“ auszulösen.63 Die Folgen erschienen in vielen Hinsichten kaum noch absehbar. Die Entwicklung in Europa verwies in dieser Perspektive auf eine notwendige Zweigleisigkeit, eine „dual policy“ Englands.64 Im Budget für 1937/38 wurde der Rüstungsanteil erheblich aufgestockt. Doch dies blieb unpopulär in Geschäftskreisen. Sie sahen die Zukunft der englischen Wirtschaft nach wie vor in der Belebung des englischen Handels, die schließlich auch aus der Depression der frühen dreißiger Jahre herausgeführt hatte. Das neue Rüstungsprogramm setzten Politiker durch, die unter der Führung Churchills die Entwicklung der deutschen Militärmacht mit Mahnungen und Warnungen begleiteten und Auswirkungen auf das gesamte Empire befürchteten. Ein Jahr nach Abschluß des Antikomintern-Paktes zwischen Deutschland und Japan, im November 1937, trat auch Italien diesem Bündnis bei. Das Foreign Office ging nunmehr davon aus, daß eine höchst kritische Phase der Weltpolitik bevorstehe. Lord Halifax, der Präsident des Geheimen Rates, kam in inoffizieller Mission nach Deutschland. Er stellte die Kolonialfrage zur Disposition und erörterte als künftige Verhandlungsgegenstände das Verhältnis Deutschlands zu Österreich, zur Tschechoslowakei und zu Danzig. Er kam Hitler weit entgegen, setzte allerdings die deutsche Beteiligung an einem globalen „settlement“ voraus, das auf lange Sicht die Erhaltung des Friedens garantieren sollte. Einem englischen Vorstoß in Rom gelang es wenig später, Mussolini zu einer Verständigung über britischitalienische Interessen im Orient, im Mittelmeer und in Ostafrika zu bewegen. Ein Abkommen brachte im April 1938 die förmliche Anerkennung der italienischen Herrschaft über Abessinien. Das Ziel war noch weiter gesteckt. Das Foreign Office

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wünschte, Italien als Bundesgenossen zu gewinnen.65 Doch Hoffnungen auf die – keineswegs pro-deutsche – Haltung Graf Cianos trogen.

Vor und nach München In Berlin war 1937 im Auswärtigen Amt im Stillen eine neue Ära angebrochen. Freiherr von Weizsäcker, der konservative Leiter der Politischen Abteilung, versuchte, eine eigene fachlich abgestimmte Initiative zu begründen und ein „föderatives Großdeutschland“ auf dem „Wege der Evolution“66 im Rahmen europäischer Vorgänge anzustreben. Doch schon im folgenden Jahr kumulierten die Spannungen jenseits der deutschen Grenze. Und nach Österreich geriet die Tschechoslowakei in innere wie in äußere Bedrängnis. Die große Schwäche der im Gefolge des ersten Weltkriegs zusammengerafften Volksteile der tschechoslowakischen Republik unter den herausragenden Politikern Masaryk und Benesˇ lag in dem über zwei Jahrzehnte integrationslos gebliebenen multiethnischen Charakter der Bevölkerung. Die national gesinnten Tschechen verfügten nicht über die Mehrheit, freilich im Innern Böhmens und Mährens über geschlossene Siedlungsgebiete. Um den Vorrang des Tschechentums zu sichern, kam es zu Absonderungen in bestimmten Berufen, vor allem im Heer und im Beamtentum. Angesichts der Autonomie- und Selbstbestimmungsparolen am Ende der Donaumonarchie war dies ein offenkundiger Widerspruch, der durch wechselnde, insgesamt zunehmende Spannungen noch früher und deutlicher in Erscheinung trat als in Jugoslawien, das zu manchen Vergleichen anregen kann. 1938 waren von den etwa 15 Millionen Einwohnern 43 Prozent Tschechen, 23 Prozent Deutsche, 22 Prozent Slowaken, 5 Prozent Magyaren, 7 Prozent Juden, 3 Prozent Ukrainer und Polen. Doch zum vollständigen Bild gehört, daß der weitaus größte Teil der Minderheiten ebenfalls überwiegend in geschlossenen Siedlungsgebieten mit alten Bräuchen und

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Gewohnheiten lebte.67 Ein großer Teil der Bevölkerung verstand die tschechische Amtssprache gar nicht. Über die Hälfte der deutschen Abgeordneten konnte den in tschechischer Sprache geführten Verhandlungen im Prager Parlament nicht folgen und sich nicht an ihnen beteiligen. Spannungen verschiedenen Grades waren an der Tagesordnung, ehe eine rasche Zuspitzung der tschechoslowakisch-deutschen Beziehungen einsetzte. Die nationalsozialistische Propaganda unterstützte die 1933 gegründete Sudetendeutsche Partei des Konrad Henlein, die mit ihrem Autonomieprogramm bei der Wahl 1935 die stimmenstärkste unter den tschechoslowakischen Parteien wurde. Mit finanzieller Hilfe von deutscher Seite trat dann Henlein für den Anschluß des Sudetengebietes an das Deutsche Reich ein, was die innertschechischen Verhältnisse zunehmend beunruhigte und auch Slowaken und andere Minderheiten in Bewegung brachte. Am 21. Mai 1938 wurden von Prag aus Falschmeldungen über deutsche Truppenbewegungen verbreitet, die eine Teilmobilmachung der tschechoslowakischen Armee nach sich zogen. Das ließ Hitler nun unumwunden seine Ziele ansteuern. Während einer Ansprache vor Ministern, Vertretern der Wehrmacht und der Partei am 28. Mai berührte er die Möglichkeit eines Krieges. Zwei Tage später unterzeichnete er eine Weisung zur beschleunigten Vorbereitung einer militärischen Aktion gegen die Tschechoslowakei. Eine warnende Denkschrift von Weizsäckers, nunmehr Staatssekretär, für Reichsaußenminster von Ribbentrop, blieb ebenso wirkungslos wie die dem Oberbefehlshaber des Heeres vorgetragenen Einwände des Generalstabschefs. Weizsäcker sagte voraus, daß nach einem zu erwartenden Kriegseintritt Englands und Frankreichs die Vereinigten Staaten und Rußland nicht unbeteiligt bleiben würden, was „finis Germaniae“ bedeute. General Beck brachte in der letzten Denkschrift am 16. Juli eine noch weitergehende Überlegung zum Ausdruck, die in der Feststellung gipfelte, daß Hitlers Pläne mit großer Wahrscheinlichkeit in einen Krieg mündeten, der „nach menschlicher Voraussicht mit einer nicht nur militärischen, sondern auch allgemeinen Katastrophe für Deutsch-

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land endigen wird“.68 In einer Vortragsnotiz vom gleichen Tag hielt er fest: „Es stehen hier letzte Entscheidungen über den Bestand der Nation auf dem Spiele. Die Geschichte wird diese Führer mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbieten … Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen“.69 Das bleibt das klarste Urteil, das überliefert ist. Eine annähernd gemeinsame Beurteilung der Lage durch die hohe Generalität ergab sich am 4. August. Hitler, der dies erfuhr, versammelte daraufhin die Generalstabchefs der drei Wehrmachtsteile, dann die höheren Befehlshaber, um sie für sich zu gewinnen. Beck nahm den Abschied. Eine regelrechte Verschwörung stand jedoch noch auf schwachen Füßen, als sich London entschloß, den Führer durch begrenzte Konzessionen von seinen weiteren Zielen abzubringen. Am Tage, nachdem Hitler auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg die Abtrennung der Sudetengebiete gefordert hatte, schlug Premierminister Chamberlain ein Treffen vor. Dreimal kam er zu Gesprächen nach Deutschland, auf den Obersalzberg, nach Bad Godesberg und nach München.70 Am 18. September ging ein Vorschlag der englischen wie der französischen Regierung nach Prag, die Gebiete mit mehr als zur Hälfte deutscher Bevölkerung an Deutschland abzutreten. Als Gegenleistung stellten beide Mächte eine Garantie des tschechoslowakischen Staates in Aussicht. Inzwischen wurde auf Hitlers Weisung unter großem Propagandaaufwand ein „Freikorps“ aus Sudetendeutschen aufgestellt, forderten aber auch Polen und Ungarn Abtretungen von Prag. Beim nächsten Treffen mit Chamberlain übergab Hitler ein Memorandum, in dem er eine deutsche Besetzung der Sudetengebiete und eine anschließende Volksabstimmung ankündete. Unterdessen begann Frankreich mit Mobilmachungsvorbereitungen. Danach verbreitete sich die Nachricht von einer Gene-

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ralmobilmachung der Tschechoslowakei. Hitler reagierte unverzüglich. Der deutsche Aufmarsch im Grenzbereich begann. In großen Teilen Ostmitteldeutschlands wurde die Bevölkerung Zeuge des noch unvollkommenen Aufbaus des Heeres, das teilweise im bunten Durcheinander requirierter Autos Bereitstellungsräume bezog. Am 28. September folgten dicht aufeinander die Nachrichten von der Mobilisierung der englischen Marine, von Warnungen des französischen Botschafters in Berlin, dann die Botschaft des Duce, der zum Einlenken riet und eine Viererkonferenz vorschlug. Schon am folgenden Tage, am 29. September, wurde dann das Abkommen von München von Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler unterzeichnet.71 Hitler zog sich auf die in seinen Augen kleinere Lösung zurück, die sich auf die Selbstbestimmungsforderung der Sudetendeutschen72 stützte, die England schon mehr oder minder deutlich anerkannt hatte. Die französische Seite konnte kaum noch Einwände vorbringen. Ohne die Tschechoslowakei an Verhandlungen oder Entscheidungen zu beteiligen, wurde ihr durch eine Vereinbarung der europäischen Großmächte die Verpflichtung auferlegt, die überwiegend von Deutschen bewohnte Grenzzone zwischen dem 1. und dem 10. Oktober zu räumen, während die deutschen Truppen bereits einrückten. Ein internationaler Ausschuß sollte die Modalitäten der Räumung bestimmen und auch über die Staatszugehörigkeit von Gebieten nicht eindeutig geklärter Bevölkerungszusammensetzung entscheiden und danach den Grenzverlauf im einzelnen festlegen. Das deutsche Besetzungsgebiet war auf der Karte von München nur skizzenhaft umrissen. Bald aber zeigte sich die Bedeutung der Zusätze zum Abkommen. Englands und Frankreichs Angebot einer Garantie der neuen Grenzen galt als Grundlage. Dieser Garantie sollten sich Deutschland und Italien nach der Regelung der polnischen und der ungarische Ansprüche anschließen. Ein weiterer Zusatz erklärte Regelungen für die ungarische wie für die polnische Minderheit zur Aufgabe der Regierungschefs der vier Großmächte, sofern das Problem nicht innerhalb von drei Monaten zwischen

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den beteiligten Staaten gelöst worden sei. Dem kam in Hinsicht auf Ungarn der erste Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 zuvor, in dem die Außenminister Deutschlands und Italiens im pompösen Rahmen des Schlosses Belvedere eine neue Grenze festsetzten. Es gab weder Konferenz noch Konvention. Hitler entschied und gab sich nun schon als Diktator Europas. Die Tschechoslowakei geriet unter der Führung Benesˇs vom Triumph nach den Pariser Friedensschlüssen zum Opfer des Abkommens von München. Polen ergriff von dem heftig umstrittenen kleinen, dicht bevölkerten und wirtschaftlich wichtigen Teschener Gebiet schon vorher Besitz, während sich auch Autonomiebestrebungen der Slowaken regten. Die Souveränität eines mitteleuropäischen Staates wurde mit vernichtender Mißachtung von den vier Großmächten übergangen. Frankreich befand sich sogar noch mit ihm in einem politischen und militärischen Bündnis. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch die Kleine Entente zerfiel und sich politische Unsicherheit in Südosteuropa ausbreitete. Im Anschluß an das Münchener Abkommen hatte Hitler eine von Chamberlain vorgeschlagene Erklärung unterschrieben, in der sich Deutschland und England verpflichteten, niemals gegeneinander Krieg zu führen und in Fragen der europäischen Politik nur nach gegenseitiger Konsultation zu entscheiden. Eine ähnliche deutsch-französische Erklärung kam danach auch am 6. Dezember 1938 in Paris zustande. Chamberlain entschied sich zu einer Verkündung des Münchener Abkommens in optimistischer Attitüde. Er faßte es ebenso wie die deutsch-englische Erklärung, die er nach seiner Rückkehr in London vor den Augen einer jubelnden Menge schwenkte, als großen Erfolg auf, der den Frieden bewahre: „Peace for our time!“.73 Hitler hatte vor München eine Anzahl Generäle entlassen und die Erziehung von Heer und Offizierskorps im nationalsozialistischen Sinne unter der Führung des Oberkommandos der Wehrmacht vereinheitlicht. Die Propaganda in Reden, Rundfunk und Film hat später zu einer übertreibenden Fehldeutung

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der nationalsozialistischen Periode geführt, in der kollektive Begeisterung der Bevölkerung als Schlüssel zum Verständnis erscheint, wie es der Propagandaminister und seine Organe auch erscheinen lassen wollten. Versuche der Beeinflussung erstreckten sich aber auch auf andere Zonen der Erde. Beziehungen zu Arabern wurden angebahnt. In Argentinien beteiligten sich Teile der deutschen Volksgruppe in Verbindung mit der Auslandsorganisation der NSDAP an innerpolitischen Auseinandersetzungen, in Brasilien sogar an einem Versuch, den Staatspräsidenten zu stürzen. Der Präsident der ersten südamerikanischen Volksfrontregierung in Chile, Pedro Aguirre Cerda, bemühte sich, gar durch eine Annäherung an Deutschlands gegen die Vereinigten Staaten Boden zu gewinnen, die auf diesen Einbruch in ihre Hemisphäre antworten mußten. Eine innerpolitische Verschärfung innerhalb Deutschlands mit weit ausgreifenden Folgen bewirkte am 7. November 1938 ein siebzehnjähriger jüdischer Flüchtling, der in Paris einen Beamten der deutschen Botschaft niederschoß.74 Am Abend des 9. November kam es zu organisierten Ausschreitungen gegen Juden. In der folgenden Nacht wurden jüdische Kultstätten durch Brandlegung vernichtet, zahlreiche Geschäfte und Warenhäuser geplündert, in Brand gesetzt oder zerstört, eine größere Zahl von Juden ermordet, viele schwer verletzt; Tausende kamen zumindest zeitweilig in Konzentrationslager.75 Göring hatte als Wirtschaftsdiktator schon vorher begonnen, die im wirtschaftlichen Leben tätigen Juden auszuschalten. Ende April 1938 wurde die Anmeldpflicht jüdischer Vermögen angeordnet, im Juli ein gesetzliches Berufsverbot für Juden in gewerblichen Bereichen verhängt. Die letzte der Verordnungen, die Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan im November erließ, verfügte die Ausschaltung aller Juden aus dem Wirtschaftsleben bis zum Jahresende. Statt eines obsoleten „Klassenkampfes“ war nun Rassenkampf angesagt, der Nationalismus auf „rassisch“ begründeten Ethnos abgesunken, der mit allen Mitteln gegen die Juden mobilisiert wurde.76 Der Ethnozid kündete sich an. Dies provozierte die Vereinigten Staaten, in denen nach dem

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Anschluß Österreichs an Deutschland, vor und während der Kongreßwahlen 1938 die schärfsten Reaktionen gegen Hitlers Politik gar in Opposition zum Präsidenten in der Öffentlichkeit hervortraten.77 Die 1938 stetig wachsende Zahl europäischer Flüchtlinge wies ein Weltproblem aus, das die Reden wie die sich andeutenden unheilvollen Absichten Hitlers vor einen düsteren Hintergrund rückten. Präsident Roosevelt ergriff die Initiative zu einer internationalen Konferenz, die sich mit der Frage der „unfreiwilligen Auswanderung aus Deutschland“ befassen sollte. 31 Staaten waren im Juli in dem französischen Alpenbadeort Evian am Genfer See vertreten, um das ernste Problem der mittellosen jüdischen Auswanderer zu erörtern. Sie setzten ein ständiges zwischenstaatliches Komitee für politische Flüchtlinge ein. Doch Deutschland betrachtete dies als Herausforderung. Das Auswärtige Amt bezeichnete die „Judenfrage“ als innerdeutsches Problem und lehnte schlicht die Transferierung deutscher Vermögen, die sich in jüdischen Händen befanden, ab. Auch Roosevelt erlitt in den Vereinigten Staaten eine Schlappe. Doch nach den Pogromen des November begann ein neuer „Krieg der Worte“, der die deutsch-amerikanischen Beziehungen fortan aufs Äußerste belastete.78 Der amerikanische Botschafter in Berlin wurde abberufen. Gestützt auf fast fünf Jahre hindurch entspannte deutschpolnische Beziehungen bemühte sich Polens Außenminister Beck, Ostmitteleuropa als „drittes Europa“ unter polnischer Führung zusammenzuschließen. Mit der Schwächung der Tschechoslowakei, deren Zusammenbruch er vorausgesehen hatte, verschwand ein Hindernis auf diesem Wege. Beck dachte an ihre Aufteilung, um eine gemeinsame polnisch-ungarische Grenze im Karpatengebiet zu gewinnen und Ungarn in dieses „dritte Europa“ – eine südosteuropäische Koalition – und dann auch Jugoslawien und Rumänien einzubeziehen. Dieser Plan durchschnitt die Linie, die Hitler im Auge hatte, der sich zunächst dem Status der Freien Stadt Danzig zuwandte, die unter den Augen der mitbestimmenden polnischen Regierung aus der Oberaufsicht des Völkerbundes hinausstrebte.79

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1939 Noch im Oktober 1938 verlangte Hitler von Polen die Zustimmung zur Rückkehr Danzigs in den Verband des Deutschen Reiches sowie eine exterritoriale Autostraße und Eisenbahnlinie nach dem abgesonderten Ostpreußen und bot hierfür eine Garantie der polnischen Grenze an. Er wiederholte dies anläßlich eines Besuchs Becks Anfang 1939 in Berchtesgaden und erneut anläßlich eines Gegenbesuchs Ribbentrops in Warschau.80 Die Tschechoslowakei war unterdessen nicht zur Ruhe gekommen. Eine neue Verfassung kam den Slowaken entgegen. Aber die Volksgruppen strebten über den erreichten Zustand hinaus. Noch während des deutschen Einmarschs in das Sudetenland setzte ein Parteitag der katholischen Slowakischen Volkspartei in Preßburg eine slowakische Regierung unter dem Parteiführer Tiso ein und beschloß die Einberufung eines Parlaments. Vergleichbares ereignete sich in der Karpato-Ukraine, wo ukrainische Nationalisten eine autoritäre Regierung ins Amt brachten. Es kam auch wieder zu Zwischenfällen zwischen den im tschechischen Restgebiet verbliebenen Deutschen und Tschechen. Anfang März sah der tschechische Staatspräsident Hacha keinen anderen Ausweg, als, gestützt auf die immer noch gut gerüstete tschechische Armee, die karpato-ukrainische und die slowakische Regierung ihrer Ämter zu entheben, Preßburg besetzen und einige slowakische Führer verhaften zu lassen. Daraus ergab sich eine neue tschechische Krise, da sich der Widerstand gegen Hacha ausbreitete und die Nachbarstaaten eingriffen. An einer karpato-ukrainischen Autonomie war keine Macht interessiert. Dieser Teil der Tschechoslowakei wurde nach militärischer und diplomatischer Absicherung von Ungarn einverleibt. Tiso erhielt von Hitler eine Einladung zur Unterredung in der Reichskanzlei. Danach sagte sich das slowakische Parlament von der Prager Regierung los und stellte den slowakischen Staat unter den Schutz des Führers des Großdeutschen Reiches. Innerhalb von Stunden zerfiel die neue Tschechoslowakei. Hacha

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eilte nach Berlin. Eine von Hitler, Ribbentrop, Hacha und dem tschechischen Außenminister am 15. März unterzeichnete Erklärung lieferte einen Rechtstitel für den vorbereiteten und schon am 12. März befohlenen Einmarsch deutscher Truppen, die am frühen Morgen Prag erreichten. Die Umwandlung Böhmens und Mährens in ein „Reichsprotektorat“ beschränkte die tschechische Autonomie auf die Kulturpolitik und beließ der tschechischen Regierung, unter der Aufsicht des deutschen Reichsprotektors Freiherr von Neurath, eine eigene Polizei sowie ein kleines Heer, das noch während des zweiten Weltkriegs bestand. Deutsche militärische und Polizeiverbände verblieben im Protektorat, Truppen auch in der Slowakei. Der wirtschaftliche Anschluß war vollkommen. Neben der gesamten Ausrüstung der tschechischen Wehrmacht fielen wichtige Flugzeugfabriken, die bedeutenden Witkowitzer Eisenwerke und mit den Sˇkoda-Werken in Pilsen eines der größten europäischen Rüstungsunternehmen in deutsche Hände. Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien suchten Fühlung mit Deutschland und trieben auch Ungarn an seine Seite, das als vierter Staat dem Antikominternpakt beitrat. Wirtschaftliche Abhängigkeiten und Rüstungskredite fielen ebenso ins Gewicht wie die fehlende Distanz zur Diktatur und zum Antisemitismus. Besonders eng gestalteten sich alsdann die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Rumänien, das nach einem noch vor Jahresende 1938 ausgehandelten Handelsvertrag 45 Prozent seines Außenhandels mit dem nun auch offiziell so genannten Großdeutschland abwickeln und den gesamten deutschen Friedensbedarf an Erdölerzeugnissen decken sollte.81 Weitere Verhandlungen in Bukarest dienten einer „Lenkung der rumänischen landwirtschaftlichen Erzeugung unter Berücksichtigung des deutschen Bedarfs“. England und Frankreich versuchten vergeblich, die Unterzeichnung des Vertrags zu verhindern, der eine bedeutsame Erweiterung des deutschen Wirtschaftsimperiums brachte. Diese Bindung Rumäniens an Deutschland noch kurz vor dem deutschen Einmarsch in Prag trug erneut zur schweren Belastung der Situation in Europa

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bei.82 Die Beunruhigung der vom deutschen Vordringen berührten englischen Wirtschaftsinteressen wie der leitenden Männer des Foreign Office drückte sich in einer Änderung des Manuskripts der Rede aus, die Chamberlain am Abend des 17. März in Birmingham hielt, mit der der Premier aller Welt eine Wendung seiner Politik ankündete. Er zählte die Versprechungen auf, über die sich Hitler hinweggesetzt hatte und drückte die Empörung Englands über die Vernichtung der Unabhängigkeit des tschechische Volkes aus: „Ist dies der letzte Angriff auf einen Kleinstaat, oder sollen ihm noch weitere folgen? Ist dies nicht tatsächlich ein Schritt in die Richtung eines Versuches, die Welt mit Gewalt zu beherrschen?“83 Doch nun schaltete sich die Sowjetunion ein. Sie schlug eine Konferenz von sechs Mächten zur Konsultation über Hitlers Pläne vor. Noch am 20. März bekundete Lord Halifax im Oberhaus die Entschlossenheit der Regierung, allen Weltherrschaftsbestrebungen den Weg zu verlegen. Chamberlain verfolgte den Plan eines Paktes, der England, Frankreich, die Sowjetunion, Rumänien und Polen zu gegenseitigen Konsultationen verpflichtete. Unmittelbar danach erzwang Deutschland von Litauen die Rückgabe des Memellandes. Doch der Widerstand, der den englischen Plan störte, ging von Rumänien und Polen aus, das den Gedanken irgendeiner engeren Beziehung zu Rußland strikt ablehnte. Außenminister Beck schlug den Westmächten zweiseitige Abkommen vor und stellte das Foreign Office vor die Wahl, sich entweder für Polen oder für die Sowjetunion zu entscheiden. Die Würfel fielen, als Chamberlain erklärte, Polen mit allen Mitteln unterstützen zu wollen. Frankreich schloß sich dem an. Im April folgte eine englisch-polnische Beistandsverpflichtung. England führte die Wehrpflicht ein und erklärte noch im gleichen Monat, nach der Besetzung Albaniens durch Italien, eine Garantie für den Bestand Rumäniens und Griechenlands. Daraufhin kündigte Hitler sowohl das deutsch-englische Flottenabkommen als auch den deutschpolnischen Nichtangriffspakt. Am 19. Mai kam ein französischpolnisches Militärabkommen zustande. Im Juli begannen eng-

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lisch-polnische Militärbesprechungen; und nach dem Beginn deutscher Truppenbewegungen an die polnische Grenze im August wurde ein Beistandsvertrag zwischen England und Polen abgeschlossen. Die Chronik entscheidender Ereignisse erscheint dicht und dramatisch. Am 3. April hatte Hitler das Oberkommando der Wehrmacht angewiesen, einen Feldzug gegen Polen vorzubereiten. Die Verstärkung seiner Rüstungsindustrie erlaubte es Deutschland, auch andere Staaten zu beliefern. Die italienischdeutschen Beziehungen wurden durch ein weit fassendes Bündnis vom 22. Mai, dem sogenannten Stahlpakt, neu gefestigt. Deutschlands Aufrüstung näherte sich ihrem Abschluß. Vor den Wehrmachtsbefehlshabern und ihren Stabschefs verkündete Hitler am 23. Mai seinen Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen.84 Inzwischen hatten russisch-englisch-französische Militärverhandlungen begonnen, die jedoch in eine Sackgasse gerieten, als Rußland freie Hand den baltischen Staaten gegenüber forderte und Polen das verlangte Recht zum Durchmarsch sowjetischer Truppen in einem Kriegsfall ablehnte. Hitler ließ daraufhin bei Molotow sondieren, der die Leitung der russischen Außenpolitik übernommen hatte. Bereits im August zeichneten sich dann andere Verhandlungen ab. Als Hitler einen Besuch Ribbentrops in Moskau ankündete85, fragte Molotow, ob Deutschland bereit sei, mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt abzuschließen, eine Besserung der Beziehungen Japans zu Rußland zu fördern und Besprechungen über die baltischen Staaten zu führen. Das glich einer Bedingung, auf die Hitler jedoch unverzüglich einging. Während sich die Militärbesprechungen mit den Westmächten dahinschleppten, knüpfte die Sowjetführung Verbindung zur anderen Seite. Am 23. August flog Ribbentrop nach Moskau ohne jede – im Stahlpakt vereinbarte – Konsultation Italiens. Noch am gleichen Tage unterzeichneten Ribbentrop und Molotow in Gegenwart Stalins einen deutsch-russischen Pakt. Ein geheimes Zusatzprotokoll legte die „Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphä-

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ren in Osteuropa“ fest. „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung“ wurde nicht nur die Aufteilung Polens in großzügiger Manier, „ungefähr“ entlang den Flußläufen von Pissa, Narew, Weichsel und San, sondern auch schon die weitere Zukunft der baltischen Staaten, Finnlands und des zu Rumänien gehörenden Bessarabien umrissen und der russischen Sphäre, Litauen der deutschen zugeordnet. Vor den hohen Befehlshabern der Wehrmacht hatte Hitler schon am 22. August den Pakt mit Rußland angekündigt. Er hielt es nun für sicher, daß sich England und Frankreich, unzulänglich gerüstet, an einem Kriege nicht mehr beteiligen könnten.86 Ein dringend mahnender Brief Chamberlains ließ Hitler scheinbar einlenken. Er widerrief einen bereits erteilten Befehl für den Angriff am 26. August. Ein von Göring veranlaßtes Zwischenspiel über einen schwedischen Vermittler und Gespräche Hitlers mit dem englischen Botschafter schoben den Beginn des zweiten Weltkriegs aber nur noch um wenige Tage hinaus.87 „Whatever may be the issue of the present struggle, and in whatever way it may be brought to a conclusion, the world will not be the same world that we have known before. Looking to the future we can see that deep changes will inevitably leave their mark on every field of men’s thought and action, and if humanity is to guide aright the new forces that will be in operation, all nations will have their part to play“, erklärte Premierminister Chamberlain im britischen Unterhaus88.

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II Vom europäischen zum globalen Krieg Militärische Siege und Niederlagen Dieser Krieg war das Werk Hitlers, der zunächst das erreichte, was er erreichen wollte: die völlige Auflösung Polens, eine erneute polnische Teilung – nach einem Feldzug von wenig mehr als drei Wochen.1 In der britischen Regierung, vor allem beim Premierminister selbst, wirkten die Auffassungen, die die Politik des Appeasements weithin bestimmten, noch kaum verändert fort. Dies begründete eine zunächst zurückhaltende englische Kriegführung.2 In der Regierung Chamberlain überwog aber die Einsicht, sich auf gar keinen Fall nochmals mit Hitler einlassen zu dürfen. Die Bindung an den militärisch stärkeren, allerdings zögernden Verbündeten Frankreich fiel immer mehr ins Gewicht. Er schien als einzige Macht Deutschland gegenüber zu Lande gerüstet und zu militärischem Widerstand befähigt; doch die Mehrheit der Bevölkerung war pazifistisch gesinnt und hatte durch eine linke Regierung den Deutschen den Krieg erklärt, um dem, wie man es sah, von einer chauvinistischen Clique geführten, international höchst unzuverlässigen Polen an die Seite zu treten3 – im Bunde mit England. Aber nach dem deutschen Polenfeldzug sah man auch in Frankreich die drohende Gefahr. Allerdings verfing die von der deutschen Propaganda verbreitete Parole noch einige Zeit: „C’est l’Angleterre qui veut la guerre et c’est la France qui la fera seul“.4 Die französische Armee gebot über einen starken Kern – mit Mängeln der Organisation und im Oberbefehl. Die englische Kriegsmaschinerie bedurfte noch einer Anlaufzeit. Aber nach Erweiterung des Kriegskabinetts kam ein Prozeß in Gang, der die großen Ressourcen des Weltreichs der Kriegführung er-

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schloß und für eine ständig wachsende Kriegs- und Versorgungsindustrie verfügbar machte. Skepsis oder Opposition ergaben sich hingegen auf deutscher Seite unter einigen an entscheidender Stelle stehenden Militärs. Zu den militärischen Bedenken und Befürchtungen trat alsbald die Empörung nach ersten vertraulichen Mitteilungen über Praktiken der Verwaltung und der SS im besetzten Polen.5 Auf der deutschen Seite wurde das ganze Verhängnis der Volkstums- und Rassenideologie sichtbar, sobald eine ihrer Aufgabe gar nicht gewachsene Verwaltung unter hohen Parteiführern mit den Problemen einer Millionenbevölkerung anderer Sprache und Nationalität in Konflikte geriet und nur noch Macht und Gewalt entschieden. Der andauernde Kriegszustand, Gewalttätigkeiten der Betroffenen und gegenseitiger Haß führten zur Vernichtung.6 Ein Bericht über Einzelheiten des schrankenlosen Regimes von SS und Polizei in den besetzten Gebieten, den der Militärbefehlshaber im Osten, Generaloberst Blaskowitz, Brauchitsch und Hitler erstattete, wurde auch den Heeresgruppenführern im Westen bekannt. Hitler lehnte jedoch jedes Eingreifen ab. Ein Feldzug im Westen schien der deutschen Führung im Winter wenig aussichtsreich. Der Angriff auf Polen war unter dem Gesichtspunkt begonnen worden, die letzte witterungsmäßig günstige Zeit des Jahres auszunutzen. Dann gab es Nachrichten, die den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine veranlaßten, auf die Gefährdung der Erzzufuhr aus Schweden und Norwegen durch Wegnahme des Hafens Narvik zu reagieren. Schließlich kam eine kombinierte Landungsoperation der Marine mit Heeresverbänden in den wichtigsten norwegischen Häfen einer englischen Landung im nördlichen Norwegen nur um einen Tag zuvor. Im Verlauf eines etwa sechs Wochen dauernden Feldzuges konnte dann das ganze Land an der Nordflanke Europas besetzt und bis Kriegsende behauptet werden. Die deutschen Verluste blieben verhältnismäßig gering; allerdings ging ein Teil der deutschen Zerstörerflotte vor Narvik verloren. Eine seebeherrschende Stellung konnte die Seekriegsführung

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nicht erlangen. Doch noch ehe sie die wenigen Großkampfschiffe verlor, entwickelte sich wie im ersten Weltkrieg auch im zweiten ein weit in alle Meere hineinwirkender U-Boot-Krieg. Ob auch eine Landungsoperation im nördlichen Nordamerika, an der Küste Neufundlands, geplant oder versucht wurde, worauf man sich dort vorbereitete, ist bislang ungeklärt geblieben. In Neufundland wurde bis 1942 eine starke, schwer bestückte, heute noch vorhandene Küstenbefestigung errichtet.7 Die Seekriegsleitung entwickelte ihre eigene Vorstellung vom Krieg, an der sie, unbekümmert um das Kriegsgeschehen auf dem Kontinent, beharrlich festhielt. „Seekrieg heißt Kampf gegen die Seeverbindungen des Gegners. Weiter nichts …: eine Seemacht gegen eine andere Seemacht … durch Vernichten dieser Überwasserstreitkräfte, daß damit … dem Sieger die Seeverbindungen des Geschlagenen in den Schoß fallen …“, lautete die schlichte Richtweisung des Großadmirals Dönitz.8 Inzwischen hatte sich Hitler für eine Offensive im Westen und eine Strategie entschieden, die auf einer Umgehung der stark befestigten französischen Maginot-Linie beruhte und mit einem Angriff durch die neutralen Staaten, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, begann. In einem zweiten Akt drangen deutsche Panzerverbände durch die Ardennen in Richtung auf die Kanalküste vor, wo die Einschließung großer Teile der englischen Landungsarmee bei Dünkirchen gelang. Sie konnte zwar nach England übersetzen; doch dies schwächte die französische Nordflanke, die das weitere Vorrücken deutscher Truppen bis an die Pyrenäen nicht mehr aufzuhalten vermochte. Mitte Juni 1940 schien das Schicksal Frankreichs militärisch besiegelt. Die Regierung des greisen Marschalls Pétain kapitulierte. Als Ausdruck des Triumphs ließ Hitler im Wald von Compiègne die Kapitulationsurkunde im gleichen Eisenbahnwagen unterzeichnen, in dem der deutschen Delegation unter Erzberger im November 1918 die alliierten Kapitulationsbedingungen übergeben wurden. Deutlicher konnte die Beziehung zwischen erstem und zweitem Weltkrieg kaum demonstriert werden. Der Einmarsch deutscher Truppen in Paris vollendete den Triumph.

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Doch der Sieg im Juni 1940 war kein Endsieg sondern lediglich eine Etappe in einer Linie, die für Hitler und Deutschland zwar noch strategische Erfolge, aber keinen kriegsentscheidenden Sieg brachte. Ohne die kriegsgeschichtlichen Abläufe zu rekapitulieren, lassen sich mehrere gravierende Faktoren für die deutsche Niederlage anführen. Vor allem anderen rangiert die Erfolgsversessenheit Hitlers, der niemals ernsthaft von seiner Kampfeswut, seinem Ziel des Endsieges und der Vernichtung seiner Gegner abkam. Wahrscheinlich stärkte die Entwicklung und Erprobung neuer Waffen seine Zuversicht9, obgleich sich die Engländer bald als überlegen erwiesen. Offenkundig ermangelte Hitler jeglicher Fähigkeit zu selbstkritischer Reflexion. Auch die mißlungenen Attentate auf ihn10 scheinen seine Selbstgewißheit nicht beeinträchtigt zu haben.11 Das konnte folgerichtig nur durch Tod, Selbstmord, wenn nicht Ermordung enden. In England gab es nach der Niederlage von Dünkirchen keine nennenswerte Bereitschaft mehr zum Ausweichen oder Ausscheiden aus dem Kriege, mag kurz vorher auch das hintergründige Wirken des alten Lloyd George in eine andere Richtung gewiesen haben. Die Wende im Mai 1940 ging auf vielfältig gewachsene Animositäten, am Ende aber auf Klugheit und Energie Winston Churchills zurück.12 Der geheimgehaltene Flug des Hitler-Stellvertreters Heß nach England, um einen Weg zu Verhandlungen anzubahnen, am 10. Mai 1941, dem Jahrestag des Beginns der deutschen Westoffensive, wurde vom britischen Geheimdienst kontrolliert.13 Auch Kontaktversuche aus deutschen Widerstandskreisen änderten nichts am Verlauf des Krieges.14 Die Geheimdienste entfalteten alsbald ein großes Potential einsatzfähiger Gegenkräfte, was der deutschen Kriegführung ungeahnte Schwierigkeiten in den Weg räumte, denen sie mit verfehlten Mitteln zu begegnen versuchte. Im April 1939 hatte der Chef des Empire-Generalstabs den Auftrag erteilt, Methoden des Guerrilla-Kampfes zu studieren und hierzu Anweisungen zu entwickeln. Das Ergebnis waren ausführliche Darlegun-

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gen eines künftigen Partisanenkrieges und dessen planmäßige Organisation – unter Nutzung aller mobilisierbaren Widerstandskräfte in besetzten Gebieten.15 Erste Erkundungen begannen im Sommer 1939 in den Donaustaaten, in den baltischen Ländern und in Polen. Gegen einen Blitzkrieg war man nicht gefeit. Aber am 25. Mai 1940 stand im Kriegskabinett die Proposition des Stabschefs zur Debatte, „daß Deutschland nur noch durch wirtschaftlichen Druck besiegt werden kann und durch eine Kombination von Luftangriffen auf wirtschaftliche Ziele in Deutschland wie auf die Moral der Deutschen mit der Auslösung einer ausgedehnten Revolte in ihren besetzten Gebieten“. Diese sei von höchster Bedeutung und bedürfe geeigneter Organisation. Dies kam einer „Revolution im britischen strategischen Denken“ gleich.16 Neville Chamberlain, der als Präsident des Geheimen Rates im Hintergrund noch über Einfluß verfügte, entschied diese entschlossene Abkehr vom vergangenen Appeasement und formulierte den höchst geheimen Entschluß zur irregulären Kriegführung „by way of subversion and sabotage“, dem das Kabinett am 22. Juli 1940 zustimmte.17 Dem Begriff für den irregulären Kampf in revolutionärer Zeit, dem „terreur“, trat ein nun erneuerter Begriff irregulären Kampfes an die Seite, die „guerrilla“, einstmals das südamerikanische Pendant zum europäischen Revolutionskrieg. In den Völkern, die im ersten Jahr des Krieges Opfer erfolgreicher deutscher Invasionen und Blitzkriege geworden waren und zu politischer Passivität verdammt schienen, weckte die Tätigkeit von Widerstandsorganisationen allmählich neue Hoffnungen: „Nachdem der Abgrund schon aufgebrochen war, gab der letzte Halt in der Résistance Millionen von Menschen die Selbstachtung zurück, die sie im Augenblick der nationalen Katastrophe verloren hatten“, wie ein idealisierender Betrachter urteilte.18 Die nationalstaatliche Parole gab den Ausschlag, mögen die Bewegungen des Widerstands mit legitimen, geflüchteten Regierungen in ihrem Exil in Verbindung gestanden haben und durch sie beeinflußt worden sein oder sich als revolutionäre Organisationen aufgefaßt und erklärt haben.

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Auch der – mit Verzögerung – organisierte Partisanenkampf in Sowjetrußland zählt hierzu.19 Bis Ende Juli 1941 sollen dort 1755 Vernichtungsbataillone im Rücken der Deutschen formiert worden sein.20 Mit dem Krieg der Bombenangriffe auf englische Städte, Fabriken wie Wohnviertel hatte Görings Luftwaffe im Mai 1940 begonnen. Die Verluste der englischen Zivilbevölkerung waren hoch. Doch im folgenden Jahr begann sich das Blatt zu wenden. Das ahnungslose, zur Begeisterung gebrachte Publikum, das schließlich die rhetorische Frage von Goebbels jubelnd bejahte – „Wollt ihr den totalen Krieg?“21 – ahnte kaum, was dies noch bedeuten werde. Die Technik der Zerstörung und Lebensvernichtung seit dem ersten deutschen Luftangriff auf Coventry in der Nacht vom 14. zum 15. November 1940 machte rasche und gewaltige Fortschritte, wenn auch das schreckenerregendste Kriegsmittel, das aus dem ersten Weltkrieg bekannt war, Giftgase verschiedener Provenienz, lediglich in geheimen Erprobungsanlagen eines deutschen Konzentrationslagers, doch in der Kriegführung nur durch Japaner in Nordchina zur Anwendung kam. „Die Totalisierung der Kriegführung führt nur zur Beschleunigung der Kriegführung selbst“, verkündete Goebbels.22 Technische Entwicklungen nahmen sich aber in ganz anderer Hinsicht bedeutsam und folgenreich aus. Die große Leistung der Entzifferung deutschen Funkverkehrs in der Luft wie auf der See, die polnische Vorarbeiten verwerten konnte, schuf bald eine Informationsüberlegenheit der britischen Seite, die durch den Wechsel des Chiffriersystems der Deutschen 1942 lediglich für ein Jahr unterbrochen wurde.23 Seit Frühjahr 1940 ermöglichte sie Kenntnisse deutscher Schiffsbewegungen, dann die Kontrolle der deutschen Seekriegführung sowohl über als auch unter der Meeresoberfläche. Entschlüsselte Funksprüche lieferten sich ständig verdichtende Einblicke in alle deutschen Operationen. Mit verdeckter Informationsquelle wurde im Sommer und Herbst 1941 auch die sowjetische Seite mehrfach unterrichtet.24 Sobald sich der Überraschungseffekt der Blitzkriegsstrate-

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gie verlor, mußte die stets beträchtliche, ständig wachsende Überlegenheit der Ressourcen der Gegner Deutschlands ins Gewicht fallen, so daß eine langfristige Kriegführung in die Niederlage führte.25 Die deutsche Kriegswirtschaft war auf die erschlossenen Ressourcen der Balkanstaaten, vor allem Rumäniens und auch Jugoslawiens angewiesen, wo die politischen Konflikte – unter britischer und bald unter amerikanischer Einwirkung – ständig zunahmen. Eine diktatorische Regierung des Generals Antonescu blieb umstritten; ein Putsch gegen ihn im Januar 1941 schlug fehl, hinterließ jedoch dauernde Unzufriedenheit, von den liberalen Gegenstimmen ganz zu schweigen. Man könne „in der heutigen Lage verstehen, daß man die Interessen Rumäniens mit denen Deutschlands in Einklang bringt, aber nicht, daß man sie opfert“, schrieb der ehemalige liberale Parteiführer Constantin, Dinu Bratia˘. nu an Antonescu.26 In Jugoslawien bemühte sich Prinz Paul um die Aufbau einer persönlichen Diktatur mit Anlehnung an Deutschland und Beitritt zum Dreimächtepakt. Er suchte durch Zugeständnisse Matschek, den Führer der Kroatischen Bauernpartei, zu gewinnen, der jedoch Verbindung nach England unterhielt und von den kroatischen Nationalisten unter dem in Rom weilenden Ante Pavelic´, dem späteren Ustascha-Diktator, heftig befehdet wurde. Entscheidend fiel schließlich das deutsche Verlangen nach Abrüstung der jugoslawischen Armee in Gewicht, das auf entschiedenen Widerstand des Offizierskorps unter Führung des Luftwaffenteiles stieß.27 Angesichts des russischen Vordringens im Baltikum, einer Expansion auf dem Balkan und der Reorganisation der Roten Armee hatte sich Hitler mit dem Plan des gegen Osten gerichteten „Unternehmens Barbarossa“ schon im Juli 1940 befaßt. Doch der Termin des Beginns wurde hinausgeschoben – schließlich bis zum 22. Juni 1941, nachdem der Balkanfeldzug eine Umdisponierung der Kräfte erfordert hatte.28 Inzwischen hatte Japan mit der Sowjetunion einen Neutralitätspakt abgeschlossen.

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Die auf Schlieffen mehr als auf Clausewitz aufbauende strategische Theorie des deutschen Generalstabs zielte auf Umfassungsangriff und Vernichtungsschlacht und ging von „der Notwendigkeit eines kurzen Krieges“29 aus. Die erste Phase der größten Offensive der Militärgeschichte schien zunächst auch noch einmal wie ein Blitzkrieg abzulaufen und brachte der zahlenmäßig weit stärker aufmarschierten Roten Armee gewaltige Verluste. Doch mit dem Hereinbrechen des Winters begann sich das Blatt zu wenden. In militärischer Hinsicht schien für Deutschland und die Achsenmächte Ende 1941 kein baldiger Sieg mehr greifbar. Der 52-jährige Hitler war kein Realpolitiker geworden. Die letztlich gravierende Ursache der deutschen Niederlage lag in einer Überdehnung der Kriegszwecke, die Maß- und Stärkeverhältnisse mehr und mehr außer Acht ließen. Nicht von ungefähr ist als Zweck der starrsinnig verfolgten Politik Hitlers nach seiner Heimkehr aus dem ersten Weltkrieg die Absicht erkannt worden, „den Weltkrieg noch einmal zu führen und ihn diesmal mit einem deutschen Sieg abzuschließen.“30 Das Kriegführen war zur Leidenschaft, war zum Lebensinhalt geworden. Nach dem Offenbarwerden des zähen Widerstandswillens Großbritanniens legte es die Außenpolitik Ribbentrops darauf an, Japan für einen Zweifrontenkrieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen.31 Sie bestärkte das Interesse des ostasiatischen Kaiserreiches an den Rohstoffgebieten des niederländischen Kolonialgebietes wie in Malaya, was zu einer verschärften Konfrontation sowohl mit Großbritannien als auch mit den Vereinigten Staaten führte. Auch Indochina rückte ins Blickfeld. Dies führte im September 1940 zum Abschluß eines deutsch-japanisch-italienischen Dreimächtepaktes, über den schon seit 1938 verhandelt wurde. Doch von einem Krieg gegen die Sowjetunion hielt sich Japan fern. Die großen Mängel auf sowjetischer Seite, die im russischfinnischen Winterkrieg 1939/40 zutage traten, vor allem aber die Anfangserfolge des deutschen Angriffs in Rußland, der die Rote Armee in einem noch nicht vollendeten Reorganisations-

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und Rüstungsprozeß traf, verleiteten nicht nur Hitler zur Überschätzung des vermeintlichen neuen Blitzkriegserfolges.32 Sogar zuvor skeptische Generäle zeigten sich überrascht. Auch in England wie in den Vereinigten Staaten räumten manche Stimmen der Sowjetunion nur wenige oder gar keine Erfolgsaussichten ein. Stalin, der sich seit Mai 1941 als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare in der Stellung eines Regierungschefs befand, übernahm am 10. Juli den Vorsitz im umgebildeten Hauptquartier des Oberkommandos und wurde im August auch nominell Oberster Befehlshaber der Streitkräfte der USSR . In der zweiten Julihälfte, im August und Anfang September gelang es, im Mittelabschnitt der Ostfront den deutschen Angriff einstweilen zum Stehen zu bringen und um Smolensk für mehrere Wochen an einer Verteidigungsposition festzuhalten. Hier „zeichnete sich erstmals das herannahende Fiasko“ des vermeintlichen Blitzkriegs ab.33 Hitlers Zielsetzung, die er im Juli 1941 bekundete, ist in drei Komplexen präzisiert worden: der Schaffung einer breiten Herrschaftszone im europäischen Rußland – ein „deutsches Indien“, Verdrängung der Juden aus dem deutsch beherrschten Teil Europas und eine Massenumsiedlung Deutscher nach Ostmittel- und Osteuropa.34 Noch vor Beginn des Rußlandfeldzuges, am 11. Juni 1941, erließ Hitler die „Weisung Nr. 32“, die das bis dahin verwegenste Unternehmen „für die Zeit nach Barbarossa“ ankündigte und deutliche Vorstellungen eines grenzenlosen Eroberungsdranges vermittelt.35 Alles Gewollte erschien ihm greifbar nahe: „Nach der Zerschlagung der sowjetrussischen Wehrmacht werden Deutschland und Italien das europäische Festland – vorläufig ohne die iberische Halbinsel – militärisch beherrschen. Irgendeine Gefährdung des europäischen Raumes zu Lande besteht dann nicht mehr“. Zur Sicherung „genügen wesentlich geringere Kräfte des Heeres“. 60 Divisionen sollten ausreichen. „Der Schwerpunkt der Rüstung kann auf die Kriegsmarine und auf die Luftwaffe gelegt werden“. Auch eine „Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit“ galt schon als sicher,

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um englische Kräfte im Mittelmeer zu binden. Aus Libyen sollte nach Ägypten vorgestoßen werden, gleichzeitig nach Bulgarien durch die Türkei und „unter Umständen auch aus Transkaukasien heraus durch den Iran“, dann gegen den Irak und unter „Ausnutzung der arabischen Freiheitsbewegung“ – „zeitgerecht“ – nach Palästina, bei gleichzeitiger Wegnahme Gibraltars und Absperrung des Mittelmeerraumes. Gegebenheiten, Bedingungen und Hindernisse beschäftigten Hitler nicht mehr. Seine Pläne bewegten sich in einer imaginären Welt. Hitler baute auf enge Bundesgenossenschaft Japans, glaubte im Sommer 1940 an einen Sturz Churchills in London und Friedensbereitschaft Englands, ging aber neben der Kriegführung in Rußland bewußt das hohe Risiko eines Krieges mit den Vereinigten Staaten ein, deren Präsident von der nationalsozialistischen Presse wie von Hitler selbst ständig beschimpft wurde. In Dakar wie in Bagdad kam es zu kurzen politischen Zwischenspielen, die indessen die Überlegenheit britischer Informationen und Reaktionen erwiesen. Eine Weisung Hitlers vom 14. Juli 1941 führte die einige Wochen vorher anvisierte Absicht aus, die weitere Rüstung wesentlich vom Heer auf die Luftwaffe, die vervierfacht werden sollte, und auf die Seekriegführung zu verlagern.36 Die Heeresrüstung konzentrierte sich auf die Schaffung neuer Panzerdivisionen. Die Planung umfaßte die Besetzung Gibraltars, die Azoren – als See- und Luftbasis gegen die USA –, die Kanarischen und die Kapverdischen Inseln, Marokko, die westafrikanische Küste bis Dakar, die Einbeziehung Ägyptens sowie der gesamten Nahost-Einflußzone Englands und die Zugänge nach Indien. Doch schon Nachschub und Versorgung der deutschen Armeen in den Weiten Rußlands litten technisch und bald in jedem militärischen Betracht unter fühlbar gewordenen Unzulänglichkeiten, während die sowjetische Armee ständig an Stärke gewann und durch alliierte Hilfen wirkungsvoll versorgt wurde.37

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Kriegseintritt der Vereinigten Staaten Ein globales Ausgreifen der Außenpolitik kündeten schon Präambel wie Bestimmungen des Dreimächtepaktes an: „eine neue Ordnung der Dinge“ – in Europa wie in Asien – galt als Zweck des Bündnisses.38 Ihm schlossen sich in den folgenden Monaten Ungarn, Rumänien, die Slowakei, Bulgarien, Jugoslawien und nach dem Sturz der Regierung in Belgrad und dem Balkanfeldzug auch ein von der Ustascha regiertes quasifaschistisches Kroatien an. Doch dieses Bündnis war auf Sand gebaut. Japans Außenminister Matsuoka hatte auf seinem Rückweg von Berlin nach Tokio in Moskau einen japanisch-russischen Neutralitätspakt unterzeichnet. Dies sicherte das japanische Vorgehen auf dem Kontinent, in der Mandschurei, der Mongolei und in Nordchina ab. Schon vorher waren Waffentransporte über die sowjetische Grenze unterblieben, die der Verbindung und Unterstützung der regulären chinesischen Armee sowie der von den chinesischen Kommunisten ausgestatteten Widerstandskräfte der Dorfbevölkerungen gegen die Japaner dienten. Die Folge war, daß dort der Partisanenkrieg mit Hieb- und Stichwaffen, Handgranaten und Landminen aus einem unterirdischen Gängesystem heraus geführt wurde.39 In dieser neuen Art des Partisanenkrieges schloß sich das ländliche Volk eng zusammen. Die Japaner setzten Giftgas gegen die unterirdischen Feinde ein, ohne weit voranzukommen. Auch hier nahm der Krieg die Form totaler Vernichtung der wirklichen wie der potentiellen Gegner an. Aus diesem Partisanenkrieg, in China „anti-japanischer Widerstandskrieg“ genannt, ging schließlich 1945 Mao Zedongs Doktrin des – der Theorie nach – jedweden Gegner besiegenden kommunistischen „Volkskriegs“ hervor. Schon 1938 ließ sich in China die Behauptung vernehmen: „Die Partisanenkriegführung ist die Hauptkriegführung für alle unterdrückten Nationen, die nach Freiheit und Befreiung streben.“40 Militärgeschichtlich wurde dem Einsatz technisch überlegener Waffen die mobilisierte Kampfkraft der gesamten Bevölkerung entgegengesetzt. Rigoroser Vernichtungswille auf beiden Seiten war das Resultat.

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Nach dem von Matsuoka erreichten japanisch-russischen Ausgleich trat das Kabinett Konoye in Tokio zurück. Es wurde umgehend neu gebildet; Matsuoka gehörte ihm nicht mehr an. Japan eröffnete seine Expansion in eine „großostasiatische Wohlstandssphäre“ mit einer Offensive im Süden in Richtung auf Singapur, Malaya, Indochina, nach Birma und gegen die niederländischen Sunda-Inseln. Diese Globalisierung des Krieges – wie die Totalität der Kampfformen – ließ die Vereinigten Staaten nicht aus dem Spiel. Hier hatte Präsident Roosevelt schon vor Kriegsausbruch begonnen, das vor allem im Mittleren Westen vorherrschende isolationistische Klima, in dem das „nationale Interesse“ nur strikte Neutralität zuließ, allmählich zu verändern. Eine berühmte Chicagoer „Quarantäne“-Rede im Oktober 1937, nach dem neuen japanischen Angriff auf China, fand ein überwiegend günstiges Echo. Wenn sich kriegerischer Angriffsgeist wie eine ansteckende Krankheit ausbreite, dann müsse sich die Gemeinschaft darauf verstehen, den Patienten in „Quarantäne“ zu tun.41 Das war vorsichtig, aber deutlich genug ausgedrückt. Im November 1939 hob eine solide Kongreßmehrheit das geltende Embargo für Kriegsmaterial (Cash-and-carry-Klausel) auf, was faktisch nur den Alliierten Nutzen brachte. Mit Vorsicht, die durch den bevorstehenden Wahlkampf um seine zweite Wiederwahl 1940 geboten war, der ersten und bislang einzigen in der amerikanischen Geschichte, aber überaus zweckbewußt setzte der Präsident nach und nach Vergünstigungen Englands zur Stärkung seiner Widerstandskraft durch. Mit dem LeihPacht-Programm (Lend and Lease Act) verfügte er seit März 1941 über ausgedehnte Vollmachten zur materiellen Unterstützung der Alliierten. Kann man diese Anfänge noch als außenhandelspolitische Ergänzung und Fortsetzung des innerpolitischen New Deal bezeichnen, mit dem Roosevelt die USA aus den Wirkungen der Weltwirtschaftskrise herausführte, so wird im Sommer 1941 sein Entschluß greifbar, stärker in den Kriegsverlauf einzugreifen. Präsident wie Militärs der Vereinigten Staaten gingen aber kurz nach Beginn des deutschen Ostfeldzu-

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ges noch davon aus, daß Hitler nur sechs bis acht Wochen brauchen werde, „um mit Rußland aufzuräumen“.42 Roosevelt ließ im Juli Island besetzen, um es ebenso wie die Azoren in die amerikanische Sicherheitszone der „westlichen Hemisphäre“ einzubeziehen, die Hitlers Plänen eine deutliche Grenze setzen sollte. Doch neue Spannungen entluden sich im Pazifik. Neben den im Geheimen mit der amerikanischen Seite fortgeführten Verhandlungen über die Duldung der Expansion Japans in Südostasien, die Aufhebung eines Ölembargos wie die Beendigung jeder Unterstützung Tschiang Kai-sheks rüstete das Kaiserreich zum Kriege. Seine Militärs bereiteten systematisch einen möglichst vernichtenden Schlag gegen die in Pearl Harbor zusammengezogene amerikanische Pazifikflotte vor.43 Drei Wochen nach Beginn der deutschen Offensive gegen die Sowjetunion, am 12. Juli 1941, unterzeichneten auf energisches Betreiben Churchills und nach Eintreffen einer englischen Militärmission in Moskau der englische Botschafter Sir Stafford Cripps und Außenminister Molotow eine Übereinkunft, in der England und die Sowjetunion für die Dauer eines Jahres sich gegenseitige Unterstützung im Kriege gegen Deutschland zusagten. Die merkwürdige Befristung erklärt sich aus dem Umstand, daß es noch offene Fragen gab, über die verhandelt werden sollte. Beide Mächte verpflichteten sich, nicht ohne gegenseitiges Einverständnis über einen Waffenstillstand oder einen Friedensschluß mit Deutschland zu verhandeln. Erst im Mai 1942 wurde diese Übereinkunft durch einen sowjetischbritischen Bündnisvertrag abgelöst. In den monatelangen Verhandlungen, die ihm vorausgingen, hatten sich jedoch die Kardinalprobleme einer gemeinsamen Kriegführung herausgestellt, die die englische Bereitschaft, die Sowjetunion mit Materiallieferungen im großen Umfange zu unterstützen, noch keineswegs auszuräumen vermochte. Diese Probleme überschatteten die Geschichte der großen Koalition im Kriege bis zum Schluß und trugen schließlich zu ihrem Zerfall bei. Hervorzuheben ist auch das Verlangen der Sowjetunion, daß England gegen alle Kriegsgegner Rußlands ebenfalls Krieg

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führe, auch gegen Ungarn und Rumänien, dessen Bestand England 1939 ebenso wie den Polens garantiert, freilich nicht zu schützen vermocht hatte, und gegen Finnland, das noch im Winterkrieg 1939/40 Ziel englischer und französischer Unterstützungsbemühungen und Interventionspläne war, die dann der finnisch-russische Friedensschluß erledigt hatte. Aber nach einiger Zeit gab Churchill in diesem Punkte dem russischen Verlangen nach. Die Vereinigten Staaten folgten etwas später. Eine weitere Forderung Stalins betraf die rasche Schaffung einer zweiten Front, die die Sowjetunion entlasten sollte. Er verlangt sie bereits am 18. Juli 1941 für Nordfrankreich. Doch hierzu war England allein gar nicht in der Lage. Eine kontinentale Kriegführung großen Stils im Westen wurde erst nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und auf der Grundlage einer zwischen den Vereinigten Staaten und England vereinbarten und vorbereiteten gemeinschaftlichen militärischen Planung denkbar und möglich – und nach dem Anlaufen der amerikanischen Kriegsmaschinerie. Am schwierigsten und folgenreichsten aber nahm sich ein dritter Komplex aus, der mit der Frage nach den Kriegszielen verbunden war. In England hatte sich gleich nach dem deutschen Angriff auf Rußland die polnische Exilregierung bemerkbar gemacht, die die erhoffte Annullierung der russischen Okkupation ostpolnischen Gebietes gefährdet sah. Dies warf neue Probleme auf. Außenminister Eden sah keine andere Lösung, als zunächst die Zurückstellung jeder territorialen Vereinbarung anzuraten. Auf sein Betreiben hin kam am 30. Juli 1941 ein Abkommen zwischen der Sowjetunion und der polnischen Exilregierung zustande, die für die Dauer von etwa zwei Jahren regelrechte Beziehungen zueinander unterhielten. In diesem Abkommen wurden Grenzfragen nicht erwähnt. Sie blieben gewissermaßen den Beziehungen zwischen England und der Sowjetunion vorbehalten. Dies wurde sichtbar, als Eden im Unterhaus erklärte, daß die britische Regierung nicht beabsichtige, „irgendwelche territorialen Veränderungen anzuerkennen, die ohne die freie Zustimmung und den guten Willen der beteilig-

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ten Parteien zustande komme“. Die polnische Exilregierung schien zufriedengestellt. Diesen Grundsatz versuchte die britische Politik auch nach dem Kriege im großen und ganzen beizubehalten. Für Amerika, daß sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Krieg befand, gab dann am nächsten Tag der stellvertretende Außenminister Sumner Welles im Verlaufe einer Presseerklärung eine ähnliche Erklärung ab, womit er die englische Haltung zu decken schien, so daß eine erste Übereinstimmung über Fragen der Nachkriegsverhältnisse zwischen dem kriegführenden England und den noch nicht kriegführenden Vereinigten Staaten für die Öffentlichkeit greifbar wurde. Während die polnisch-russischen Beziehungen den ersten Anlaß gaben, ein Übereinkommen zu finden, ist dann während der englisch-amerikanischen Verhandlungen in den folgenden Wochen eine allgemeine Erklärung, die Ziele beider Mächte vereinigte, angesteuert worden. Das Ergebnis bildete die Atlantik-Charta vom 14. August 1941, die jene Einzelfragen klärte, die die englisch-amerikanischen Beziehungen belastet hatten, bevor die Sowjetunion in den Krieg einbezogen worden war.44 Sie glich einer globalen „Pax Britannica et Americana“, der amerikanisch-englische Verhandlungen und ein englischer Entwurf vorausgegangen waren45 und die Roosevelt und Churchill an Bord des englischen Schlachtschiffes „Prince of Wales“ unterzeichneten. Sie erklärte Ziele, die nach der „Vernichtung“ der nationalsozialistischen Tyrannis verwirklicht werden sollten, gemeinsame Ziele, als ob die Vereinigten Staaten schon an der Seite Englands Krieg führten, was dann durch den japanischen Schlag gegen die in Pearl Harbor versammelte amerikanische Pazifikflotte an einem Sonntag morgen, den 7. Dezember 1941, zur unumstößlichen Tatsache wurde.46 Unmittelbar danach folgten weitere japanische Angriffe gegen Ziele auf den Philippinen, gegen britische und amerikanische Besitzungen im Südpazifik und in Südostasien. Nach einem Abkommen über die gemeinsame Kriegführung zwischen Deutschland, Japan und Italien, das Ribbentrop in Berlin mit den Botschaftern der beiden anderen Mächte am 11. Dezember unterzeichnete, erklärte

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Deutschland – wie Ribbentrop vorher dem japanischen Botschafter zugesagt hatte – noch am gleichen Tage den Vereinigten Staaten den Krieg. Die deutsche Offensive in Rußland war inzwischen in dem ungewöhnlich kalten Winter, der über die unzulänglich vorbereitete und ausgestattete Wehrmacht hereinbrach, vor Moskau und Leningrad steckengeblieben, der Blitzkrieg in einen langen Krieg mit ungewissen Aussichten übergegangen. Fürs nächste besaßen lediglich japanische Erfolgsmeldungen aus Südostasien einigen Propagandawert. Krieg herrschte auf allen Weltmeeren, in Rußland zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Asowschem Meer, an der finnischen Grenze bis zur Barentssee, in Nordafrika und im Pazifik, in Ostasien von den Aleuten bis Neu-Guinea, in China, auf den Philippinen, den Sunda-Inseln und in Birma.

Leningrad und Stalingrad Die deutsche Taktik der rasch vorrückenden, die Front des Gegners durchbrechenden und seine rückwärtigen Linien und Versorgungswege überrollenden Panzerkeile schien noch im Sommer 1941 auch im Osten zu triumphieren. Im Norden der Ostfront gelangten die vorstoßenden Panzerverbände Anfang September bis an den Ladogasee. Aus dem weiteren Norden drangen Finnen vor. Das Baltikum, dann die Festung Narwa konnten erobert werden. Leningrad mit seiner Millionenbevölkerung und starken sowjetischen Verbänden wurde eingeschlossen. Am 6. September gab Hitler dem Drängen der Heeresleitung nach und befahl den Abzug aller verfügbaren Angriffsverbände und ihre Bereitstellung zum Angriff auf Moskau, der dann nach frühem Einbruch des Winters mißlang. Doch die Front um Leningrad wurde zum Nebenkriegsschauplatz mit vielfältigen Folgen. Eine Offensive schien hier nicht mehr möglich. Der Ring um die Stadt konnte lediglich Phase um Phase – unter großen Opfern – eingeengt werden.47 Der

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deutsche Oberbefehlshaber setzte daher auf Aushungerung der Stadt. Doch auch die Versorgung der von deutschen Truppen besetzten benachbarten Randgebiete stand in Frage. Es blieb zunächst unentschieden, „wie die Stadt selbst zu behandeln sein wird, ob eine etwaige Übergabe anzunehmen ist, ob sie zusammenzuschießen ist oder ob sie auszuhungern ist …“48 Schon vor Beginn des Ostfeldzugs waren Richtlinien für die Wirtschaftspolitik in den besetzten Ostgebieten vorbereitet worden, die ein schwer zu versorgendes Leningrad voraussahen und das Verhungern großer Teile der Zivilbevölkerung in die Erwägungen einbezogen. Nun hatte in dem früh hereinbrechenden Kriegswinter 1941/42 auch die Bevölkerung Deutschlands unter Lebensmittelknappheit und vielerlei Beschränkungen zu leiden. Man wollte zunächst Leningrad durch die Unterbindung jeder Versorgung zur Übergabe zwingen. Bald aber setzte sich im OKW die Einsicht durch, daß die mehr als drei Millionen Einwohner dieser Stadt auch durch deutsche Zufuhren nicht ernährt werden könnten. Generalfeldmarschall Keitels Anregung, „daß man sie deshalb vertreiben müsse“, nannte Generalstabschef Halder noch „taktisch undurchführbar und daher wertlos“.49 Doch „bei der Planung einer Hungerblockade gegen Leningrad gingen militärische, wirtschaftliche und ideologische Motive eine neue Verbindung ein“.50 Hiervon wußte die 18. Armee, die Belagerungsarmee von Leningrad, bis spät in den September noch nichts. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe, Generalfeldmarschall Ritter von Leeb, und der Oberbefehlshaber der Armee, Generaloberst von Küchler, dachten an eine Eroberung. Hitler zögerte mit deutlichen Befehlen und drängte nur auf engere Einschließung. Die erschöpften Truppen mußten sich auf Abwehr einrichten, so daß schließlich eine feste Front mit Schützengräben entstand, „die an den Ersten Weltkrieg erinnerte“.51 Das Aushungern war dann ein Kriegsakt auch gegen die Zivilbevölkerung, was in der deutschen Truppe wie in der Armeeführung Bedenken erregte. Hitler hatte jedoch schon vor Beginn des Feldzuges in einer Versammlung der höchsten Generalität in der Reichskanzlei

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von einem „Kampf zweier Weltanschauungen“, von einem „Vernichtungskampf “ gegen den Kommunismus gesprochen und von der „Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz“.52 Am 23. Mai 1941 erlassene „wirtschaftspolitische Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft“ des Wirtschaftsstabes Ost bezeichneten als Ziel des Rußlandfeldzuges die Gewinnung des „Überschußgebietes in der Sowjetunion“, der Schwarzerdegebiete der Ukraine im Süden, im Südosten und im Kaukasus und die Abriegelung dieser Zone gegen das übrige Rußland.53 Die Leidensgeschichte der Bevölkerung der eroberten Zone um Leningrad verzeichnet dann die Vertreibung aus den Randgebieten in ertragsarme Gebiete. Doch auch die Versorgung der deutschen Truppen innerhalb dieser Zone bereitete Sorgen. Der militärische Feldzug geriet unversehens zu einem Kampf ums Überleben. 1942 begann dann der Übergang zu einer sogenannten „konstruktiven Besatzungspolitik“54, vor allem der Zwangsrekrutierung von Teilen der Zivilbevölkerung für den Arbeitseinsatz in Deutschland oder in besetzten Gebieten. Inzwischen war das weitere Gebiet um Leningrad zur Operationszone sowjetischer Partisanenverbände geworden. Das Jahr 1942 brachte einen anfänglich noch einmal erfolgreichen großen militärischen Vorstoß nördlich des Schwarzen Meeres über die großen Flüsse bis zum Kaukasus. Der vermessene Plan Hitlers richtete sich auf den Iran, Afghanistan und Indien, um dort Englands Macht zu brechen,55 während in Nordafrika Generalfeldmarschall Rommel mit seinen Panzerverbänden nach Ägypten gegen den Suez-Kanal und im Osten die Japaner in Birma vorrückten. Doch im folgenden Winter wurde Stalingrad in seiner schlüsselhaften Stellung im Frontenverlauf durch sowjetische Gegenangriffe eingeschlossen und nach einigen harten Wochen eingenommen. Zum ersten Male mußte eine ganze deutsche Armee kapitulieren. Dies ist häufig mit guten Gründen als die entscheidende Schlacht im Rußlandfeldzug angesehen worden, die den deutschen Eroberungszügen im Osten ein Ende setzte.56 Nun wuchsen die Partisanen-

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verbände im rückwärtigen Kriegsgebiet rasch an, die von der während der deutschen Offensiven in den Untergrund zurückgezogenen Parteiorganisation mobilisiert werden konnten. Gewicht besaßen von Anfang an in Ost- wie auch in Westeuropa jüdische Partisanengruppen. Auch in Frankreich nahmen sie den Widerstandskampf gegen deutsche Truppen auf, während in allen besetzten Ländern Westeuropas eine in die Breite wirkende faschistische Kollaboration das deutsche Regime zu unterstützen suchte.57

Kriegsziele: Schaffung der „Vereinten Nationen“ und bedingungslose Kapitulation Deutschlands Bei einem Treffen Roosevelts mit Churchill in Washington am 22. Dezember 1941, der Arcadia-Konferenz, wurde eine Koalition mit gemeinsamem Kriegsziel vorbereitet, die auch die Sowjetunion einbeziehen sollte. Hieraus ging nach wenigen Tagen der Verhandlungen am 1. Januar die Erklärung der Vereinten Nationen (United Nations) hervor, die Roosevelt, Churchill, der chinesische Außenminister sowie der sowjetische Botschafter in Washington unterzeichneten und der sich eine Reihe weiterer Staaten sowie die Dominions des Commonwealth anschlossen. Im Verlauf der nächsten Kriegsjahre folgten alle Staaten, die nicht von den Achsenmächten besetzt waren, am 1. März 1945 als letzte Saudi-Arabien, Syrien und Libanon. Im Mai 1942 kam ein britisch-sowjetischer Bündnisvertrag zustande, der indirekt auch die Vereinigten Staaten einbezog.58 Eine neue Front im Westen erstand nach maritimen alliierten Operationen und Landungen in Nordafrika. Ein früherer Versuch von Truppen des Generals de Gaulle im September 1940, mit englischer Unterstützung in Dakar, dem wichtigsten und größten Hafen Westafrikas, Fuß zu fassen, scheiterte am Widerstand der Vichy treuen französischen Truppen. Dies erschien auch 1942 noch als Problem. Groß angelegte englisch-amerikanische Landungsoperationen an der marokkanischen und algeri-

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schen Küste, vor allem bei den Hafenstädten Casablanca, Oran und Algier, führten zunächst nur in den beiden letztgenannten zum Erfolg. Doch hinter den militärischen Operationen entfaltete sich ein schwer aufzuklärendes Geflecht politischer Kräfte, die im Hinblick auf die Zukunft Nordafrikas, aber auch ganz Frankreichs einander widerstreitende Interessen verfolgten.59 Admiral Darlan, zeitweilig Stellvertreter Marschalls Pétains in Vichy und Oberbefehlshaber der französischen Land-, Seeund Luftstreitkräfte, hielt sich in Algier auf und übernahm die oberste Zuständigkeit in Afrika. Er verbündete sich mit den Alliierten, um Kämpfe zwischen Franzosen zu vermeiden, und sorgte dafür, daß sich die französischen Streitkräfte wie die Kolonialverwaltung auf ihre Seite stellten. Hingegen vermochte sich der aus lockerer Kriegsgefangenschaft auf der Festung Königstein im April 1942 geflüchtete Armeegeneral Giraud, der nach Algier gelangt war, nicht durchzusetzen. Aber auch eine konspirative monarchistische Gruppe von Offizieren und Politikern um den Grafen von Paris, dem Erben der Bourbonenkönige, spielte eine hintergründige Rolle. Diese Kräfte unterlagen am Ende dem Brigadegeneral de Gaulle, der sich als Führer der Bewegung „France Libre“ hervortat und vorübergehend von Nordafrika aus sogar Unterstützung in Moskau gesucht hatte, um die Kommunisten Frankreichs und Nordafrikas auf seine Seite zu ziehen und hinter sich zu bringen. Darlan wurde am Heiligabend 1942 ermordet.60 Noch im November war die nicht okkupierte Zone Frankreichs von deutschen Truppen besetzt worden. Einer Aussöhnung zwischen den französischen Richtungen wie der Vereinbarung künftigen militärischen Vorgehens sollte eine Konferenz der Großen Drei in Casablanca dienen, der Stalin unter Hinweis auf entscheidende militärische Ereignisse – um Stalingrad – fernblieb. So kam es zu einem Treffen Roosevelts und Churchills mit Ministern und hohen Militärs. Wichtigstes Ergebnis war die Übereinstimmung mit Roosevelts nun weithin geteilter Ansicht, daß der Krieg nur durch eine bedingungslose Kapitulation (unconditional surrender) Deutschlands beendet werde.

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Präsident Roosevelt hatte in seiner zielstrebigen „Konferenzpolitik“61 Schritt um Schritt strategische Entscheidungen vorangebracht, aber auch Beschlüsse zur Gestaltung einer künftigen Friedensordnung angebahnt. Die Hotsprings-Konferenz beschloß Anfang Juni 1943 eine Organisation für Lebensmittel und Agrarwirtschaft (Food and Agriculture Organization, FAO ), im November in Atlantic City eine weitere für Hilfeleistungen in den befreiten Gebieten (United Nations Relief and Rehabilitation Administration, UNRRA ). Um die dann zu erwartenden finanziellen Probleme der Nachkriegszeit einer Klärung zuzuführen, wurde im Juli 1944 eine Konferenz mit Vertretern aus 44 Staaten nach Bretton Woods in New Hampshire einberufen, auf der zwischen den namhaftesten Unterhändlern, John Maynard Keynes und Henry Morgenthau, eine Art Kompromiß zustande kam, der einen Internationalen Währungsfonds sowie eine Internationale Bank für Wiederaufbau begründete. Die Statuten beider Neuschöpfungen wurden durch Abkommen der beteiligten Staaten beschlossen und bis Ende 1945 ratifiziert. Je deutlicher eine absehbare Entscheidung des Krieges näherrückte, desto deutlicher äußerten sich Roosevelt und Churchill auch über die Zukunft des deutschen Volkes auf der Grundlage der Unconditional-surrender-Formel. Stimmungen und Bewegungen innerhalb der deutschen Bevölkerung unterlagen durchaus realistischer Beobachtung. Auf amerikanischer Seite wurden vielfältige Ansätze zur Opposition, gar zu Gegenströmungen innerhalb Deutschlands ausgemacht. Auch altnationalsozialistische Parteigänger taten ihre Unzufriedenheit kund und wandten sich gegen Hitler.62 Die Zahl von Verhaftungen durch die Gestapo und Bestrafungen oder Hinrichtungen zeigte längst nicht mehr den vollen Umfang der in Gang kommenden Gärung an. Die rege Tätigkeit des Volksgerichtshofs, seine Verhandlungen wie die Urteilssprüche lassen für die Zeit vor dem 20. Juli 1944 eine Verkürzung der Sicht auf legendäre Einzelgänger63 nicht zu. Die strenge Kontrolle der Öffentlichkeit konnte allerdings bis Kriegsende verhindern, daß zwischen verschiede-

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nen Ansätzen Kontakte entstanden und Einigungsbemühungen einen wirksam sich formierenden Widerstand entstehen ließen. Dennoch ergaben sich Umrisse eines deutlichen Stimmungs- und Verhaltenswandels auch nach Sondierungen von amerikanischer Seite.64 Von der Praxis der SS in besetzten Ländern fehlte in Deutschland weithin jede nähere Kenntnis. Sie blieb im Geheimen, von jeglicher Art der Kommunikation ausgeschlossen.

Völkerverschiebung und Vernichtung Unter Grausamkeiten und Massenvernichtung hatten zuerst die Polen zu leiden. Sowohl Deutsche als auch Russen verübten Greueltaten, aber auch Polen.65 Wer mit Zahlen Vergleichungen anstellen will, könnte im Hinblick auf das erste Kriegsjahr behaupten, „daß der sowjetische Terror den der Nazis während dieser Phase in mancher Hinsicht übertraf “. Man braucht gar nicht über Katyn´ zu rätseln. „Von den rund zwei Millionen polnischen Zivilisten, die 1939–1940 mit den schrecklichen Eisenbahntransporten nach Nordrußland, Sibirien, Kasachstan verschleppt wurden, war mindestens die Hälfte innerhalb eines Jahres nach ihrer Festnahme umgekommen“.66 Doch bald traten die Täter auf der anderen Seite noch stärker hervor. Was eine jüdische Zeitzeugin als permanente Stimmungslage in der Bevölkerung beschreibt, kumulierte und spitzte sich zu: „Ukrainer haßten Polen und Juden, Polen haßten Ukrainer und Juden, Juden haßten Polen und Ukrainer“.67 Die sowjetische Besetzung Ostpolens führte zeitweilig zur Bevorzugung der eng untereinander verbundenen jüdischen Bevölkerungsteile, die viel Haß auf sich zogen. Er entlud sich nach dem Rückzug der Roten Armee in antijüdischen Exzessen der polnischen Bevölkerung. Die deutsche Seite förderte diese Neigung – mit rassenpolitischer Begründung.68 Doch spezielle deutsche Verbände vertrieben seit Frühjahr 1940 auch Polen aus ihren angestammten Gebieten. Der Krieg wurde schließlich als ideologischer

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Kreuzzug gegen die Feinde eines „germanischen“ Großraums deklariert.69 Die Neuansetzung Deutscher als Bauern in polnischen Gebieten70, was Himmler als „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ als seine Aufgabe verstand71, ließ sich scheinbar durch Übergabe von Grundbesitz an eine „rassisch“ einheitliche Gemeinschaft durchführen. Anfängliche Bereitwilligkeit polnischer Landarbeiter, gegen Lohn nach Deutschland zu gehen, wich bald strikter Abneigung. Dies führte in ein Zwangssystem der Arbeitskräfteerfassung. Die Tatsache läßt sich nicht übersehen, daß politisches wie militärisches Personal unter gänzlich unzulänglichen Voraussetzungen Besatzungs- und Verwaltungsaufgaben zu erfüllen suchte. Einzelne Urteile von beauftragten Beobachtern bringen dies deutlich zum Ausdruck. Die Verhältnisse wurden nicht erkannt, nicht begriffen, schon gar nicht gemeistert, sondern in rigoroser Brutalität unterdrückt.72 Partisanentätigkeit wurde schließlich für manche Einheimische zum letzten Ausweg der Verzweifelnden. Propaganda hüben wie drüben überschattete oder artikulierte die fortschreitende Verdrängung ansässiger Bevölkerung wie die Dezimierung ihrer jüdischen Teile.73 Innerhalb des Führerstaates hatte sich ein SS -Staat74 ausgebreitet, der sich im Kriegsverlauf entwickelte und nicht nur ein System der Konzentrationslager umfaßte, sondern als ein eigenes Staatsgebilde mit eigener Wirtschaftsorganisation unter Himmler – teilweise im Geheimen – Gestalt annahm, freilich stets darauf bedacht, niemals in Widerspruch zu Hitler und seinen Willensäußerungen zu geraten. Schon im Juli 1941 hatte Hitler dem „Reichsführer SS “ Weisungsrecht gegenüber den Reichskommissaren erteilt und ihm persönlich „Höhere SS und Polizeiführer“ bei den Generalkommandos, Haupt- und Gebietskommandos unterstellt.75 Jeder militärische Sieg wurde ein Sieg Hitlers. Jede Erweiterung des deutschen Herrschaftsgebiets stärkte die Stellung Himmlers und im Osten die seiner SS . Man wollte seit langem Juden vertreiben und zuvor enteignen. Das schuf Probleme, da das Ausland der Aufnahme mittelloser Einwanderer Schwierigkeiten bereitete. Die Vernichtung

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der europäischen Juden76 wurde schließlich für Himmler zu einem Ziel, für das er als legitimierend bekundete Entscheidungen Hitlers anführen konnte. Doch die Weisungen, die er erteilte, erfolgten, häufig in verhüllender Form, im Verlauf von Gesprächen oder persönlichen Ansprachen. Nach dem amerikanischen Lend Lease Act vom März 1941 erschien für Hitler eine „Lösung“ der „Judenfrage“ spruchreif. In mehrfacher Abwandlung bekundete daraufhin Himmler das Ziel, „die europäischen Juden sollten im Osten verschwinden“.77 Anfänglich verfolgte Himmlers Stellvertreter Heydrich den Gedanken eines „Judenreservats“, eines „Judenstaates unter deutscher Verwaltung bei Krakau“.78 Doch der Plan, alle Juden des deutschen Machtbereichs nach Südostpolen zu bringen, stieß auf den Widerstand des Oberbefehlshaber des Heeres, der sich gegen jedwede Bevölkerungsverschiebung während des Krieges aussprach. Ende Oktober 1939 ging das besetzte Restpolen, das Generalgouvernement, aus der Militärverwaltung an eine Zivilverwaltung über. Aber der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Polen, Generaloberst Blaskowitz, erwies sich als Kritiker und Gegner der von der SS rekrutierten „Einsatzgruppen“.79 In diesen Wochen gingen in der hohen Heeresgeneralität auch Gedanken um an eine mögliche Beseitigung Hitlers,80 die erst nach dem erfolgreichen deutschen Feldzug gegen Frankreich aussichtslos erschienen.81 Mit jeder neuen Erweiterung des deutschen Herrschaftsbereichs im Osten wurden nichtdeutsche Bevölkerungen aus den annektierten und zur Annexion vorgesehenen Gebieten vertrieben, immer auch die Juden, die zudem unter besonderen Härten, schlechter Ernährung und Versorgung leiden mußten, so daß die Sterberate rasch anstieg. Das war vorgesehen. In einer Rede vor Gauleitern und anderen hohen Parteifunktionären im Februar 1940 in Gegenwart von Heß erklärte Himmler seine Aufgabe als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums im „kommenden, im Entstehen begriffenen großen Reich, das sich jetzt durch die Ostprovinzen so vergrößert hat und allmählich ein Reich germanischer Größe wird, das der

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Führer uns schafft“. Auf die für ihn entscheidende Frage nach einer „wirklichen Germanisierung des Bodens“, einer „völkischen Inbesitznahme der neuen Provinzen“, gab er die deutliche Antwort, „daß das Problem einer polnischen Minderheit zu unserer Zeit aufgelöst und ausgerottet wird. Das Problem muß ausgerottet werden“.82 Himmler führte sich auf wie ein Diktator und Präzeptor germanischer Rassen- und Volkslehre, in der nationalsozialistischen Ideologie einer eigenen Version folgend, die höchste Geltung beanspruchte. Von „Rasse und Blut“ sprach er häufig als höchsten Werten. Der Mythos faszinierte ihn. Anderes nahm er offenbar nie ernsthaft zur Kenntnis. Himmler brachte die Umsiedlung, die „Hereinnahme“ von Wolhynien- und Galiziendeutschen aus Ostpolen, von Baltendeutschen und von Deutschen aus Rumänien in Gang. Bukowina-, Dobrudscha- und Jugoslawien-Deutsche sollten folgen, sogar Deutsche aus Übersee zurückgeführt werden. Seiner Vorstellung nach hätte es zu einer Massierung aller Deutschsprechenden in Mitteleuropa kommen müssen. „Wir wollen auf diese Art ein paar Millionen Deutsche für Deutschland holen, die sonst nur wieder die Völker allmählich aufwerten würden …“83 Ihm erschien es zwingend: „Wenn ich Deutsche hereinnehmen will, bedeutet das, daß ich Polen heraustun muß“. Polen und Juden sollten ins Generalgouvernement umgesiedelt werden. Allerdings brauchte man Polen als Landarbeiter in Deutschland. Sie wurden durch ein besonderes Abzeichen äußerlich kenntlich gemacht.84 Himmler kündigte schon im Februar 1940 „die Auswanderung der Juden“ an. 600 000 sollten in die „neuen Provinzen“ in Ostpolen umgesiedelt, zudem trotz des Krieges monatlich 6000 bis 7000 zur Auswanderung nach Übersee gebracht werden, „und zwar nach Palästina, Südamerika, nach Nordamerika“.85 Vorher verfolgte Himmler zeitweilig die Vorstellung, Juden mit französischer Unterstützung nach Madagaskar umsiedeln zu können. Dieser Gedanke war zeitweilig kaum von geringerer Bedeutung als das Vorhaben, in Palästina einen Judenstaat zu errichten.

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Die Idee eines im Zeitalter der Nationalstaaten spät, aber notwendig erscheinenden jüdischen Staates hatte der österreichische Journalist Theodor Herzl begründet. Er stand unter dem Eindruck des in Paris die Köpfe verwirrenden Antisemitismus im Gefolge der Dreyfus-Prozesse im ausgehenden 19. Jahrhundert. „Das jüdische Volk will der Bruder anderer Völker sein, aber mit gehobener Stirn; es will weder um seine Freiheit betteln, noch jemand etwas zuleide tun“.86 Schon Moses Hess prägte zwei Jahrzehnte nach seinem Eintreten für eine europäische Staatenunion 1862 in seinem Buch „Rom und Jerusalem“ den Gedanken einer wegweisenden jüdischen Staatsgründung auf der Grundlage erneuerter Religion. Eine Sammlung in der Diaspora erschien möglich dank strikter Bewahrung religiöser Überzeugung in der Gemeinschaft auf der Grundlage der Thora, von Riten und Bräuchen unter den Augen der Rabbiner. Die Herauslösung der Juden aus den nationalstaatlichen Zivilisationen Europas um einer eigenen politischen Gestaltung jüdischer Tradition und Kollektivität willen in Erez-Israel, dem einst verheißenen Land, beschreibt den nächsten Schritt.87 Herzls Zionismus alsdann „machte das jüdische Volk zu einem internationalen politischen Faktor“.88 Unter dem Eindruck des Antisemitismus in Rußland entstanden Vereine der Zionsfreunde, die nach dem Vorbild württembergischer Templer, die schon Jahre vorher in Palästina siedelten89, Möglichkeiten einer Erschließung dieses Landes erkundeten. Anfängliche Schwierigkeiten wurden durch die von Osteuropa nach Deutschland emigrierenden und hier sich einer Einwanderung nach Palästina widmenden Zionisten nach und nach durchdacht und programmatisch überwunden. Landwirtschaftliche Gemeinschaftssiedlungen in Kibbuzzim90 schufen neuartige Einheiten von agrarisch begründeten, sich aber wirtschaftlich weiteren Entwicklungen öffnenden Kommunen in strikter religiöser Bindung. Diese Grundlegung neuer Staatlichkeit am Mittelmeer – zwischen West und Ost, Nord und Süd – erscheint als denkwürdiges Faktum, dem die neue Begründung eines „germanischen“ Bauernstaates in der archaisierenden Vor-

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stellung Himmlers entgegentrieb. Herzl hatte Palästina als jüdisches Nationalheim vor Augen. Aber er meinte, daß die Verfolgung der Juden in Osteuropa und deren Auswanderungsbereitschaft eine möglichst rasche Lösung erforderten. Im Juli 1898 notierte er: „Ich denke darüber nach, der Bewegung eine näher liegendes territoriales Ziel zu geben, ohne dabei Zion als Endziel aus den Augen zu verlieren“.91 Er dachte an Zypern, „bis die Türkei auseinandergebrochen ist“. Dann wurde das Tal El-Arisch auf der Halbinsel Sinai – in geographischer Nähe Palästinas – in Betracht gezogen. Herzl erkannte die Möglichkeit, aufgrund gleichgerichteter Bestrebungen des Zionismus wie der aus gegnerischen Motiven heraus agierenden nationalistischen Wortführer alsbald Wege einer Auswanderung in einen Staat der Juden zu bahnen. Mit Plänen für eine jüdische Besiedlung des französischen Madagaskar taten sich neben Herzl Autoren aus mehreren europäischen Nationen hervor. Sieht man von älteren Überlieferungen ab, so hatte sich die ethnographische Entdeckung, daß Madagaskar wie auch die Komoren vor der Zeit Davids semitische Bewohner hatten, die alte jüdische Bräuche und Gewohnheiten pflegten, seit dem 17. Jahrhundert gefestigt. Sie schien an der Wende zum 20. Jahrhundert allgemein anerkannt.92 Seit dem ersten Weltkrieg kamen in England, dann auch in Frankreich, Polen und Deutschland Ideen und Pläne an die Öffentlichkeit, die sich über Wege und Möglichkeiten eines jüdischen Staates auf Madagaskar ausließen. Auch zionistische Sprecher wirkten mit, neigten aber mehr dem Weg nach Palästina zu, weil sie die klimatischen und kulturellen Voraussetzungen auf der großen Insel nur in engen Grenzen für Einwanderer aus Europa aufnahmefähig fanden. Gegen eine Palästina-Lösung sprachen sich englische Minister aus, weil sie das Land für große Ansiedlungen zu klein befanden. Palästina war bewohnt. Die Einwohnerzahl auf 25000 Quadratkilometern teilweise unbebaubaren Landes wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf etwa eine Million geschätzt. Man befürchtete daher unerwünschte Spannungen zu den Arabern und zum Islam. Doch für Minister der französi-

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schen und polnischen Regierungen der Jahre 1936 und 1937, der Kabinette Léon Blum und Camille Chautemps in Paris und Józef Beck, dem Außenminister der Jahre 1932 bis 1939 in Warschau, war das übernationale Interesse ausschlaggebend, das einer Madagaskar-Lösung zuneigte. Man sprach vornehmlich von dem in Ghettos domizilierten „Ostjuden“ in Rußland und Polen, die, zunehmend bedrängt, nach Deutschland,93 später nach Frankreich, England und in die USA auswanderten. Allerdings gelangten Fragen der finanziellen Absicherung nie zu einer Lösung. Deutschland in seiner wechselvollen, erst im 19. Jahrhundert zur Nationsbildung gelangten Geschichte erschien innerhalb dieser Szenerie zunächst als Nebenschauplatz. Allerdings hatte Paul de Lagarde, ein romantischer Kopf, dem „alles, was deutsch war, eine Frage des Geistes und nicht des Fleisches schien“, wie gesagt worden ist,94 nicht des „Blutes“ und nicht der Rasse, aber des Glaubens, nach einer neuen deutschen christlichen Religion verlangt. Dies erforderte nach Lagarde die Aussonderung alles Jüdischen. Ein auch religiös erneuertes Deutsches Reich sollte sich nach Osten ausdehnen und die Juden nach Madagaskar schicken, wie er als erster Deutscher schrieb. Die „Germanisierung des Christentums“ verlange Verbannung der Juden aus Europa.95 Dem Orientalisten Lagarde war die Überlieferung der in ältester Zeit auf Madagaskar ansässigen Semiten vertraut.96 Feindseligkeit gegenüber dem Judentum waren im frühen 20. Jahrhundert bei weitem nicht auf Polen, Deutschland und Frankreich beschränkt. In Österreich-Ungarn und auch in England waren ähnliche Tendenzen hervorgetreten. „The Britons“ und andere nationalistische romantisierende Organisationen traten in England teilweise schon vor, entschiedener noch nach dem ersten Weltkrieg in Erscheinung. Sie agitierten gegen ein angeblich jüdisches Komplott, das dem Ziele folgte, die Herrschaft über Europa und die Welt zu erringen. Einer ihrer Gründer und Wortführer, ein Katholik irischer Abstammung, Hamilton Beamish, traf Anfang 1923 in München mit Hitler

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zusammen, den er für seine Gedanken einzunehmen wußte.97 Er schrieb für das zentrale Organ der NSDAP, den „Völkischen Beobachter“, erschien dann 1935 erneut in Deutschland und versuchte, den Reichsaußenminister und sein Ministerium für den Plan zu gewinnen, die Juden nach Madagaskar zu deportieren, was er auch in Reden in mehreren deutschen Städten propagierte. Unter dem Eindruck polnisch-französischer Verhandlungen erklärte sich Hitler im November 1938 Göring gegenüber zustimmend zu dem Gedanken eines jüdischen Reservats Madagaskar.98 Die „Voraussetzungen, die zum Holocaust führten“, wie man das jüdische Schicksal der Verfolgung und Vernichtung durch Deutsche seit Ende der siebziger Jahre nennt, wurden erst im Kriege geschaffen.99 Sie begrenzten seit 1940 alle Erwägungen einer Zwangsaussiedlung der Juden strikt auf die unter deutscher Botmäßigkeit stehenden Gebiete Europas, in denen die Zahl der Juden die der noch im alten Reichsgebiet verbliebenen erheblich übertraf.100 Fortan modifizierte sich die Judenpolitik im Gefolge der militärischen Expansion, als immer mehr Juden unter deutsche Herrschaft kamen.101 Nun wurde „die Peripherie des deutsche Imperiums immer auch als Abschiebeterritorium für die Juden vorgesehen“.102 Die Neigung zur Dezimierung und völligen Vernichtung ist mehrfach bezeugt. Allerdings gab es vielfache Hindernisse und vor allem verkehrspolitische Schwierigkeiten in einer äußerst angespannten kriegswirtschaftlichen Situation, die eine alsbaldige Verwirklichung derartiger Pläne unterband.103 Mit der Erweiterung der Ostgrenze des Reichsgebietes wurde das Reservatsprojekt weiter nach Osten, in die Lubliner Gegend des Generalgouvernements verlagert. Seine Entwicklung wie Ausführung lag in den Händen Himmlers, in seiner Eigenschaft als Reichskommissar, und Heydrichs als des Chefs seines „Reichssicherheitshauptamtes“. Einsatzgruppen und SS -Kommandeure veranlaßten oder förderten in Ostpolen, Litauen, Lettland und später in der Ukraine und in Weißrußland Pogrome der Zivilbevölkerung, schritten aber auch selbst zur Dezimierung, Inhaftierung und Vernichtung gro-

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ßer Teile der jüdischen Bevölkerung, so in Augustowo, Grodno, Kowno, Riga, Wilna, Białystok, Lemberg, in Jassy, schließlich in Odessa. Verbliebene Juden wurden in Ghettos eingewiesen.104 Doch „geographische und demographische Faktoren machten es unmöglich, mit zahlenmäßig so begrenzten Kräften die gewaltigen Massen von Feinden – allein 5 Millionen Juden – mit einem Schlag auszulöschen“.105 Die deutsche Besatzungspolitik provozierte mittelbar wie unmittelbar in allen besetzten Ländern latente wie offene Stimmungen und Einstellungen gegen die jüdische Bevölkerung, im östlichen Europa am raschesten und stärksten.106 Bald waren die Ghettos gänzlich überfüllt. Es fehlte den deutschen Machthabern an Personal, um Wach-, Ordnungs- und Polizeidienste in gebotener Stärke ausüben zu lassen. Zunächst wurden in Gefangenschaft geratene Ukrainer, Litauer und Letten der sowjetischen Armee aus Gefangenenlagern geholt und in einem SS -Lager umerzogen. Dann wurden Bataillone der Ordnungspolizei eingesetzt und von ihren Heimatstandorten zeitweilig in Städte der besetzten Ostgebiete verlegt. Die Ausdehnung dieser Gebiete und die Vermehrung derartiger Standorte führte zur Aufstellung neuer Reservepolizeibataillone mit gleichartigen Aufgaben.107 Das Erschießen größerer Menschengruppen erwies sich psychologisch und mental als belastend. Himmler selbst äußerte Bedenken über ungünstige Wirkungen auf die Exekutierenden.108 Dies war nicht grundlos. Doch die eigenartige Volkstumsideologie, der er anhing, seine Vernichtungs- und Judenausrottungspolitik legten Himmler schließlich auch die Vorstellung nahe, eine „Endlösung“ auf mechanischem Wege zu erreichen. Der in den letzten Jahren der Weimarer Republik aufgekommene Gedanke einer Ausschaltung kranker Menschen um eines reinen Menschenbildes willen, der Euthanasie,109 die in nationalsozialistischer Zeit in neuen Vernichtungsversuchen erprobt wurde, nahm Himmler auf. Im August 1941 erteilte er den Befehl, Gaswagen zur Tötung zu entwickeln. Das führte schließlich zum Einsatz mechanischer Vernichtungsap-

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paraturen in ausgewählten Konzentrationslagern. Um strengste Geheimhaltung zu erreichen, mußte jeder Angehörige des beteiligten Personals schwören, keinerlei Mitteilungen über „Vorkommnisse bei der Judenumsiedlung“ – was die Vernichtung auch terminologisch tarnen sollte – nach außen gelangen zu lassen.110

Dem Ende zu Die deutsche Führung hatte den Krieg im Osten – nicht zuletzt in völliger Verkennung gegebener Bedingungen111 – zur bloßen Menschenvernichtung ausarten lassen, deren volles Ausmaß erst einige Zeit nach dem Krieg nach und nach bekannt wurde.112 Die sowjetische Seite erwiderte den Kampf der Vernichtung in einer verbissenen, mit drakonischen Mitteln durchgesetzten Verteidigung durch Soldaten wie Zivilisten – auch hinter der Front des Feindes.113 Es wurde „ein Krieg ohne Erbarmen, der weder Verwundete noch Gefangene schonte, der auf die Unsicherheit mit Terror antwortete und sich weder vor Folterungen noch vor Leichenschändung scheute“.114 Auf deutscher Seite verknüpfte sich der von Vernichtungswillen beflügelte ideologische Antibolschewismus mit dem Vorhaben einer „Endlösung“ der „Judenfrage“.115 Stalin hatte der Roten Armee die Vernichtung all dessen befohlen, was sich nicht zurückführen ließ. Er hatte in frontnahen Städten Milizen aus der Zivilbevölkerung und in den verlorenen Gebieten Partisaneneinheiten aufstellen lassen, die sich im weiten unübersichtlichen Gelände durch versprengte Truppenteile vergrößerten und die deutschen Verbindungen im Hinterland ständig bedrohten. Die Bereitschaft von Ukrainern, Kosaken und baltischen Völkern, den deutschen Siegern entgegenzukommen, wich bald zwiespältiger Haltung. In wesentlichen Teilen blieb das sowjetische System im Kriege intakt, entfalteten Armee und Bevölkerung Widerstandskraft auch dort, wo sie unter Entbehrungen litten, wie in den Partisanenkampfgebieten oder in dem mehrere Mo-

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nate hindurch abgeschnittenen Leningrad. In der zweiten Hälfte des Krieges konnte die Parole vom „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen die Aggressoren neuartigen Patriotismus erwecken. Der Krieg war zu einem Krieg der Ideologien mit extremer Gewaltanwendung und äußerstem Vernichtungswillen geworden, ein totaler Krieg, noch ehe ihn Goebbels im Februar 1943 in einer Rede proklamierte. Der zum Genozid gesteigerte Feldzug hat die deutsche Besatzungspolitik im Osten schwer und anhaltend belastet. Die systematisch betriebene Deportation jüdischer Minderheiten aus allen besetzten europäischen Ländern – zum Teil mit deren Mithilfe – endete häufig in völliger Vernichtung. Später wurde mit dem vorchristlichen Ausdruck „Holocaust“ hieraus eine Zukunftsweisung des Judentums dialektisch mit einer Anklage gegen die Deutschen verknüpft als Vernichter des ältesten existenten, religiös begründeten Volkes der Weltgeschichte, der Vor-, Früh- und Urform einer Nation. So entstand im Bewußtsein der Nachwelt eine „Hierarchie der Opferschaft“, wie Dan Diner erklärt, verband sich „die physische Vernichtung der Juden unweigerlich mit der Geltung ihrer überzeitlichen metaphysischen Bedeutung“ und wirkt sich der Tod der Juden „allem Anschein nach dramatischer aus als der anderer Opfer“.116 Die Erhebung strenger religiöser Richtungen im arabischen Islam befand sich noch in frühen Anfängen.117 Im Schatten militärischer Entscheidungen alter, überkommener Art entfalteten sich neue Kampf- und Vernichtungsmethoden: das Vorgehen der Partisanenkampfverbände, der Einsatzgruppen, die im Herbst 1941 beginnende Verschleppung von Juden und ihre Zusammenfassung in Konzentrationslagern, deren Mehrzahl im Generalgouvernement lag, wo sie zu schwersten Arbeitsleistungen gezwungen und in besonders hierzu hergerichteten Lagern systematisch ermordet wurden.118 Nach dem Rückzug deutscher Truppen ging auch die sowjetische Seite ihrerseits in erkannten Gefährdungsgebieten rücksichtslos vor. In dem häufig unruhigen, von mehreren Ethnien bewohnten Nordkaukasus wurden 1944 nach systematischer Einkesselung

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Hunderttausende, vor allem Tschetschenen und Inguschen nach Mittelasien deportiert und bis 1957 festgehalten. Noch vor der Vernichtung der bei Stalingrad eingeschlossenen deutschen 6. Armee Ende Januar 1943 nahm der Krieg durch das zunehmende Bombardement deutscher Städte auch für die Zivilbevölkerung schlimme Formen an. Nach anfänglichen konzeptionellen Diskrepanzen gelang eine schrittweise Verstärkung der Bomberstreitkräfte, um in Tages- und Nachteinsätzen das in Casablanca festgesetzte Endziel zu erreichen: „die fortschreitende Zerstörung und Paralysierung des deutschen militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems und die Demoralisierung des deutschen Volkes bis zur Unfähigkeit zu bewaffnetem Widerstand“.119 Der von Hitler befohlene Einsatz einer Vergeltungswaffe, den vom Boden, später auch von Flugzeugen abgeschossenen Streubomben V1 und V2, konnte keine vergleichbare Wirkung auf der englischen Insel erzielen.120 In Ostasien endete die Kette von Überraschungssiegen der Japaner, als die amerikanische Gegenoffensive im Pazifik mit der Landung auf Guadalcanar im August 1942 einen ersten Erfolg errang. Im November 1942 landeten, wie schon erwähnt, Amerikaner und Engländer in Marokko.121 Im Oktober begann die englische Offensive in Ägypten gegen die deutsch-italienische Afrika-Armee, deren zur See abgeschnittener Kern im Mai 1943 in Tunis kapitulierte. Darauf folgten die Landung auf Sizilien und Anfang September der Übergang auf das süditalienische Festland. Noch im gleichen Monat konnte Foggia besetzt und mit dem Ausbau einer starken Luftwaffenbasis begonnen werden, was den Aktionsradius der alliierten Luftwaffe bis Norditalien und über die Adria nach Jugoslawien hinein erweiterte. Seit Jahresende 1942 befanden sich die Achsenmächte in der Defensive. Es gab nur noch eine fehlgeschlagene deutsche Ostoffensive im Mittelabschnitt, bei Kursk im Juli 1943122 – fast zeitgleich mit der alliierten Landung in Sizilien – und schließlich die verzweifelte letzte Offensive in den Ardennen im De-

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zember 1944. Nach der Landung der Alliierten auf Sizilien und dem Sturz Mussolinis schloß Italien einen geheimen Friedensvertrag, der das Land jedoch in einen neuen Kriegsschauplatz verwandelte. Am 6. Juni 1944, zwei Tage nach der Einnahme Roms durch alliierte Truppen, begann der letzte Akt des Krieges in Europa mit der Landung der Alliierten an der normannischen Küste. Mitte August landeten auch in Südfrankreich amerikanische und französische Truppen.123 Hitlers Politik befaßte sich angesichts der heraufziehenden Katastrophe niemals mit Friedensverhandlungen. Das Wachstum einer im Geheimen tätigen Opposition steht spätestens seit 1942 außer Frage. Ihr Umfang läßt sich allerdings kaum zuverlässig ermessen.124 Übergänge blieben fließend, da ein akzentuierter, einheitsstiftender politischer Wille nicht in Erscheinung trat, gar nicht in Erscheinung treten durfte125 und in der kurzen ereignisreichen Phase der nationalsozialistischen Jahre mit ihren scheinbar rasch wechselnden politischen Orientierungen auch kaum in Erscheinung treten konnte. Eine seit 1938 tätige Fronde hoher Offiziere und einflußreicher Zivilisten erweiterte sich. Daneben entstanden andere Kreise mit eigenen Zielen. Das beinahe gelungene Attentat des Obersten Schenk Graf von Stauffenberg126 auf Hitler am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier hatte verheerende Folgen, da Hitler am Leben blieb und eine unerbittliche Verfolgung der gesamten, in immer größer werdenden Kreisen sich offenbarenden Gegnerschaft einsetzte.127 Ein Teil der zur nationalsozialistischen Führung in Opposition stehenden Intelligenz wurde einbezogen, inhaftiert und in unwürdigen Prozessen vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz Freislers abgeurteilt. „Von allem Leid, daß diesen Bau erfüllt, ist unter Mauerwerk und Eisengittern ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern, das andrer Seelen tiefe Not enthüllt. Ich bin der erste nicht in diesem Raum, in dessen Handgelenk die Fessel schneidet,

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an dessen Gram sich fremder Wille weidet. Der Schlaf wird Wachen wie das Wachen Traum. Indem ich lausche, spür’ ich durch die Wände das Beben vieler brüderlicher Hände.“ So dichtete der Geographieprofessor Albrecht Haushofer in der ersten seiner Moabiter Sonette.128 Am 23. April 1945 wurde er durch Genickschuß getötet. Sein Vater, der einstige General und Geopolitiker, überlebte ihn – auch in Haft – noch um einige Monate. Nach dem Attentat lösten Rumänien und Finnland ihr Bündnis mit Deutschland. Rumänien trat nach geheimen Vorbereitungen auf die Seite der Gegner, was Ende August 1944 zum Zusammenbruch der Front im Südosten, in den folgenden Wochen zum Rückzug der Deutschen aus dem Balkanraum bis nach Mittelungarn, zur Aufgabe des rumänischen Ölgebietes und zum Ausfall großer Teile der deutschen Treibstoffversorgung führte. Der nationalsozialistischen Propaganda geriet jedoch im September 1944 noch unvermittelt ein Trumpf in die Hand, als in Amerika wie in England der Plan des Finanzministers Morgenthau bekannt, kritisch aufgenommen, aber sogleich in Deutschland propagandistisch verwertet, als Ziel der Alliierten und vor allem „des Judentums“, mithin als unvermeidbare Folge eines „unconditional surrender“ dargestellt wurde: die strikte Ablehnung jeglicher wirtschaftlicher Hilfe für Deutschland nach Kriegsende und der Abbau der RheinRuhr-Industrie. Goebbels übertrieb dies ebenso wie dann auch noch Morgenthau selbst in persönlichen Stellungnahmen, etwa durch die Bekanntgabe „eines langen Verzeichnisses von Amtsträgern, die hinzurichten seien“129, während Churchill auf strikter Geheimhaltung derartiger, von ihm auch nicht geteilter Überlegungen bestand.130 Morgenthau urteilte und handelte in enger Verbindung mit dem World Jewish Congress, der den verwegenen und umstrittenen Plan einer Bombardierung und Zerstörung bekannter Vernichtungsanlagen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verfolgte, was zurückgewiesen wurde.131

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Hitler glaubte vielleicht noch 1945, nach Beginn des Kampfes um Berlin an irgendeine Wende, worin ihn der überraschende Tod Roosevelts am 12. April bestärkte. Schließlich glaubte er an die symbolhafte Bedeutung seines Todes, als sich Göring und auch Himmler schon von ihm getrennt hatten. Sein Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei am Nachmittag des 30. April132 führte zu später Beendigung der Kampfhandlungen.

Führerstaat und Führermythos Die Psyche des höchsten Machthabers hat unstrittig auch historisch Erkenntniswert, sofern sie sich ergründen läßt. Die Variationsbreite der Deutungen im Falle Hitlers ist jedoch erheblich. Über ihn ist sehr viel geschrieben worden, auch tiefer Lotendes. Fraglos läßt sich konstatieren, daß Hitlers häufig erkennbare Neigung zur Selbstdarstellung als alleroberster Instanz des Geschehens in Deutschland Wandlungen unterlag, die auf die Persönlichkeit selbst noch mehr Rückschlüsse als auf die verfolgte Politik erlauben.133 Hitler wollte stets allen überlegen sein und dies unter Beweis stellen. Aus dunklem Grund stieg ein stetig gesteigerter Siegeswille auf. Die moderne Sportwelt kennt solche Typen in einem anderen Milieu; doch Hitler war kein Sportler. „Ich beschloß, Politiker zu werden“, lautete ein frühes Bekenntnis. Er wußte und las viel, wie bezeugt worden ist. Aber er wollte vor allem anderen zeigen, daß er vollbringen würde, was er erreichen wollte.134 Reden, Versprechungen – stets im entschiedensten Tone, häufig drastisch geäußert, Erklärungen und gar Verträge galten nur bis zum nächsten Willensentschluß. Worüber er gebot, was er beherrschte, machte er sich ganz zu eigen für den nächsten größtmöglichen Einsatz. Es ist von einem „Erlösungsantisemitismus“ gesprochen worden.135 Doch Hitler bekämpfte viele als Feinde, die Juden wohl am entschlossensten; „aber er meinte die jüdisch-humanistische Botschaft schlechthin …“136 Man möchte es einen Erlösungsfanatismus

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nennen137, der ihn zu seinem Handeln trieb und keine Widersacher duldete, eine neue Art quasireligiöser Entschiedenheit; doch er wollte eben Politiker werden und nicht Prediger. In seinem frühen eklektischen Buch „Mein Kampf “ hatte er seinen völkisch-rassisch zentrierten Vulgärdarwinismus bekannt: „Die Natur kennt keine politischen Grenzen. Sie setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen …“138 So begründete er den neuen Absolutismus seines Führerstaates. Was Militär und Technik hergaben, erweiterte die Grenzen der Macht, wenn man von den betroffenen Menschen das Äußerste verlangte – ohne Raffinesse, ohne Klugheit, ohne wenn und aber – oder sie beseitigte. Für Aufklärung hatte Hitler keinen Sinn. Wie wohl kaum einen Zweiten seiner Zeitgenossen kann man ihn als herausragende Verkörperung der extremen Gegenposition bezeichnen. Nicht einmal verläßliches Wissen über Gegner und Feinde schien ihm von Wert, sondern immer nur der anscheinend offenkundige Nutzen für die nächste Entscheidung, den nächsten Machtbeweis, den Nachweis seiner Überlegenheit, bar jeder weiter blickenden Voraussicht, doch heftig in jeder seiner Reaktionen.139 Zu den stetigen Kontrasten von „links“ und „rechts“ in der Geschichte der Gesinnungen und Mentalitäten, denen der Nationalsozialismus zumindest seine Erfolge, zum Teil seine Existenz verdankte, gehört auch die jüngere Tatsache, daß die Differenz zwischen Marx und dem französischen Sozialisten Georges Sorel – in seiner Lehre vom Mythos als geschichtsbewegender Triebkraft von Massenaktionen, vom Mythos des Klassenkampfes, des Generalstreiks, der durch das Proletariat zur Aktion gebrachten Revolution – den Auftakt zu einer neuartigen radikalen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Etatismus bildete, was in Rußland im Grunde schon Lenin, in Italien Mussolini vorgeführt hatten.140 Daß ein Mythos als eine Art Religionsersatz die Massen in Bann schlagen, zur Selbstbefreiung in der „action directe“ führen und die Geschichte über-

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winden werde, war Sorels vielseitig anwendbare Fortentwicklung der Marxschen Lehre. Auf diesem Boden gedieh ein bedeutender Teil der politischen Ideologien im 20. Jahrhundert. Noch etwas früher hatte Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain in seinem viele Male aufgelegten Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ die geschichtsphilosophisch argumentierende Ansicht von einer Art Widerstandskampf bestimmter „arischer“ Mythologien, überlieferter Urformen kosmischer Erfahrungen gegen die Kräfte von Kirchen, Wissenschaft und Judentum vertreten. Vom „Mythus“ sprach auch – nach Belehrung durch das frei imitierte Vorbild Chamberlains – Alfred Rosenberg, den Hitler 1934 zum „Beauftragten des Führers für die weltanschauliche Schulung der NSDAP “ ernannte. Das war kein mächtiges Amt, aber doch von einigem Einfluß. Hitler verließ sich trotz manchem taktischen Widerruf stets auf ihn als den Dogmatiker der Partei, den er neben dem Propagandisten Goebbels und noch einige Zeit neben dem Organisator Himmler benötigte. Im „Mythus“ wollte Rosenberg die dauerhafte Verankerung einer Überideologie liefern,141 ein Gedanke, der bei Chamberlain angelegt war, aber einer derartigen Zuspitzung noch entbehrte. In dieser Hinsicht dachte Rosenberg anders als die Pragmatiker und Techniker der nationalsozialistischen Propaganda. Wahrscheinlich aber darf man Goebbels den erfolgreichsten Propagandisten des Jahrhunderts nennen, auf dessen Regie auch die lange noch in Deutschland verbreitetsten Filmversionen von Hitler und dem „Dritten Reich“ zurückgehen – lediglich unter Zufügung jeweils entgegengesetzter Kommentierung. Die stete Überhöhung Hitlers, die Darstellung des allen Anzweiflungen enthobenen Führermythos betrachtete Goebbels als sein höchsteigenes Werk.142 Diese Überhöhung, um die sich auch einzelne Künstler in kitschigen Darstellungen bemühten, hielt für einige Jahre das Staunen der Massen lebendig. Doch das ergibt keinen hinreichenden Grund, ein ganzes Volk als Kollektiv zu betrachten. Hitler meditierte und redete gern und selbstbewußt vor Parteiführern und Gauleitern über Entscheidungen. Aber er mied

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die Erörterung von Details und Alternativen und hielt sich spätestens seit 1938 Fragen der Verwaltung strikt vom Leibe.143 Er verfügte durch Erlasse ohne Diskussion in der Ministerrunde oder im Reichskabinett, dessen Sitzungen 1937 regelrecht einschliefen und seit 1938 nicht mehr stattfanden.144 Ihn trieb das Bestreben, Differenzen und Konfrontationen zu vermeiden, um Uniformität in der Haltung und jeweils sichere Ausführung seiner Weisungen zu erreichen, wie Göring schon im Juli 1934 in einer Rede vor Juristen erklärt hatte: „Recht und Wille des Führers sind eins …“. Dem kam Goebbels jederzeit entgegen, der mit seinem Propagandaapparat der gleichen Version folgte. „Führer befiel! Wir folgen dir!“ lautete der Kehrreim eines Marschliedes, das während des Krieges in TonfilmWochenschauen ertönte. Es brachte die angestrebte Beziehung zwischen dem Volk und dem Diktator in die kürzeste Form. Die mit einigem Geschick geleitete Propagandamaschinerie von Goebbels wandte sich unterschiedslos an die gesamte deutsche Bevölkerung. Um intellektuellen Ansprüchen entgegenzukommen, schuf der Reichspropagandaminister 1940 die Wochenzeitung „Das Reich“ mit einem äußerlich täuschend liberalen Kulturteil und einigen Auslandsnachrichten, die aufs Entschiedenste tendenziös aufgemacht und kommentiert wurden. Goebbels selbst verfaßte regelmäßig den Leitartikel.145 Zur Mediation des Führerwillens in der Parteielite dienten seit 1941 Tagungen der Reichs- und Gauleiter, in denen Hitler von Zeit zu Zeit dem obersten Führungspersonal der NSDAP an wechselnden Orten seine Lagebeurteilungen und Absichten, mitunter in Verbindung mit militärischen oder wirtschaftlichen Berichten, bekannt gab. Dies sollte die Geschlossenheit der nationalsozialistischen Partei über die Wechselfälle des Krieges hinweg aufrecht erhalten.146 Nach dem Fehlschlag des „Unternehmens Zitadelle“, der Offensive im Raum von Kursk im Osten, den schweren Wirkungen des Bombenkrieges seit Frühjahr 1943 und nach Landung der Alliierten auf Sizilien, dem Sturz des Duce in Italien, der Abfolge von Hiobsnachrichten des Jahres 1943,147 mehrten sich die drängenden Probleme, de-

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ren Erörterung Hitler strikt vermied. Der Rüstungsminister Speer hielt im Oktober 1943 in Posen eine Rede, in der er unverblümt zum Ausdruck brachte, heute diktiere „der Feind, was wir zu machen haben, und wenn wir diesem Diktat des Feindes nicht nachkommen, kann die Front auf Dauer nicht gehalten werden“.148 Dies zeitigte etliche Versuche, die Stellung Speers bei Hitler zu unterminieren. Doch in seiner Zuständigkeit als Rüstungsminister konnte er sich gegen Bormann und Himmler behaupten. Eine neue Spreizung der Ziele kam jedoch ohne erkennbare Initiative Hitlers zustande. Auf Himmlers Erklärung der Judenausrottung „mit Kind und Kegel“ in einer Rede vor höchsten Führern der Waffen- SS im Posener Schloß am 4. Oktober 1943149 folgte – unter dem Eindruck der Werbung in sowjetische Gefangenschaft geratener Wehrmachtsangehöriger für einen „Bund deutscher Offiziere“ – die Einführung der NS Führungsoffiziere unter dem Chef eines nationalsozialistischen Führungsstabes des Oberkommandos der Wehrmacht. Bormann verfolgte den Zweck einer „einheitlichen Lenkung und Ausrichtung aller auf diesem Gebiete tätigen Leute zusammen mit der Partei-Kanzlei“, damit der „Krieg mit 51 Prozent Sicherheit durch die weltanschauliche Einstellung und Ausrichtung aller Offiziere gewonnen werden kann …“, wie es General Reinicke, der neu ernannte Chef, darstellte.150

Kapitulationen Letzte Befehle Hitlers glichen schon sinnleeren Verzweiflungsakten, so am 19. März 1945 über Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet: „Alle Möglichkeiten, der Schlagkraft des Feindes unmittelbar oder mittelbar den nachhaltigsten Schaden zuzufügen, müssen ausgenutzt werden. Es ist ein Irrtum zu glauben, nicht zerstörte oder nur kurzfristig gelähmte Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen bei der Rückgewinnung verlorener Gebiete für eigene Zwecke wieder in Betrieb nehmen zu können“.151

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Am 5. April erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg. Mit der Waffenstreckung der Heeresgruppe Süd in Italien nach geheimen Verhandlungen mit Amerikanern seit Anfang März, gegen die Stalin protestiert hatte, am 2. Mai152, begannen die Kapitulationsentscheidungen der Deutschen. Die allgemeine Kapitulation folgte in Reims am Morgen des 7. Mai. Sie wurde am nächsten Tag im sowjetischen Hauptquartier in Karlshorst wiederholt.153 Am 5. Juni erklärten die alliierten Oberbefehlshaber auf ihrem ersten Treffen in Berlin die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Regierungen der vier Mächte.154 Während der Potsdamer Konferenz155 stellte dann Churchill die Frage, was unter Deutschland zu verstehen sei. Hierüber konnten sich Staatsmänner und Diplomaten einstweilen gar nicht einigen; aber auch für viele Deutsche gab es keine eindeutige Antwort. Die Kraft nationaler Bewegungen des 19. Jahrhunderts in Europa war in Mitteleuropa verblaßt. Das hat sich fortgesetzt und in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nur noch in Reaktionen von Minderheiten als charakteristischem Sterbezeichen Raum gelassen. Die Frage der Zukunft gilt neuen Ordnungen. Der Entschluß zum Krieg wie die Führung des Krieges – ohne rechtes Maß, schließlich mit wahnhaftem Ziel – hatte verhindert, daß Deutschland zur übermächtigen politischen und militärischen Macht in Europa werden konnte. Der nachfolgende „Kalte Krieg“ galt dem von den Vereinigten Staaten ausgehenden Versuch zu verhindern, daß die Sowjetunion dies wurde, deren Politik den zweiten Weltkrieg in jeder Phase beeinflußt und deren militärische Stärke ihn insoweit entschieden hatte, als er allen Erfolgen der deutschen Kriegführung ein Ende setzte, so daß das Gesetz des Handelns zum Gesetz der Alliierten wurde. In Ostasien ging der Krieg mit der Kapitulation Japans zu Ende. Dies war die Folge des Abwurfs der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August mit der verheerendsten Wirkung einer neuen, bis dahin unbekannten Waffe, mit der auch in technischer Hinsicht ein neues Zeitalter anbrach. Die Bombe in Hiroshima tötete in Sekunden

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40 000 Menschen und vernichtete die Hälfte der Stadt; Fensterscheiben wurden im Umkreis von acht Kilometern zerstört. Nagasaki verlor bis Jahresende die Hälfte seiner Einwohner. Der Vernichtungskrieg war zum äußersten technisch Möglichen gelangt.156 Die Atomforschung war von Deutschland ausgegangen, nach Amerika gelangt, wo dann die Bombe aus dem großen Forschungsprogramm – dem Manhattan-Project – eines Heeres von Tausenden von Wissenschaftlern hervorging. Der wissenschaftliche Leiter, Robert Oppenheimer, gebürtiger New Yorker, hatte entscheidende Studienjahre in Göttingen und Zürich zugebracht und danach die erste amerikanische Schule der theoretischen Physik begründet. 1943 wurde er Direktor des Atomforschungszentrums Los Alamos. Der zweite Weltkrieg war seitdem „ein Krieg der Physik“157, ein Wettkampf um die bestmögliche Organisation ihrer Forschungen, um technische Anwendungen zur größtmöglichen Vernichtung zu erreichen. Dies zählt zu den Anfängen einer fortschreitenden, nun nicht mehr aufzuhaltenden Globalisierung in der Geschichte der europäischen Völker. Emigranten aus Mitteleuropa hatten zur Entwicklung anderer Länder beigetragen, ganze Ethnien waren bekämpft, bedrängt, bedrückt, verdrängt und in Teilen zerstört worden. Deutsche Soldaten hatten weite Gebiete Osteuropas gesehen; viele wurden als Gefangene jahrelang in Sibirien festgehalten. Balten kamen nach Mitteleuropa, Russen in baltische Länder. Dann wurden kurz vor und nach Kriegsende weit mehr als 11 Millionen Deutsche aus dem östlichen Mitteleuropa – unter schweren Opfern und in rücksichtslosester Weise, besonders grausam aus der Tschechoslowakei – vertrieben.158 Amerikaner, Briten, Franzosen und Russen blieben jahrelang in Mitteleuropa, Russen auch, wie in Kairo und Jalta vereinbart, bis 1946 in der Mandschurei, dem japanischen Sattelitenstaat Mandschukuo, bis sich das neue kommunistische Regime in China gefestigt hatte. Ohne es zu wollen und zu ahnen, war Hitler zum Auslöser dieser Entwicklungen geworden. Wer das Scheitern der Weima-

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rer Republik untersucht und des ganzen Gewichtes der Tatsache bewußt ist, daß das nationalsozialistische Regime ungleich verhängnisvoller scheiterte und daß vorher das Kaiserreich in einem Krieg zusammenbrach, daß mithin in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, in kurzen zeitlichen Abständen drei weitgehend voneinander verschiedene Regierungsformen des deutschen Nationalstaates zusammengebrochen sind, wird sich dem Faktum nicht verschließen, daß er zum Auslöser einer historischen Katastrophe „von tatsächlich globaler Wucht in der Geschichte der Menschheit“159 geworden ist. Haß und Vernichtungstrieb panslawistischer Nationalisten waren älter, konnten sich nun jedoch ungestraft austoben160. Erst in jüngster Zeit zeichnen sich objektive Urteile ab.161

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III Große Allianz und Teilung der Welt Kriegsziele als Probleme der Allianz Die Achsenmächte, vor allem Deutschland mußten auf dem Schlachtfeld, zu Land, in der Luft und auf den Meeren, militärisch geschlagen, bis zur Kapitulation besiegt werden. Das gelang den Alliierten dank enger politischer, kriegswirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit. Erfahrungen der ersten Kriegsjahre wurden systematisch ausgewertet um einer ebenso systematischen Steigerung der Kampfkraft und der Waffentechnik willen.1 In Deutschland hingegen unter Hitlers totaler Macht wie in Japan unter einer Militärdiktatur verharrte das militärische Denken und Planen in den Vorstellungskreisen der in der ersten Kriegsphase erfolgreichen Strategien und Taktiken ohne Revision und bei abnehmenden Ressourcen. Am Ende verfügten die Vereinigten Staaten über die stärkste Luftwaffe und die Sowjetunion über das stärkste Heer der Welt, während die anfänglich überlegene deutsche Luftwaffe ihre Einsatzfähigkeit weitgehend eingebüßt und das Heer sich verausgabt hatte. Geostrategisch erwies sich die deutsche Kriegsmacht im Zentrum Europas als Festung, von der Ausfälle und Streifzüge ausgingen, die die Kräfte fortgesetzt dezimierten. Die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“, die Japan seit 1931 anstrebte2, begriff die japanische Politik als die eines sich selbst genügenden Imperiums, das über alle Rohstoffe verfügte, die der hochindustrialisierte Großstaat benötigte. Sie umfaßte auf dem asiatischen Festland das nördliche und östliche China mit der Mandschurei und der Küstenzone, Indochina, Birma, Thailand, die Großen und die Kleinen Sundainseln sowie die Philippinen. Dies sollte durch einen befestigten Verteidigungs-

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gürtel im Pazifik von den nördlichen Kurilen über die Marshallund Gilbert-Inseln und das nördliche Neu-Guinea mit starker Flottenmacht und Luftstreitkräften sicher verteidigt werden, bis sich die maritimen Großmächte USA und Großbritannien eine Anerkennung des geplanten Status Japans abringen ließen. Eine Entlastung Mitteleuropas durch Japan nahm sich phantastisch irreal aus und taugte allenfalls zu Propagandazwecken in Deutschland. Hitlers Vorstellungswelt haftete an wenigen Fixpunkten und ließ Belehrungen, Aufnahme und Reflexion von Erfahrungen gar nicht zu. Auch angesichts der totalen Niederlage pflegte er sich nur über wenige, seiner Ansicht nach bessere Varianten vergangener Entscheidungen zu äußern.3 Rüstungsminister Speer hielt eine Bemerkung Hitlers im März 1945 fest: „Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitiven Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. … Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen“4. Fatale Abbreviaturen des Bewußtseins fallen auch an einem anderen Machtmenschen auf: Josef Stalin. Doch Stalin vermochte, einzelne Talente zu erkennen, zu nutzen und zu fördern, freilich stets unter seiner Kontrolle und in strikter Abhängigkeit zu halten. Interne Erörterungen und Kontroversen in England wie innerhalb der Vereinigten Staaten über die Zukunft der Welt und im besonderen Europas hatten schon früher begonnen und blieben noch weit von einer Klärung entfernt. Die ersten und für einige Zeit wichtigsten Pläne gingen aus Erfahrungen und Erörterungen von Diplomaten und Beamten in Washington wie in London hervor. Die Zukunft Deutschlands hatte Sir Robert Vansittart, längere Zeit der wichtigste Mann im Foreign Office, zum Gegenstand einer persönlichen Kampagne gemacht, die in Rundfunkvorträgen, auch nach Übersee ausgestrahlt, in Zeitungsartikeln und in einem schnell verbreiteten SixpencePamphlet5 große Aufmerksamkeit gewann, aber auch Wider-

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spruch erregte. Sein Fazit aus der europäischen Geschichte lautete kurz und klar: „All the miseries of the world’s last three generations have issued from the German land and the German soul“.6 In Washington trat Norman Davis, ein Veteran der Pariser Friedenskonferenz von 1919 und bis zu seinem Tode 1944 einer der wichtigsten außenpolitischen Berater des Außenministers Hull wie des Präsidenten für ein föderatives Deutschland der Zukunft und eine Stärkung Frankreichs ein.7 Davis schlug drei Besatzungszonen vor, aus denen eine Konföderation entstehen könne, eine Art mittlerer Lösung, weder Einheitsstaat noch eine vollständige Aufteilung in Kleinstaaten. Dieser frühe Entwurf kam späteren Entscheidungen schon sehr nahe. Die Kriegskonferenzen der drei Führer der alliierten Weltmächte in Teheran Ende November bis zum 1. Dezember 1943 und in Jalta im Februar 1945 konnten den Eindruck vermitteln, daß sich eine neue Weltordnung vorbereitete, eine „Weltfamilie freier demokratischer Nationen“, wie es in der offiziellen Verlautbarung von Teheran hieß. Die wichtigsten geheimen Vereinbarungen betrafen aber die nächsten strategischen Zwecke: an erster Stelle auf dem Balkan die Unterstützung der Partisanen in Jugoslawien – auch durch Kommandounternehmen –, den Kriegseintritt der Türkei, alsdann die Landung in der Normandie im Mai oder Anfang Juni 1944 und schließlich die weitere Zusammenarbeit der Generalstäbe zur Fortführung des Krieges gegen Deutschland. Die Erörterungen über die politische Zukunft Mitteleuropas blieben ohne Festlegung. Stalin wollte, daß Polens künftige Westgrenze an die Oder verlegt werde. Roosevelt schlug daraufhin ein „dismemberment of Germany“ vor, was bald zum Schlagwort wurde.8 Diesen Konferenzen Roosevelts, Churchills und Stalins kommt gewiß der Rang entscheidender Stationen im Verlauf des zweiten Weltkriegs zu. Im Ergebnis führten beide auf nächste Sicht zur Sicherung der militärisch gebotenen großen Kriegsallianz.9 Doch die alliierte Kriegführung, in der die Beziehung zwischen den USA und der Sowjetunion zumindest bis Teheran vor allem anderen auf wirtschaftlichen Hilfen von

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West nach Ost beruhten, glitt gegen Ende des Krieges Stück um Stück auseinander. Schon nach Stalingrad (Januar/Februar 1943) erreichte die innersowjetische Kriegspropaganda für den „Großen Vaterländischen Krieg“ ihren ersten Höhepunkt. Von amerikanischer Unterstützung war keine Rede. Die Land-LeaseLieferungen der Vereinigten Staaten an die Sowjetunion – zu Lasten der amerikanischen Steuerzahler – wurden auch in Amerika nicht populär. Kongreß und Administration in Washington nahmen daher sowjetische Wünsche nach Hilfen für den russischen Wiederaufbau zurückhaltend auf, zumal eine Einigung über die Gestaltung künftiger Handelsbeziehungen noch gar nicht zur Erörterung stand. Ein Vorschlag des Außenministers Molotow Anfang 1945, die amerikanische Überproduktion kurzhin in die Sowjetunion zu transferieren, erscheint als verfehlter Schachzug. In Jalta kam es dann in Anbetracht sowjetischer 10-Milliarden-Reparationsforderungen an Deutschland nicht mehr zur Erörterung einer Kreditgewährung zum Wiederaufbau der Sowjetunion.10 Stalins und Molotows geplanter ZweiWeltmächte-Deal blieb weit hinter Zukunftserwägungen auf amerikanischer Seite zurück. Die Zerstörungen in Europa wie in Japan und auch in China hatten ein solches Ausmaß angenommen, daß Wiederaufbau und Erneuerung stärkerer Kräfte als nur günstiger Kredite und Reparationsleistungen bedurften. Hierin dachten die Amerikaner anders als Stalin und die Seinen. Eine rasche Wiederherstellung des Handels wie des Kapitalverkehrs in globalen Ausmaßen – unter Einschluß der am Kriege wenig oder gänzlich unbeteiligten „Dritten Welt“ – konnte mehr erreichen, zumal dann wenn, weithin wirkungsvoll propagiert, „amerikanische Ideale“ von Selbsthilfe, Unternehmungsgeist, Freihandel und demokratischer Politik ins Spiel gebracht wurden und eine erneuerte „international machinery“ in Bewegung kam: „American must be the elder brother of nations in the brotherhood of man“, schrieb ein einflußreicher amerikanischer Publizist.11 Auch Außenminister Hull äußerte sich in diesem Sinne. Das konnte zunächst Politiker des Imperialismus westeuropäischer Prägung nicht ohne weiteres

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überzeugen und lag den über große Territorien gebietenden Männern im Kreml vollkommen fern. Unversehens und unbedacht erlangte Mackinders und seiner Nachfolger geopolitische Perspektive erneut Gewicht: daß die militärische Macht, die über die europäischen kontinentalen Ressourcen verfügte, in ihrer Expansion nur durch die großen Seemächte eingegrenzt werden könne, so daß eine weltweite „balance of power“ erreicht werde. Die spätere Zweiteilung der Welt erscheint wie die Verwirklichung einer Variante dieser Theorie.

Pläne für ein neues Mitteleuropa und eine Weltordnung An der Peripherie dieser Auseinandersetzungen versuchte die polnische Exilregierung in London schon seit Ende 1940, ein Programm über die Zukunft Deutschlands an die Öffentlichkeit zu bringen, das eine langfristige militärische Besetzung, Reparationsleistungen, ein Verbot ausländischer Anleihen an und Investitionen in Deutschland, die Trennung Österreichs sowie die Abtretung von Ostpreußen, Pommern und Teilen Schlesiens an Polen verlangte12, mithin programmatisch bereits weit in Richtung auf die spätere Oder-Neiße-Linie vorstieß. Dieser Versuch stieß schon innerhalb des Foreign Office auf Gegenstimmen. In Whitehall überwogen noch 1941 Überlegungen zugunsten möglichst schonender Friedensregelungen, die nicht die Fehler eines „karthagischen“ Friedens von Versailles wiederholen sollten. Hingegen fand zeitweilig ein Gedanke aus Kreisen der tschechischen Exilregierung interessierte und günstigere Aufnahme, der an Vorstellungen Masaryks anknüpfte und die Staaten Ostmitteleuropas von der Ostsee bis zur Ägäis, unter Führung Polens und der Tschechoslowakei, unter Einschluß Österreichs, Ungarns und der Balkanstaaten, zu einem großen Bund vereinigen, das gesamte zwischen Deutschland und Rußland liegende Europa zusammenfassen sollte.13 In die Anfänge dieser Diskussion schaltete sich John Maynard Keynes mit einem häufig zitierten Memorandum für das britische Schatzamt

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vom 1. Dezember 1940 ein.14 Er entschied aus Gründen wirtschaftlicher wie politischer Vernunft auch jetzt wieder die vom ehemaligen Botschafter Sir Eric Phipps in der Zwischenkriegszeit zugespitzte Alternative – „ein fettes oder ein mageres Deutschland“ – zugunsten des ersten. Im Grunde hielt auch Churchill hieran fest, allerdings in der Abwandlung: „Fat, but impotent“15 sollte das künftige Deutschland sein. In Amerika schienen Außenminister Hull, zunächst auch Präsident Roosevelt derartigen Gedanken nicht zu widersprechen. In Unterredungen mit Lord Halifax, nach dem Tode Lord Lothians Botschafter in Washington, wie mit Keynes legte der Präsident das Gewicht auf eine englisch-amerikanische Kooperation beim Wiederaufbau der Wirtschaft und auf eine gemeinsame militärische Vorherrschaft, „in order to be in a position to enforce order in the world“.16 In seiner Jahresbotschaft an den Kongreß am 6. Januar 1941 erhob Roosevelt die berühmte Forderung nach Verwirklichung der vier Grundfreiheiten der Menschheit: „The first is freedom of speech and expression … The second is freedom of every person to worship God in his own way … The third is freedom from want – which … will secure to every nation a healthy peacetime life for its inhabitants … The fourth is freedom from fear … That is no vision of a distant millennium. It is a definite basis for a kind of world obtainable in our time and generation“.17 Der Charakter einer allgemeinen Berufung auf angloamerikanische Ideale bestimmte auch die gemeinsame Erklärung Churchills und Roosevelts, die als Atlantik-Charta bekannt geworden ist.18 Nach dem Kriegseintritt der USA – der deutschen Kriegserklärung – ging sie in die Gründungserklärung des Paktes der Vereinten Nationen (UN ) ein, die am 1. Januar 1942 in Washington unterzeichnet wurde. Die Sowjetunion erkannte die allgemeinen Grundsätze der Atlantik-Charta im September unter Vorbehalten an, die künftige Ansprüche ahnen ließen.19 In einem fordernden Telegramm verlangte Stalin am 8. November vom englischen Premierminister, alle Karten offen auf den Tisch zu legen und eine grund-

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sätzliche Einigung zwischen London und Moskau über Kriegsziele und Nachkriegspolitik herbeizuführen.20 Das Schlagwort vom „Kalten Krieg“, das 1947 Walter Lippmann bekannt machte und das aus den Schwankungen der Meinungen in Amerika während der Nachkriegssituation hervorging21, hat manche Irritation verursacht und übersehen lassen, daß es zwischen der Sowjetunion und den Westmächten während des ganzen zweiten Weltkriegs immer auch schon einen solchen „Kalten Krieg“ gab. Noch in seinem Tagesbefehl aus Anlaß des 24. Jahrestages der Gründung der Roten Armee vom 23. Februar 1942 sprach sich Stalin deutlich aus. Er erinnerte an die Kämpfe gegen deutsche Truppen 1918 wie gegen die Entente 1919–1921 und äußerte entschiedene Siegeszuversicht, obgleich die Invasion der deutschen Armee von italienischen, rumänischen und finnischen Truppen unterstützt werde, die Rote Armee hingegen ohne Hilfe, auf sich gestellt, den „patriotischen“ und „gerechten Befreiungskrieg“ allein führen müsse.22 Über Alliierte fiel kein Wort. Nur „Lügen“ der ausländischen Presse über die Ziele der Roten Armee den Deutschen gegenüber wurden erwähnt. In diesem Zusammenhang finden sich später häufig wiederholte Worte: „Es wäre lächerlich, Hitlers Clique mit dem deutschen Volk zu identifizieren. Die Erfahrung der Geschichte zeigt, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleibt“. Wir wissen allerdings nicht, ob Stalin „bereits eine durchaus konsistente politische Strategie“ zur Hand hatte.23 In Beratungen und Mutmaßungen innerhalb des Foreign Office über Stalins Wünsche nahm schon im November 1941 der Verhandlungsstoff beträchtlichen Umfang an. Churchill versuchte, Stalin mit der Ankündigung eines Besuches Edens in Moskau und durch Andeutungen zu besänftigen, daß neben der Sowjetunion und Großbritannien die Vereinigten Staaten – fast drei Wochen vor ihrem Kriegseintritt – „als die drei hauptbeteiligten Mächte“, sobald sie „den Nazismus zerstört haben, um den Beratungstisch der Sieger“ sitzen werden. „Die erste Zielsetzung muß natürlich die sein, Deutschland und insbeson-

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dere Preußen zu verhindern, uns ein drittes Mal anzufallen. In der Tatsache, daß Rußland ein kommunistisches Staatswesen ist und Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht kommunistisch sind und auch nicht die Absicht haben, es zu werden, liegt kein Hinderungsgrund, um zu tragfähigen Vereinbarungen über unsere allseitige Sicherheit und unsere berechtigten Interessen zu gelangen“.24 Churchill zeigte sich überzeugt, daß die künftige Beteiligung der Vereinigten Staaten am Kriege wie an Übereinkünften über die Zukunft gänzlich außer Frage stünde.25 Mit großer Bestimmtheit eröffnete Stalin Eden und seiner Sachverständigengruppe einen umfangreichen Plan für die Nachkriegsgestaltung Europas und verwies auf den Entwurf eines sowjetisch-englischen Bündnisvertrages. Stalin wünschte eine Übereinkunft nach „praktischer Arithmetik“, die Kriegsund Nachkriegsplanung umfaßte: das künftige Polen sollte Ostpreußen erhalten, Deutschland in mehrere Staaten aufgeteilt, jeder Zusammenhang zwischen Österreich, dem Rheinland und Bayern einerseits und Preußen anderseits gelöst, der Besitzstand der Sowjetunion gegenüber Finnland und dem Baltikum auf dem Stand vom Juli 1941 anerkannt, die Ostgrenze Polens an der Curzon-Linie festgelegt werden. Außerdem verlangte Rußland Petsamo von Finnland und einige Gebiete von Rumänien. Stalin gestand dafür den Engländern, sofern sie es wünschten, Stützpunkte in Norwegen und Dänemark zu. Er versicherte, daß Rußland nicht beabsichtige, Europa zu „bolschewisieren“.26 Churchills Reaktion blieb ebenso wie die des Foreign Office zurückhaltend und skeptisch. Es gab eine ganze Skala von Äußerungen des Mißtrauens und von Befürchtungen, daß im Falle günstiger Entwicklung die Sowjetunion „might very well combine their military operations against German territory with a political offensive …“27 Edens Vorschlag, mit der Sowjetunion ein Abkommen zu treffen, das ihre Grenzen von 1941 anerkannte, wurde zunächst von dem in Washington weilenden Churchill glatt abgelehnt.28 Die englische Politik verfügte jedoch nur über ein schmales

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Handlungsfeld. Die von Churchill ins Spiel gebrachte Aussicht auf die amerikanische Teilnahme am Krieg blieb fürs erste wirkungslos, da der Krieg für die Vereinigten Staaten im Pazifik ausbrach und sie dort zunächst am stärksten band. Aber nach den ersten englisch-russischen Gesprächen und nach der deutschen Kriegserklärung gegen die USA begann sich gegen Jahresende 1941 auch im State Department die Auffassung durchzusetzen, daß fundierte Pläne für die Nachkriegszeit erforderlich seien. Diese Absicht stimulierte die Tätigkeit einer Reihe von Gremien, die in deutlicher Distanz zu den beweglichen Meinungen und Meinungsumschwüngen einer erregten Öffentlichkeit mit einiger Gründlichkeit an ihr Werk gingen, „to build our structure for a postwar world“.29 Erste gemeinsame Erklärungen, zu denen sich, unter Federführung des State Department, die Vereinigten Staaten mit Großbritannien und den Vertretern von neun Staaten unter deutscher Besatzung verstanden, richteten sich gegen deutsche Durchbrechungen des Völkerrechts, gegen Kriegsverbrechen und Greueltaten. Eine deutsche Praxis „of executing innocent hostages“30, die schon vor Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Roosevelt und dem State Department in einer Erklärung verurteilt wurde, stellte sich nach der Zerstörung des tschechischen Lidice im Juni 1942 – als Vergeltungsakt nach der Ermordung Heydrichs31 – in neuer, großes Aufsehen erregenden Dimension dar. Sie führte zur Ankündigung strenger gerichtlicher Verfahren gegen Kriegsverbrechen und Greueltaten der Invasionsmächte in Europa und Asien, schließlich zur Bildung einer United Nations Commission for the Investigation of War Crimes. Am Ende der Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943 – um dies hier vorwegzunehmen – kam unter sowjetischer Anteilnahme eine „Declaration on German Atrocities“ zustande. Sie wurde der Welt mit den Unterschriften Roosevelts, Stalins und Churchills bekannt gegeben.32 Im Sommer 1942 glaubte man sich in Whitehall bei der Beurteilung von Kriegs- und Nachkriegswirtschaftsfragen mit den in Amerika beteiligten Politikern und Diplomaten weitgehend

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einig. Die militärische Besetzung Deutschlands war ebenso vorgesehen wie seine Aufteilung, die das Rheinland, das Ruhrgebiet und möglicherweise Bayern als gesonderte Einheiten an den Westen binden und den Rest Deutschlands innerhalb irgendeiner Art von osteuropäischer Konföderation sowjetischem Einfluß überlassen sollte.33 Man wollte eine Lösung, die die zum Albdruck gewordene Vorstellung eines mächtigen Deutschlands endgültig überwand. Unter dem Eindruck amerikanischer Äußerungen systematisierte Auffassungen legte Gladwyn Jebb, einflußreicher Deutschland-Spezialist des Foreign Office, im August 1942 in einem Memorandum nieder, das den Ausgangspunkt für das weitere Plänemachen bildete. Man erkennt die in die Weltpolitik übertragene Vorstellung wieder, die auf Wesen und Wirkungen des „concert européen“ in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zurückging und eine Frucht der Kriegskoalition der europäischen Mächte gegen Napoleon war. Sie konnte nur von jemandem herrühren, der hierüber gut unterrichtet war: einem englischen Historiker auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Charles K. Webster, dem Biographen Lord Castlereaghs und Historiographen des Wiener Kongresses von 1814/15 wie der Pariser Friedenskonferenz von 1919, die er als Sachverständiger vorzubereiten half und als Mitglied der englischen Delegation miterlebte. Websters Rat nahm das Foreign Office nun erneut in Anspruch. Auch bei den späteren Verhandlungen in Dumbarton Oaks und San Francisco waren Webster und Jebb Mitglieder der englischen Delegation.34 Im Rahmen dieser Konzeption blieb es eine lediglich beiläufige Modifikation, daß der in voller Entfaltung stehenden amerikanischen Macht zur See, in der Luft und zu Land für die Zukunft beträchtliches Gewicht zugemessen wurde. Auch in der Sichtweise von Whitehall brach ein „American Century“ an, nachdem sich die größte überseeische Macht der Allianz europäischer Mächte in zwei Weltkriegen angeschlossen und wesentlich zur Entscheidung beigetragen hatte. Dies schien nach den Rückzügen der Vereinigten Staaten mit schlimmen Folgen –

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erst aus den „Entanglements“ der europäischen Politik nach Wilson, dann 1933 von der Londoner Wirtschaftskonferenz zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise im Anfang des „national“ orientierten „New Deal“ Roosevelts – nunmehr ganz und gar unabweisbar geworden, so daß nach dem Kriege ein Ausweg nur in der Erneuerung einer amerikanisierten Weltwirtschaft lag.35 Die englische Seite rechnete mit der Notwendigkeit weiterer Konzessionen an amerikanische Auffassungen, sogar damit, daß das British Commonwealth allmählich aufgelöst und aus einer politischen in eine ideelle Gemeinschaft unter englischer Leitkultur umgewandelt werden müsse. Für das beste System hielt Gladwyn Jebb ein solches, „which would give the Americans, the Russians and ourselves all the scope we wanted in our respective spheres“.36 Doch wo die Grenzen dieser Sphären lagen, konnte erst nach Kriegsende entschieden werden. Eine Art bipolarer Lösung des Problems schien sich in dem Gedanken anzubieten, einerseits eine Einigung Westeuropas – in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten – herbeizuführen und anderseits eine Vereinigung der slawischen Völker Osteuropas, ein baltisch-ägäisches Zwischeneuropa, zu fördern, das, sofern sich kein anderer Ausweg ergab, der Führung und dem Einfluß der Sowjetunion überlassen blieb. Dies erschien als sicherster Weg, um künftig eine Bedrohung Englands vom Kontinent her durch einen Bund oder ein Bündnis kontinentaleuropäischer Staaten auszuschalten. Unter dieser Voraussetzung sollten die deutschen Grenzen festgelegt und konnte Deutschland geteilt werden. In der eng zusammenarbeitenden Crew innerhalb und außerhalb des Foreign Office wurde nach eingehend erwogenem Pro und Contra die künftige Stellung Englands, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion unter den „vier Großmächten“ sowohl an der Spitze eines künftig umfassenden internationalen Organisation als auch bei der Besetzung und Teilung des besiegten Deutschlands vorbereitet. Das westliche Deutschland sollte mit der „atlantischen Zivilisation“, das östliche, mit irgendeiner

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Art von „mitteleuropäischem Block“ vereinigt, dem Osten zugewiesen werden. Dadurch entstand gewissermaßen eine geostrategische Ordnung, die Deutschland unter Kontrolle hielt und seinen Wiederaufstieg zur kontinentalen Führungsmacht sowie jede neue Expansion, wohl aber auch ein Übergewicht der Sowjetunion in Europa ausschloß, ohne daß die Beziehungen Großbritanniens zu ihr hierunter leiden sollten. Ein ungeteiltes Deutschland, erklärte etwa Gladwyn Jebb, würde das Vordringen Rußlands provozieren, während von einer Teilung Deutschlands Glacis-Wirkungen ausgingen. Ende November 1942 stimmte das Kriegskabinett einer Kurzfassung der Viermächte-Denkschrift zu, die als vierte Macht China nannte.37 Doch fortan konzentrierte sich der Widerspruch Churchills auf die Bezeichnung Chinas als einer Großmacht.38 So wurde der Viermächte-Plan vom Kriegskabinett angenommen, gewissermaßen zur offiziellen englischen Konzeption erhoben – mit der paradoxen Einschränkung, daß das in innere Gegensätze zerfallende China in seinem Kampf gegen Japan als Großmacht nicht in Betracht komme. Die Frage nach einer vierten Großmacht blieb offen. Nach dem Schock des „Darlan Deal“ in Nordafrika, für den General Eisenhower die Verantwortung trug, der durch Roosevelt gedeckt wurde, während Hull und das State Department ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten39, und mit der beginnenden Stabilisierung in Algerien und Marokko gewannen de Gaulle und seine Bewegung „France Libre“ in englischen, bald auch in amerikanischen Augen wachsende Bedeutung. Das Ganze war ausgeklügelt. Das Kriegskabinett beschloß über eine Kurzfassung der Denkschrift, in der nur von Großmächten, aber nicht von der Zukunft Deutschlands die Rede war. Von denjenigen, die Gelegenheit hatten und sich der Mühe unterzogen, die gesamte Elftausend-Worte-Denkschrift eingehend zu studieren, wurden Bedenken geäußert, die jeweils Fall für Fall erörtert, ausgeräumt oder beiseite gedrängt wurden. Einige betrafen auch Deutschland, dessen „Zersplitterung“ als Schaden für den wirtschaftlichen Neuaufbau nach dem Kriege

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betrachtet wurde. Hierzu gab es dann das Gegenargument, daß es günstiger sei, ein größeres wirtschaftliches System zu schaffen, das mehrere deutsche Staaten erfasse, statt auf ein nationalwirtschaftlich organisiertes Deutschland als „möglicherweise dominierenden Block“ zu bauen.40 Eine Zukunft Deutschlands auf diesem „Weg nach Westen“41 deutete sich in dieser Planung an. Zunächst blieben allerdings Bedeutung und Wert derartiger Überlegungen und Beschlüsse angesichts der Neigung des amerikanischen Präsidenten, Entscheidungen über die Zukunft hinauszuschieben – zugunsten des eigenen, wahrscheinlich wachsenden Einflusses – noch unbestimmt. Tatsächlich ergaben sich 1942 außerhalb der umfangreichen militärisch-wirtschaftlichen Hilfslieferungen keine engeren, Dauer anzeigenden Beziehungen der beiden Westalliierten zur Sowjetunion. Stalin weigerte sich – vor dem Fall von Stalingrad –, einem Treffen mit Churchill und Roosevelt zuzustimmen. So blieb dann nur noch der Versuch Roosevelts, in einem Treffen mit Churchill in Casablanca Gemeinsamkeit vor der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, die auch Stalin beeindrucken konnte, obgleich der Präsident an seinem Grundsatz festzuhalten versuchte, Vereinbarungen über die Nachkriegszeit nur mit Stalin selbst zu erörtern.42 In Hinblick auf die Wirkungen, die die Casablanca-Formel vom „unconditional surrender“ auf Stalin und die Sowjetunion haben sollte, erwies sie sich jedoch als Fehlkalkulation. Es mag offen bleiben, ob sie die sowjetische Neigung, Verhandlungsfreiheit gegenüber den Deutschen zu demonstrieren, verstärkte oder neu stimulierte. Aufgrund verläßlich erscheinender Informationen rechneten Angehörige des Foreign Office noch im Oktober 1943 mit einer Gruppe oder Richtung sowjetischer Führer, die eine Verbindung mit Deutschland jeder anderen Koalition vorzogen, so daß es ernsthafte Möglichkeiten eines Einvernehmens für den Fall geben konnte, daß Hitler gestürzt und durch eine Generalsgruppe ersetzt werden würde.43 Wie immer Stalin dieses Spiel durchdacht haben mag, das kaum bis zum 20. Juli 1944 fortgeführt worden sein dürfte, ließ er sich doch

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von keiner Seite binden. Er rechnete immer auch mit außergewöhnlichen Möglichkeiten, sofern sie ihm Erfolge zu versprechen schienen, was er schon von dem Bündnis mit Hitler 1939 erwartet hatte. Englische Politiker hatten gewisse Hoffnungen zu Beginn des Krieges auf friedenswillige deutsche Oppositionelle gesetzt, als Deutschland stark, aber noch nicht siegestrunken schien. Auf sowjetischer Seite erweckte die Schwächung der deutschen militärischen Macht ähnliche Erwartungen wie in Kreisen des amerikanischen Geheimdienstes.44 Als Eden im März 1943 eine mehrwöchige Reise in die Vereinigten Staaten antrat, weihte ihn Roosevelts Intimus Harry Hopkins in Neigungen des Präsidenten ein: „Er mag Churchill als einen Mann des Krieges; aber er ist entsetzt über seine reaktionäre Haltung für die Dinge nach dem Kriege“. Dies fanden Eden und Harvey während der ersten Begegnung des Außenministers mit dem Präsidenten im Weißen Haus in etwa bestätigt.45 Im ganzen verlief der Besuch wenig erfolgreich; er vermittelte Eden den Eindruck eines Gegeneinanderarbeitens auf der oberen Ebene und verschwommener Vorstellungen Roosevelts von dem, was nach dem Krieg geschehen solle. Der Präsident glaubte die überragende Bedeutung der künftigen Weltorganisation gesichert, wenn nur die USA , die USSR und England gerüstete Mächte sein dürften und alle anderen abrüsten müßten. Von einiger Bedeutung blieb der aus diesen Gesprächen hervorgegangene Gedanke einer „United Nations Commission for Armistice and Post-Armistice Problems“ in Europa, aus dem dann später die European Advisory Commission erwuchs, für die Jebb – nun unter Einbeziehung Frankreiches – eine neue Fassung des Viermächte-Plans im Sommer 1943 ausarbeitete, die er in Whitehall durchsetzte, wenn auch das Kriegskabinett noch nicht offiziell zustimmte. Noch im August wurde ihm der Vorsitz eines von Militärs gebildeten Gremiums übertragen, das den britischen Stabschefs unterstand und sich als ihr Unterkomitee (Military Sub-Committee) mit Fragen des Waffenstillstandes in Italien und der Anwendung des „Unconditional sur-

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render“-Prinzips befaßte.46 Hier kam nach der Kapitulation Italiens der erste erfolgreiche Plan zur Schaffung künftiger Besatzungszonen im besiegten Deutschland zustande. Von Ostpreußen abgesehen, das Polen zugesprochen wurde, erhielten die drei Siegermächte Zonen mit etwa gleich großer Bevölkerung zugewiesen. Der weniger dicht bevölkerte Osten wurde in einer etwas größeren Landmasse den Russen, das nordwestliche Deutschland den Engländern, das südliche den Amerikanern zugeteilt. Berlin lag im östlichen Deutschland und fiel damit der sowjetischen Besetzung anheim; doch jede der Besetzungsmächte sollte Zugang zu der deutschen Hauptstadt erhalten. Von unwesentlichen Ausnahmen abgesehen, ist hierbei mit der Westgrenze der für die sowjetische Besetzung vorgesehenen Zone bereits die spätere Grenze zwischen West- und Ostdeutschland entlang historisch überlieferten Verwaltungsgrenzen von Regierungsbezirken und Landkreisen vorgezeichnet und faktisch mit der Annahme des Plans definitiv festgelegt worden. Es dauerte allerdings noch länger als ein Jahr, ehe der im Juni 1944 vervollständigte Plan von allen drei Mächten anerkannt wurde. Dazwischen lagen die großen Konferenzen, entstanden aber auch fortgesetzt neue Probleme, Spannungen und Krisen in der Kriegskoalition. Auf der Moskauer Außenministerkonferenz vom 19. Oktober bis 1. November 1943, einer Viermächtekonferenz unter Beteiligung Chinas, war Eden noch in der Lage, für England wie für den Westen zu sprechen, während der amerikanische Außenminister die Rolle eines Beobachters übernahm und sich die sowjetische Seite verhandlungsbereit zeigte. Mit der von Eden vorgeschlagenen Bildung einer European Advisory Commission (EAC ) und ihrer Aufgabenstellung für die Zonenplanung eines englischen Post-Hostilities Planning Subcommittee (PHPS ) wurden Voraussetzungen für weitere Vereinbarungen geschaffen.47 Die nachfolgende Konferenz der Regierungschefs – die erste der Kriegskonferenzen der „großen Drei“ – in Teheran, brachte die offizielle Einsetzung und Beauftragung der EAC . Die erste Unterredung, die Roosevelt in Teheran am Nachmit-

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tag des 28. November 1943 allein mit Stalin in der Botschaft der USSR führte48, schien geeignet, den Sowjetdiktator von der Großzügigkeit Roosevelts zu überzeugen und der Sowjetunion neue Möglichkeiten zu eröffnen. Der Präsident bot eine Aufteilung der Handelsflotten Englands und der USA in der Nachkriegszeit an, damit die Sowjetunion die Möglichkeit erhielte, „mit der Entwicklung der Handelsschiffahrt zu beginnen“; England und die Vereinigten Staaten hätten nach dem Kriege zu große Handelsflotten. Roosevelt ließ auch erkennen, in welchen Punkten er nicht mit Churchill übereinstimmte, die sich nun Stalin zu eigen machen konnte: daß er über das künftige Schicksal Indiens nicht mit Churchill, sondern mit Stalin verhandeln wolle und daß die englische Haltung gegenüber Frankreich und de Gaulle nicht die seine sei. Roosevelt deutete an, daß er Frankreich nicht mehr als Großmacht betrachte, worin ihm Stalin zustimmte. Im nächsten Zwiegespräch49 machte Roosevelt Stalin mit dem amerikanischen Entschluß bekannt, nach dem Kriege eine Weltorganisation aus vielen Staaten auf der Grundlage der Prinzipien der Vereinten Nationen zu schaffen. Auch bei dieser Gelegenheit erklärte Roosevelt seinen Dissens gegenüber Auffassungen Churchills, der mindestens zwei regionale Organisationen neben der Weltorganisation für notwendig halte, eine Auffassung, die Stalin teilte, der dem Gespräch aber eine andere Wendung gab, indem er vorschlug, dem Exekutivorgan dieser künftig von den Weltmächten geführten Organisation die Aufgabe zu übertragen, durch ständige militärische Besetzung von Stützpunkten für die dauerhafte Niederhaltung Deutschlands wie Japans zu sorgen. Diesem Gedanken stimmte Roosevelt zu. Churchill sprach dann am „Runden Tisch“ am 1. Dezember50 von einer Westverschiebung Polens. Die Frage der Umsiedlung der Einwohner warf Roosevelt auf. Stalin nahm dies zur Kenntnis, ohne sichtbar zu reagieren. Er lehnte nur jede Verhandlung mit der polnischen Exilregierung ab. Schließlich kam auf Roosevelts Vorschlag das „Dismemberment“ Deutschlands an die Reihe. Churchill sprach von einer Abtrennung Bayerns und

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anderer Gebiete, die sich einem Donaubund anschließen sollten, was an den Rheinbund der napoleonischen Zeit erinnert.51 Churchill wollte auch eine Aufteilung Preußens überdenken, das er die „Wurzel des Übels in Deutschland“ nannte. Selektive historische Ansichten erscheinen stets im Spiel, ohne daß sich sagen ließe, wie weit sie über 1914 hinaus zurückreichten. Roosevelt bezeichnete fünf künftig unabhängige Staaten: Preußen, Nordwestdeutschland mit Hannover, dann Sachsen, Hessen mit dem Rheinland und einem Teil Westfalens und Bayern mit Baden und Württemberg. Er schlug eine Viermächteverwaltung für den Nordostseekanal und Hamburg sowie eine Treuhandschaft für das Ruhrgebiet und das Saarland vor. Dem undeutlichen Eingehen Stalins auf diesen Gedanken wird man kaum Bedeutung beilegen dürfen; ihm war es offenbar um die Ablehnung des Donaubund-Gedankens zu tun, den Churchill vorgebracht hatte. Stalin wandte sich jedoch gegen eine unterschiedliche Behandlung deutscher Länder und Stämme, ebenso gegen eine Verbindung mit Österreich, aber auch von Ungarn mit Österreich. Aufmerksamkeit verdient eine Wendung Stalins, als Churchill von der Notwendigkeit auch einer größeren Zusammenfassung sprach, da die Deutschen sonst bald zur Wiedervereinigung drängten. Hierauf erwiderte Stalin, es gebe „keine Maßnahmen, die die Möglichkeiten einer Vereinigung ausschließen würden“.52 In diesem Zusammenhang entgegnete er Churchill, daß Polen, Frankreich und Italien wieder starke Staaten werden würden. Stalin meinte jedoch kein Polen unter der Exilregierung und auch kein Frankreich der France Libre unter Führung de Gaulles. Jeder der Drei ließ bei diesem Fechten mit Worten, das die Protokolle verständlich überliefert haben, einiges von seinen Zielen und Absichten erkennen.53 Beschlossen wurde indessen außerhalb militärischer Beratungen wenig. Nur die Zukunft Polens erscheint geklärt: „Im Prinzip wurde beschlossen, daß die Heimstatt des polnischen Staates und Volkes zwischen der sogenannten Curzon-Linie und der Oder-Linie liegen soll, unter Einbeziehung von Ostpreußen und der Provinz Oppeln in den Bestand Polens. Die end-

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gültige Grenzziehung erfordert jedoch eine sorgfältige Prüfung und eine mögliche Aussiedlung der Bevölkerung an einigen Stellen“. Im Januar 1944 einsetzende Angriffe der sowjetischen Presse gegen England lösten neue Empörungen aus. Dennoch behielt die EAC eigentümliches Gewicht. Über ihre Gefährdung auf der ersten Kairoer Konferenz durch amerikanische Attacken war diese Einrichtung kraft entschlossenen englischen Widerstandes hinweggekommen.54 Entscheidungen vorbereitende und schließlich gar ersetzende Beschlüsse zur Aufteilung der Besatzungszonen in Deutschland wurden bis 1945 gefaßt, zuletzt unter Beteiligung Frankreichs. In Ermangelung anderer Beschlüsse oder entscheidungsfähiger Instanzen kam ein Besetzungsschema zustande, das eine verhältnismäßig reibungslose Inbesitznahme Deutschlands durch die Alliierten ermöglichte. Das „Dismemberment“ wurde mehr oder weniger stillschweigend herbeigeführt, die Zonenteilung im September 1944 nach den ursprünglichen britischen Plänen durchgesetzt, allerdings mit der Konzession, daß Bremen mit Bremerhaven und seinem gesamten Hafengebiet als Exklave in der britischen Bestandteil der amerikanischen Zone wurde.55 Abweichend von den in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinungen, die sich bewegt, auch erregbarer zeigten, stand kaum jemals ernsthaft die Frage der inneren Politik oder der inneren Entwicklung Deutschlands zur Diskussion; von Einwirkungen des amerikanischen Finanzministers Morgenthau – und seinem Einfluß auf Roosevelt – abgesehen. Morgenthaus Idee, „Deutschland in ein Ackerland“ zu verwandeln56, folgte dem Plan einer strafenden Zwangslösung mit Dauerwirkung. Der Hauptteil rührte von Morgenthaus Unterstaatssekretär Harry Dexter White her, folgte aber Grundsätzen, die Morgenthau aufgestellt hatte. Danach sollten die gesamte deutsche Rüstungsindustrie zerstört, die anderen Schlüsselindustrien abtransportiert oder vernichtet und das Ruhrgebiet internationaler Kontrolle unterstellt werden. Zu weiteren Punkten gehörten die Abtretung Ostpreußens sowie des südlichen Schlesien an

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Polen und Rußland, des Saargebietes und der linksrheinischen Zone an Frankreich sowie Aufteilung Restdeutschlands in zwei autonome Staaten – Bayern, Württemberg und Baden im Süden, der übrigen Länder mit dem restlichen Preußen in Mittelund Norddeutschland. In diesen beiden Staaten sollten 18 Länder mit eigener Regierung (federal government) entstehen. Desindustrialisierung, Föderalisierung und Teilung Deutschlands sind tatsächlich – allerdings in verschiedenen Phasen – zu Grundsätzen alliierter Deutschlandpolitik geworden. Morgenthau versuchte, den Plan im September 1944 gegen heftige Widerstände in Washington bei Roosevelt durchzusetzen.57 Das gelang nach der Konferenz von Québec, als Harry Hopkins vorübergehend seinen Einfluß bei Roosevelt eingebüßt hatte und Churchill wie Eden ihren Widerstand nur noch hinhaltend zum Ausdruck brachten. Schließlich nahm Churchill diesen Plan ebenso hin wie Roosevelt, der dann aber wenige Tage später in Washington seine Unterschrift wieder zurückzog. Doch die Richtung war in wichtigen Punkten bestimmt. Dies bezeugt noch die Weisung der Stabschefs für die erste Besatzungszeit ( JCS – Joint Chiefs of Staff – 1067). Für die deutsche Propaganda allerdings erhielt dieser weithin bekannt gemachte Plan noch erhebliches Gewicht; er trug viel zur Belebung der Widerstandskraft deutscher Soldaten Ende 1944 bei.58 Nach der Befreiung der ersten Konzentrationslager verbreiteten sich indessen Gefühle des Abscheus in der amerikanischen Bevölkerung, die wiederholt erneuert wurden. Aber auch solche Gedanken gewannen Einfluß, die der Publizist Walter Lippmann vertrat, der die nationalstaatlichen Interessen innerhalb Europas für ebenso selbstverständlich hielt wie aus wirtschaftlichen Gründen die Zwangsläufigkeit deutscher Expansionstendenzen. Hieraus ergab sich das Problem einer kontrollierbaren Plazierung Deutschlands, dem keine bestimmende Funktion mehr innerhalb der „balance of power“ zwischen einer „Atlantic Community“ und einem „Russian Orbit“ (unter Einschluß Polens) zukam. Lippmanns Idee zur Lösung des Problems erschien Anfang 1944 verhältnismäßig einfach: eine starke militä-

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rische Rüstung und Überlegenheit der Nachbarstaaten, die durch einen dauernden Dämpfungs- und Streßeffekt den deutschen Nationalismus neutralisieren sollte – militärische Besetzung und wirtschaftliche Kontrolle Deutschlands, um es als Macht zwischen „antibolshevism in the West“ und „anti-capitalism in the East“ auszuschalten.59 Permanente Besetzung, völlige Abrüstung und ständige Kontrolle, aber auch politische Isolierung Deutschlands sowohl von der Atlantischen Gemeinschaft als auch vom „Russian Orbit“ konnten in den Augen eines erfolgreichen Publizisten vielleicht theoretisch als „Lösung“ des Problems erscheinen; praktische Bedeutung kam dem nicht zu. Die Teilung, das Dismemberment Deutschlands, stellte demgegenüber eine Alternative dar, die sich schließlich mit einer gewissen praktischen Folgerichtigkeit durchsetzte. Doch der Weg zu diesem Ergebnis verlief keineswegs linear und widerspruchslos. Unter dem Eindruck des Vorgehens der Sowjetunion in den osteuropäischen Ländern seit Anfang 1944 entstanden neue Besorgnisse auf englischer Seite, die latente Konflikte zwischen Militärs und Diplomaten nährten.60 Der „Janus-like character“ der sowjetischen Außenpolitik61 ließ mit fortschreitender Expansion der Sowjetmacht die Einschätzung ihrer Politik immer schwieriger erscheinen. Als letzte dauerhafte Sicherung gewann die künftige Stellung Frankreichs größere Bedeutung.62 Schließlich wurde in Jalta die Beteiligung Frankreichs am Regime der Besatzungsmächte in Deutschland beschlossen. Die Aussichten auf eine näherrückende Beendigung des Krieges in Europa haben Beratungen, Bemühungen, Verhandlungen, öffentliche Diskussionen wie auch Tonart und Rangordnung der Angriffspunkte der sowjetischen Propaganda und selbstredend die politischen Nachkriegsperspektiven beeinflußt. Man erkennt die stetige Lockerung der Beziehungen innerhalb der nie gefestigten Kriegsallianz. Das Projekt einer zwischen Sicherheitsrat und alliierter Militärregierung in Deutschland eingefügten, integrierenden, von den vier Mächten geführten United Nations Commission for Europe wurde im Oktober 1944 in

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Moskau diskutiert, aber nicht mehr verwirklicht. Weder Roosevelt noch Churchill hatten vor den sowjetischen Erfolgen in Ost- und Südosteuropa im Sommer und Herbst dieses Jahres irgendwelche Zweifel an einem dauerhaften Bündnis mit der Sowjetunion aufkommen lassen. In Jalta (4. bis 11. Februar 1945) sahen sie schließlich keinen anderen Weg, als die sowjetische Herrschaft in Osteuropa hinzunehmen und lediglich „freie Wahlen“ anzukündigen. Die gemeinsame „Erklärung über das befreite Europa“ nahm Bezug auf die Atlantikcharta und schlug die Brücke zur Organisation der Vereinten Nationen, die einige Wochen später in San Francisco von den Vertretern von 52 Staaten gegründet wurde. Für den Sicherheitsrat wurden die Abstimmungsmodalitäten schon in Jalta festgelegt. Roosevelt dachte an einen raschen Rückzug aller Truppen der Vereinigten Staaten nach Kriegsende63, um die Angelegenheiten Europas künftig vor allem Großbritannien zu überlassen.64 Daran hielt sich anfänglich auch Truman. In den Vereinigten Staaten kamen aber auch andere Vorstellungen ins Spiel, wie schon das Beispiel des einflußreichen Lippmann zeigte, nicht zuletzt auch eine Kritik an der britischen Empire- und Kolonialpolitik. Doch die gewaltige Machtkonzentration auf sowjetischer Seite festigte die angloamerikanische Allianz auf neue Weise. Die Frage nach der künftigen Politik Rußlands veranlaßte nach den Erfahrungen des Aufstandes in Warschau im August und drastischen Äußerungen des Chefs der amerikanischen Militärmission, General Deane, gegen Jahresende 1944 neue Erörterungen im Weißen Haus. Der alte, erfahrene Kriegssekretär (Kriegsminister) Stimson erwog sogar, eine vorzeitige Mitteilung über die Atombombe nach Moskau gelangen zu lassen, um die Sowjetunion zu warnen. Noch gegen Kriegsende ermangelten die Alliierten enger strategischer Zusammenarbeit. Immer noch empfand vor allem die englische Seite die starke Bedrohung durch deutsche U-Boote, die von den amerikanischen Joint Chiefs of Staff wiederholt erörtert wurde.65 Die Unterstüt-

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zung „befreiter Truppen“, von Partisanenverbänden auf dem Balkan, vor allem in Jugoslawien und Griechenland, die ausgerüstet werden sollten, bereitete Sorgen.66 Die unter bitteren Mängeln leidende Bevölkerung dieser Gebiete mußte unterstützt werden. Dies besaß auch politische Bedeutung. Die Joint Chiefs of Staff beschlossen eine Empfehlung an die Combined Chiefs of Staff, das oberste amerikanisch-britische Befehlshabergremium: „Jeglichen Streitkräften der befreiten Gebiete in Europa soll Hilfe geleistet werden“, soweit sie eine aktive Rolle im Krieg gegen Deutschland oder Japan gespielt hätten.67 Infolge der globalen Weite der Kriegsschauplätze waren in militärischer Sicht Engpässe und Mängel in der ständigen Verbindung zu den amerikanischen und britischen Truppen in Westeuropa eingetreten und in Gebieten Ostasiens noch stärker fühlbar geworden, vom Kriegsschauplatz in Indien und Birma bis zu den Philippinen und Nord-Borneo, wo MacArthur landen wollte. Daher erschien das Verlangen nach schneller siegreicher Beendigung des Krieges dringlich. General Marshall schlug die Einholung der russischen Zustimmung für eine strikte Beendigung des Krieges mit Deutschland zum 1. Juli 1945 vor.68 Daraus ergab sich das Problem der definitiven Zuteilung von Besatzungszonen, das völlig verbindlich noch nicht einmal mit England geklärt war. Schließlich wünschte die amerikanische Seite eine russische Beteiligung am Krieg gegen Japan, alsdann eine Klärung der Verantwortungsbereiche in Südostasien. Die militärischen Vorhaben verwiesen schon auf politische Zukunftsperspektiven. Von Admiral Leahy, der in Jalta zur rechten Seite Roosevelts Platz nahm, ist eine Tagebuchnotiz des Inhalts überliefert, daß strenge Friedensbestimmungen für Deutschland Rußland zur herrschenden Macht in Europa werden ließen, dies aber die Gewißheit künftiger internationaler Streitigkeiten und Aussichten auf neuen Krieg eröffne.69 Es gab Konflikte seit der ersten Rückführung der aus deutscher Kriegsgefangenschaft von den Russen befreiten Amerikaner: das Kapitulationsangebot des deutschen Oberbefehlshabers in Italien, das die Sowjetunion einen Separatfrieden befürchten

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ließ, Kontroversen über einen Alliierten Kontrollrat in Deutschland, über chinesisch-sowjetische Gebietsregelungen, bis zur politischen Entwicklung in Polen, dann in der Tschechoslowakei, wo mit russischer Präferenz eine kommunistische Partei tonangebend wurde und aus Rußland zurückkehrende Emigranten die heimischen Widerständler an den Rand zu drängen versuchten. In starken Worten warnend und mahnend, versuchte Churchill in einer Botschaft kurz nach der deutschen Kapitulation, am 12. Mai 1945 Präsident Truman zu der bislang fehlenden Kursbestimmung der Sowjetunion gegenüber zu bewegen: „Ein eiserner Vorhang ist vor ihrer Front niedergegangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. Es ist kaum zu bezweifeln, daß der gesamte Raum östlich der Linie LübeckTriest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird. Zu all dem kommen noch die weiten Gebiete, die die amerikanischen Armeen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, die aber, wie ich annehmen muß, nach der Räumung durch Ihre Truppen in ein paar Wochen gleichfalls der russischen Machtsphäre einverleibt werden … Die Aufmerksamkeit unserer Völker aber wird sich mit der Bestrafung Deutschlands, das ohnehin ruiniert und ohnmächtig darniederliegt, beschäftigen, so daß die Russen, falls es ihnen beliebt, innerhalb sehr kurzer Zeit bis an die Küsten der Nordsee und des Atlantik vormarschieren könnten … Es ist unbedingt lebenswichtig, zu einer Verständigung mit Rußland zu kommen, beziehungsweise zu sehen, wo wir mit Rußland stehen, und das sofort, ehe wir unsere Armeen bis zur Ohnmacht schwächen und uns auf unsere Besatzungszonen zurückziehen … Das Problem, mit Rußland zu einer Regelung zu kommen, ehe unsere Kraft geschwunden ist, scheint mir jedes andere in den Schatten zu stellen“.70 Offene Frage blieb, was die Westalliierten dem siegesstolzen Sowjetführer entgegenzuhalten vermochten. Der amerikanische Marinestabschef Admiral Leahy schrieb schon am Neujahrstag 1946 in seinem Tagebuch von einer „Appeasement-Politik“, die das Department of State im Verein mit der jetzt in

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England das Ruder führenden Labour-Regierung der Sowjetunion gegenüber eingeschlagen habe, „die an Chamberlain in München erinnert und für die politischen Interessen Amerikas und England gefährlich ist“.71 Stalin hat mit der ihm eigenen Zielsicherheit in einer öffentlichen Rede noch im Februar 1946 – scharf auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogen – die marxistische Lehre fortgebildet und erklärt, daß „die Entwicklung des Weltkapitalismus in unserer Zeit nicht in der Form einer reibungslosen und gleichmäßigen Vorwärtsbewegung, sondern durch Krisen und Kriegskatastrophen vor sich geht“.72 Die tiefsten Gründe für die verwirrenden Nachkriegsverhältnisse lagen in Formen und Wirkungen der letzten Kriegskämpfe. Eine neue Zukunft des Krieges73 hatte sich angekündigt, als aus den untergründig und hintergründig aufgebauten und vielförmig entwickelten Partisanenverbänden politische Kräfte ans Tageslicht traten, denen die später konstruierten Uniformitäten als „Antifaschisten“ oder Opfern – oder wie auch immer nominiert – noch völlig unvertraut waren. In Italien hatten sich bis zum Frühjahr 1945 die Partisanen aus „schlecht organisierten Geheimbünden zu einer Organisation entwickelt“, die in der Lage war, den Alliierten „sowohl militärisch als auch politisch-wirtschaftlich beträchtliche Unterstützung zu bieten“.74 In diesem Zusammenhang sind aber auch die amerikanischen Militärs zu nennen. Die Joint Chiefs of Staff, die Stabschefs, sahen sich der Tatsache gegenüber, daß sich nach dem Zusammenbruch der Militärmächte Deutschland und Japan Großbritannien in zweitrangiger Stellung in der Welt und in ungewisser Beziehung zu seinen Kolonien und Dominions befand. Die jüdischen Siedler in Palästina, deren Zahl allmählich wuchs, hatten Aufstände gegen die englische Mandatsmacht begonnen und in der Sowjetunion Unterstützung gefunden.75 Indien wurde schließlich 1947 in die vollständige Unabhängigkeit entlassen und trennte sich von dem neuen islamischen Staat Pakistan. Die Vereinigten Staaten sahen sich der Sowjetunion als

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einziger Weltmacht gegenüber – zwei „superpowers“, wie man sie später nannte. Die Stabschefs hegten Zweifel, daß sie nun noch im Verein mit dem weltpolitisch im Rückzug begriffenen England der Herausforderung einer sowjetische Herrschaft über Kontinentaleuropa begegnen könnten.76 Der amerikanische Geheimdienst mied weithin die Gleichsetzung der sowjetischen Politik mit Moskauer Erklärungen einer Weltrevolution marxistisch-leninistischer Provenienz. Man meinte, daß die russische Politik nur mäßig expansionistisch sein könne. Noch im Januar 1945 gab es kaum Zweifel, daß sie allein auf die Sicherheit der USSR bedacht sei. Aber wer konnte sie denn noch bedrohen? Die Nachrichtenexperten hielten Interessenkonflikte zwischen der USSR und den Vereinigten Staaten für möglich, wähnten aber die Sowjetunion keineswegs im Stande, Neigungen zu einem neuen Kriege nachzugeben. Es fehlte im Grunde jedes Vermögen, zwischen konkreten, verteidigungswürdigen Interessen der USA und einer Prävention fremder Aggression zu differenzieren.77 Die vorgesehenen internationalen Organisationen schienen überdies einige Sicherheit jedweder Aggression gegenüber zu gewährleisten. Erstes Mißtrauen erregte die passive Haltung der bis an den Rand Warschaus vorgedrungenen Roten Armee, während die deutschen Truppen den Anfang August 1944 begonnen Aufstand der polnischen „Heimatarmee“ bis zum Oktober niederkämpften. Sogar amerikanische Bemühungen, ukrainische Flugplätze für Hilfen aus der Luft zugunsten Warschaus zu nutzen, wurden von Molotow und Stalin abgelehnt.78 Noch im Frühsommer hatte Molotow einigen Pendelbomber-Basen zur Unterstützung der russischen Offensive zugestimmt, die nun geschlossen wurden. Ende März 1945 wurden die nichtkommunistischen Führer der polnischen Untergrundarmee in Moskau inhaftiert und verurteilt und die der polnisch-jüdisch-sozialistischen Partei im Juni hingerichtet. In Bukarest drängte der stellvertretende sowjetische Außenminister Wyschinski den noch regierenden König zur Einsetzung eines kommunistischen Ministerpräsidenten, womit die Machtübernahme durch

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die Kommunisten in Rumänien begann, die – mit einigen Abweichungen – bald zum Leitbild der unter sowjetischer Macht dominierenden politischen Entwicklung in den europäischen Nachbarländern Rußlands wurde, zuletzt im kommunistischen Putsch in Prag im Februar 1948. In Griechenland, wo verschiedene Widerstandsverbände englische Unterstützung erhalten hatten, kam es zum Bürgerkrieg. Ende 1945 erschienen Churchill und Eden in Athen, um politisch einzugreifen. Stalin war kein schwacher Diktator, der nur den „einer Zusammenarbeit mit den Westmächten skeptisch gegenüberstehenden Kräften der Partei“79 nachgab. Stalins überlieferte Erklärung dem Stellvertreter Titos gegenüber vom April 1946 bezeugt das Prinzip: „Wer immer ein Gebiet besetzt, er legt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf. Jeder führt sein eigenes System ein, soweit seine Armee vordringen kann“.80 Seit Jalta verlangte Stalin entschieden und beharrlich Reparationen von Deutschland.81 Hierfür bildete eine wirtschaftliche Einheit Deutschlands die günstigste Voraussetzung und besaß das Ruhrgebiet den größten Wert. Der todkranke Roosevelt erkannte noch: „We can’t do business with Stalin. He has broken everyone of the promises he made at Yalta“.82 Die Westmächte wollten alsdann den sowjetischen Einfluß in Italien, Griechenland, in der Türkei und in Deutschland begrenzen. So blieb der Rückgriff auf Gedanken, die Europa zwischen zwei Defensivbündnissen teilten. Dies führte schließlich dazu, daß die Grenze der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland auch zur Grenze zwischen Ost und West, das „Dismemberment of Germany“ in Gestalt einer Zweiteilung – vorausgesehen oder angestrebt – zu einer Zweiteilung auf längere Dauer wurde. Dies gilt auch für ideologische Einwirkungen auf die Deutschen, als der Krieg zu Ende ging. Das amerikanische Office of War Information setzte seine Propaganda fort. Sein Vertreter bei den Sitzungen der JCS , Elmer Davis, erklärte, daß die Propaganda nützlich und vernünftig sei als ein Instrument der Politik. Es sei schwierig, die Entscheidung von Jalta den Deutschen in einer wirkungsvollen Form zu präsentierten.

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Sie müßten zu der Erkenntnis gebracht werden, daß sie eine vollständige und endgültige Niederlage erlitten hätten. Dem müsse dann eine anhaltende Wirkung in der Nachkriegszeit gesichert werden.83 Die Wirklichkeit nach dem Ende des Krieges, nach der Kapitulation, die Verschiebung der Besatzungstruppen und die Inbesitznahme der vorher bestimmten Beatzungszonen, die Begrenzungen des Verkehrs- und Kommunikationssystems – und der Beginn vielfältiger Besatzungspraktiken – hat Deutschland zunächst in mehr Teile auseinanderfallen lassen, als je ein Plan vorsah. Die Potsdamer Konferenz befaßte sich, nach Vorbereitungen durch die EAC , bereits mit dem nicht mehr sonderlich erfolgreichen Versuch, für eine Anfangsperiode Deutschland wenigstens als wirtschaftliche Einheit wiederherzustellen, da die Verhandlungen über Reparationsleistungen noch nicht abgeschlossen waren. In dieser Zwischenphase konnte es die nicht an der Potsdamer Konferenz, aber dann am Besatzungsregiment in Deutschland beteiligte französische Macht unter de Gaulle wagen, sich die weitesten Ziele zu setzen, um bei der Verfügung über die Konkursmasse des Reiches den Zirkel zurück zu den Kriegszielen des ersten Weltkriegs zu schließen. Frankreich sah sich als erneuerte Großmacht. Das ihm eigene Selbstgefühl erlaubte es dem General, in besetzten deutschen Städten den Plan des französischen Sieges in großen, etwas sprunghaft anmutenden Worten zu offenbaren, so am 5. Oktober im Kurhaus zu Baden-Baden: „Was machen wir hier am Morgen unseres Sieges? Unser Handeln hatte zum Zweck, Frankreich hier einzurichten. Wir gehorchen einer Art Aufforderung der Geschichte unseres Landes, die in der Vergangenheit unterbrochen war und der wir nun zum letzten Mal und endgültig zur Wirklichkeit verhelfen: Frankreich hier zu etablieren, das heißt Frankreich die Verfügung über das Land zu geben, das seiner Natur nach mit ihm verbunden ist. Ich meine das linke Ufer des Rheins, die Pfalz, Hessen, Rheinpreußen und die Saar. Sie sind allesamt voneinander abhängig, die Pfalz, die unser Elsaß verlängert, Hessen, in das wir jenseits des Rheins gelangen und dessen Täler uns mit dem Main und mit der Donau verbin-

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den, die Eifel, die tatsächlich die Verlängerung unserer Ardennen ist, und schließlich die Stadt Köln, die an der kürzesten Entfernung zwischen Paris und Berlin liegt, alle diese Länder müssen, wie ich meine, eine Einheit mit Frankreich bilden. Handelt es sich hierbei um eine Annexion? Nein; ich will nicht mit Worten spielen. Es soll eine wirtschaftliche und moralische Einheit geben, eine Präsenz, eine unbegrenzte Kontrolle. Wenn die Länder, die sich unmittelbar am anderen Ufer der europäischen Straße befinden, die sich Rhein nennt – Baden gewiß, möglicherweise Württemberg –, moralisch, intellektuell und wirtschaftlich mit der Geschichte unseres Landes vereint sind, warum sollten sie sich dieses Mal nicht noch auf irgendeine Art uns zuwenden? Ich denke an die Ruhr, das Gebiet, das die meiste Kohle im westlichen Europa besitzt, auf die Frankreich angewiesen ist. Die Ruhr ist gewiß ein Gewinn, aber auch ein Instrument: ein Gewinn, denn ohne sie vermag sich Deutschland nicht wieder zu erheben und ein weiteres Mal uns anzugreifen; ein Instrument, das zur Wiederbelebung Westeuropas, und ganz besonders ein Instrument, das Frankreich helfen kann, wieder eine große industrielle Macht zu werden, so daß es der Leistungen dieses Bergbaugebiets bedarf. Dies ist die Rolle Frankreichs. Dies sind die Möglichkeiten, die sich unserem Vaterlande eröffnen und vor denen es keine Furcht haben darf. Was den Rest der Deutschen angeht, so werden sie ihrem Schicksal folgen, einem traurigen Schicksal. Das geteilte, zerstörte und verschiedenen Autoritären ausgelieferte Deutschland, die jede ihre eigene, einander entgegengesetzte Konzeption verfolgen, dieses Deutschland ist dem Unglück ausgeliefert ohne unmittelbare Möglichkeit, sich zu erheben; es wird sich natürlich nach dem Lande orientieren und öffnen, das ihm die größte Chance der Wiederherstellung, die größten Möglichkeiten bietet, einen Platz in Europa wiederzuerlangen“.84 Der letzte Satz überragt an Bedeutung die gesamte, nur vor französischem Publikum gehaltene Rede. De Gaulles Interpretation der europäischen Konstellation, die sich nach der Niederringung Deutschlands ergeben hatte, beruhte auf einer

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Konzeption, die auch Politiker in der Umgebung des Generals kritisierten.85 Eine scheinbare Erwiderung wurde noch am 5. Oktober von deutscher Seite angemeldet. Konrad Adenauer, der am folgenden Tage von seinem Amt als Oberbürgermeister von Köln abberufen wurde, erklärte Vertretern der westlichen Presse, wie er selbst festgehalten hat: „Nach den Vorgängen der letzten hundert Jahre“ verstünde er den Ruf Frankreichs und Belgiens nach Sicherheit. „Es sei aber falsch, einen Rhein-RuhrStaat aus dem nicht russisch besetzten Gebiet Deutschlands herauszutrennen und von Deutschland loszulösen. Der von Rußland besetzte Teil sei für eine nicht zu schätzende Zeit für Deutschland verloren … Wenn man einen Rhein-Ruhr-Staat, losgelöst von den anderen Teilen Deutschlands, bilde, erhebe sich sofort die Frage, was denn aus den Teilen Deutschlands nördlich und südlich dieses Rhein-Ruhr-Staates staatsrechtlich werden solle. Rußland würde getreu seinen imperialistischen Tendenzen sofort erklären, der von ihm besetzte Teil, das ist die Hälfte des alten Deutschlands, sei das Deutsche Reich. Die drei zerschnittenen Teile der nicht russisch besetzten Zonen würden schon automatisch nach Wiedervereinigung mit diesem russisch besetzten alten Reich streben. Man kehre ihr Gesicht geradezu nach dem Osten, nicht nach dem Westen. Es sei notwendig, die drei Teile des nicht russisch besetzten Gebietes, die bei Schaffung eines Rhein-Ruhr-Staates entstünden, in einem staatsrechtlichen Verhältnis miteinander zu belassen. Es könne eventuell bundesstaatlich sein.“ Es sei aber nötig, „die Wirtschaft dieses Teiles, insbesondere die Wirtschaft des RheinRuhr-Staates mit derjenigen Frankreichs und Belgiens zu verflechten, damit dadurch gemeinsame wirtschaftliche Interessen entstünden“.86 Diese Äußerungen waren die eines einsichtigen Mannes, die für den Rest des Jahrhunderts die wesentlichen politischen Entscheidungen Deutschlands vor der Frage umrissen, ob es sich nach dem Ende seiner nationalstaatlichen Periode Mächten des Westens oder des Ostens unterstellen oder verbinden werde.

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Entstehung der Vereinten Nationen Präsident Roosevelt hatte in seiner „Konferenzpolitik“87 zielstrebig Schritt um Schritt strategische Entscheidungen vorangebracht, aber auch Beschlüsse zur Gestaltung einer künftigen Friedensordnung angebahnt. Seine Initiativen hatten schon 1943 und 1944 zu internationalen Vereinbarungen und – was noch wichtiger war – zur Schaffung von Organisationen geführt, die den weiten Rahmen der Vereinten Nationen programmatisch und institutionell auszufüllen begannen. Eine Konferenz in Hot Springs im Mai und Juni 1943 beschloß die Vorbereitung einer Organisation für Lebensmittelversorgung und Landwirtschaft nach Kriegsende.88 Im November fand in Atlantic City die Gründung und erste Tagung einer Organisation für Hilfeleistungen und Wiederherstellung in befreiten Gebieten89 statt. Im Juli 1944 konferierten in Bretton Woods in New Hampshire die Delegierten von 44 Nationen, die sich am Ende langwieriger Erörterungen über konträre Ansichten einerseits von Keynes und anderseits von Morgenthau nach schwierigen Unterhandlungen auf einen Kompromiß in Gestalt eines Abkommens einigten, das nach seiner Ratifikation durch die meisten Staaten Ende 1945 in Kraft trat. Die Sowjetunion beteiligte sich an zwei beschlossenen Institutionen nicht mehr: dem Internationalen Währungsfonds und der Internationalen Bank für Wiederaufbau mit einem Kapital von 10 Milliarden Dollar, die auch heute noch ihren Aufgaben nachgehen. Ihre weltgeschichtliche Bedeutung für den Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft kann kaum zu hoch eingeschätzt werden. Zum ersten Male wurde das Prinzip vereinbart und verfolgt, wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Entwicklung des internationalen Handels, zur Hebung der Beschäftigung und des Lebensstandards durch Beratung und Hilfe in Finanzfragen herbeizuführen. Im Prinzip wurde in Bretton Woods eine neue weltwirtschaftliche Kooperation angebahnt, die sich schwerlich in einer Gemeinschaft mit dem sowjetischen System vorstellen ließ. Ob eine Erfüllung des immensen Kreditbegehrens, das

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Außenminister Molotow für die Sowjetunion vorbrachte, eine günstige Wendung genommen hätte, bleibt mehr als zweifelhaft. Auf der nächsten Konferenz der Vertreter der USA , der USSR , Großbritanniens und Chinas90 in Dumbarton Oaks einige Wochen später wurden die Probleme einer Ablösung des Genfer Völkerbundes durch die Vereinten Nationen erörtert. Doch über einige wenige Festlegungen auf Beschlußgremien, Vollversammlung und Sicherheitsrat, kam man noch nicht hinaus. Erst nach der Konferenz von Jalta ging es weiter voran,91 – nach der geheimen Zusage Stalins zum Kriegseintritt gegen Japan und ausführlichen Erörterungen der Zukunft Polens. Die Gründung der Vereinten Nationen wurde nach dem Tode Roosevelts in San Francisco vollzogen, von Ende April bis Ende Juli 1945 die Satzung beraten und beschlossen, nachdem Harry Hopkins, der von Präsident Truman nach Moskau entsandte alte Emissär Roosevelts, Stalins letzte Vorbehalte ausräumen konnte. 51 Staaten gehörten als Mitglieder der Vollversammlung an. Dazu zählten auch neben der USSR die Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrußland. Die Sowjetunion, die USA , Großbritannien, Frankreich und China gehörten als Ständige Mitglieder dem Sicherheitsrat an. Unbeschadet des Prinzips gemeinsamen Zusammenwirkens schloß die Satzung weder souveräne Entscheidungen zur Selbstverteidigung der Mitgliedstaaten noch „regionale Abkommen“ aus, besondere Bündnisse zwischen ihnen. Ausgeschlossen blieben alle „Feindstaaten“, jene, die „während des zweiten Weltkrieges Feind“ irgendeines der Unterzeichnerstaaten waren. Hier erschien die Welt – wenn auch ohne weitere Perspektive – zweitgeteilt zwischen Alliierten und Neutralen einerseits und Kriegsgegnern anderseits. Doch diese Scheidung verlor allmählich ihre anfängliche Schärfe. Neue Bündnisse gab es schon mehrere: seit Dezember 1944 ein sowjetisch-französisches für die vorgesehene Dauer von 20 Jahren, das auch eine enge Zusammenarbeit nach dem Sieg über Deutschland festlegte, dem dann im März 1945 der französisch-britische Bündnisvertrag von Dünkirchen nachfolgte, für eine Dauer von 50 Jahren – mit der erklärten Zielset-

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zung, „daß zwischen allen Staaten, die Deutschland gegenüber eine Verpflichtung zum Handeln haben, ein Vertrag mit dem Ziele abgeschlossen werde, dieses Land nicht wieder zu einer Gefahr für den Frieden werden zu lassen“.92 Fast nebenher erneuerte sich die „Entente cordiale“ der Vorweltkriegszeit. Im März 1945 entstand – noch auf Initiative Roosevelts – eine Vereinbarung der zwanzig amerikanischen Republiken zur gemeinsamen Solidarität und Hilfeleistung im „Akt von Chapultepec“. Sie veranlaßte die USA , auch das bis April noch abseits stehende Argentinien in die Organisation der Vereinten Nationen hineinzuziehen. Einige Tage später entstand in Kairo die Liga der arabischen Staaten, die England gefördert hatte. Die Zukunft Palästinas spielte bereits eine Rolle. Nach langwierigen Erörterungen und Verhandlungen beschloß die II . UN Generalversammlung am 29. November 1947 mehrheitlich die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat.93 Mit dem arabischen Widerstand hiergegen begann eine sich lange hinziehende Kette von Konflikten um den neuen Staat Israel. Im Verlaufe des Jahres 1947 entstanden Freundschafts- und Beistandsverträge zwischen Polen und Jugoslawien sowie Jugoslawiens mit Bulgarien, Ungarn und Rumänien, in denen sich ein neues zwischeneuropäisches Paktsystem abzeichnete, das sich mehr oder minder deutlich um den jugoslawischen Widerstandsführer Marschall Tito zu gruppieren begann. Die Vielfalt der Entwicklungen und Beziehungen – unabhängig von der Existenz der Vereinten Nationen – hat sich in ihrer Vielfarbigkeit behauptet. Nach der mit der deutschen Frage befaßten Potsdamer Konferenz, der letzten der „Großen Drei“ – erstmals unter Präsident Truman als Nachfolger Roosevelts – wurden noch mehrfach Außenministerkonferenzen vereinbart, die die Reaktionen der Großmächte auf die sich verändernde Weltsituation anzeigten.

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Nachkrieg Nach der Kapitulation zerfiel Deutschland in vier Zonen unter den Militärbefehlshabern der Besatzungsmächte, die einen Alliierten Kontrollrat bildeten. Die große Not der Bevölkerung in zerstörten Großstädten – am größten wohl, neben dem bis zuletzt umkämpften Berlin, in Hamburg und Dresden – und vielen übervölkerten Landgemeinden bestimmte die Lebensformen des Alltags wie auch die Neuanfänge von Politik und Wirtschaft, in der zuerst nur der illegale „Schwarze Markt“ blühte. Der Andrang bombenkriegsgeschädigter Städter, der Millionen aus deutschen Ostgebieten Geflüchteter, der Millionen dann von dort wie aus den Sudetengebieten nachfolgenden Vertriebenen der Jahre 1945 und 1946 und schließlich die nach und nach aus der Kriegsgefangenschaft Entlassenen ergaben eine Wanderungsbewegung größten Ausmaßes, gegen die sich immer weniger Bezirke vorübergehend abzuschotten vermochten. Dies führte auch zu einer Wandlung der historischen Bevölkerungsverhältnisse in landsmannschaftlicher wie in kirchlicher und konfessioneller Hinsicht und ihrer tradierten Lebensformen. Wenn dies alsbald auch durch ausgleichende Bestrebungen, mitunter neue Umsiedlungen, gemildert wurde, so kamen doch die tiefgreifend verändernden Einwirkungen auf die „späte Nation“ der Deutschen strichweise und regional einer revolutionären Umwälzung schon nahe, die aus den Kriegsereignissen und Verlusten an Menschenleben allein noch nicht verständlich wäre. Die am Ende des 20. Jahrhunderts offenbar gänzlich vergessene oder gar nicht mehr vorstellbare Notlage der großen Mehrheit der Bevölkerung läßt sich zunächst in allen Teilen des noch zu Deutschland gehörenden Territoriums erkennen. Eine begrenzte Differenzierung trat insofern ein, als etwa das Passieren der Grenzen der französischen Besatzungszone94 nach der amerikanischen Zone stark behindert, von der sowjetisch besetzten nach jeder anderen Zone – mit der Ausnahme entlassener Kriegsgefangener – im Prinzip strikt unterbunden wurde; allerdings gab es bald bekannt wer-

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dende und genutzte Durchlässe. Die einsetzenden Entnahmen aus der laufenden Produktion, der Abbau industrieller Ausrüstungen wie der zweiten Eisenbahngleise auch stark befahrener Strecken – trotz überlasteter Züge – kontrastierte in der sowjetischen Zone immer auffallender mit den Verhältnissen im Westen. Hinzu kamen unterschiedliche Verfahren mit ehemaligen Amtsinhabern der deutschen Verwaltung sowie Mitgliedern der NSDAP. Die vorübergehende Wiederbelegung oder Neueinrichtung von Konzentrationslagern – mit offenbar gleichartigen, allerdings bislang nie erforschten Erscheinungen und Folgen wie vor Kriegsende – innerhalb der sowjetischen Zone, neben der Tolerierung derer, die sich deutlich für eine „deutschsowjetische Freundschaft“ entschieden95, gaben der sowjetischen Besatzungspolitik ihre eigenartige Färbung.96 Die Nöte der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung lassen sich kaum erschöpfend beschreiben. Die Nahrungsmittelversorgung in größeren Städten blieb bis weit in das Jahr 1946, im Osten noch länger unzulänglich. Die Sterberate stieg rasch an. Mit dem Schwarzmarkthandel wuchs eine kaum noch zu erfassende Kriminalität verschiedener Arten. Doch der Übergang aus der letzten Kriegsphase in die Nachkriegszeit nahm sich kaum schlimmer aus, als eine nationalsozialistische Propaganda vorher summarisch glauben zu machen versuchte. Die Hinnahme des Geschehens nach dieser Art von Vorbereitung läßt sich psychologisch leicht begreifen. Materiellen Widerstand konnte es ohnehin nicht geben; es gab aber auch keinen mentalen mehr, der nennenswert gewesen wäre. Das „Dritte Reich“ hatte sich im Bewußtsein der meisten Deutschen vollkommen aufgelöst. Klagen ertönten allenthalben; aber ihnen fehlte jegliche politische Bedeutung. Die Vertreibung vieler Millionen Deutscher aus den an Polen gefallenen Ostgebieten wie aus Böhmen und den Sudetengebieten,97 teilweise bei „Nacht und Nebel“ und unter Menschenopfern wurde erlitten, hingenommen. Vernichtungswille schien den Gewaltinhaber zu legitimieren – zu allem, was ihm in den Sinn kam oder was angeordnet wurde. Es sollte noch einige Zeit dauern, ehe man in

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Deutschland von allgemeinen Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu reden begann. Daß die amerikanische Militärverwaltung noch bis 1947 nach der vielzitierten Direktive JCS 1067 in einem Rahmen handelte, der aus dem Morgenthau-Plan herrührte, zeitigte vielerlei Folgen. Hierzu gehörte auch die Behandlung der nach Ende der Kampfhandlungen festgehaltenen Kriegsgefangenen und ihre Überstellung – als Zwangsarbeiter – nach Frankreich und auch England. Dies blieb außerhalb deutscher – presserechtlich unter Militärzensur stehender – Äußerungsmöglichkeiten. Daran hat man sich auch später gehalten. Schließlich gab es aber auch in dieser Hinsicht deutlich hervortretende Unterschiede zwischen den in amerikanische und den in russische und auch polnische Gefangenschaft Geratenen, von denen manche noch länger zu leiden hatten.98 Die letzten kamen aus der Sowjetunion erst 1956 frei, elf Jahre nach der Kapitulation. Im Oktober 1950 erklärte Bundeskanzler Adenauer in einer Gedenksitzung des Bundestags: „Das Schreckliche ist, wie ich glaube, für jeden irgendwie menschlich Empfindenden, daß diese Zurückhaltung [der Gefangenen] vorgenommen wird nicht etwa im Kriege, nicht etwa in der Erregung des Kampfes, nicht etwa in einem noch nicht abgeebbten Rachegefühl nach Abbruch des Krieges … Jede Entschuldigung für ein solches Verfahren fehlt“.99 Solche Worte waren erst nach Vollendung einer Teilung Deutschlands möglich, in einer globalen Atmosphären des „Kalten Krieges“. Hier sind nicht Stationen der weiteren Entwicklung aufzuführen.100 Festzuhalten bleiben die Stadien einer Neugestaltung Mitteleuropas im Schatten der Ausbildung des von der Sowjetunion dominierten „Ostblocks“, neben dem sich in Ostasien nach der Niederkämpfung des nationalen China durch Mao Zedonks Kommunisten auf dem Festland 1949 ein weiterer Kontinentalblock ausbildete. Dieser Vorgang erstreckte sich über mehrer Jahre. Deutschland und Österreich zerfielen in Zonen, deren Militärbefehlshaber im Allliierten Kontrollrat von Zeit zu Zeit zusammentraten, der die oberste Gewalt verkörperte.

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Während die Alliierten die Reichshauptstadt Berlin besetzten und die 20 Stadtbezirke in vier Sektoren aufteilten, von denen der sowjetische die 12 östlichen umfaßte, nahm in der amerikanischen Zone eine „Entnazifizierung“ großen Ausmaßes ihren Anfang, die einen vollständigen Wechsel des administrativen und öffentlich tätigen Personals herbeiführen sollte. In der sowjetischen begann es ähnlich; doch die Maßnahmen differenzierten sich, während in der britischen und französischen Zone bald örtlich und regional unterschiedlich verfahren wurde.101 Presse und Rundfunk, die von den Militärregierungen gegründet oder lizenziert wurden, differierten in der Tonart, in der intellektuellen Zurüstung wie in der Tendenz nicht unerheblich; ein Vertrieb von Zeitungen über die Zonengrenzen hinweg war in den ersten Jahren auch nach Osten angängig. Zu den politischen Hauptthemen zählten bald für längere Zeit der Prozeß vor dem Internationalen Militärtribunal der Besatzungsmächte in Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher wie dann Nachfolgeprozesse gegen Organisationen, Institutionen und die größten Wirtschaftsunternehmen des nationalsozialistischen Staates, schließlich an anderen Orten weitere Prozesse gegen Persönlichkeiten der Hitler-Zeit.102 Dem entsprach im Fernen Osten ein Prozeß vor einem Internationalen Militärtribunal in Tokio, der früher zum Abschluß und – unter Schonung des Kaiserhauses wie der alten Machtstrukturen – zu Urteilen gelangte. Ohne auswärtige Hilfen konnte die deutsche Bevölkerung in den industriellen Zonen auf längere Sicht kaum überleben. Das war wahrscheinlich so von keiner der beteiligten Mächte vorausgesehen worden. Der sowjetischen lag – ähnlich wie der französischen im Saargebiet – an der Gestaltung des politischen Regimes. Agrarische Vorstellungen wirkten übrigens zeitweilig noch gravierend auf politische Konzeptionen ein. Hitler hatte seinem Feldzug im Osten den Gedanken einer agrarische Massenumsiedlung Deutscher zugrundegelegt. Morgenthau verfolgte die Idee der Umbildung Deutschlands in ein Ackerland. Und die Direktive JCS 1067 für den amerikanischen Militärgouverneur in Deutschland, für OMGUS (Organisation of Mi-

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litary Government of the United States) untersagte die Einstellung aller als aktiv eingestuften ehemaligen Mitglieder der NSDAP sogar als Facharbeiter. „Tausende von tüchtigen Arbeitern“ mußten entlassen werden, so daß nur unqualifizierte Arbeit und vielen nur Landarbeit möglich bleiben sollte.103 Die sowjetische Besatzungsmacht entschied sich schließlich zu der als „Bodenreform“ ideologisch begründeten Enteignung aller agrarwirtschaftlich genutzten Flächen ab einer niedrig bestimmten Größenordnung, um Kleinlandwirte anzusiedeln und Gartenparzellen zur Eigenversorgung zu schaffen. „Junkerland in Bauernhand“ lautete die schlichte Losung, die auch parteipolitisch bei ersten Wahlen zur Orientierung dienen sollte.104 General Clay, der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, ließ dann im Mai 1946 alle Reparationsleistungen an die Sowjetunion einstellen. Die Frage der Reparationen aus deutscher Substanz sollte nach einem Vorschlag Churchills in der Konferenz von Québec von einer alliierten Reparationskommission in Moskau geklärt werden. Doch diese gelangte zu keiner Einigung, während die sowjetische Seite in ihrer Besatzungszone durch den Abtransport von Gütern und Verkehrseinrichtungen die ihr gegebenen Möglichkeiten nahezu unbegrenzt ausnützte.105 Der Transfer aus ihrer Zone sollte aber als Kriegsbeute, noch nicht als Reparationsleistung gelten, die von den westlichen Besatzungszonen eingefordert wurde, sowohl Industrieanlagen als auch Lebensmittel und Rohstoffe, während die Lebenshaltung der im Westen allmählich wachsenden deutschen Bevölkerung106 – wie der Besatzungstruppen – der Einfuhren bedurfte. Doch allmählich bildete sich eine andere Umgangsform in der amerikanischen Besatzungspolitik aus, wurde eine Zusammenarbeit mit Deutschen angebahnt, später, während der Berlin-Krisen gar zum Einvernehmen gesteigert, so daß dort Gewöhnungen und ein Hauch von Amerikanisierung in die deutsche Vorstellungswelt Einzug halten konnten, was die Kontraste dem östlichen Teil gegenüber noch verstärkte.107

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Deutsche Länder und deutsche Parteien Das Protokoll der Potsdamer Konferenz hielt etwas unbestimmt fest, daß „eine Wirksamkeit demokratischer politischer Parteien“ in Deutschland „erprobt und gefördert“ werden solle.108 Dieser Satz unterlag in den einzelnen Zonen unterschiedlichen Auffassungen und Ausführungen. In der französischen wurden vor dem Frühjahr 1946 keine Parteien zugelassen und danach noch längere Zeit keine über die Zonengrenze hinausgreifenden Organisationen.109 In der amerikanischen und der englischen Zone regten sich in einigen Städten seit dem Ende der Kampfhandlungen Versuche zur Wiederbelebung alter Parteien, so in Hannover auf Anregung des ehemaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher – schon in Konkurrenz mit einem Exilvorstand der SPD in London, in Köln unter dem Einfluß des ehemaligen und wieder zeitweiligen Oberbürgermeisters Adenauer und anderer Zentrumspolitiker, in Würzburg durch den für kurze Zeit eingesetzten Regierungspräsidenten Adam Stegerwald.110 Doch über lokale, von einigen Großstädten ausgehende Ansätze gelangte man erst hinaus, nachdem die sowjetische Militäradministration überraschend mit eigener Gestaltung in dieses Neuland vorstieß. Sie proklamierte kurz nacheinander die Zulassung von vier Parteien, die sogleich als gesamtdeutsche Parteien bezeichnet wurden, mitsamt ihren namentlich aufgeführten Vorstandsmitgliedern, die sofort ihre Tätigkeit aufnahmen: im Juni 1945 die Kommunistische Partei Deutschlands, einige Tage später die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, eine Christlich-Demokratische Union Deutschlands und Anfang Juli eine LiberalDemokratische Partei Deutschlands. Diese Parteien traten jeweils mit einem genehmigten Programm an die Öffentlichkeit. Sie bewegten sich innerhalb eines „antifaschistischen Blocks“, „einer Einheitsfront der antifaschistischen Parteien“111 – bis zur Ortsebene hinab – unter Kontrolle der politischen Offiziere der sowjetischen Militäradministration. Etwa zur gleichen Zeit wurden innerhalb der sowjetischen

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Zone Landesregierungen ins Leben gerufen, aber auch Zentralverwaltungen für verschiedene wirtschaftliche Gebiete bestimmt. 1946 wurden Sowjetische Aktiengesellschaften gebildet, große Unternehmungen für sowjetische Wirtschaftszwecke mit deutscher Belegschaft. Einige Parteifunktionäre wurden in hohe Ämter in den Zentralverwaltungen der Zone berufen, so der ehemalige demokratische Regierungspräsident Ferdinand Friedensburg, der der CDU beitrat, als Präsident der Zentralverwaltung für Brennstoffversorgung. Vizepräsident wurde der von Anbeginn dem kleinen Zentralausschuß der SPD angehörende Gustav Dahrendorf, der zunächst neben Otto Grotewohl innerhalb der SPD der entschiedenste Vertreter einer engen Verbindung mit den Kommunisten in einer angestrebten Einheitspartei war. Er erhoffte ein besseres Schicksal der deutschen Wirtschaftsentwicklung von der Sowjetunion. Gemeinsam mit Grotewohl und Max Fechner verhandelte er mehrmals mit Schumacher in Hannover, da er an einer gesamtdeutschen Parteiorganisation festhalten wollte. Schumacher aber bestand auf strikter Beschränkung der von ihm vertretenen Sozialdemokratie auf die westlichen Beatzungszonen. An der Jahreswende 1945/46 kam Dahrendorf in Berlin mit seinen Plänen in Schwierigkeiten. Die bis dahin wenig interessierte KPD -Führung wurde – nach der eklatanten Niederlage der Kommunisten bei der ersten Parlamentswahl in Österreich – von sowjetischer Seite angehalten, eine Vereinigung von KPD und SPD , unter Aufrechterhaltung ihrer Führung unter Pieck und Ulbricht, herbeizuführen. Noch vor dem Vereinigungsparteitag, Ende Februar 1946, ging Dahrendorf als erster prominenter Flüchtling von Berlin nach seinem alten Wohnort Hamburg.112 1947 wurde er Vizepräsident des nach dem Zusammenschluß der amerikanischen und der britischen Zone gebildeten Zweizonen-Wirtschaftsrates. Zuvor war die föderative Struktur des Deutschlands der amerikanische Zone fest verankert worden, was für die Zukunft bestimmend blieb. Noch vor der deutsche Kapitulation, seit Anfang Februar 1945, wurde in der Politischen Abteilung des

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amerikanischen Hauptquartiers die Planung des künftigen Verwaltungsaufbaus in Deutschland eng mit politischen Zwecken verknüpft. Die Bestimmungen der Anordnung JCS 1067 und der nicht minder bedeutsamen JCS 1130 erschienen nicht ausführlich und deutlich genug in Anbetracht des Grundsatzes von 1067, daß kurzfristige und militärische Direktiven nicht vorwegnehmen sollten, was „später Politik“ sein könne.113 Hieraus wurde gefolgert, daß die höchste Wahrscheinlichkeit der künftigen Politik auch zur Grundlage nächster Bestimmungen, gewissermaßen vorweggenommen werden müsse. Diese künftige Politik bilde mithin den Ausgangspunkt, der allerdings im inneren Zirkel der Beratung verbleiben mußte, solange nicht von Washington politische Stellungnahmen und langfristige Direktiven ausgingen. Vorher sollten weder britische noch russische Stellen oder die EAC informiert werden. Ergebnis war die Bildung eines Special Advisory Committees, das eine Denkschrift über die Dezentralisation der künftigen politischen Struktur Deutschlands erarbeitete.114 Ihr entsprach dann eine Direktive des Hauptquartiers, derzufolge nach Abschluß der militärischen Operationen und der Denazifizierung mit Beginn der Kontrollratsperiode die Strukturen Deutschlands dezentralisiert aufzubauen seien, um die Umwandlung von „Macht und Zuständigkeiten“ einer „hochzentralisierten Diktatur“ einzuleiten.115 Dies sollte durch Aufbau unterhalb der nationalen Ebene, in den Ländern, im einstigen Preußen in den Provinzen und auf unterster Stufe in den Gemeinden geschehen. So konnten Elemente alter Verwaltungen genutzt, Föderalismus und lokale Selbstverwaltung zur Entfaltung gebracht werden, „um das militärische Potential Deutschlands zu zerstören und eine Demokratie herbeizuführen“. Lediglich die Währungseinheit, Postwesen, Patentrecht und in hohem Grad auch die Kontrolle des Verkehrswesens sollten erhalten bleiben. Deutsche Verwaltung hieß seitdem in der Sicht amerikanischer Militärbehörden „Verankerung der politischen Struktur“ in Ländern und Provinzen. Man rechnete mit insgesamt 15 Ländern in ganz Deutschland.

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Korea Nur wenige Tage nach Ende der Kampfhandlungen in Berlin 1945 hatte William O’Donovan Präsident Truman einen Geheimbericht über Gefahren neuer Konflikte überbracht. Hierdurch wurden die Vereinigten Staaten „mit einer Lage konfrontiert, die potentiell gefährlicher ist als jede andere zuvor“. Rußland „wird für die USA zu einer Bedrohung, die schlimmer ist als alles bisher Bekannte“.116 Dies beruhte auf letzten Erkenntnissen von Codebrechern, die das deutsche Entschlüsselungssystem mitsamt seinen Ergebnissen noch während der letzten Kampfhandlungen auf deutschem Boden untersuchten. Die rasche Auswertung der immer noch tätigen Geheimschreiber wie die Vernehmung der deutschen Kryptographen in England, in Bletchley Park, und in Augsburg, wo „eine der geheimsten und wichtigsten Abhörstationen in Europa“ entstehen sollte117, ergab diese Einschätzung. Man entdeckte auch eine deutsche Maschine, die das beste russische Verschlüsselungssystem aufgebrochen hatte. Daraufhin wurde in Virginia ein auf Rußland-Nachrichten ausgerichteter starker Horchposten aktiviert. Auch Erkenntnisse über chinesische Kriegsvorbereitungen gegen Korea 1950 konnten ausgewertet werden. Die Sowjetunion sicherte ihren Einfluß durch Unterstützung kommunistischer Kräfte auch außerhalb der von ihr während des Krieges militärisch besetzen Länder, wie in Griechenland und – auf andere Weise – in Finnland, das sich in einem Freundschafts- und Beistandsvertrag der sowjetischen Sicherheitsdoktrin unterordnete. Im Iran gab die Sowjetunion der Forderung der Vereinten Nationen nach. Sie zog die in den Norden des Landes vorgedrungenen Truppen zurück. Doch ein größerer Konflikt begann sich in Ostasien abzuzeichnen. Nach der Kapitulation Japans wurde Korea, dessen künftige Unabhängigkeit seit Kairo und Jalta beschlossen war, im Norden von sowjetischen, im Süden von amerikanischen Truppen besetzt. Die Militärbefehlshaber vereinbarten den 38. Breitengrad als Demarkationslinie zwischen ihren Truppen, denen sich die ja-

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panischen ergaben.118 Die sowjetische Seite setzte unverzüglich eine provisorische Regierung unter dem Ministerpräsidenten Kim Il Sung ein – mit Ministern aus Nord- wie aus Südkorea –, die am 12. August 1945 die „Koreanische Volksrepublik“ ausrief. Auf der Außenministerkonferenz in Moskau im Dezember 1945, die Friedensverträge mit Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland vorbereitete, gelang nur eine provisorische Einigung über Korea in Gestalt eines mehrstufigen Planes, den Molotow vorgeschlagen hatte: die Bildung einer sowjetisch-amerikanischen Kommission zur wirtschaftlichen Wiedervereinigung der beiden Zonen, von denen die nördliche weniger dicht bevölkert und stärker landwirtschaftlich geprägt ist als die südliche, die aber beide über reiche Bodenschätze verfügen; alsdann die Bildung einer provisorischen Regierung und die Errichtung einer Viermächte-Treuhänderschaft auf die Dauer von fünf Jahren. Das Scheitern der Kommissionsverhandlungen veranlaßte die USA , die auf eine Nachkriegsregime in Korea nicht vorbereitet waren, das Problem den Vereinten Nationen zu überweisen. Diese setzten freie Parlamentswahlen unter internationaler Aufsicht an, die sich jedoch im Mai 1948 nur im Süden durchführen ließen. Dort konstituierte sich eine gesonderte Republik, während sich im Norden auf Grundlage der Wahl einer Einheitspartei die „Volksrepublik“ konsolidierte. Eine Demarkationslinie wurde zur Grenze, und zur Konfliktslinie – bis zur Entstehung eines neuen, zweieinhalb Jahre dauernden Krieges im Fernen Osten.119

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Offene Tür und Kalter Krieg

IV Offene Tür und Kalter Krieg Der „Eiserne Vorhang“ Die wirtschaftliche Situation Großbritanniens war bei Kriegsende höchst prekär. Die Auslandsverschuldung wird mit 4,7 Milliarden, der Verlust von Anlagen im Ausland mit 1,1 Milliarde Pfund Sterling beziffert.1 Erst nach harten Verhandlungen wurde der größte Teil von Lend-Lease-Schulden der Kriegszeit von den Vereinigten Staaten erlassen und eine Anleihe in Höhe von 3,75 Milliarden Dollar gewährt. Dies festigte auf englischer Seite die Einsicht in die Notwendigkeit einer besonderen Beziehung, einer dauerhaften Partnerschaft mit den USA . Doch der nun die Opposition führende Churchill wie auch die Regierung der Labour Party unter Attlee hielten am Empire fest und hofften, nach dem gemeinsamen militärischen Widerstand mit Dominions und Kolonien eine neue Einheit des Commonwealth auch wirtschaftlich ertragreich gestalten zu können. Nur eine knappe Unterhausmehrheit stimmte unter dem Druck der amerikanische Anleihebedingungen für die Ratifizierung des Abkommens von Bretton Woods über den Internationalen Währungsfonds und die freie Konvertierbarkeit des Pfundes. Eine „deutsche Frage“ gab es für die Westalliierten nach Ende des Krieges zunächst nicht, nur Planungen verschiedener Art, die auf das dominierende Problem der künftigen Beziehung zur Sowjetunion zuliefen. Das nahm sich nach der Kapitulation Japans in Ostasien kaum anders aus. Dort spitzte sich die Situation insofern früher zu, als China bereits in zwei Teile zerfiel, die allerdings noch nicht deutliche Gestalt angenommen hatten. Das nationalistische Element erschien trotz erheblicher Kriegsverluste noch stärker als das kommunistische, das jedoch

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unter Maos Führung im nördlichen China seit 1942 immer weitere Gebiete und immer größere Massen in seinen Bann zu schlagen vermochte.2 Auch hier obsiegte schließlich die Synthese revolutionärer und nationalistischer Erfassung der Bevölkerung. Der kommunistisch bestimmte Teil fand Stützung durch die Sowjetunion. Aber die Zukunft des übrigen China unter der Volkspartei Kuomindang und der Diktatur des Generalissimus Chiang Kai-shek erschien noch unentschieden. Botschafter Harriman schied nach fast fünf Jahren im Januar 1946 von Moskau nach einem letzten von zahlreichen Gesprächen mit dem Machthaber im Kreml, „ohne sich über den rätselhaften Charakter Josef Stalins ganz im Klaren zu sein“,3 – ein denkwürdiges Eingeständnis. Später meinte er, daß Stalin Chiang hätte stützen können und dies vielleicht auch wollte. Doch die amerikanische Politik blieb in China trotz einiger Vermittlungsbemühungen einflußlos.4 Das schien in Europa zunächst kaum wesentlich anders.5 Die Demontagen noch erhaltener deutscher Industrieanlagen verliefen bis Herbst 1946 in allen Zonen in etwa gleichmäßig. Doch Churchill erregte nach dem Regierungswechsel in England als Privatmann noch einmal die Weltöffentlichkeit – zunächst in den Vereinigten Staaten, im Westminster College der abgelegenen Kleinstadt Fulton in Missouri am 5. März 1946 in einer wegen des Schlagworts berühmt gewordenen Rede, in der er das Wort vom Mai 1945, vom „Iron Curtain“, dem „Eisernen Vorhang“, der vor dem Besatzungsgebiet der Sowjettruppen niedergegangen sei und die Welt zerrisse, nun vor einer aufhorchenden Weltöffentlichkeit prägte. Innerhalb weniger Monate veränderte sich die politische Szenerie. Man kann hinsichtlich Deutschlands eine Art Erneuerung eines anderen, aus der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bekannten Vorgangs erblicken. Das Memorandum, das der Kriegspremier David Lloyd George und seine Ratgeber am 25. März 1919 in Fontainebleau abfaßten, enthielt die bemerkenswerten Sätze „… there is a danger that we may throw the masses of the population throughout Europe into the arms of

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the extremists whose only idea for regenerating mankind is to destroy utterly the whole existing fabric of society … The greatest danger that I see in the present situation is that Germany may throw her lot with Bolshewism and place her resources, her brains, her vast organizing power at the disposal of the revolutionary fanatics whose dream is to conquer the world for Bolshewism by force of arms. This danger is no mere chimers“. Schließlich: „… it must be a settlement which will constitute an alternative to Bolshewism, because it will commend itself to all reasonable opinion as a fair settlement of the European problem“.6 Wer sich dieser bedeutsamen Worte von 1919 erinnert, wird einer gewissen Ähnlichkeit inne, die an einigen charakteristischen Vorgängen nach dem Ende der Kriegshandlungen des ersten wie des zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa auffallen. Keine Einschätzung der internationalen Lage konnte 1945 die Tatsache einer neuen, zur politischen Expansion neigenden Großmacht in Osteuropa außer Acht lassen, ebensowenig die Möglichkeit einer starken Einflußnahme dieser Großmacht auf die niedergerungenen Völker Mitteleuropas. Der politische Berater im Hauptquartier des amerikanischen Oberbefehlshabers Eisenhower, Robert Murphy, hat später bezeugt, daß er während der Potsdamer Konferenz zu der Überzeugung gelangt sei, daß ein Friedensschluß mit Deutschland überaus schwierig werde, weil der Abgrund zwischen russischen und amerikanischen Auffassungen sowohl über die Behandlung Deutschlands als auch über das künftige Schicksal Europas unüberwindbar sei, so daß Hoffnungen auf ständige Zusammenarbeit unrealistisch erschienen.7 Am schwersten wog anfänglich die völlig fehlende Vorbereitung der amerikanischen Seite auf Situation und Anforderung eines Besatzungsregimes in Deutschland, nachdem der Krieg militärisch siegreich beendet worden war. Vom englischen Standpunkt aus urteilte der britische Militärbefehlshaber in Deutschland, Montgomery, realistischer, wie er 1945 in Darlegungen für Premierminister Attlee festhielt, die er in seinen Erinnerungen zusammenfaßte: „Unser nächstes Ziel mußte sein, die Westdeutschen in die Ge-

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meinschaft der westeuropäischen Völker zu bringen und den Wohlstand in ihrem Lande so zu fördern, daß die Ostdeutschen von Neid erfüllt wurden, wenn sie es mit ihrer eigenen elenden Lage verglichen“.8 Die Entwicklung seit dem zweiten Weltkrieg hat die USA noch viel deutlicher als nach dem ersten als größte Wirtschaftsmacht der Erde aus dem Kriege hervorgehen lassen. Im Vordergrund stand das Vorhaben, durch sich steigernde Exporte auch in die notleidenden Länder und Regionen die innere wirtschaftliche Konjunktur fortsetzen zu können, durch Exporte sowohl von Nahrungsmitteln als auch von Rohstoffen wie von industriellen Produkten und Investitionsgütern. Sogar von amerikanischer Kohle, für die es vor dem Krieg wegen hoher Transportkosten keinen Markt in Übersee gab, wurden allein 1947 34 Millionen Tonnen nach Europa exportiert. Während sich 1938 der Wert der Ausfuhren der Vereinigten Staaten auf das Eineinhalbfache der Einfuhren belief, stieg er 1947 auf das Zweieinhalbfache.9 Aber das als „Dollar-Lücke“ bezeichnete Zahlungsproblem ließ sich nur durch Gewährung großzügiger Auslandshilfen der USA lösen, um den überseeischen Importeuren aufzuhelfen und sie zu starken Teilnehmern am Welthandel aufzubauen, die später ihre Dollardefizite auszugleichen vermochten. Als auf der Moskauer Außenministerkonferenz im März und April 1947 die Vermittlungsversuche des französischen Außenministers Bidault in allen Punkten scheiterten und weder die Frage der deutschen Grenzen noch die der Behandlung von Saar- und Ruhrgebiet oder der Kohleversorgung entschieden wurden, konnte nur noch eine amerikanische Initiative für das besetzte und in Zonen geteilte Deutschland etwas erreichen. Verfassungsberatungen in den Ländern der amerikanischen Zone, Bayern, Nordwürttemberg-Baden, Hessen und Bremen, wurden von Prüfungen und Stellungnahmen der amerikanischen Militärregierung begleitet, die den Militärgouverneur General Clay schon Anfang August 1946 zu dem Einwurf veranlaßten, er sei sich „nicht sicher, ob es ratsam oder gar wünschenswert ist, daß die Verfassung die Vorrangigkeit des Militär-

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gesetzes anerkennt. Schaut man zurück, so muß man sagen, daß es so für die Deutschen unmöglich wäre, eine patriotische Leidenschaft für ihre Verfassung zu empfinden“.10 Die Deutschen hatten einen zuvor unvorstellbaren Zusammenbruch erlebt. Nach den Zerstörungen des Bombenkrieges und unter dem Eindruck der im Osten vordringenden Sowjetarmeen hatten Millionen Wohnsitz und Heimat aufgegeben. Der Strom der Flüchtlinge wurde nach Kriegsende durch Vertreibungen aus polnisch gewordenen wie aus tschechoslowakischen Gebieten verstärkt. Bis zur Volkszählung von 1950 hatte die Bundesrepublik mehr als elf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen. Dies brachte Schwierigkeiten sozialer, menschlicher wie wirtschaftlicher Art mit sich, erschwerte die schon seit den Kriegsjahren ungesicherte und verknappte Versorgung der gesamten Bevölkerung, erklärt aber auch die anfängliche Beschränkung des Erlebnishorizonts wie des Gesichtskreises unter dem psychologischen Druck alltäglicher Probleme. Eine weit ausholende weltpolitische Betrachtung wie die Rede Walter Lippmanns, in der ersten Generalsession des 35. Jahrestreffens der Chamber of Commerce of the United States, die in der amerikanischen Presse lebhaftes Echo fand,11 gelangte zwar zur Kenntnis deutscher Politiker, beeindruckte aber weder sie noch Teile der deutschen Öffentlichkeit. Die Nöte des Alltagslebens beherrschten das Denken und Tun. Bayerns zweiter Ministerpräsident, Hoegner, ein Sozialdemokrat, versuchte in der ersten von ihm geleiteten Ministerratssitzung erkennbar mühsam, den Boden fester Voraussetzungen zu bestimmen. Er meinte, „daß zur Zeit kein deutsches Reich bestehe. Bayern befinde sich auch in keinem Bundesverhältnis. Daher besitze Bayern auf allen Gebieten die unumschränkte Staatshoheit; wenn es einmal von dieser Staatshoheit etwas abgebe, dann geschehe dies freiwillig“.12 Nach der großen Katastrophe des deutschen Hypernationalismus kamen deutsche Politiker den Besatzungsmächten und ihren maßgebenen Repräsentanten weitgehend entgegen. Das amerikanische Ziel eines künftigen Förderalimus in Deutsch-

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land entsprach Erwartungen und Wünschen, die vor allem in Süddeutschland sehr rege waren und in Bayern eigene Blüten trieben, was hier nicht zu verfolgen ist.13 Im Norden schien durch die Zerstörungen vor allem in der Großindustrie im Ruhrgebiet für Zukunftsperspektiven noch wenig Raum. „Wir werden doch nie in der Lage sein, die Ruhrindustrie aus eigener Kraft wieder zum Leben zu bringen“, war eine häufig geteilte Auffassung.14 1919 sei alles ganz anders gewesen, bemerkte Ministerpräsident Hoegner. Damals gab es das deutsche Volk als Souverän. „Von einem deutschen Volk in einem staatsrechtlichen Sinne könne man aber heute nicht mehr sprechen. Das deutsche Volk sei in eine Reihe von Staatsgebilden aufgesplittert, die von verschiedenen Mächten besetzt seien“. Mit Plädoyers für einen neuen Föderalismus versammelten sich die Mitglieder einer süddeutschen Gruppe bereits tonangebender Politiker der CDU wie der CSU im „Ellwanger Kreis“, der seit dem 1. März 1947 in sechs, sich allmählich erweiternden Tagungen in vierzehn Monaten grundlegende Klärungen der Fragen anstrebte und auch weitgehend erreichte, die der Schaffung des Grundgesetzes vorausgingen.15 Das erste Referat im Exerzitienhaus auf dem Schönenberg bei Ellwangen hielt der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard mit starker Belichtung der „süddeutschen Weltanschauung“ gegenüber der „absoluten Organisation im norddeutschen Raum“.16 Zur sechsten Tagung am 13. April 1948 in Bad Brückenau erschien eine Vertretung des Zonenverbandes der CDU der britischen Zone unter Führung Konrad Adenauers. Hier wurde schon von einer „Bundesrepublik Deutschland“ und von Grundsätzen einer Bundesverfassung gesprochen, die Elemente des späteren Grundgesetzes umfaßte. Auch die Problematik eines Finanzausgleichs wurde ausgiebig behandelt,17 erschien allerdings kaum schon geklärt. Das Verlangen nach Erhaltung eines deutschen Staates und der Zusammenführung der vier Besatzungszonen begann sich am deutlichsten im östlichen Deutschland nach Schaffung der Länder, den ersten Landtagswahlen und der Bildung von Lan-

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desregierungen 1946 zu regen. Vor allem der Berliner CDU -Vorsitzende und Gewerkschaftsführer Jakob Kaiser, der LDP -Politiker Erhard Hübener, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, der ehemalige Botschafter Nadolny und einige andere bekannte Politiker traten bei mehreren Gelegenheiten durch Reden oder Erklärungen für die Wiederherstellung einer deutschen Einheit ein und warben für eine gesamtdeutsche Verfassung.18 Diese Stimmen verstummten auch noch nicht sogleich nach der Londoner Außenministerkonferenz im November und Dezember 1947. Der dort anwesende amerikanische Militärbefehlshaber in Deutschland resümierte etwas später, daß „ein Kampf begonnen hatte, der zwar nicht mit Waffen, wohl aber mit wirtschaftlichen Mitteln, mit Ideen und Idealen ausgetragen werden müßte“.19 Der erste Schritt war die Ablösung des „Kapitulationsstatuts“ durch ein „Besatzungsstatut“. Das bedeutete „in bezug auf Außenhandel, Wirtschafts- und Handelsrecht“ den „Friedenszustand“.20Mit dem Anschluß Frankreichs an die Außenpolitik der Vereinigten Staaten und Englands begann über Präsidentenkonferenzen, Besprechungen mit den Militärgouverneuren und zahlreichen Sitzungen eines Exekutivrates21 nach und nach eine politische Neuformierung Westdeutschlands. Eine neue amerikanische Politik gegenüber Deutschland hatte Außenminister James Byrnes schon am 6. September 1946 in einer Rede in Stuttgart mit den Worten angekündigt: „Wenn eine vollständige Vereinigung nicht garantiert werden kann, werden wir alles in unserer Macht Stehende tun, um die maximal mögliche Vereinigung zu sichern“.22 Ein deutlicher Widerstand in Amerika kam schnell zum Erliegen. Der Handelsminister und vormalige Vizepräsident Henry Wallace entgegnete dem Außenminister in einer Rede wenige Tage später in New York, „daß uns die Politik Osteuropas genausowenig angeht wie Rußland die Politik Lateinamerikas, Westeuropas und der Vereinigten Staaten“. Die Welt sei in Einflußzonen geteilt; und „wir haben es mit einer Kraft zu tun, die mit einer Politik der Grobheit gegenüber Rußland nicht gebändigt werden kann“.

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Das besagte im Grunde nur wenig. Doch über diese Wortmeldung war die amerikanische Politik im Grunde schon seit Monaten hinausgelangt. Die britische Appeasement-Politik der Zwischenkriegszeit wurde in Washington als Mahnung betrachtet, der Sowjetunion nur in einer starken, überlegenen Position gegenüberzutreten. Wenige Tage später verabschiedete Truman den Handelsminister und setzte den in London weilenden Harriman an seine Stelle. Nach Erstattung eines Berichts durch den ehemaligen Präsidenten Hoover23, der mit einem Expertenstab nach Deutschland gereist war, stand in den Vereinigten Staaten ein europäisches Aufbauprogramm zur Diskussion. Den in Westdeutschland entstandenen Parteien wurde zunehmender Einfluß auf die Verwaltung, zunächst aber nicht auf den Handel gewährt, auch nicht auf Beziehungen nach außen. Diese entwickelten sich innerhalb der Aufgaben und Zuständigkeiten des amerikanischen und des englischen Militärgouverneurs bzw. des Alliierten Kontrollrats.24 Zum Beginn des Jahres 1947 wurde die englische mit der amerikanischen Zone zur Bizone, einem „Vereinigten Wirtschaftsgebiet“, zusammengeschlossen, an deren Spitze eine neue Art oberster Selbstverwaltungsinstanz mit wirtschaftlichem Aufgabenbereich in Gestalt eines Wirtschaftsrates mit Sitz in Minden trat, dessen Mitglieder von den Militärgouverneuren ernannt wurden. Doch was war in dieser schwierigen Zeit nicht Wirtschaft oder wirtschaftlich für die Existenz jedes einzelnen spürbar begründet?25 In jeder Zukunftsperspektive standen wirtschaftliche Gegebenheiten im Vordergrund, bis zur Versorgung jeder Gemeinschaft und jedes Betriebes, vom Kleingewerbe bis zur Großindustrie und den Konzernen. Ohne Zuteilung von Rohstoffen, halbfertigen Produkten, Maschinen, von Arbeitskräften und -räumen – und Sicherung der Ernährung – gab es kein Wirtschaften. Man nannte dies „Zwangswirtschaft“, die die „Kriegswirtschaft“ der nationalsozialistisch beherrschten Jahre mit eben diesen Wirkungen fortsetzte, häufig gar noch verschärfte.

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Containment – Eindämmung Im geschichtlichen Rückblick nahmen sich auch aus amerikanischer Sicht die ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts erregend, bestürzend und zutiefst beunruhigend aus. „Within the past thirtyfive years the world had experienced two global wars of tremendous violence. It has witnessed two revolutions – the Russian and the Chinese – of extreme scope and intensity. It had also seen the collapse of five empires – the Ottoman, the Austro-Hungarian, German, Italian and Japanese – and the drastic decline of two major imperial systems, the British and the French“. Während der Zeitspanne einer Generation habe sich die weltweite Verteilung von Macht von Grund auf verändert. Doch ein System souveräner und unabhängiger Staaten sei erhalten geblieben, in dem kein Staat eine Hegemonie zu erlangen vermag. So resümierte ein geheimer Bericht des Nationalen Sicherheitsrates für Präsident Truman im April 1950 die globale politische Situation – einer realistischen Alltagsversion gleichend nach Roosevelts Vision der geeinten Vereinten Nationen.26 „The abscence of order among nations“ erlege den Vereinigten Staaten „responsibility of world leadership“ auf.27 Die eingehend begründete Gegenüberstellung der beiden Weltmächte der Nachkriegszeit, einer demokratischen, auf historische Freiheitsideale gegründeten im Westen und einem „totalitären“ System im Osten, vor der ein „Iron Curtain“ niedergegangen sei – beide Ausdrücke benutzte dieses Dokument – wurde später zum Objekt einander widerstreitender Interpretationen und Versionen von Historikern in West und Ost. Als Grundsatzerklärung, nach der die amerikanische Außenpolitik unter Truman und Eisenhower verfuhr, gebührt ihr historische Beachtung. Dies sollte aber nicht übersehen lassen, daß die Abfolge der Ereignisse und Entscheidungen zuvor bereits den Punkt erreicht hatte, an der derartige und noch weiter in die Zukunft weisende Formulierungen gewählt werden konnten. Auf die UN kämen gewaltige Probleme zu, schrieb George Kennan. Die

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Vereinigten Staaten müßten ihr jedwede mögliche Unterstützung zuteil werden lassen „as forum and instrumentality for transactions of international business … wherever this can contribute to international stability“.28 Auf amerikanischer Seite spielte die Entdeckung von Ergebnissen sowjetischer Spionage und die schließlich erlangte Kenntnis eine Rolle, daß Stalin, den Truman in Potsdam über den Besitz der Atombombe in Kenntnis gesetzt hatte, was sein Gesprächspartner unbewegt aufnahm, auch selbst über eine Atomwaffe verfügte. Die Sowjetunion stand mithin militärischtechnisch in jedem Bezug den USA mit vergleichbarer Macht gegenüber. Dem anfänglich in der amerikanischen Außenpolitik von Byrnes verfolgten Gedanken, den Atomwaffentrumpf zu nutzen, um sowjetische Zugeständnisse zu erreichen, versagte sich Truman.29 Er verfolgte die Politik, die er erstmals in einer Rede Anfang Oktober 1945 erklärte, eine internationale Kontrolle der Atomenergie mit der Sowjetunion gemeinsam herbeizuführen, nachdem er mit dem britischen Premierminister Attlee und dem kanadischen Ministerpräsidenten King einen Plan vereinbart hatte, der den Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen bildete. Sie begannen in der Moskauer Außenministerkonferenz im Dezember 1945 und zogen sich während des ganzen folgenden Jahres hin. Doch das Vorhaben, eine internationale Atomkontrolle zu schaffen, scheiterte am Gegensatz zwischen sowjetischen Bedingungen und Ambitionen im Nahen Osten und östlichen Mittelmeerraum und wachsenden Bedenken und Gegenstimmen im Kongreß wie in der amerikanischen Öffentlichkeit. Im August 1946 schufen die USA eine Atomenergiekommission. Dies wurde zum Startzeichen eines Wettrüstens zwischen den Supermächten. Molotows aggressive Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gegen die amerikanische Außenpolitik im Juli 1946 eröffnete den Propagandakrieg, der die Expansion sowjetischen Einflusses begleitete. Rumänien, Polen und Ungarn wurden kommunistische Staaten unter sowjetischer Dominanz. Durch einen Staatsstreich in Prag im Februar 1948 widerfuhr

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der Tschechoslowakei dasselbe Schicksal. In Griechenland herrschte Bürgerkrieg. England sah sich zu weiterer Hilfe nicht mehr imstande. Daraufhin entschied sich dann Truman für das Programm einer Finanz- und Wirtschaftshilfe für Griechenland und die Türkei. Durch seine Grundsatzerklärung am 12. März 1947, die bald so genannte „Truman-Doktrin“, gewann er die Kongreß-Mehrheit: „Eines der ersten Ziele der Außenpolitik der Vereinigten Staaten ist es, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir und andere Nationen uns ein Leben aufbauen können, das frei von Zwang ist …“30 Die amerikanische Politik nahm neue Gestalt an. Harrimans enger Mitarbeiter in der Botschaft in Moskau, George F. Kennan, hatte früh im Jahre 1946 in einem berühmt gewordenen „langen Telegramm“ die Grundgedanken einer neuen Politik der Sowjetunion gegenüber dargetan, die er in einer offiziösen Zeitschrift anonym in einem Artikel weiter ausführte.31 Sein Grundgedanke des „Containment“ gab das Schlagwort einer neuen, maßvoll gemeinten politischen Richtung her, die jeder weiteren Machtverschiebung „mannhaft, aber nicht aggressiv“ entgegenwirken wollte. Die Leistungen der UNRRA von 1943 zur Hilfe der Alliierten für Flüchtlinge in Kriegsgebieten wäre fraglos gänzlich unzureichend gewesen, um wirtschaftliche Prosperität herbeizuführen. Sie bedurfte der Ablösung durch ein sehr viel weiter greifendes Programm, das mit neuartigen Mitteln der Wirtschaft in den zugänglichen Ländern aufhelfen und vor allem in Europa der USA das Vertrauen der Bevölkerungen gewinnen konnte. Die Gegenaktion der sowjetischen Seite folgte dem gleichsam auf dem Fuße. Im September 1947 wurde eine geheime Konferenz von Vertretern der kommunistischen Parteien der europäischen Länder einberufen. Auf dieser Konferenz, auf der die kommunistischen Parteien der USSR , Jugoslawiens, Bulgariens, Rumäniens, Ungarns, Polens, der Tschechoslowakei, Frankreichs und Italiens vertreten waren, erklärte ein aufgestiegener Günstling Stalins, Andrej Schdanow, führendes Mitglied des Politbüros der Bolschewiki, daß sich ein imperialistisches

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Lager unter Führung der USA und ein antiimperialistisches um die Sowjetunion gebildet habe und daß der Marshall-Plan „torpediert“ werden müsse.32 Ergebnis war die Errichtung eines ständigen Informationsbüros für alle kommunistischen Parteien mit Sitz in Belgrad (Kominform), in nächster Nähe zur jugoslawischen Staatsführung. An die Spitze trat Schdanow, den viele bereits für den designierten Nachfolger Stalins hielten, der aber schon 1948 verstarb. Der Anfang Juni 1947 angekündigte Marshall-Plan einer großzügigen Aufbauhilfe für Europa wurde von Moskau abgelehnt.33 Die Militärgouverneure der amerikanischen und britischen Besatzungsbehörde nahmen ihn selbstredend an. Da das Fernsehen noch keine nennenswerte Rolle in der Übermittlung, Kommentierung und Lancierung von Neuigkeiten spielte, war an ventilierte Mediatisierung lediglich in den Redaktionsstuben einflußreicher Zeitungen zu denken, was auch bei der Interpretation überlieferter Äußerungen in der Öffentlichkeit zu bedenken ist. Den Reden von Politikern und Staatsmännern, sofern sie überraschende Mitteilungen und Bekundungen enthielten, eignete daher Charakter und Bedeutung wichtiger Darlegungen neuer Überlegungen oder Ankündigung politischer Orientierungen, die in der Öffentlichkeit werben, aber bei weitem nicht in dem nun schon herkömmlich gewordenen Sinne Propaganda machen wollten. Überzeugungskraft konnte auch knapp gefaßten Formulierungen eines kühlen, sachlich argumentierenden Kopfes eignen. Begrenzte und ausgewählte Kreise – mitunter Universitäten – boten günstige Gelegenheiten eines herausgehobenen Mediums noch vor der breiten Öffentlichkeit. Zeitungsberichte und in zunehmendem Umfang Rundfunkübertragungen taten das übrige. Solche Erklärungen besaßen mitunter den Charakter einer Summierung oder Bündelung von Überlegungen und Erwägungen in einem noch nicht abgeschlossenen Zustand. Eine Skala von Bedeutungsunterschieden liegt zwischen der im Schlagwort konzentrierten und hierauf angelegten Rede des nicht mehr als Premier amtierenden Winston Churchill in einem College in Fulton und etwa der, die der

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amerikanische Außenminister George C. Marshall an der Universität Harvard am 5. Juni 1947 hielt,34 die zunächst weder eine bereits abgestimmte oder gar festgelegte politische Richtlinie noch einen ausgereiften Plan enthielt. Sie gleicht einer Bekundung von Überlegungen, die zum Teil auf einen Bericht des Planungsstabes des Außenministeriums (Policy Planning Staff, PPS ) unter dem Vorsitz von George Kennan zurückgingen. Das European Recovery Program (ERP ), reifte erst in den nachfolgenden Monaten35, gleichsam als Abschluß und Vollendung einer nach Potsdam sich allmählich durchsetzenden, „mit zahlreichen Varianten öffentlich vertretenen Einsicht“, daß „ohne eine Einbeziehung des deutschen Wirtschaftspotentials das westeuropäische Industriestaatensystem nicht wieder aufgebaut werden könne“.36 „Was einer Politik strategische Gültigkeit gibt, ist eine Reihe beharrlich vertretener Haltungen und Voraussetzungen“. In diesem Sinne entwickelte die amerikanische Politik „einen Gesamtentwurf “.37 Den ersten Schritt vollzogen die Vereinten Nationen durch Aktivierung der Handelsorganisation auf einer Tagung in Genf mit dem General Agreement on Tariffs and Trade (GATT ), das die allgemeine Hebung des Lebensstandards, Verwirklichung der Vollbeschäftigung, Steigerung der Produktion, des Warenaustauschs und Erschließung der Hilfsquellen der Welt proklamierte. Dem diente eine Reihe allgemeiner Bestimmungen für Handelsverträge, wie etwa die Beseitigung von Handelsschranken und Diskreditierungen, eine allgemeine Meistbegünstigung und freier Transitverkehr, was in regelmäßigen Tagungen überprüft und ergänzt werden sollte. Die USA , Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Australien, Brasilien, Ceylon, Chile, Nationalchina, Kuba, Kanada, Neuseeland, Norwegen, Südafrika und die Tschechoslowakei zählten zu den Erstunterzeichnern.38 Dänemark, die Dominikanische Republik, Finnland, Griechenland, Haiti, Indonesien, Italien, Liberia, Nicaragua, Österreich, Peru, Schweden, die Türkei und später die Bundesrepublik Deutschland traten bei. Die USSR und die mit ihr eng verbündeten Staaten – noch

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ohne die Tschechoslowakei – blieben dem fern. Die europäischen Partnerländer des ERP schlossen sich nach längeren Verhandlungen in Paris im August 1948 zu einer Organization for European Economic Cooperation (OEEC ) zusammen. Nach einer Reorganisation noch im Juni 1947 wurde die Administration des bizonalen Vereinigten Wirtschaftsgebietes Westdeutschlands, die bis dahin über fünf Städte verteilt war,39 in Frankfurt zusammengefaßt. Dieser „Wirtschaftsrat“ ließ „bereits Rudimente eines Regierungssystems erkennen“40 und trug „parlamentsähnliche Züge“. Seine 52 Mitglieder wurden nach Parteienproporz von den Landtagen gewählt.41 Eine Reform im Januar verdoppelte die Zahl seiner Mitglieder und schuf in Gestalt des Länderrates als zweiter Kammer eine zentrale Vertretung der Landesregierungen. Als Exekutive amtierte seit März ein Verwaltungsrat mit einem „Oberdirektor“. An seine Spitze trat Hermann Pünder, der von 1926 bis 1932 Staatssekretär in der Reichskanzlei war und auch später mit dem in den Vereinigten Staaten lebenden ehemaligen Reichkanzler Brüning in Verbindung blieb. Zum Direktor für Wirtschaft wurde schließlich von der Mehrheit, unter Führung der CDU , gegen die Stimmen der SPD , der damals parteilose Nürnberger Wirtschaftsprofessor Ludwig Erhard gewählt. Unter seiner Leitung – unter Aufsicht eines Zweimächtekontrollamtes – konnte der ZweizonenWirtschaftsrat seit März 1948 zu einer Erfolgsgeschichte ansetzen, die die Anfänge des später vielfach so genannten „Wirtschaftswunders“ markiert: die rhetorisch geschickte Propagierung einer „sozialen Marktwirtschaft“ durch den über Jahre auf einen neuen liberalen Kurs vorbereiteten Erhard,42 die Lockerung und Lösung von Zwangswirtschaftsbindungen, Förderung des Konsums wie der Sozialverpflichtungen eines neu entstehenden Staates. Wie Erhard schon auf einer Exportmesse in Hannover im Mai 1948 erklärte, sollte der Export Westdeutschlands „künftiges Schicksal“ bestimmen43 – innerhalb des amerikanisch dominierten Welthandelssystems, um den amerikanischen Aufbauhilfen gerecht zu werden. Alle deutschen Banken waren in einem längeren Prozeß, der

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in der englischen Zone anders verlief als in der amerikanischen, rechtlich vom Kontrollrat auf die Grenzen der neuen Länder beschränkt worden. Das betraf vor allem die Großbanken, wie etwa die Deutsche Bank44 und die Dresdner Bank, neben denen Landeszentralbanken geschaffen wurden, schließlich eine „Bank deutscher Länder“, die seit der Währungsreform im Juni 1948 zu der günstigen Ausgangsposition sowohl für den deutschen Export als auch für amerikanische Investitionen beitrug.45 Die Landesbeschränkung galt auch für die seit 1949 von den Gewerkschaften im Verein mit Konsumgesellschaften gegründeten sechs Gemeinwirtschaftsbanken,46 die 250 bis 350 Gewerkschaftsfunktionäre mit Aufsichtsratsmandaten versahen. Die Währungsreform und die Schaffung der Deutschen Mark, die nächste, überaus wichtige Voraussetzung der Erfolgsgeschichte eines westdeutschen Wirtschaftsaufschwungs, war das Werk der Amerikaner. In Verhandlungen mit der sowjetischen Seite, aber auch mit der englischen und der französischen, auch durch Kontroversen auf der amerikanischen Seite selbst erschienen die geheimen Pläne und Vorbereitungen mehrfach in auswegloser Lage. Der anfänglich umfassende CDG -Plan – von einem deutschen emigrierten Wissenschaftler, Gerhard Colm, und zwei Bankiers, Joseph Dodge und Raymond Goldsmith – „Plan for the Liquidation of War Finance and the Financial Rehabilitation of Germany“ vom Mai 1946, der Währungserneuerung und Besitzbelastung zusammenfassen wollte, ist nicht ans Ende gelangt. Ein Lastenausgleich kam auf die Bundesrepublik nach ihrer Gründung zu, nachdem ein Anteil von 80 Prozent der Zahlungsmittel der großen deutschen Inflation stillgelegt, 15 Prozent in die neue Währung umgewandelt und eine Quote von 60 DM der neuen Währung pro Kopf zugeteilt wurden.47 Der Erfolg war durchschlagend: die Verfügung über Geld bestimmte vom 20. Juni 1948 an „das Alltagsleben einer enteigneten Bevölkerung, deren Zugang zu Geld nur auf eine Weise möglich war, über Arbeit“.48 Bedeutung und Einfluß des für die politische wie ökonomi-

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sche Seite der amerikanischen Besatzungspraxis verantwortlichen Stellvertreters des Oberbefehlshabers Eisenhower, General Lucius D. Clay, stehen außer Frage. Von Anfang 1946 an war er für fast zweieinhalb Jahre als Militärgouverneur für das amerikanisch besetzte Deutschland verantwortlich. Dem experimentellen Erproben nicht abgeneigt, leitete er auf der von den Joint Chiefs of Staff vorgegebenen Schiene eines neu belebten Föderalismus zu der von Außenminister Byrnes befürworteten westdeutschen Staatsgründung hinüber. Allerdings hatten schon während der Währungsreform in der amerikanischen wie in der britischen Zone die staatlichen Kontrollen von Produktion und Distribution der industriellen Erzeugung viel Effizienz eingebüßt. Mit der Erholung und Ausweitung industrieller Produktion, steigenden Verbraucherbedürfnissen und zunehmendem Export versagten seit dem Zusammenbruch des alten Währungssystems die staatlichen Kontrollen vollends. Die Bevölkerung schien nicht mehr bereit, Güter und Dienstleistung für Geld ohne Wert anzubieten.49 Man wartete auf Reform. Mit der Währungsreform mußte daher auch die Vereinheitlichung einer reformierten Wirtschaftsverwaltung einhergehen. Im Mai 1949 tagte in Paris eine Konferenz der vier Besatzungsmächte, die die Möglichkeit einer Vereinigung aller Zonen unter Kontrollratsregie erörterte. In einer sonntäglichen Sitzungspause wurden die Mitglieder des Länderrates zur Unterrichtung nach Königstein im Taunus zusammengerufen, über die Presse und Öffentlichkeit nichts erfahren sollten.50 Die „Rückkehr zu der Konstruktion von Potsdam“, wie man sagte, wurde mit eingehender Begründung abgelehnt, für einen künftigen „Beitritt der Länder der Ostzone“ die Gewährleistung dreier Freiheitsgrundsätze zur Bedingung gestellt: Freiheit der Person, einschließlich Bewegungsfreiheit und Schutz gegen willkürliche Verhaftung, Freiheit für alle demokratischen Parteien und Wahlfreiheit, „Unabhängigkeit des Richtertums“. Nach kurzfristig erörterten Vorschlägen, deutsche Wirtschaftsverbände mit staatlichen Kontrollfunktionen zu betrauen, die

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wieder fallen gelassen wurden,51 erwuchs der Plan für einen – bei weitem noch nicht souveränen – Staat unter deutscher Leitung, dessen Aufbau in der Ära des ersten Bundeskanzlers Adenauer zügig voranschritt.52 „Nach der Überwindung der Zahlungsbilanzkrise von 1950/1951 erzielte die westdeutsche Wirtschaft regelmäßige Exportüberschüsse. Das Bevölkerungswachstum, der Technologietransfer aus den USA und die erfolgreiche Integration in den Weltmarkt schufen in Westdeutschland und in anderen europäischen Ländern die Grundlage für eine seltene historische Situation von wirtschaftlichem Wachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht“.53 Vor diesem Hintergrund erscheint aber auch auf deutscher Seite schon vieles personell und organisatorisch disponiert, ehe unter der Ägide Ludwig Erhards als Bundeswirtschaftsminister in der Regierung Adenauer die „soziale Marktwirtschaft“ in Gang gebracht wurde. Sie entspricht der wirtschaftspolitischen Parallele zu der etwa zur gleichen Zeit vollzogenen Trennung zwischen sowjetischem und westlichem Deutschland, die, global gesehen, unter dem Schlagwort des „Kalten Krieges“ mit der Formierung des Ostblocks einherging. Das Ziel einer Wiederherstellung der Wirtschaftskraft des besiegten und unterworfenen Landes und der Schaffung ausreichenden Wohlstands der Bevölkerung inmitten Europas bildete – nach den Erfahrungen der Krise der dreißiger Jahre – auch das letztlich entscheidende politische Mittel der angelsächsischen Sieger angesichts der neuen, durch Wirkungen und Ergebnisse des Krieges von Grund auf veränderten europäischen Kräfteverhältnisse. Nach dem ersten Weltkrieg waren die Gegenwirkungen namentlich von französischer Seite zu stark und blieb die Anteilnahme der Vereinigten Staaten an den europäische Angelegenheiten noch unstetig. Nach dem zweiten Weltkrieg hingegen, aus dem die Sowjetunion als stärkste Militärmacht der Erde hervorging, wurde diese Politik in Verbindung mit einem weltweiten Wirtschaftsprogramm mit der allein möglichen amerikanischen Hilfe verwirklicht.

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Die sowjetische Militärsadministration (SMAD ) unter Marschall Schukow entgegnete auf die Währungsreform in Westdeutschland mit einem unverzüglichen Verbot der „Westmark“ in ihrer Zone und begann mit einer eigenen Reform der Währung, in der „das Geld dem Plan folgen“ sollte wie dieser den sowjetischen Plänen. Die Oberaufsicht führte der Chef der Finanzverwaltung der SMAD . Fortan blieb Deutschland ebenso wie politisch auch in zwei Währungsgebiete geteilt. Nach amerikanischen Informationen erreichten sowjetische Entnahmen aus der darniederliegenden Wirtschaft Ostdeutschlands gegen Ende 1948 einen geschätzten Wert von mehr als acht Milliarden Dollar. Hinzu kamen weitere Zugriffe, vor allem auf Steuereinnahmen der Länder der sowjetischen Besatzungszone.54 Für die alte Reichshauptstadt, nunmehr Viersektorenstadt Berlin folgte die Spaltung.55 Der im Juni 1947 von der Stadtverordnetenversammlung zum Oberbürgermeister gewählte Sozialdemokrat Ernst Reuter56 war schon an seinem Amtsantritt durch Einspruch der SMAD gehindert worden. Im März des folgenden Jahres zog sie ihren Vertreter im Alliierten Kontrollrat, im Juni dann auch aus der Alliierten Hohen Kommandantur zurück. Sie verhängte eine Blockade durch Sperrung aller Land- und Wasserwege nach West-Berlin, um die westlichen Besatzungsmächte zur Aufgabe ihrer Sektoren und ganz Berlin unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Alliierten, vor allem die amerikanische Seite, bemühten sich, durch eine rasch aufgebaute Luftbrücke die Verbindung zu den westlichen Zonen aufrechtzuerhalten, was einigermaßen gelang. Von einer Art Gegenblockade war dann aber bald die auch vom Import abhängige Wirtschaft der sowjetischen Zone betroffen,57 die nun ein eigenes wirtschaftliches System innerhalb des „Ostblocks“ aufbaute. Im Mai 1949 wurde die Verkehrsblockade durch Vereinbarungen in New York aufgehoben. Doch Berlin blieb nach dieser ersten Krise politisch geteilt, der Landzugang unter sowjetischer Kontrolle,58 Ergebnis und Symbol der Ost-West-Teilung Deutschlands – als ein „Ergebnis der sowjetischen Politik der Etablierung eines semisozialistischen, autoritären Systems

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in der sowjetischen Zone und der divergierenden westalliierten Politik des Wiederaufbaus Deutschlands nach dem traditionellen Muster westlicher Demokratien“.59 Stalins Absichten, soweit bekannt, richteten sich alsdann auf die Förderung der Bewegung für einen „Volkskongreß“ zur Erhaltung der nationalen Einheit Deutschlands mit erwarteter großer Wirkung auf die Bevölkerung im Westen als Gegenzug gegen die Staatsbildung unter anglo-amerikanischer Dominanz. Dem sollte die von Stalin persönlich angeratene Gründung einer „nationaldemokratischen“, einer fünften Partei für ehemalige Nationalsozialisten, die er zu schonen empfahl, die Vermeidung weiterer Enteignungen, die Unterlassung kommunistischer Parolen und dann der Plan einer Abstimmung über eine gesamtdeutsche, vom Volkskongreß zu erarbeitende Verfassung dienen. Hierzu erteilte Stalin recht genaue Ratschläge in mehreren Gesprächen mit den wenig originellen ostdeutschen SED -Politikern Pieck, Grotewohl, Ulbricht, Fechner und Oelssner.60 Gleichzeitig begann die militärische Einbeziehung der DDR in den Ostblock. Im Gefolge dieser Ereignisse und Entscheidungen nahm Europa neue Gestalt an. Bündnisverträge Jugoslawiens mit Bulgarien, Ungarn und Rumänien sowie der Sowjetunion mit den osteuropäischen Staaten formierten den Ostblock, während auf der anderen Seite schon im März 1948 im Brüsseler Fünf-Mächte-Vertrag eine Westeuropäische Union zwischen Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg beschlossen wurde. Von West-Berlin aus begann der von amerikanischer Seite intendierte „Kongreß für kulturelle Freiheit“ seine weitgespannte Tätigkeit, die darauf abzielte, die intellektuelle Elite – auch die linksstehende – zu politisieren und für amerikanische Ideen zu engagieren.61 Die größte Aufmerksamkeit, die jedermann den globalen Zwiespalt vor Augen führte, erregte dann der Korea-Krieg. Von Stalin wie von Mao Zedong gebilligt, entschied sich Kim Il Sung – nach vereinzelten Zwischenfällen und Kampfhandlungen im Grenzraum Nord- und Südkoreas – 1950 zur militä-

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rischen Invasion, um einen Nationalstaat Korea zu schaffen. Präsident Truman aber nutzte eine günstige Situation im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Sowjetunion hatte ihren Vertreter zurückgezogen. Sie wollte nach dem militärischen Sieg Mao Zedongs 1949 und dem Rückzug Chiang Kai-sheks nach Formosa, Taiwan,62 die Aufnahme der Volksrepublik China und den Ausschluß des restlichen Nationalchina aus der UNO erzwingen. Doch der Sicherheitsrat trat zusammen und verurteilte auf amerikanischen Antrag im Juni 1950 einstimmig Nordkorea als Aggressor und beschloß zum ersten Male Aufstellung und Einsatz einer UNO -Streitmacht. Truman befahl den amerikanischen Streitkräften Schutz und Unterstützung Südkoreas und ernannte den im Kriege in Ostasien siegreichen General MacArthur zum Oberbefehlshaber. Der Korea-Krieg begann sich auszuweiten, als chinesische Kräfte eingriffen und MacArthur nach einer Gegenoffensive die Überschreitung des Grenzflusses Jalu und den Einsatz der Luftwaffe wie der Flotte gegen Küsten und Industriestädte Chinas vorschlug. Das führte zu seiner Abberufung, aber nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten zu einer Kette festlicher Begrüßungen, Empfänge und Demonstrationen, die vor allem der Entwicklung des Fernsehens und seiner aktuellen Berichterstattung entscheidenden Auftrieb gaben. Eine neue politische Potenz der Medien war eindrücklich sichtbar geworden. Beide Seiten befürchteten indessen unabsehbare Weiterungen zu einem neuen Weltkrieg und bahnten Waffenstillstandsverhandlungen an, die im Juli 1951 offiziell eröffnet wurden, sich lange hinschleppten, aber nach dem Tode Stalins zwei Jahre später mit dem Waffenstillstandsvertrag von Panmunjon abgeschlossen werden konnten. Er festigte die Teilung beider koreanischer Staaten in ungefährer Nähe zur Demarkationslinie am 38. Breitengrad.63

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Westdeutschland Erstaunlich bleibt der verhältnismäßig rasche wirtschaftliche Aufschwung in der „Bundesrepublik Deutschland“, die sich über mehrere, bedeutungslos gebliebene Zwischenstationen hinweg64 auszuformen vermochte und im Grundgesetz eine Verfassung gab, die den Ländern eine historisch begründete, von militärischer amerikanischer Seite mit Bedacht herbeigeführte, in Europa zuvor unbekannte Stellung zuwies. Das gewaltige Ausmaß der Zerstörungen im zweiten Weltkrieg konnte die Bundesrepublik schon im zweiten Nachkriegsjahrzehnt fast völlig vergessen machen, als sie zeitweilig mit ihrem Bruttosozialprodukt zum drittgrößten Wirtschaftsstaat der Erde heranwuchs, ehe sie in einer Stagnationsphase gegen Ende des zweiten Drittels des Jahrhunderts und infolge der Ausdehnung der Wirtschaft des nach dem Friedensvertrag mit den Siegermächten vom September 1951 sich rasch erholenden Japan in der Rangordnung der großen Industriestaaten auf den vierten Platz verwiesen wurde.65 Westdeutschland übertraf das Produktions- und Leistungsniveau der Vorkriegszeit – allerdings innerhalb eingeschränkter territorialer Verhältnisse und unter strukturellen Voraussetzungen, die eine entschlossene industriewirtschaftliche Konjunkturpolitik zu größeren Wirkungen gelangen ließen, als jemals in der Weimarer Republik möglich gewesen wäre, die zu allem anderen die von Jahr zu Jahr wachsenden Notstände überwiegend agrarwirtschaftlicher Gebiete des deutschen Ostens auszugleichen hatte. Der Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg brachte die Bundesrepublik in eine weitaus günstigere wirtschaftliche Lage, als das Deutschland der Zwischenkriegsperiode je erreichen konnte.66 Der Erfolg des Wirtschaftsaufbaus, der Reorganisation und Mobilisierung wirtschaftlicher Kräfte, das Erreichen großer Leistungen wurde durch eine neuartige euroatlantische Konstellation ermöglicht und durch starke Anstöße und wirkungsvolle Anfangshilfen von außen in verhältnismäßig kurzer Zeit erreicht. Was aber für die wirtschaftliche Erneuerung gilt, kann ähnlich auch vom po-

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litischen Aufbau gesagt werden. Die Bundesrepublik ist auch noch lange nach der Annahme ihres Grundgesetzes eine „Tochter des kalten Krieges“ genannt worden.67 Die Tatsachen, an die sich dieses Urteil knüpfte, sind durch Entschlußkraft und Entschiedenheit auf Seiten der Besatzungsmächte in Westdeutschland, Amerikaner voran, erreicht worden. Jeglichem Verelendungsmoment haben die systematisch entgegenwirkenden Tendenzen eines Wirtschaftsaufbaus den Boden entzogen. Dem verdankte die Bundesrepublik Entstehung und Entwicklung. Dies gilt analog auch für den westlichen Teil der vier Sektoren in dem merkwürdigen politischen Status der preußischen und deutschen Hauptstadt Berlin, die bis zum Einsetzen sowjetisch geduldeter Gegenaktionen im Spätsommer 1961 als das in den Osten Deutschlands gerichtete offene „Schaufenster“ westeuropäischen Wohlstands wahrgenommen wurde. Bald nach der Erneuerung des Währungssystems unter der Regie der Besatzungsmächte setzte in den drei westlichen Zonen der wirtschaftliche Sanierungsprozeß ein. Schon nach wenigen Jahren stellte dieser Teil Deutschlands die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der von der Sowjetunion besetzten östlichen Gebiete und Staaten in jeder Hinsicht weit in den Schatten. Dieser Prozeß ist vorübergehend langsamer und zögernder verlaufen, von Abschwüngen und kritischen Stadien unterbrochen worden, schien sich jedoch langfristig ohne gravierende Hemmungen fortzusetzen und gedieh in perennierender wirtschaftlicher Expansion. Dies wurde sowohl durch die bedachte innere Konsolidierung als auch durch eine äußerst zurückhaltende bis betont passive außenpolitische Orientierung in jenen Jahren bestätigt, die man mit leichter Abrundung als die Ära Adenauer bezeichnen kann, des ersten Bundeskanzlers, einer der klügsten und erfahrensten deutschen Politiker, vormals langjähriger Oberbürgermeister von Köln bis 1933, dann der erste nach dem Kriege, Präsident des Preußischen Staatsrates und mehrfach Kanzlerkandidat des Zentrums in der Weimarer Republik, eines tonangebenden, herausragenden Kommunalpolitikers mit Weltsicht.68 Im Grunde blieb der Prozeß der

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Konsolidierung ungestört. Er verlief am erfolgreichsten in der Periode der vollständigen Einbettung der Bundesrepublik in das unbestritten unter amerikanischer Führung stehende westliche Bündnissystem, die freilich gegen Ende der Amtszeit des Präsidenten Eisenhower 1961 abgeschlossen schien und schon vorher ihren Höhepunkt überschritten hatte. Sogenannte „westliche“ politische Vorbilder69 dienten nur in begrenztem Maße als Richtweisung. Eine Verfassung, die schon das Kaiserreich besaß und die die Weimarer Republik – auf der Grundlage des allgemeinen gleichen Wahlrechts – parlamentarisierte und nach dem Vorbild von 1848 mit Grundrechten ausstattete, wurde nach dem Zwischenspiel des nationalsozialistischen Führerstaates 1949 als „Grundgesetz“ der Bundesrepublik beschlossen.70 Neue Institutionen, wie etwa das Bundesverfassungsgericht, im Ursprung nach dem Vorbild des Supreme Court der Vereinigten Staaten, ein geregelter, schon in der Weimarer Republik entstandener Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, den die historische Eigenheit des Föderalismus auferlegte, dürfen in ihrer Ausgestaltung als deutsche Besonderheiten gelten. Parlament, Bundestag und zweite Kammer, Bundesrat – oder Reichsrat, sind Hervorbringungen der deutschen Geschichte seit 1871, mit stoßweise sich verändernder Gewichtung. Weder die amerikanische Verfassung noch britische Überlieferung können als Vorbilder oder Muster bezeichnet werden, um von der französischen „Dritten“ oder „Vierten“ Republik gar nicht zu reden. Vom allgemeinen gleichen Wahlrecht und den Bürgerrechten abgesehen, die sich in der Tat im 20. Jahrhundert gleichen, hat jeder dieser Staaten ähnliche, aber doch nur in engen Grenzen vergleichbare Institutionen geschaffen: die Vereinigten Staaten seit 1791, das United Kingdom schon früher, aber erst seit 1918 mit allgemeinem Wahlrecht auch der Frauen, in Deutschland – neben dem Dreiklassenwahlrecht der Hegemonialmacht Preußen – seit 1871. Die kleineren Königreiche Europas wie auch Spanien und Portugal blieben Nachzügler in dieser Entwicklung. Die Währungsreform von 1948 schuf die Deutsche Mark, die sich als

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erste deutsche Währung länger als ein halbes Jahrhundert hindurch respektabel behauptete und zu den nach der Großen Krise der dreißiger Jahre wieder gefestigten alten beständigen Währungen des englischen Pfundes und des amerikanischen Dollars in Vergleich gebracht werden konnte. Doch dies hing von der Wirtschafts- und Währungspolitik ab und der Bundesbank als umsichtiger Hüterin der Währung. Die Genese des westdeutschen Wohlstandsstaates in einer labilen weltpolitischen Mitte Europas weist in hervorstechenden Merkmalen Eigenarten der Lage, aber auch historischer Voraussetzungen aus. Die Vorgeschichte der Bundesrepublik, in der sich diese Mitte Europas mit neuer Gravitation formierte, stand, was die innere Situation anlangt – ähnlich wie die Entstehung der Reichsverfassung und der Republik von Weimar – unter dem Einfluß der für die deutsche Entwicklung entscheidenden Bindungen politischer Vorstellungen an Eigenheiten landesstaatlicher und landsmannschaftlicher Überlieferungen. Der historische Föderalismus wurde von zweien der Besatzungsmächte, von Frankreich ohnehin und – in anderer Weise – von den Vereinigten Staaten erneuert und von den Engländern zumindest als Übergangserscheinung hingenommen. Die Länder der Besatzungszeit blieben erhalten mit der Ausnahme eines Zusammenschlusses der drei südwestdeutschen nach einer Volksbefragung im Dezember 1951 zum neuen Land Baden-Württemberg.71 Ebenso wie der historische Föderalismus sind die Probleme eines neuen Pluralismus dem westlichen Deutschland auferlegt worden, während sich das östliche Deutschland zu einem Einheitsstaat verfestigte. Die Teilung Deutschlands erhob die Gegensätze in der Politik der Besatzungsmächte zum dauernden Faktum, das nach den Überspannungen der vorausgegangenen Epoche die nationale Gemeinschaft der deutschen Bevölkerung nachgerade Jahr für Jahr dramatischer auseinanderriß. Die östliche Staatlichkeit unter sowjetrussischer Besetzung, die „Deutsche Demokratische Republik“72, wurde auf eine pro-sowjetische Ideologie und einen Gesellschaftsplan fixiert, was zwangsläufig die innerdeut-

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schen Beziehungen zerstörte, aber erst hinter Mauern und Drahtverhauen auf eine mittlere Sicht abgesichert schien. In staatsstreichartigem Zugriff der SED -Führung wurde in parlamentarischen Sondersitzungen im Juli 1952 in Berlin und in den Ländern deren Auflösung und die Abschaffung ihrer Ministerien beschlossen und die DDR zu einem zentralistischen Staat umgewandelt, der in neuartigen Bezirken eine uniforme bürokratische Mittelinstanz erhielt, dessen Ämter von der Zentrale besetzt wurden. Wahlen fanden seit 1950 in Gestalt von Abstimmungen über eine von der SED dominierte Einheitsliste statt. Einheitspartei und Einheitsstaat vollendeten auch äußerlich das Bild einer neuen, diesmal einer kommunistischen Diktatur auf deutschem Boden. Die ökonomische Seite der Organisation eines westdeutschen Staatsgebildes mit starker industrieller Potenz wurde hierdurch weder behindert noch aufgehalten. Doch der rasch eingeleitete Vorgang, der zur Gründung der Bundesrepublik führte, vermochte noch keine dauerhaften Grundlagen zu schaffen. Der Konformismus der Medien, aber auch die zunehmende Unschärfe in dem nur selten noch theoretisch begründeten Gebrauch des Ausdrucks „Demokratie“, auf den kaum eine Partei verzichten möchte, erscheint symptomatisch. Von einem „Provisorium“ oder – um eine Nuance weniger dezidiert – vom „Transitorium“73 der Bundesrepublik ist in den ersten Jahren ihrer Existenz auch offiziell häufig gesprochen worden. Sogar das erste Staatsoberhaupt mochte sich nicht vorbehaltlos auf den Boden einer Realität stellen, die durch die Entscheidung dreier Besatzungsmächte und erst als Folge hiervon durch die mit dem Grundgesetz in Kraft getretenen Tatsachen definiert wurde. Dem historisch, liberal und national denkenden ersten Bundespräsidenten erschien das „unteilbare Deutschland“ immer noch als Wirklichkeit hinter dem fragmentarischen Produkt transitorischer Besatzungspolitik, dessen Legitimation auf dem Konsens der entscheidenden Mächte beruhte, von der Mehrheit der Betroffenen indes, der deutschen Bevölkerung, weder erstrebt noch begrüßt wurde, ein neuer

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„staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Tatbestand eigenen Rechts und eigener Verantwortung“.74 Die Wärme eines Gefühls, die jeder Strom begeisternder Teilnahme erregt, erscheint ihm von Anbeginn entzogen, diese nachgerade kategorisch entpolitisiert, vornehmlich dem Sport, in Festzeiten anderen Kulten und deren Derivaten zugewandt. Solange diese Staatlichkeit als „transitorisches“ Faktum eine gleichsam unaufdringliches Dasein führte, mochte sie von allzu schweren Konflikten verschont bleiben. Dies bezeichnet die von einem deprimierten Nationalgefühl beherrschte liberale Komponente in der Existenz eines Staates, der nach außen mehr durch Verzicht auf eigenes Entscheiden als durch zielstrebiges Wollen begründet wurde, um noch einmal Theodor Heuss sprechen zu lassen: „Wir entscheiden nicht; wir sind schier nur Zuschauer unseres Schicksals“.75 In dieser von Ungewißheiten und Unbestimmtheiten charakterisierten Lage eines geistigen Schwebezustands mußten sich die politischen Kräfte in Westdeutschland, welche dies auch sein mochten, entschlossen darauf einlassen, auch die letzten Auswucherungen jeglicher Art des deutschen Nationalismus in strikter Systematik einzudämmen oder zu verdrängen. Zur gleichen Zeit wurde aber Kraft und Energie darauf verwendet, mit dem Wiederaufbau eines leistungsfähigen Wirtschaftskörpers ein geordnetes Staatswesen aufzurichten, das, seiner Leistungskraft und Interessenlage entsprechend, eine verläßliche Stellung innerhalb der Beziehungen zwischen den größeren Mächten anstrebte. Die Entwicklung kehrte die Vorannahme der ersten Nachkriegszeit allmählich um: daß die deutschen Entscheidungen „nicht im Raum des Ökonomischen, sondern im Raum des Geistig-Moralischen liegen“.76 Auch von Israel aus wurden Wege in die Zukunft erdacht und projektiert, die Westdeutschland betrafen. Schon kurz nach Kriegsbeginn entstand ein erstes Memorandum, das von zionistischer Seite am 10. Oktober 1939 versandt wurde. Es „stieß auf eine mäßige Resonanz, war aber nichtsdestoweniger das Saatkorn, aus dem die Kollektiventschädigung hervorwachsen

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konnte“. Hierfür wurde im Hebräischen der im Buch Jesaja vorgeprägte Ausdruck „Shilumim“ gebräuchlich, „keine Tilgung … und noch weniger ein Zeichen von Vergebung … Der Begriff, der Zahlung und Vergeltung umfaßte, enthielt etwas Kämpferisches, bahnt aber auch dem Gedanken des Friedens (Shalom) den Weg“.77 Die später im Religiösen verankerte politische Begriffswelt begründete den „symbolisch-sakralen Charakter des Holocaust“, hat aber wohl auch, wie gesagt worden ist, „das Judentum an Deutschland gekettet, um jüdische Identität zu bewahren“.78 Die Jewish Agency for Palestine ( JAFP ) hatte sich in Palästina neben der Mandatsmacht etabliert und vertrat seit 1929 die World Zionist Organization. Doch auch außerhalb Palästinas war ein transatlantischer Schutzkordon aus Organisationen zur Interessenswahrung schon während des zweiten Weltkriegs entstanden, der World Jewish Congress (WJC ), der seit 1941 in den Vereinigten Staaten Aufmerksamkeit auf sich zog, das Institute for Jewish Affairs in New York und das American Jewish Committee. Im Institute „wurden zwei absolut revolutionäre Ideen entwickelt: das Nürnberger Gericht und die deutsche Wiedergutmachung“.79 Das Planungskomitee der JAFP, unter dem Vorsitz von David Ben Gurion, wandte sich seit 1944 der Thematik künftiger Forderungen an Deutschland zu, die allerdings erst langsam ausreiften. Die gelegentlich von jüdischen Führern gewählte Formulierung „Ohne Hitler kein Israel! Ohne den Holocaust an den Juden gäbe es keinen Staat der Juden,“ klingen wohl mißverständlich.80 Doch Überzeugungen von einem Zwang der Deutschen zu „moralischen Reparationen“ und „Versprechen, daß das grauenhafte Geschehen sich niemals wiederholen werde“, begleitete den „Kampf der Yishuv um freie Einwanderung und nationale Unabhängigkeit“ Palästinas und ihren „nationalen Befreiungskrieg von 1948–1949“.81 In einer Note an die vier Besatzungsmächte in Deutschland erhob die Regierung Israels die Forderung nach 1,5 Milliarden Dollar als Wiedergutmachung für die Integration jüdischer Flüchtlinge aus dem deutschen Machtbereich seit 1933. Eine

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Milliarde sollte die Bundesrepublik zahlen, eine halbe die DDR , was weder diese noch die Sowjetunion je beantworteten.

Aus langwierigen Verhandlungen und nach Ausräumung von Widerständen im Judentum erfolgte im September 1952 in Luxemburg die Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik und Israel, der zunächst eine Zahlung von 3450 Millionen Deutsche Mark an Israel vereinbarte und im März 1953 ratifiziert wurde.82 Hierbei sollte es nicht bleiben. Diese Zahl galt von vornherein als „Basis“, als Ausgangspunkt und sollte weitere, viel größere Leistungen in materieller Form nach sich ziehen – eine verfassungsrechtlich und völkerrechtlich ungewöhnliche Regelung, die innerhalb der Bundesregierung zunächst auch auf Widerstand stieß. Bis 1976 wurden es 80 Milliarden Deutsche Mark und auch danach noch jährlich 1,2 Milliarden83 für Israel und das transatlantische System jüdischer Organisationen in Amerika, für einen neuen, um neue ethnische Geschlossenheit kämpfenden Nationalstaat auf der einen und globale Vertretungen auf der anderen Stufe. Öffentliche Reden unterblieben auf Vorschlag Adenauers, der an dem „alttestamentarischen“ Stil Anstoß nahm. Die Bundesrepublik erlangte im Mai 1952 durch den Deutschlandvertrag von den drei Westmächten außenpolitische Handlungsfähigkeit. Adenauers geheime Verhandlungen mit Vertretern des World Jewish Congress und Israels hatten schon früher begonnen.84 Das im Februar 1953 unterzeichnete, im September in Kraft getretene Londoner Schuldenabkommen regelte dann nach fast zweijährigen Verhandlungen sämtliche deutschen Auslandschulden der Vor- wie der Nachkriegszeit mit 65 Staaten und bahnte die deutsche „Rückkehr in die Weltwirtschaft“ an.85

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V Europa und Amerika in einer sich wandelnden Welt Westeuropa-Pläne Vor Beginn des Korea-Krieges schien in Europa das Jahr 1950 zu einem Jahr politischer Reorganisation und zugleich neuer und neuartiger Verbindungen zu werden, für viele Miterlebende wie Beobachter ein Jahr des Aufatmens und der Hoffnung. Wie schon erwähnt, war 1948 in Paris die Organization for European Economic Cooperation zustande gekommen als europäische Organisation der am Marshall-Plan teilnehmenden Länder1 unter Einschluß der westlichen Besatzungszonen Deutschlands, die nach Einigung der drei Besatzungsmächte und nach der Zustimmung der übrigen Staaten zunächst von Großbritannien vertreten wurden. Die Grundsatzerklärung eines gemeinsamen wirtschaftlichen Aufbauprogramms hielt fest, daß die Vertragsparteien sich verpflichteten, „je für sich und gemeinsam durch nachdrücklichen Gebrauch der im Mutterland oder Überseegebieten ihnen zu Verfügung stehenden Mittel die Produktion … in einer Weise zu fördern, die zur Erfüllung des gemeinsamen Aufbauprogramms am besten beiträgt“.2 Das meinte eine Politik des planmäßigen wirtschaftlichen Fortschritts mittels technischer und politischer Optimierung – eine neuartige Gestaltung aufgeklärten Gedankenguts, das man auch in anderen noch während des Krieges unter emigrierten Politikern und Regierungen aufkeimenden Ideen wahrnehmen kann. Von Frankreich gingen Anregung und Anstoß zu diesem neuen europäischen Vertrag aus, dem die Bundesrepublik Deutschland etwas später auch aus eigener Entscheidung beitrat, nachdem das Besatzungsstatut – nach längeren Kontroversen zwi-

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schen den drei westlichen Besatzungsmächten – im Mai 1949 den Weg zu einem neuen, außenpolitisch aber noch keineswegs souveränen Weststaat Bundesrepublik geöffnet hatte. Im Januar 1950 ratifizierte sie das Abkommen über den Beitritt. Besatzungsstatut und Ruhrstatut blieben hiervon noch unberührt. Kurz darauf nahm eine neue französische Initiative Gestalt an, die sich bald von großer Bedeutung erwies. Sie ging von einem französischen Wirtschaftsplaner aus, der den größten Teil der beiden Jahrzehnte vor Kriegsende in den Vereinigten Staaten tätig war, sich mit dem Wiederaufbau der französischen Wirtschaft befaßte und einen Plan entwarf: dem einstigen Vizegeneralsekretär des Völkerbundes Jean Monnet.3 In Frankreich und der westlichen Welt besaß das Wort Plan einen anderen Sinn als im Osten, wo Stalins Fünfjahrespläne und – vergleichbar – Hitlers Vierjahrespläne von einer wirtschaftlichen Zielbestimmung ausgingen, die überaus hoch ansetzte, um das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben total zu erfassen und weitgesteckten Zwecken zu subsumieren. In den Nachkriegsstaaten Osteuropas realisierte der Plan die Integration des Ostblocks; kurzfristig mußten jeweils Änderungen im Planungssystem der USSR übernommen werden.4 Monnets Pläne hingegen konzentrierten sich auf Grundgedanken einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung und deren politische Verwirklichung. Dieser „Exponent integralistischer Strömung“5 – wenn man es bei diesem Ausdruck belassen möchte – trat in Frankreich im Januar 1946 an die Spitze des „Commissariat Général du Plan“, mit dem er eine entschlossene Modernisierung, aber auch europäische Fundierung der französischen Wirtschaft anstrebte. Inzwischen hatte sich gezeigt, daß die Niederlande wegen eigener wirtschaftlicher Belange an einem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Deutschlands interessiert waren und hierfür eintraten. Der weitere Weg führte über die seit der Zollkonvention der BeneluxStaaten vom September 1944 engere Verbindung der Niederlande mit Belgien und Luxemburg zu einer eigenständigen Verhandlungsposition Frankreich gegenüber.6

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Nachdem sich die englische Politik vor den Problemen einer europäischen Organisation zurückgezogen hatte, um sich auf Nachbar- und Küstenstaaten, Irland, Dänemark, Schweden, Norwegen und Portugal, und auf das Commonwealth zu konzentrieren, entfaltete Frankreich eine eigene Initiative.7 Monnet erweiterte seinen ursprünglich auf fünf Staaten – Frankreich, Benelux und Italien – begrenzten Plan um die Bundesrepublik, was sowohl amerikanischen Erwartungen entgegenkam als auch deutschen, die Bundeskanzler Adenauer in dem Wunschbild einer deutsch-französischen Wirtschaftsunion umrissen hatte.8 Der im Mai 1950 vom Ministerpräsidenten Robert Schuman – einem gebürtigen Elsässer, im ersten Weltkrieg deutscher Reserveoffizier – vorgebrachte, zunächst dem amerikanischen Außenminister Dean Acheson mitgeteilte Plan erfuhr noch einige Änderungen,9 führte aber zum Erfolg: zur ersten Stufe der Bildung eines westeuropäischen Systems. Eine Konferenz der Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs – Robert Schuman, jetzt in der Regierung René Pleven – beschloß im September in New York die Anerkennung der Bundesrepublik „als die einzige freie und gesetzlich konstituierte deutsche Regierung, die infolgedessen das Recht hat, in internationalen Angelegenheiten als Vertreter des deutschen Volkes für Deutschland zu sprechen“.10 Hieraus ergab sich später – 1955 – innerhalb der weiteren Entfaltung internationaler Beziehungen in der sogenannten „Hallstein-Doktrin“11 ein „Alleinvertretungsanspruch“ der Bundesrepublik für Deutschland.12 Im September 1950 kam die europäische Zahlungsunion (EZU ) zustande, die den Zahlungsverkehr zwischen den Teilnehmerländern durch ein Clearing-System und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (Bank for International Settlements) ermöglichte, die seit 1930 in Basel existierte und der nun neue Aufgaben zuwuchsen.13 Inzwischen hatten unter dem ständigen Vorsitz von Monnet Verhandlungen über eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, eine „MontanUnion“, begonnen. Der im April 1951 unterzeichnete Vertrag

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über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS ) enthielt allerdings schon weit über die Bewirtschaftung von Kohle und Stahl hinausgehende Bestimmungen und Zwecksetzungen einer Union europäischer Staaten, Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und die drei Benelux-Länder.14 Für einen gemeinsamen Markt, zur Expansion der Wirtschaft, zur Steigerung der Beschäftigung und der allgemeinen Lebenshaltung – mithin zur Steigerung der Produktion, des Konsums und des Exports – der beteiligten Länder wurden Institutionen einer übernationalen Union errichtet: eine Gemeinsame Versammlung, ein Besonderer Ministerrat, ein Gerichtshof und als ständige Exekutive eine Hohe Behörde mit dem Sitz in Luxemburg unter Monnet als erstem Präsidenten. Das Saarland erhielt einen europäischen Status und wurde für eine befristete Übergangszeit in eine Wirtschaftsunion mit Frankreich einbezogen. Damit war die Grundlage für eine europäische Vereinigung geschaffen. Noch unentschieden blieben die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, die weiterhin Besatzungstruppen in Deutschland und Stützpunkte auch in anderen Ländern unterhielten. Währenddessen formierten sich im Ostblock angesichts der Präsenz starker sowjetischer Truppenverbände die Staaten Zwischeneuropas als Satelliten einer ohne Krieg expandierenden Sowjetunion. Ihre Regierungen gelangten in kommunistische Hände und bildeten sich zu Diktaturen aus, die andere Parteien, auch anfängliche Koalitionspartner bekämpften, unterdrückten und verboten, ihre führenden Politiker ausschalteten, einige hinrichteten. Diese „Eroberung ohne Krieg“15 ereignete sich während des Jahres 1947 in Ungarn, Bulgarien, Polen und Rumänien, wo König Michael am 1. Januar 1948 abdanken mußte und das Land verließ. Die Tschechoslowakei folgte mit geringer Verzögerung russischem Druck. Außenminister Jan Masaryk wurde vor den Fenstern seiner Wohnung tot aufgefunden. Präsident Benesˇ trat im Mai 1948 zurück. Aber auch in anderen Teilen der Welt versuchte die Sowjetunion im Bunde mit den kommunistischen Parteien Fuß zu fassen und Boden zu ge-

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winnen, in Griechenland, wo bis 1949 Bürgerkrieg herrschte, auch in Indonesien, Malaysia, Birma, in Vietnam und auf den Philippinen, wo die Guerrilla zur vorherrschenden Form politischer Auseinandersetzung wurde. Angesichts dieser als bedrohlich empfundenen Lage trafen sich im März 1948 zu Brüssel Vertreter Belgiens, Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande und Luxemburgs, um über einen Beistandspakt zur gemeinsamen Abwehr eines „bewaffneten Angriffs in Europa“ zu beraten und zu beschließen. Der militärische Ausbau der entstehenden Gemeinschaft wurde von der sowjetischen Berlin-Blockade seit Juni 1948 und der Errichtung einer „Luftbrücke“ der drei Besatzungsmächte überschattet.16 Das führte zur Erweiterung und militärischen Fundierung des Bündnisses. Im Nordatlantikpakt (North Atlantic Treaty Organization, NATO ) schlossen sich im April 1949 die USA mit Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien, den BeneluxStaaten, Dänemark, Island, Norwegen und Portugal zu einem bald weiter ausgebauten Verteidigungsbündnis zusammen. Griechenland und die Türkei traten ihm im Februar 1952 bei. Die militärischen Zurüstungen in der DDR , die mit der Aufstellung, bald Kasernierung einer starken „Volkspolizei“ begannen, beunruhigten Bonn, vor allem Adenauer, der für die kommenden Jahre eine Zuspitzung vermutete. Bedeutsam nehmen sich die Bemühungen um einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik zur Aufrüstung aus, erst einer „Schutzpolizei“, dann für einen „Wehrbeitrag“, den Adenauer den Hohen Kommissaren im Sommer 1950 in mehreren Gesprächen in verschiedenen Formen anbot17 und der unter dem Eindruck des KoreaKrieges zunehmend dringlich erschien.18 In der Beratenden Versammlung des Europarates in Straßburg verlangte Churchill am 11. August die Aufstellung einer europäischen Armee mit deutscher Beteiligung. Er verknüpfte dies mit der schon mehrfach erhobenen Forderung nach einer Revision des Besatzungsstatuts. Hierauf folgten heftige innerpolitische Auseinandersetzungen in Deutschland, der Rücktritt des Bundesinnenministers Heinemann, dann außenpolitisch das Projekt, eine europäische

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Armee unter einem europäischen Verteidigungsminister zu schaffen, das viele Gegner fand, und im Mai 1952 zum Pariser Vertrag über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG ) führte, der jedoch im August 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte.19 Die junge Bundesrepublik durchlebte eine innerpolitische, auch eine Verfassungskrise, in der eine Entscheidung des Ende September 1951 konstituierten Bundesverfassungsgerichts erstmals den hohen Rang der Verfassungsgerichtsbarkeit vor Augen führte. Innerpolitische, auch innerparteiliche Kontroversen fanden indes noch kein Ende.20 Das später in Paris gescheiterte Vorhaben einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wertete auf längere Sicht die Stellung der Bundesrepublik innerhalb Westeuropas auf, verlieh ihr eine neue Position und Handlungsfähigkeit, was eine viel und heftig erörterte „Stalin-Note“ vom 10. März 1952 nicht zu hindern vermochte.21 In dem mit der EVG verknüpften Deutschland-Vertrag vom 26. Mai wurde das Besatzungsstatut abgelöst. Er konnte im Oktober 1954 in Kraft treten. Die Bundesrepublik wurde nun förmlich Mitglied der NATO ; und das Besatzungsregime endete am 5. Mai 1955.22 Ansichten und Absichten differierten in den beteiligten Staaten und ihren Regierungen nicht unerheblich. In der Bundesrepublik behauptete sich Adenauers „aktive Strategie der Westintegration“ mit dem Ziel, „die Bundesrepublik durch die enge Verbindung mit den westlichen Demokratien innenpolitisch zu stabilisieren und außenpolitisch zu schützen“.23 Von den Konflikten zwischen den beigetretenen Ländern Griechenland und der Türkei abgesehen, behauptet sich dieses Militärbündnis über Klippen und Krisen hinweg bis in die Gegenwart. Frankreich entsagte 1966 allen militärischen Verpflichtungen, verblieb aber im politischen Bündnis. Der entschieden defensive Charakter wie die gewährte Vielfalt der Interessen – in sarkastisch klingender Formulierung von Lord Ismay, „to keep the Russians out, the Germans down, and the Americans in“ – sicherte Dauer wie Beständigkeit dieses Zusammenschlusses ohne fühlbare Beschränkung nationaler Bewegungsfähigkeit.24

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Die Verbindung von Sicherheits- und Entspannungspolitik ermöglichte später auch eine neue Bonner Ostpolitik der Regierung Brandt – Scheel. Mit den Römischen Verträgen vom 25. März 1957 gelang schließlich die Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG ) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), die sich der wirtschaftlichen Nutzung der vielversprechenden Atomenergie widmen sollte.25 Die Benelux-Staaten, Frankreich, die Bundesrepublik und Italien bildeten diese Gemeinschaft. Großbritannien blieb abseits und vereinigte 1960 die Länder, die nicht Mitglieder der EWG wurden, Dänemark, Schweden, Norwegen, Österreich, die Schweiz und Portugal, in einer Europäischen Freihandelszone (EFTA ), die wirtschaftlichen Diskreditierungen durch die EWG entgegenwirken wollte. Doch alle diese europäischen Verhandlungen und Vertragsabschlüsse bewegten sich im Schatten einer Abfolge weltpolitischer Konflikte und Krisen.

Das Ende der Kolonialreiche Die Rückkehr der Franzosen nach Indochina im Schutze englischer Truppen im September 1945 konnte die unter japanischer Besetzung eingetretene Zweiteilung des Landes in ein südliches Vietnam – Tongking, Annam und Cochin-China – und eine Republik Vietnam im Norden unter Führung des Gründers der Kommunistischen Partei, Ho Chi Minh, nur vorübergehend rückgängig machen. Der von den Franzosen als Staatsoberhaupt anerkannte Bao Dai, 13. Kaiser von Annam, dankte ab. Mit Ho Chi Minh kam ein Kompromiß zustande; doch dieser währte kaum länger als ein Jahr.26 In den Ländern, die die französische Verwaltung der Kolonialzeit vereinigt und an der Jahrhundertwende zentralistisch zusammengefaßt hatte, bestimmten vorher erbitterte Rivalitäten, Machtkämpfe, zeitweilig Christenverfolgungen die Geschichte. In dem kontrastierenden Nebeneinander alter Kulturen, alter chinesisch beein-

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flußter Schichten und Gemeinschaften neben portugiesischen, niederländischen, spanischen und französischen Niederlassungen, Kolonisatoren und Missionaren und neben alten Bergvölkern und Urwaldbewohnern herrschten nie für längere Zeit Ruhe und gedeihliche Entwicklung. Man kann dies eine weitere Entstehungszone der Guerrilla nennen, die schließlich auch über den Truppeneinsatz militärischer Mächte im 20. Jahrhundert siegte. Die Aufnahme Südvietnams mit der Hauptstadt Saigon als eines assoziierten souveränen Staates wie auch von Kambodscha und Laos in die kurzlebige Union Française, die Frankreich mit seinen überseeischen Territorien verbinden sollte, brachte keine Lösung. Großbritannien und die Vereinigten Staaten erkannten die Regierung in Saigon an, doch die Sowjetunion wie die „Volksrepublik China“ die von Ho Chi Minh in Hué. Beide Seiten erhielten von den mit ihnen sympathisierenden Großmächten Kriegsmaterial. Nach einer schweren Niederlage und Kapitulation des französischen Expeditionsheeres bei Dien Bien Fu erklärte sich im Mai 1954 Frankreich in der Genfer Indochina-Konferenz zum Rückzug bereit. Unter der Voraussetzung späterer Wahlen in beiden Staatlichkeiten, zu denen es nicht kam, wurde auch Vietnam – durch eine entmilitarisierte Zone entlang dem 17. Breitengrad – geteilt. Unter der Regierung Mendès-France zog sich Frankreich aus seinem südostasiatischen Kolonialreich zurück. Dies blieb in den auch außerhalb Europas und an seiner Peripherie überaus bewegten Jahrzehnten nur eine von mehreren Konfrontationen, der sich Frankreich wie Großbritannien ausgesetzt sahen und in die die Vereinigten Staaten hineingezogen wurden. Alte koloniale Verbindungen lösten sich in einer Abfolge kriegerischer Aktionen. Ein Herd permanenter Unruhe war im Nahen Osten entstanden. Aufstände in Palästina, der frühe Teilungsplan einer Royal Commission und danach Unterhandlungen, die die britische Regierung in London Anfang 1939 mit Vertretern der Jewish Agency, palästinensischen Juden und arabischen Führern begonnen hatte, zeitigten keine für die

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jüdische Seite annehmbaren Ergebnisse. Die englische Regierung Chamberlain sah sich anderseits gänzlich außer Lage, die alttestamentarisch begründeten Forderungen zu erfüllen.27 Jüdische Organisationen förderten eine massenhafte jüdische Einwanderung in Palästina. Eine Untergrundorganisation – „Irgun Zwai Leumi“ – bekämpfte seit 1944 die Mandatsmacht auch mit militärischen Mitteln. Ende 1947 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen, von den Vereinigten Staaten wie von der Sowjetunion hierzu gedrängt, eine Resolution an28, die eine Teilung des Landes verfügte. Sie hatte empfehlenden Charakter und überließ die anhängenden Probleme dem Sicherheitsrat sowie einer ständigen Palästina-Kommission. Ihr gehörten Bolivien, Dänemark, Panama, die Philippinen und die Tschechoslowakei an, die, weitab von den aktuellen Konflikten, sich in dieser Frage frei von eigenen Interessen wußten. Die Mandatsmacht wollte bis Mai 1948 Palästina räumen und der UN -Kommission übergeben. Diese sollte die Übergangsverwaltung ausüben, die Grenzen zwischen den beiden vorgesehenen Staaten, einem arabischen und einem jüdischen, im einzelnen festlegen und jeweils einen provisorischen Regierungsrat bestellen, der innerhalb zweier Monate allgemeine Wahlen anzuberaumen hatte. „Während der Übergangszeit ist es keinem Juden gestattet, auf dem Gebiet des geplanten arabischen Staates seinen Wohnsitz zu begründen, und keinem Araber gestattet, auf dem Gebiet des geplanten jüdischen Staates seinen Wohnsitz zu begründen, es sei denn mit besonderer Genehmigung der Kommission“.29 Beide Staaten, auch dies sah die Resolution vor, sollten die Rechte der „Heiligen Stätten, religiösen Gebäude oder Plätze“ und ebenso Minderheitenrechte anerkennen, freien Transit aufrechterhalten und eine gemeinsame Wirtschafts- und Zollunion Palästina bilden. Die weit ins einzelne gehenden Bestimmungen über die Teilung wurden indes in dem heraufziehenden Konflikt hinweggefegt. An dem Tage, da das britische Mandat endete, am 14. Mai 1948, erklärte eine jüdische Regierung die Unabhängigkeit Palästinas, die von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion so-

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gleich anerkannt wurde. Dank zuwandernder Juden auf eine etwa 600000 Köpfe zählende Bevölkerung30 gestützt mit stark bewaffneten, in der Untergrundorganisation „Haganah“ und während des Krieges auch in der britischen Armee geschulten Kräften, rief sie den Staat Israel aus, die Heimstätte für alle siedlungswilligen Juden, Staat und Wirtschaftskörper in einem. Chaijim Weizmann, der einstige Anreger der Balfour-Declaration und spätere erste Präsident Israels erklärte: „Ohne Boden kann das Nationalheim nicht erstehen. Wir sind nicht ins Land gekommen, um Städter zu bleiben. Der Boden und unser Wunsch, zur Landarbeit zurückzukehren, sind die Fundamente unseres Werkes. Abgesehen aber von der Wichtigkeit des Bodens an sich, stellt er auch einen maßgeblichen Faktor für die Aufnahmefähigkeit dar. Jeder landwirtschaftliche Siedler schafft für zwei, drei Neueinwanderer Existenzmöglichkeiten im Handwerk, in der Industrie und im Handel. Ohne landwirtschaftliche Ansiedlung muß auch die Einwanderung eingeschränkt werden …“.31 Auch hier setzte sich die alte Auffassung durch, die den Landbau als Grundlage der Kultur, der Wirtschaft wie des Staates bewertete. Unverzüglich begannen Flucht oder Vertreibung großer Teile der arabischen Bevölkerung, etwa 850000 Köpfe, in die angrenzenden Staaten, vor allem Jordanien und Syrien, wo die Flüchtlinge zum dauernden Problem wurden, dessen sich die Vereinten Nationen in der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees annahmen. Mit den Kämpfern (fedajin) arabischer Guerrilla-Bewegungen und dem Einmarsch jordanischer, syrischer, ägyptischer, libanesischer und irakischer Truppen begann der erste Palästina-Krieg. In ihm bildete sich eine weltgeschichtliche Zone von Konflikten aus, die mehrfach unterbrochen, aber stets wieder erneuert wurden und in verschiedenen Formen in Permanenz gerieten. Über die Jahrhundertwende hinaus entbrannten neue politische Kämpfe zwischen alten Religionen. Der Zionismus gelangte zur Staatswerdung in Israel in Kampf und Krieg, aber auch in inneren Auseinandersetzungen, die

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sich, von außen her gesehen, zeitweilig kaum weniger heftig ausnahmen. Die humane aufgeklärte Haltung eines Albert Einstein wurde keineswegs Allgemeingut: „Unsere … Vorfahren waren geistig und körperlich ziemlich verkümmert, aber in sozialer Beziehung in einem beneidenswerten seelischen Gleichgewicht“. Allerdings: „Die Nationalitäten wollen nicht vermischt sein, sondern ihren eigenen Weg gehen“.32 Milde bekundete Humanitas jüdischer Kultur kontrastierte mit der Entschiedenheit jüdischer Religion in einem Staat, der sich keine Verfassung gab, so daß der Thora und den Rabbinern höchster Rang zukommt. Dies hat sich nach späteren Kriegen fortgesetzt, Israels siegreichem „Sechs-Tage-Krieg“ im Juni 1967 und einem Rückschlag im „Jom-Kippur-Krieg“ 1973.33 Eine „messianische Interpretation“ der Siedlerbewegung fand stetigen Anhang. Mitte der achtziger Jahre wurde eine jüdische Untergrundorganisation aufgedeckt, „die Pläne vorbereitet hatte, die muslimischen Heiligtümer auf dem Tempelberg zu sprengen, um den Wiederaufbau des Tempels vorzubereiten und gleichzeitig einen quasiendzeitlichen Krieg zwischen Israel und der arabisch-islamischen Welt heraufzubeschwören“.34 In Jerusalem, der Stadt der Heiligtümer dreier Religionen, trafen altreligiöse, lange vor der Aufklärung erwachsene – modern ausgedrückt – Glaubensbekenntnisse aufeinander. In dem seit 1967 besetzten Westjordanland – nach alttestamentarischer Überlieferung „Judäa“ und „Samaria“ – wurden schließlich bis zum Jahrhundertende 200 000 Juden, vornehmlich aus Amerika und aus Rußland angesiedelt, die unter 1,7 Millionen Palästinensern auf eigenen Straßen unter starkem militärischen Schutz verkehrten, meist nicht mehr in Kibbuzim miteinander vereint, aber im strengen Ritus ihrem Glauben hingegeben, nicht achtend der politischen Umgebung, in steter Erwartung des Messias. Im Gaza-Streifen an der Mittelmeerküste erscheint das Mißverhältnis zwischen Siedlern und den in wenigen Orten zusammengedrängten Palästinensern noch krasser. Doch wir haben vorgegriffen. Schon lange vor den Weltkriegen gab es revolutionäre wie programmatisch evolutionäre

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Autonomiebestrebungen in alten Kolonialländern. Die Sklavenerhebung auf Haiti 1791 unter dem Eindruck der Pariser Revolution führte 1804 zur Entstehung der ersten unabhängigen Negerrepublik.35 Nach dem Burenkrieg in Südafrika und vor allem nach dem ersten Weltkrieg bildete sich in der englischsprechenden wie in der frankophonen Zone Afrikas unter Intellektuellen eine kulturelle und literarische, kaum schon politische Bewegung selbstbewußten Afrikanertums, die sich auf Kongressen darzustellen begann, eine Bewegung, die – wohl voreilig – „Panafrikanismus“ benannt worden ist.36 Der Anstoß zu politischen Bestrebungen einer Dekolonisation ging von den sich abzeichnenden Erfolgen verschiedener eigenständiger Richtungen in Kolonialländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und am Indischen Ozean aus.37 Nach dem Ende des osmanischen, zuletzt türkischen Kalifats entstanden sowohl in Marokko als auch in Ägypten Moslembruderschaften, die auf den Grundlagen des sunnitischen Islam und der arabischen Sprache nationale Eigenständigkeit mit staatsbildenden Zielen verknüpften. Die russische Revolution und dann der Faschismus in Italien wirkten anregend. In Libyen entstand nach dem ersten Weltkrieg unter italienischer Oberhoheit eine kurzlebige tripolitanische Republik, während sich im berberischen Nordmarokko eine Rif-Republik auf ländliche Stammesstrukturen stützte und einige Jahre gegen spanische Truppen und starke französische Armeen zu behaupten versuchte.38 Die französische Kolonialverwaltung provozierte heftige Reaktionen eines opponierenden, in Städten wie auf dem Lande Unterstützung findenden marokkanischen Nationalismus. Die Vielfalt der seit dem zweiten Weltkrieg zu neuen Entwicklungen gelangten kolonialen Gesellschaften und Staaten sei hier nur an einzelnen Beispielen veranschaulicht. Der Nahe Osten erscheint fast in jeder Hinsicht voller widerspruchsvoller Bewegung als eine geographisch wie kulturgeschichtlich von Kontrasten durchzogene Zone.39 Die langwierige Ausbildung dessen, was wir „Staat“ nennen, erscheint hier kaum allgemein geklärt. Offenkundig gelangte eine Entwicklung oder Reifung

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vom großfamiliären oder doch in Blutsbanden untereinander verbundenen Stamm – oder Klan (Clan) – zu neuer Gestalt. Das Umfeld und die Arten der Ausformung, Lebensbedingungen, Grenzen wie Nachbarschaften und vor allem Machtprozesse sind ebenfalls im Spiel. Doch dies bedarf der Ergründung des ethnischen Hintergrundes und unmittelbarer Vorstufen und Siedlungsweisen. Ein Beispiel für die Wirkung von Erfahrungen in anderen Regionen des Erdteils dürfte für Südarabien seit Mitte des 19. Jahrhunderts erforscht sein. Freilich bleiben die Größen des sich zum Staat entwickelnden Verbandes noch ungeklärt; Menschenzahlen – innerhalb wie außerhalb von Städten – spielen keine geringere Rolle als Machthaber. Im Hadramaut konkurrierten miteinander zwei im englischen Dienst in Hyderabat militärisch erfahrene und zu Besitz gelangte Volksangehörige, die mit Hilfe von Söldnern und „importierten Militärsklaven“ eine herausragende Stellung gewannen.40 Beide strebten unter Berufung auf islamische Ethik eine über Stammesangehörige und Stammesgrenzen hinausreichende Macht an. Ihre Nachfolger, die zuvor nie Scheichs – Stammeshäuptlinge – gewesen waren, sich aber mit Geschick und Macht die Notabeln dienstbar zu machen wußten, nannten sich Sultane. Förderung des Handels, Straßenbau in Küstennähe, schließlich die Planung einer Eisenbahn mit Hilfe ausländischen Kapitals – nach indischem Vorbild –, Wasserversorgung und der erste Versuch, eine Ölkonzession zu vergeben, leiteten das Sultanat, den werdenden Staat nach der Jahrhundertwende auf eine neue Entwicklungsstufe, auf der öffentliche Einnahmen aus Steuern und Abgaben erzielt und verfügbar wurden. Diese Politisierung griff nach Ostasien über. Hadramische Händler gründeten schon 1908 auf Java, in Batavia, eine erste Vereinigung, die neben der Fürsorge die Einrichtung von Schulen für islamischen Unterricht betrieb. Diese neue, ferne Öffentlichkeit war „eng mit Transformationen innerhalb der Diaspora verbunden, die mit der Einbindung in die kapitalistische Kolonialwirtschaft zusammenhingen und ihre intellektuellen Anregungen aus islamischen, chinesischen und europäi-

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schen Vorbildern bezogen“.41 So entstand eine auch politisch alsbald bedeutsame, wirkungsvolle Beziehung zwischen Hadramaut und Batavia, zwischen der Diaspora und Südarabien, eine alte Handelsverbindung, nun neuzeitlich politisch belebte OstWest-Verbindung. Aber auch eine europäische Macht wurde einbezogen, die die Unterstützung innerer, städtischer Reformen zu versprechen schien: Großbritannien. Bereits existierende Protektoratsverträge wurden 1937 bzw. 1939 von den beiden Sultanen ergänzt. Sie riefen britische Berater ins Land, die zu einer weiteren Sicherung der Sultanate beitrugen. Die Protektoratsmacht vermochte militärisch den Frieden zu sichern und seine Verletzungen zu bestrafen.42 So konnte sich im Laufe von Jahrzehnten das Gewaltmonopol durchsetzen, mit Flugzeugen und Bomben die Bedrohung der Handelswege durch Beduinen ausgeschlossen werden. Dem Kolonialministerium zu London wuchsen Entwicklungsaufgaben zu; die Kolonialverwaltung begrenzte Waffenhandel und Schußwaffengebrauch. Mit dem Aufbau eines Regierungsapparates, von Justiz, Erziehungswesen und Fürsorge entstand ein modernes Staatswesen. Aber eine jüngere Generation der Nachkriegszeit, die ältere Zustände nicht mehr erfahren hatte und deren Elite im arabischen Ausland aufgewachsen war, bildete neue arabische, nationalistische Organisationen. Sozialistisch orientierte Kräfte bereiteten sich auf die Machtübernahme und auf den Abzug der Engländer vor.43 Eine „National Liberation Front“ agierte und agitierte und sorgte für Konflikte. Nach dem Abzug der britischen Truppen aus Aden und Hadramaut erhob sich diese „Front“ im Bunde mit den Streitkräften und stürzte die beiden in Genf abwesenden Sultane. Es kam zur Gründung einer „Demokratischen Volksrepublik“ Südjemen. Bestehende Vereinigungen wurden in zentralistisch geleitete Massenorganisationen eingeschmolzen. Unruhen, Konfrontationen und erneute Retribalisierung zählten zu den Folgen bis zum offenen Bürgerkrieg 1994, in dem sich die Waage zugunsten des islamischen Nordens neigte. Doch Unsicherheiten bestehen fort. Noch kontrastreicher, jedoch innerhalb weitaus größerer geo-

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graphischer Einheiten verlief die Entwicklung auf dem dicht bevölkerten indischen Subkontinent, wo der ermordete Mahatma Gandhi, seit der Jahrhundertwende der Vater der Antikolonialismus-Bewegung wie des gewaltlosen Widerstandes,44 höchste Verehrung erfuhr. Die Atlantik-Charta wurde für Indien zu einem Signal, nach dem sich immer mehr Gelehrte politischen und gesellschaftlichen Fragen zuwandten und eine Nationalbewegung unter Jawaharlal Nehru die Vereinigten Staaten als antiimperialistischen Bundesgenossen erachtete. Das Ziel künftiger Unabhängigkeit Indiens wurde während des Krieges mit englischen Politikern der Labour Party erörtert. Das Kabinett Attlee begründete dann die Eigenstaatlichkeit sowohl Indiens als auch Pakistans, Birmas und Ceylons.45 Völlig gespalten blieb in dem dicht bevölkerten Subkontinent mit mehreren Religionen und Ethnien die islamische Bevölkerung, in der sich die Moslemliga für einen muslimischen Nationalstaat einsetzte, während eine einflußreiche Gelehrtenorganisation für die Erhaltung der Einheit Indiens mit autonomen, religiös bestimmten Regionen eintrat. Für die „islamische Revolution“ stritt ein einflußreicher Publizist im Punjab, Abu l-A’la al-Maududi, für einen religiös begründeten, unter Berufung auf Gottes Willen geschaffenen und regierten, im Glauben verwurzelten „islamischen Staat“. Ideologische Einwirkungen europäischer – kommunistischer und faschistischer – Prägung vermittelten Vorstellungen von einem sich auf einheitliche Überzeugung der gesamten Bevölkerung gründenden Staat.46 Der Gedanke einer Teilung Indiens – in Indien und Pakistan – drängte sich auf und wurde dann vom letzten Vizekönig Lord Mountbatten im Sommer 1947 vollzogen. Doch der Streit um das Fürstentum Kaschmir – Stammland Nehrus – blieb ein Quell ständig sich erneuernder Konflikte.47 Es wurde geteilt, der Ostteil von China annektiert; es blieb umkämpft und Objekt sich wiederholt erneuernder Auseinandersetzungen. Auch Punjab und Bengalen blieben gespalten. Das überwiegend muslimische Ostbengalen, das zu Pakistan gehörte, erlangte im Gefolge heftiger Unruhen 1970 völlige Unabhängigkeit als Bangladesh.

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In Niederländisch-Indien – später Indonesien – hatte die japanische Militärregierung die nationale Bewegung unter Sukarno, den sie aus der Verbannung holte, entschieden gefördert. Dies gilt im besonderen für den islamischen Diskurs von Intellektuellen, die zielbewußt zur Mitwirkung in einem Konsultativrat herangezogen wurden, der ein islamisches Kultursystem mit „nichteuropäischen“ Schulen aufbauen sollte.48 Unter japanischem Einfluß – mit der wiederholt bekräftigten Aussicht auf die Unabhängigkeit Indonesiens – wuchsen städtisch-nationalistische und islamische Richtungen zusammen zu einem indonesischen islamischen Nationalismus, der fünf Leitlinien proklamierte: nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, humanitäre indonesische Kultur, Gemeinsamkeit durch ständige Beratung in einem repräsentativen System, soziale Wohlfahrt und Glauben an den einzigen Gott. Drei Tage nach der Kapitulation Japans im August 1945 wurde die unabhängige Republik Indonesien ausgerufen. Sie berief sich auf eine Staatsidee, die sich sowohl religiös, islamisch theologisch als auch ethnisch interpretieren und rechtfertigen ließ. Das Malayische ergab die Grundlage einer einheitlichen indonesischen Sprache. Der neue Staat schien vollendet, als die Rückkehr der niederländischen Kolonialmacht – mit englischer Unterstützung – militärische Aktionen einleitete, die erfolglos blieben. Eine von der UNO veranlaßte Konferenz in Den Haag fand im Herbst 1949 zu dem kurzlebigen Kompromiß einer Föderation von 16 Vereinigten Staaten von Indonesien mit dem Präsidenten Sukarno, aber an oberster Spitze in einer durch die Krone versinnbildlichten Personalunion mit den Niederlanden. Doch schon nach einigen Monaten wurde diese Konstruktion verworfen und Indonesien in eine zentralistisch regierte parlamentarische Republik umgewandelt.49 Sukarno beschritt andere Wege, die sein Außenminister Sostroadmidjojo 1954 auf einer Konferenz in Colombo vorbereitet hatte. Im Bunde mit Indien, Pakistan, Birma und Ceylon rief er die Bandung-Konferenz ins Leben. Sie vereinigte im April 1955 Delegierte von 29 asiatischen und afrikanischen

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Staaten mit insgesamt mehr als der Hälfte der Erdbevölkerung, die eine Erklärung verabschiedeten, die die Sowjetunion wie die Westmächte verurteilte und strikte Neutralität im Kalten Krieg bekundete. Das Schlußkommuniqué50 fixierte ständiges wirtschaftliches und kulturelles Zusammenwirken zur Erhaltung des Friedens und innerhalb der Vereinten Nationen. Es sprach sich für die Unterstützung der Araber in Palästina aus und forderte Abkommen über Abrüstung und Verbot der Herstellung, der Erprobung und Anwendung nuklearer und thermonuklearer Waffen. Dies erschien als gewaltiger Erfolg einstmals kolonialer Länder, die sich auch des Wohlwollens Chinas sicher wußten. Doch dieser Glanz verblaßte. Der im Innern Indonesiens an Heftigkeit zunehmende Kampf der Parteien, Nationalisten, Kommunisten und zwei Moslemparteien, in dem sich Sukarno mehr und mehr auf die Kommunisten stützte, führte an den Rand eines Bürgerkriegs, 1960 zur Auflösung des gewählten Parlaments und zur Ernennung eines neuen aus Parteivertretern durch Sukarno selbst, der 1963 mit Unterstützung der UNO – nach amerikanischer Vermittlung – auch die Übergabe der letzten niederländischen Kolonie Neu-Guinea erreichte, West-Irian genannt. Der Einfluß der kommunistischen Partei wuchs; die Wirtschaftspolitik mißlang. Im Offizierskorps der Armee gewann eine oppositionelle Strömung an Bedeutung. Es kam zu mißlingenden Revolten auf Sumatra und Celebes, die die wachsende Unzufriedenheit außerhalb Javas anzeigten. Die Beziehungen zu Amerika verschlechterten sich, das Waffenlieferungen ablehnte, während Rußland einen großen Kredit einräumte und Waffen zur Verfügung stellte. Weit überspannte Ambitionen auf eine Einbeziehung Malaysias zerschlugen sich. Nach einem englischen Sieg über die chinesisch geführten Partisanen51 1963 vereinigten sich die einstigen britischen Kolonien der Malayischen Halbinsel mit Nordborneo – in mehrfach wechselnden Formen – unter einem monarchischen, vom Rat der Herrscher gewählten Staatsoberhaupt zur Federation of Malaysia, die im Commonwealth ver-

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blieb. Singapur trennte sich 1965 von diesem Verband mit der Hauptstadt Kuala Lumpur. Der Gegensatz zwischen der malayischen Bevölkerung und der starken städtischen chinesischen Minderheit blieb bestehen. Indonesien schied Anfang 1965 aus der UNO aus, wechselte seine Verbindungen zur Sowjetunion gegen engere Beziehungen zum kommunistischen China. Sukarno verkündete die Schaffung einer Achse Peking-Djakarta als Anhalt und Führung der „emerging forces“ neuer afroasiatischer Nationen52, die Zhu En-lai an Peking heranzuziehen suchte. Bei allen ausgreifenden außenpolitischen Ambitionen erschien Sukarno indes abhängig von der prochinesischen kommunistischen Partei seines Landes. Die anderen Parteien wurden unterdrückt, oder sie wurden bedeutungslos. Die angeschlagene Gesundheit des Diktators provozierte im September 1965 in Verbindung mit der erfundenen Nachricht seines Todes einen Staatsstreich. Mordanschlägen auf die höchsten Generäle entgingen nur wenige, vor allem der Stabschef Nasution und der Befehlshaber der Armeereserve Suharto, die unverzüglich mit starker Unterstützung religiöser islamischer Kreise die Armee gegen kommunistische Führer einsetzten. In dem folgenden Massaker an Kommunisten und ihren Sympathisanten, das auch nicht vor Chinesen und chinesischen Diplomaten Halt machte, wurden viele Tausende von Menschen umgebracht. Dies führte zum Abbruch der Beziehungen zu China. Sukarno büßte Stück um Stück seine Macht ein. Indonesien kehrte in die UNO zurück. Suharto gewann 1968 das Amt des Präsidenten, dessen Macht er faktisch schon vorher ausgeübt hatte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte der große Revolutionär Sukarno an einem abseits gelegenen Ort im Gebirge West-Javas. In großen Städten des Vorderen Orients, der auch wegen seiner Ölquellen starke Interessen anzog,53 hatte sich im Geheimen noch während des zweiten Weltkriegs eine panarabische nationalistische und sozialistische, aber antikommunistische und ebenso antiisraelische Bewegung entfaltet, die sich nirgends vollkommen durchzusetzen vermochte, aber in späte-

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ren Jahren in Damaskus und in Bagdad für einige Zeit an die Macht gelangte. Ihr rechter Flügel begründete das diktatorische Regime von Hafis al-Assad, ihr linker trachtete nach Unterstützung durch die Sowjetunion, die in dieser Zone im Spiel blieb. Eine besondere Rolle wuchs dem Irak zu,54 der sich noch am ersten Israelkrieg beteiligte, aber im Februar 1955 mit der Türkei ein Bündnis schloß, den von Amerika geförderte Bagdad-Pakt, dem auch Großbritannien beitrat. Er blieb in der Bevölkerung unbeliebt, wurde von nationalistischen und panarabischen Kräften bekämpft und scheiterte vollends nach dem Sturz des haschimidischen Monarchen 1958, der eine Folge wechselvoller Machtkämpfe einleitete. Der nächste schwere und kriegsmäßig ausgetragene Nahostkonflikt erwuchs aus ägyptischen Problemen, nachdem der im Volk umjubelte Diktator Nasser mit dem Bau des Assuan-Staudamms begonnen hatte, für den er amerikanische Finanzhilfen begehrte, wofür Außenminister Dulles Gegenleistungen verlangte. Daraufhin verfügte Nasser 1956 die Verstaatlichung der Suez-Kanal-Gesellschaft, deren Erträge für das Staudamm-Projekt verwendet werden sollten. Westliche Staaten unter Vorantritt Frankreichs und Großbritanniens wandten sich gegen diese Verletzung ihrer Interessen. Für England ging es um die unbeschränkte freie Verbindung zu den Ländern am Indischen Ozean, Frankreich um entschlossene Entgegnung auf einen nationalen arabischen Aufstand, der schon in der großen Kolonie Algerien begonnen hatte und bei Nasser Unterstützung fand. Auf den nach London einberufenen Konferenzen ergab sich keine Klärung. Doch im Oktober kam zu Sèvres eine Vereinbarung zwischen Großbritannien, Frankreich und Israel zustande, in der Suez-Zone militärisch gegen Ägypten vorzugehen. Israel griff an; beide europäische Mächte folgten. Es gelang, die SinaiHalbinsel und Port Said zu besetzen. Doch das rief die Sowjetunion auf den Plan, die ihr Eingreifen zugunsten Ägyptens androhte. Die Vereinigten Staaten vermochten zu vermitteln. Außenminister Dulles erreichte, daß sich die Angreifermächte aus den eroberten Gebieten zurückzogen, so daß nun Ägypten als

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Sieger erschien und Nasser höchstes Ansehen in der arabischen Welt gewann. Die Suez-Krise wirkte in England wie ein Schock. Sie führte zum Sturz des Premierministers Anthony Eden, aber mehr noch: Sie führte den Beobachtern vor Augen, daß Englands Großmachtstellung in Frage stand. Das Bündnis mit Frankreich und Israel gegen den charismatischen Führer Ägyptens, Gamal Abdel Nasser, war gescheitert.55 Dies tangierte die westliche Position im Nahen Osten auf weite Sicht. Man hat dies die „größte politische Krise“ der fünfziger Jahre, dies auch das Fazit eines Niedergangs des britischen Civil Service und seiner Diplomatie genannt. Die ägyptische Regierung verfügte, daß ausländische Banken, Versicherungsgesellschaften und Importfirmen in ägyptisches Eigentum zu überführen seien. Doch nachdem Nasser sein Regime in Ägypten auszubauen und 1958 – unter Auslassung des Gaza-Streifens – mit sowjetischer Unterstützung eine Vereinigung mit Syrien und eine lockere Union mit dem Jemen in Südarabien herbeiführen konnte, eine „Vereinigte Arabische Republik“, mit der er auch eine Umklammerung Israels erreichte, setzten hier die Rückschläge ein. Die Vereinigte Arabische Republik zerfiel nach kurzer Dauer. 1961 löste sich die Union wieder auf. Großbritannien hatte seinen schrittweisen Rückzug aus der arabischen Welt schon vor dem Suez-Krieg begonnen. Er führte unter dem Labour-Premier Harold Wilson 1968 zu der erklärten Räumung aller Stützpunkte „östlich von Suez“. Auf dem Vertragswege hatte England im Februar 1953 die politische Zukunft des Sudans Ägypten anvertraut. Doch bald nach dem Abzug der letzten englischen Truppen proklamierte Khartum seine Unabhängigkeit, womit eine Geschichte wechselnder Regimes begann. Dieses Land mit Bevölkerungen, unter denen sich in nördlichen Teilen sunnitische islamische Sekten einander bekämpften und im schwarzafrikanischen Süden sich anders geartete religiöse Differenzen abzeichneten – er beherbergte Animisten, koptische, katholische und protestantische Christen neben Mohammedanern –, dieses Land war nicht zum Nationalstaat herangereift. Auch kommunistische Kräfte

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breiteten sich aus. Unter diesen Voraussetzungen unausgeglichener religiöser, ethnischer und ideologischer Konflikte begann das seit langem unruhige einstige britische Protektorat den Weg eines selbständigen territorialen Staates in beispielloser Ungewißheit. Die Beschlüsse einer Konferenz von Kairo im März 1956, durch die sich Saudi-Arabien mit Nassers Ägypten und Syrien verbündet hatte, folgten der erkennbaren britischen Politik eines variantenreich gestalteten Rückzugs aus der kolonialen Welt, wie sich einst das britische Kolonialreich einfalls- und gestaltenreich ausgebildet hatte. Die Kairoer Erklärung wandte sich angesichts der Unabhängigkeitsbestrebungen in den Ländern Afrikas nun entschieden gegen „die französische Politik, die fortwährend die Rechte der nordafrikanischen Völker verletzt, den Frieden … bedroht. Frankreich muß das Recht der nordafrikanischen Völker auf Unabhängigkeit in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen sowie dem Grundsatz, daß alle Völker das Recht auf nationale Selbstbestimmung haben, anerkennen“.56 Die neuen „Nationen“ hatten sich bereits zu erkennen gegeben und zeigten sich zum Kampf entschlossen. Marokko wie Algerien strebten seit Ende des zweiten Weltkriegs erneut nach Selbständigkeit. Im März 1956 erkannten Frankreich und Spanien die Selbständigkeit Marokkos unter dem Sultan Mohammed V. an. Die internationale Zone von Tanger fiel an das Land zurück. Innere Gegensätze und ein Grenzkonflikt mit Algerien ließen es nicht zur Ruhe kommen. Doch außenpolitisch fand es Anerkennung. 1956 wurde Marokko Mitglied der Vereinten Nationen, 1963 der „Organisation für Afrikanische Einheit“ (Organization of African Unity, OAU ), die jedoch einem seit 1975 andauernden Westsahara – Konflikt nicht zu begegnen vermochte. Weitaus heftiger wurde in und um Algerien gekämpft – seit einem ersten, bald niedergeschlagenen lokalen Aufstand im Mai 1945. Dieser schwere, sich von Jahr zu Jahr verschärfende Konflikt zog am Ende Frankreich selbst in Mitleidenschaft. Algerien war in erster Linie Agrarland mit alten

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mediterranen Baumkulturen, Oliven und Feigen, Getreideanbau, Weinbau, Viehhaltung und Weidewirtschaft. In den Küstenregionen überwog der Mittel- und Großbesitz mit Domänen und Latifundien in französischen Händen, während die arabische und berberische Bevölkerung Auswandererströme nach Frankreich, vor allem in die Industrieregionen um Paris und in den Norden entsandte. Diese Bewegung wandte sich seit den fünfziger Jahren für einige Zeit in die entgegengesetzte Richtung. Franzosen zogen in ihr Mutterland und Juden aus den Großstädten in steigender Zahl nach Israel. Im September 1947 hatte die linke französische Regierung Ramadier ein Statut beschlossen, das gleichstarke Vertretungen von Muslimen und Europäern, die etwa ein Zehntel der Bevölkerung stellten, in der Landesversammlung (Assemblée Algérienne) vorsah. Doch es gab keine autonome Verwaltung. Das harte Regime der Generalgouverneure tat ein übriges, um die Unzufriedenheit bis zum offenen Aufstand zu steigern, der am 1. November 1954 losbrach und in den Kampf der „Nationalen Befreiungsfront“ (Front de Libération Nationale, FLN ) mündete, gegen den Frankreich ständig Truppen in Stärke von einer halben Million Mann einsetzte. Übergriffe und Terroraktionen waren an der Tagesordnung. Frankreich befand sich hier wieder im Krieg. Marokko und Tunesien gaben dem algerischen Militär Rückhalt. Tunesien hatte im Mai 1943 die Kapitulation der deutschitalienischen Nordafrika-Armee erlebt, war 1955 autonom geworden und im März 1956 unter der Pariser Allparteienregierung des Sozialisten Guy Mollet, mit dem Delegierten Schwarzafrikas Houphouët-Boigny, in die Unabhängigkeit entlassen worden. Es gewährte einer provisorischen algerischen Exilregierung Aufenthalt und Unterstützung. Dennoch blieb es um Vermittlung mit Frankreich bemüht und bildete mit Marokko ein Gegengewicht gegen panarabische Pläne einer ägyptischen Hegemonie unter Nasser. Als die französische Regierung Gaillard Anfang 1958 durch ein Rahmengesetz einer Autonomie Algeriens entgegenkam, löste sie einen Aufstand französischer Militärs aus. Diese Staats-

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krise brachte General de Gaulle an die Macht. Eine Lösung lag in der Anerkennung der Selbständigkeit Algeriens, die de Gaulle auch anstrebte. Doch der Weg bis zu dem klaren Ergebnis einer Konferenz in Evian im März 1962 führte über gefahrvolle Zwischenstationen, einen Aufstand radikaler Franzosen in Algier, einen Putsch der höchsten französischen Generäle und Terroranschläge einer im Untergrund aufgebauten geheimen Organisation, Organisation Armée Secrète (OAS ), gelenkt von einem Nationalen Widerstandsrat unter Führung des exilierten mehrfachen Ministers und zweimaligen Ministerpräsidenten der Nachkriegsrepublik Georges Bidault, der bis 1952 Vorsitzender der Volkspartei war, des Mouvement Républicain Populaire. Verhandlungen hatten schon vorher begonnen und führten ebenso an das vorauszusehende Ende wie dann der Umbau der Verfassung Frankreichs im September 1958, der dem Präsidenten stärkere Rechte einräumte, die parlamentarische Struktur zugunsten eines präsidentiellen Gegengewichts revidierte. Der 16. Artikel der neuen Verfassung schuf das Instrument einer kommissarischen Notstandsdiktatur des Präsidenten. Es sollte Anwendung finden, wenn die Unabhängigkeit der Nation oder die Integrität ihres Staatsgebietes oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen unmittelbar bedroht und eine geordnete Tätigkeit der verfassungsmäßigen Organe nicht mehr gewährleistet sei.57 Daß die Berufung auf diesen Artikel gegen die in der öffentlichen Meinung vorherrschende Tendenz äußerst schwer, unter Umständen überhaupt nicht möglich ist, zeigte sich 1961 im Zusammenhang mit der Offiziersrebellion in Algerien, als zum ersten und bislang einzigen Male die Anwendung des Artikels 16 beschlossen wurde. Anfangs gab es in der Öffentlichkeit kaum wesentliche Opposition gegen diese Entscheidung, obgleich das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament normal blieb und lediglich präventive Voraussicht von einer der Voraussetzungen für die Anwendung des Diktaturartikels ausging: der Störung der parlamentarischen Willensbildung. Die zunehmende Kritik in der Öffentlichkeit wie in der Nationalversammlung veranlaßten aber den Präsidenten,

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obgleich sich die Lage keineswegs verändert hatte, den Ausnahmezustand wieder aufzuheben. Dies nennt man seitdem die Fünfte Republik. 1962 wurde die Volkswahl des Präsidenten eingeführt. Die verbliebenen französischen Überseegebiete rangierten unter der Verfassung von 1958 als autonome Staaten einer Französischen Gemeinschaft (Communauté Française) unter dem Präsidenten nach den Fundamentalgrundsätzen der Gleichheit von Staaten und allen Bürgern, gleich welcher Herkunft, Rasse oder Religion. Zentralafrika, Kongo-Brazzaville, Gabun, Madagaskar, Senegal, Tschad gehörten ihr an. Die wirkungsvollste Verbindung zwischen Frankreich und seinen ehemals kolonialen Überseegebieten beruhte auf engen wirtschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Beziehungen. In zwei weiteren Phasen, seit 1960 und nach 1975, über die noch zu handeln ist, erlangten auch alle übrigen Kolonialländern Afrikas volle staatliche Souveränität.

Der Ostblock Inzwischen war die Sowjetunion an Krisen knapp vorbeigeglitten. Lenin hatte die Diktatur geschaffen, Stalin sie zu seiner unumschränkten persönlichen Herrschaft ausgebaut. Molotow, aus einer Adelsfamilie bürgerlicher Lebensweise – Skrjabin –, diente ihr als Anhänger des Leninismus, als Ministerpräsident, dann, in Auslandsaufenthalten zum Kenner des Auslands und der Diplomatie geworden, als Gestalter der Außenpolitik. Er bevorzugte entschiedene, kurze und klare Urteile, die sich ihm aus einem subjektiven Gefühl politischer wie geistiger Überlegenheit aufzudrängen schienen; „in Amerika sind Politiker im allgemeinen dumm“. Churchill respektierte er – als den „gerissensten“ von allen.58 Das kühle gegenseitige Durchschauen – voller Mißtrauen – wuchs offenbar mit dem Aufstieg in die kleine Oligarchie der Kreml-Spitze unmittelbar unter Stalin, der das letzte Wort behielt, seine Entscheidungen allerdings

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hinauszuzögern wußte, bis er sich ganz sicher fühlte. Doch auch der militärische Sieg im zweiten Weltkrieg konnte in seiner Umgebung die Vergangenheit nicht vergessen lassen. Während die aufgeklärten Staaten Westeuropas die gleichen Rechte und Freiheiten jedes ihrer Bürger zu gewährleisten sich bemühen, was im weiten Osten Europas kaum jemals akzeptiert wurde, versuchte Stalin, die Gleichheit der Lebensumstände auf dem Lande mit Gewalt und in kürzester Zeit durchzusetzen. Auf sein Drängen begann in einer agrarwirtschaftlichen Krisensituation 1928 die „Entkulakisierung“ als ein systematisch verfolgtes Projekt, die „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“: Wer über 300 Rubel pro Esser in der Familie einnahm, Handel oder eine Mühle oder eine Ölpresse betrieb, Gerät oder Maschinen auslieh, war „Kulak“. „Es traf die Fleißigsten, Fähigsten, Sparsamsten und Ideenreichsten“. Übergriffe wurden alltäglich, Gesetzlosigkeit die Regel. Diese „Entkulakisierung“ traf „8,5 bis 9 Millionen Menschen, Männer, Frauen, Alte und Kinder. Die meisten wurden ihrer Heimat und ihres Besitzes beraubt. Viele wurden wegen Widerstands erschossen, und nicht wenige kamen um auf dem Weg nach Sibirien und in den Norden“.59 Dies war kein Bürgerkrieg, sondern die bis zur Zerstörung reichende Unterdrückung einer Volksschicht, gegen die unter den herrschenden Voraussetzungen Gegenwehr nicht möglich war. Das schloß jedoch einen Wechsel entschiedener Ansichten an der Spitze des Kreml nicht aus, etwa die Einschätzung der Politik Deutschlands unter Hitler60, der chinesischen Revolution oder der Möglichkeiten und der Wege einer Weltrevolution. Stalin wie Molotow betrachteten Rußland stets als Großmacht und die Russen als Volk einer „besonderen Mission“.61 Das ermöglichte im Kriege die Stärkung eines neuen russischen Patriotismus trotz allem, was geschehen war. „Ein Russe hat ein bestimmtes Lebensgefühl. Er liebt große Gesten: Wenn er kämpfen muß, dann einen richtigen Kampf; wenn er den Sozialismus aufbauen will, dann auf der ganzen Welt“. Molotow wie Stalin lag daran, die Grenzen der Sowjetunion zu erweitern und darüber hinaus eine Sicherheitszone aufzubauen. Mit

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Edvard Benesˇ, dem Haupt der tschechoslowakischen Exilregierung in London, kam es schon im Dezember 1943 zu einem Vertrag, der Moskau faktisch eine Kontrolle über die tschechische Außenpolitik sicherte. Prag war fortan verpflichtet, der Sowjetunion in allen Konflikten Folge zu leisten, auch solchen, die sie selbst provozierte.62 Doch dies blieb die einzige, völkerrechtlich formal beschlossene Entente. Das Vorgehen der USSR gegen die Türkei, von der sie Stützpunkte und in der Kaukasuszone Grenzgebiete forderte, oder in Polen – gegen die Exilregierung in London, Gegensätze im griechischen Bürgerkrieg, in Rumänien, in Libyen und im Iran, alles dies führte nachgerade zwangsläufig in Spannungen zu den Vereinigten Staaten, deren Rolle als die einer sich überlegen aufspielenden Supermacht interpretierbar schien. Politik wurde auf sowjetischer Seite entschieden personalisiert und in allem übrigen schematisch leninistisch-marxistisch grob klassifiziert. Eine neue Phase begann nach der geheimen Konferenz von Vertretern der kommunistischen Staaten im schlesischen Schreiberhau (polnisch Szklarska Bore˛ba) Ende September 1947, an der Malenkow und Schdanow teilnahmen. Sie brachte die Gründung des „Informationsbüros der kommunistischen Arbeiterparteien“ (Kominform). Mit ihm nahm „die Konsolidierung der sowjetischen Einflußsphäre in Osteuropa“ neue Gestalt an, begann, wie in Anlehnung an moderne Ausdrücke gesagt worden ist, „die Umformung von fünf Ländern in sowjetische Satellitenstaaten unter der Herrschaft kommunistischer, nach dem Vorbild Moskaus geklonter Regime …“63 Die einstige sowjetische Botschafterin Alexandra Kollontaj beglückwünschte Schdanow: „In letzter Zeit erlagen manche von uns dem Pessimismus; aber Ihre Richtungsweisung für die nachfolgende Phase unserer Politik und des Befreiungskampfes in der ganzen Welt öffnen ein neues Tor in die Zukunft. Die Seele frohlockt und erhellt sich“. Mehrere Faktoren trieben die Gründung der Kominform voran, nachdem Churchill in Fulton das Wort vom „Eisernen Vorhang“ für die Weltöffentlichkeit geprägt hatte.64 Schdanow und auch Stalin machten sich hierüber

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lustig. Aber sowjetische Informanten berichteten von heftigen Reaktionen „bei den Massen des amerikanischen Volkes“, in Deutschland wie in Polen und in anderen Ländern. Es gibt häufig Anlässe und Möglichkeiten, um Bewegung in die Gemeinschaften von Menschen zu bringen und dies politisch zu gestalten. Nöte und Unzufriedenheit bilden Nährböden für Empörungen und Protest. Vielleicht ist es mehr „westlich“ gesehen als im Osten Europas erkannt, daß auch ein einförmiges, im alltäglichen Einerlei verlaufendes Dasein auf weitere Sicht auf den einzelnen Menschen hemmend oder beklemmend oder gar niederdrückend wirken kann. Des Menschen Geist und Kraft will sich erheben und Freiheit gewinnen. Er strebt nach Erlösung aus der Monotonie. Das mag sich ins Numinose wenden, mag sich in Sportarten äußern, läßt sich aber offenbar als allgemeines Bedürfnis auffassen, sogar in Organisationen bannen und an Zwecke binden. Wo sich Kommunikation entfaltet, variantenreich entwickelt und verdichtet, wo reflektiert, Erfahrung bedacht wird, wo steter Wechsel eintritt, wo es Bildung, Wissenserwerb, Kunst und Gestaltung gibt, Musik, Spiele, Sport, Wettbewerb, neues Sehen und Berichten, dort lebt Kultur, die mitunter schlicht als „bürgerlich“ abgestempelt wird. Stalin sah die Sicherheitszone der Sowjetunion bedroht, die nur durch Stärkung prosowjetischer Disziplin in den kommunistischen Parteien ideologisch verteidigt werden könne. In diesem Sinne zeichnete sich die Vorstellung eines „europäischen Bürgerkriegs“ als Propagandakrieg politischer Ideologien ab.65 Es reifte der Gedanke, die immer noch starken Reste eines Netzes der aufgelösten Komintern mit dem während des Krieges erweiterten System von Agenten und Sympathisanten vor allem in der kritischen Szenerie der Intellektuellen nahezu aller Länder mit einem stets unter Kontrolle gehaltenen Kern in Moskau und in Verbindung mit dem Geheimdienst in neuer Weise zu aktivieren und zielsicher einzusetzen. Nach einer Schätzung waren nach 1945 in den westlichen Hauptstädten 40 bis 45 Prozent des diplomatischen Personals der Sowjetunion Angehörige des KGB , in Entwicklungsländern noch mehr.66

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Einfluß und Einwirkungen auf die Intellektuellen bilden ein besonderes Kapitel, wie hier nur angedeutet sei. Die Tätigkeit von Intellektuellen in einer bewegten Gesellschaft kann von Ideologien angeregt, gefärbt, gar forciert werden. Die verächtlich gemeinte Wortschöpfung Napoleons von den „Ideologen“ hat im 20. Jahrhundert einen beachtlichen Bedeutungswandel erfahren – gelegentlich bis zum Rollenspiel bei Massenaktivierungen. „Man wird immer beachten müssen, daß die Macht einer Ideologie vor allem darin besteht, daß sie bei allen möglichen oder unmöglichen Gelegenheiten erklingt und daß man ihr nicht ausweichen kann“.67 Wo alte Religionen verschwanden, sich aufzulösen begannen oder sich in verschiedenen Richtungen auch wiederbelebten, vermochten sich Ideen, Ideenrichtungen, Ideologien auszubreiten mit oder ohne Nutzung regional oder lokal resistenter Residuen aus altreligiöser Zeit. Gaetano Mosca schrieb 1923: „All die Ungläubigen aus dem Volke und … auch die große Mehrheit der Ungläubigen unter den Halbgebildeten gelangt heute in Europa … nicht zum Rationalismus. … Und wenn sie das Christentum als übernatürlich ablehnt, so ist sie darum nicht weniger geneigt, anderen Glaubenslehren zu verfallen, die gewiß nur gröber und niedriger sind“.68 Die Vielfalt der Variationen erscheint beträchtlich und entwickelt sich unter verschiedenen religiösen, kirchlichen, lokalen oder landsmannschaftlichen, ethnischen, regionalen oder nationalen Voraussetzungen, meist ohne distinktive Begrenzung, mitunter jedoch in schroffen Konfrontationen. Moderne Kriege erscheinen fast immer auch als Kriege konträrer Ideologien. Was auf dem „Marxismus“ oder seinen Derivaten fußt, ist seit längerem einem Prozeß sowohl ideologischer Richtweisung als auch permanenter Kritik ausgesetzt. Hierzu gibt es eine kaum noch überschaubare Reihe von Beispielen,69 die zeigen, wie „Ideologen“, moderner ausgedrückt: politischen Intellektuellen, für kürzere oder gar längere Zeit eine dominierende Rolle zuwachsen kann. Man mag es schon als geradezu naheliegenden Gedanken erachten, die hier angedeuteten Vorgänge an eine sichere Schnur zu binden, über die eine aner-

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kannte oberste Kompetenz wachen soll – in enger Beziehung zu den verfügbaren Machtmitteln. Es soll aber nicht übergangen werden, daß sich im westlichen Europa, vornehmlich in Frankreich kritische Reflexionen einzelner Intellektueller über „die Intellektuellen“ bemerkbar machten, die geistige Wandlung anzeigten.70 Schdanow war von Stalin ausersehen. Er war nach der Ermordung Kirows dessen Nachfolger als Chef der Leningrader Parteiorganisation und während des Krieges politischer Machthaber an der Leningrader Front. „Stalin spürte deutlich die Notwendigkeit, die Ideologie als einen Stützpfeiler für sein Regime und dessen Außenpolitik wiederaufleben zu lassen“.71 Die Erfolge sowjetischer Geheimdienste und ihrer „Großen Illegalen“, der Rekrutierten aus der westlichen Intelligenz, liefern anschauliche Beispiele.72 Die Vernichtungen und Grausamkeiten, die in der Sowjetunion seit ihren Anfängen begangen wurden und die sich unter Stalin und seinem letzen Geheimdienstchef Berija fortgesetzt steigerten, nur während des Krieges etwas milderten, auch die Kunde vom „Gulag“ vermochten die Anhänger des Kommunismus nicht zu beirren. Daß ein großer Teil der übrigen Welt mit Abscheu reagierte, was nicht ohne weittragende politische Folgen blieb, hat zumindest Stalin verkannt.73 Erst im Gefolge der Anklagen gegen den Nationalsozialismus und danach der Öffnung geheimer Archive wurden diese wie auch spätere Unterdrückungen und Vernichtungen diskussionsreif und weltweit öffentlich.74 Etwa um die Zeit seines 70. Geburtstags, Ende 1949, war der Sowjetdiktator auf den Höhepunkt einer outrierten Heldenverehrung gelangt, die pseudo-messianische Züge annahm. Übergroße Denkmäler sollten dem Persönlichkeitskult Dauer verleihen. Riesige Massenaufmärsche einheitlich gekleideter Menschen auf dem Roten Platz und in der festlich gestalteten Kreml-Umgebung versinnbildlichten den auf einen einzigen Menschen zugeschnittenen Stalinismus. Vor diesem Hintergrund erscheint dann auch das Festhalten an einem Persönlichkeitskult in China begreiflich, der nach der Zerstörung des Stalinbildes auf Mao übertragen wurde. Die großen Massen

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folgten einem ins Überlebensgroße erhobenen Idol. Das plötzliche Anschwellen einer gegen Amerika sich richtenden „Weltfriedensbewegung“ mit dem Sinnbild der von Picasso gemalten Friedenstaube erfaßte auch im Westen viele Intellektuelle mit der Kraft einer formierenden Ideologie. Stalins engste Mitarbeiter waren nach dem frühen Tode Schdanows und nachdem Molotow wegen seiner jüdischen Frau, die verbannt wurde, in Ungnade gefallen war, Berija, Malenkow und Chruschtschow. Berija war Chef der Geheimpolizei und des Auslandsnachrichtendienstes, KGB und GRU , dem auch die industriellen Projekte zur Entwicklung der Atom- und der Wasserstoffbombe unterstanden, Malenkow der oberste Parteiverwaltungschef, einstiger Verwaltungschef von Nowgorod, einem Prachtstück unter russischen Städten. Chruschtschow stand an der Spitze des Politbüros. Sie alle erkannten trotz ihrer bis zuletzt dem Kremlherrscher erwiesenen Ergebenheit die Notwendigkeit, eine neue sowjetische Politik einzuleiten. Dies mündete in einen Machtkampf. Berija und Malenkow waren mit der militärischen Industrialisierung und der Rüstung befaßt. Da sie wußten, daß die Sowjetunion den Vereinigten Staaten technisch unterlegen war, betrieben sie im Gefolge der Demontage deutscher Industrieanlangen die Deportation deutscher Fachkräfte, Wissenschaftler und Raketenspezialisten, derer sie habhaft werden konnten, in die Sowjetunion. Im Erzgebirge wurden Uran, Thorium und Mesothorium ausschließlich für die Sowjetunion von sowjetische Gesellschaften gefördert.75 Man wußte auch über bulgarisches Uranerz und über iranische Ölfelder Bescheid, auf die Einfluß genommen werden sollte. Stalin starb im März 1953. Am Tage seines Begräbnisses berieten Berija, Malenkow und Molotow mit dem aus Peking nach Moskau geeilten Zhu En-lai über einen Waffenstillstand in Korea, an dem sich russische Vermittlung beteiligte.76 Im April enthüllte Berija, daß die politischen Verfolgungen der letzten Monate unter Stalin, unter täuschenden Vorwänden, lediglich krankhafter Grausamkeit und wütender Rachsucht entsprangen: eine angebliche Ärzte-Verschwörung im Kreml im

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Auftrag westlicher Geheimdienste und des Zionismus, was antijüdische Ausschreitungen veranlaßt hatte und dann Anklagen gegen tschechoslowakische Kommunistenführer, den abgesetzten Generalsekretär Rudolf Slanski, den Außenminister Wladimir Klementis und andere.77 Sie waren verurteilt, ihre Leichen verbrannt worden. Noch im Sommer 1953 wurde Berija gestürzt, einige Wochen später hingerichtet. Malenkow hielt sich eineinhalb Jahre länger. So erschien der „Erste Sekretär des Zentralkomitees der KPSU “ Nikita Chruschtschow als der stärkste Mann im Kreml neben und bald vor dem Ministerpräsidenten – Bulganin nach Malenkow. Diplomatische Beziehungen zu Israel wurden wieder aufgenommen, schließlich auch zu Jugoslawien und Griechenland. Es gab einige Widerstände innerhalb des Ostblocks. Der erste Aufstand im Anschluß an eine sich ausbreitende Demonstration in Ost-Berlin wurde am 17. Juni 1953 von sowjetischen Truppen unter Einsatz von Panzern unterdrückt.78 Im Mai 1955 nahmen die Regierungschefs der kommunistischen Staaten im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW ) ein umfassendes Wirtschaftsplanungssystem an, das dem gesamten Ostblock Fünfjahrespläne auferlegte, dann in Warschau einen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand, den „Warschauer Pakt“, der die sowjetische Hegemonie militärisch sicherte. Dem Versuch Chruschtschows, zu irgendeiner Erneuerung zu gelangen, begegneten aber Widerstände aus der Oligarchie der Parteifunktionäre. Eine literarische Kritik an der Stalinschen Vergangenheit mußte er in das Ausland transferieren.79 Doch in einer „Geheimrede“ auf dem XX . Parteitag der KPSU im Februar 1956 brach er endgültig mit dem „Stalinismus“, begann die „Entstalinisierung“ der sowjetischen Politik. Chruschtschow kam auch dem abtrünnigen Marschall Tito entgegen und besuchte Belgrad. Im Oktober 1961 ließ er Stalins Leichnam aus dem Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau entfernen und an der Kreml-Mauer unter die Erde bringen. Tito, Sohn eines Kroaten und einer Slowenin, hatte in Jugo-

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slawien noch zu Lebzeiten Stalins eine eigene, sich auf den erfolgreichen Partisanenkrieg berufende und so die südslawischen Ethnien miteinander verbindende Diktatur aufgebaut, die er durch Abkommen und Freundschaftsverträge in einem System verbündeter südosteuropäischer Staaten außenpolitisch zu verankern suchte. Noch im Mai 1946 wurde mit der tschechoslowakischen Regierung ein Freundschafts- und Bündnisvertrag geschlossen, 1947 mit Bulgarien, mit Ungarn und Rumänien, den alle diese Staaten im Herbst 1949 wieder kündigten. Doch Titos Distanzierung von der Sowjetunion war evident. Ein Versuch, Tito zu stürzen, mißlang. Im Juni 1948 wurde Jugoslawien aus der Kominform ausgeschlossen. In seinem Lande sah sich Tito unterstützt. Ende Februar 1953 konnte er mit Griechenland und der Türkei einen Freundschaftsvertrag, 1954 auch einen militärischen Pakt abschließen. Chruschtschow gegenüber bekundete er die Absicht, sich mit überseeischen Staaten der dekolonisierten Zone zu verbünden. Hieraus erwuchs eine demonstrative, wenn auch lockere Verbindung mit den sowohl von der Sowjetunion als auch von den USA unabhängigen „blockfreien“ Ländern der ehemaligen Kolonialzonen, die 1954 in Colombo und im folgenden Jahr unter der Führung Nehrus und Sukarnos in der Bandung-Konferenz zusammenfanden. Sie legte die Linie fest, fürderhin gemeinsam für die Fortsetzung der Dekolonisation und die Zurückdrängung der Kolonialmächte einzutreten. Von der Erklärung der Unabhängigkeit Marokkos 1956 bis zu der Belgisch-Kongos und der letzten bei Großbritannien verbliebenen Kolonien gelangte dieser Prozeß binnen kurzer Zeit in die Nähe eines Endpunktes. Im Gefolge innerer, revolutionärer oder staatsstreichähnlicher Regimewechsel in Ägypten, im Irak und im Iran schieden auch andere Staaten aus der amerikanisch-westeuropäischen Kombination aus. Im September 1955 verhandelte Chruschtschow in Moskau mit Bundeskanzler Adenauer, was zur Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus russischen Lagern und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen führte. Aber auch Eng-

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land bewegte sich auf Rußland zu. Nach dem Wahlsieg der Konservativen über die Labour Party 1951 war Churchill erneut Premierminister geworden. Er bemühte sich um eine Détente mit der Sowjetunion unter den neuen Männern und wollte auch Amerika in diesen Versuch einbeziehen. Er erwog sogar einen persönlichen Besuch in Moskau. Doch im Frühjahr 1955 gelangte er zu der Überzeugung, daß England außerstande war, den Kalten Krieg zu beenden.80 Er resignierte. Eden, wieder Außenminister, dann Churchills Nachfolger, hatte sich unterdessen für den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft wie zur UNO eingesetzt – auf gleichem Fuß mit allen anderen Beteiligten – unter der Voraussetzung, britische Truppen auf dem Kontinent weiterhin in ihren Standorten zu belassen. Nach der Genfer Konferenz, die den französischen Indochina-Krieg beendete, konnte er Chruschtschow und Bulganin zu einem Besuch in London empfangen. Doch die günstigen Aussichten auf engere Handelsbeziehungen fanden ein rasches Ende unter dem Eindruck und weiten Widerhall eines Aufstandes in Posen und vor allem eines in Ungarn in die Breite wachsenden Volksaufstandes, den sogar die kommunistische Regierung unterstützte. Dies erschütterte die Welt. Erst nach schweren Kämpfen in den Straßen Budapests konnte der ungarische Aufstand von verstärkten sowjetischen Truppen unter großen Opfern niedergeworfen werden. Neben der amerikanischen Außenpolitik unter John Foster Dulles hielt Chruschtschow vor allem Tito, der noch kurz zuvor Moskau besuchte, für den gegnerischen Drahtzieher und gar einen persönlichen Konkurrenten innerhalb des Ostblocks. Die Kominform wurde 1956 aufgelöst. Doch es gelang der Sowjetführung nicht, eine Stabilisierung des Blocks auf längere Sicht zu erreichen. Ihre Hegemonie gründete sich auf ihre starke militärische Präsenz im Ostblock, der kontrollierten einheitlichen Ideologie und auf die diktatorial disponierte Einheit des Wirtschaftssystems. Tito hingegen, der sich auf amerikanische Wirtschaftshilfe stützte, bemühte sich in diktatorischer Position – seit 1963 als Präsident auf Lebenszeit – um einen eige-

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nen Weg Jugoslawiens in wechselnder Haltung der Sowjetunion gegenüber, zunehmend von China angefeindet, und um Verbindung zu den „blockfreien“ Staaten unter dem Einfluß Nehrus und dann Nassers bemüht. Auch der „Titoismus“ kam nicht ohne Zwang und innere Unterdrückung aus. Dennoch ließen sich Kritik und Flügelbildung unter wachsendem Einfluß alter ethnischer Gegensätze zwischen Serben, Kroaten, Slowenen und Albanern nicht unterbinden.81 Doch das außenpolitische Ansehen, das Tito unter den „Blockfreien“ genoß, sicherte ihm persönlich eine herausragende Stellung. Im August 1953 war die erste sowjetische Wasserstoffbombe gestestet worden. Waffentechnisch wie militärstrategisch schien eine Pattsituation zwischen den USA und der Sowjetunion gegeben. Den Belehrungen, die Chruschtschow nach und nach hierzu erfuhr, ist großes Gewicht zugemessen worden.82 Sie stützten zunächst seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer „friedlichen Koexistenz“ mit dem „Imperialismus“ und trugen zur Distanzierung von der revolutionären Dogmatik Chinas und des Maoismus bei. Die sprunghaften Reaktionen Chruschtschows seit dem Suez-Krieg, die hier nicht zu erörtern sind, zogen ihm die Gegnerschaft Molotows zu. Doch der erste groß inszenierte Start einer Weltraumrakete vor den Augen Chruschtschows im September 1957 stärkten seine Überzeugung von einer technisch-militärisch überlegenen Leistungskraft der Sowjetunion. Ende 1958 veranlaßte er die Bildung russischer Raketenstreitkräfte. Dafür wurde der Bestand der stehenden Armee um ein Drittel reduziert. Allein 250000 Offiziere mußten in den nächsten Monaten in Zwangspension gehen.83 In gestärktem Machtbewußtsein ergriff Chruschtschow außenpolitisch die Initiative. Der nach der ersten Blockade Berlins einsetzende und stetig ansteigende Strom von Abwanderern aus der DDR nach Westberlin – seit 1955 jährlich etwa 250 000, seit 1949 insgesamt 2,7 Millionen registrierter Flüchtlinge, wahrscheinlich noch mehr84 – hatte wieder die BerlinFrage aktuell werden lassen. Ende November 1958 forderte

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Chruschtschow in öffentlicher Rede die Westmächte ultimativ zu einem Friedensvertrag über Deutschland auf, dessen Inhalt er kurz und knapp umriß: die Anerkennung zweier deutscher Staaten und einer „Freien Stadt West-Berlin“. Dem status quo sollte völkerrechtlich Dauer verliehen werden. Damit löste er die zweite Berlin-Krise aus, da die Westmächte eine erneute Blockade befürchteten, die sich unter den veränderten Wirtschafts- und Lebensverhältnissen der Stadt durch eine neue Luftbrücke nicht hätte meistern lassen.85 Rückzug oder Widerstand schien die einzige Alternative. In jüngerer Zeit ist erkannt worden, daß auch auf der sowjetischen Seite Verlegenheiten entstanden, weil man sich Polens nicht sicher glaubte und sogar eine Verbindung mit Frankreich und Westdeutschland unter Adenauer für möglich hielt, so daß ein Abzug der sowjetischen Truppen bis hinter die russische Grenze erforderlich und zudem gar die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen denkbar schien, was schon innerhalb der Bundesrepublik heftig umstritten war. Unter diesen Umständen traten seit Herbst 1956 Politiker im Westen wie im Osten auf verschiedene Weisen für eine Entspannung in Mitteleuropa ein86, für ein „Disengagement“, wie Hugh Gaitskell, der Führer der britischen Labour Party, und auch George Kennan, für eine atomwaffenfreie Zone, eine Zone „kontrollierte Abrüstung“, wie schließlich Bundeskanzler Adenauer, oder für die „Blockfreiheit Mitteleuropas“, wie der polnische Außenminister Rapacki. Sie sollte eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichen, für die sich Ende 1956 sogar Walter Ulbricht aussprach.87 All dies drängte in die Richtung einer politischen Umgestaltung Mitteleuropas. Die Inszenierung der Auftritte Chruschtschows und die Knüpfung neuer Kontakte unter starker öffentlicher Aufmerksamkeit verschafften der Sowjetunion allmählich ein neuartiges Ansehen in der Welt. Schon 1955 war Chruschtschow mit Bulganin nach Indien und Indonesien gereist, im gleichen Jahr der Präsident der türkischen Nationalversammlung in Moskau empfangen worden. Nach einem Auftritt in New York reiste

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Chruschtschow zum 10. Jahrestag der Volksrepublik China nach Peking, wo er jedoch mit seinem poltrigen Auftreten die eingetretene Verstimmung nur verstärkte. Die Beziehungen zum Ägypten Nassers und seiner „Organisation der freien Offiziere“ gewannen indes nach dem Suez-Krieg erheblich an Bedeutung.88 Ende Dezember 1958 kam in Moskau ein Abkommen mit der Vereinigten Arabischen Republik zustande, das wirtschaftliche, technische und finanzielle Hilfen der USSR sicherte. Auch zu Algerien und zu schwarzafrikanischen Ländern knüpfte Moskau Verbindungen, so zu Nkrumah in Ghana und Lumumba im Kongo. Chruschtschow gewann die Überzeugung, „daß man die nationale Befreiungsbewegung als Reserve und Verbündeten im Kampf gegen den Imperialismus nützen müsse“.89 Das glich einem sowjetischen Einspruch gegen den Geist der Bandung-Konferenz. Seit 1956 gelangten über ein von der Rüstungsfirma Lockheed entwickeltes Spionageflugzeug U2 für den Geheimdienst CIA bei Flügen über Rußland viele Geheiminformationen nach Amerika.90 Es photographierte aus großer Höhe im April 1960 das Atombomben-Testgelände, die Raketenabwehranlage und die Raumfahrtstation Baikonur. Am 1. Mai, am Tage vor einer Gipfelkonferenz in Paris, gelang der Abschuß eines U2-Flugzeugs über dem Ural. Der Pilot blieb am Leben und geriet in russische Gefangenschaft. Das führte zu einem Triumph Chruschtschows und löste in den Vereinigten Staaten Verlegenheiten aus.91 Eisenhower war persönlich verantwortlich für die Aufklärungsflüge und auch, was noch nicht aufgedeckt wurde, für geheime Bomberflüge im russischen Luftraum, die von einem der vielen amerikanischen Luftwaffenstützpunkte in Westdeutschland, der Türkei und in Pakistan ausgingen. Das führte zu einem schroffen Auftritt Chruschtschows in Paris, schwächte aber seine Stellung unter den Oligarchen der Partei. Die „deutsche Frage“ stand dann im Mittelpunkt der Verhandlungen, die Chruschtschow, der unter großem äußerlichen Aufwand im September 1960 nach New York gekommen war und

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vor der UNO auftrat, mit Eisenhower in Camp David führte. Das Ergebnis blieb unbedeutend. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die sowjetisch-chinesischen Beziehungen schon in der Krise.

Rußland und China Mit den Auftritten Zhu En-lais auf der Bandung-Konferenz 1955 hatte China sein Interesse an den aufstrebenden volkreichen, sich noch entwickelnden „blockfreien“ Staaten demonstriert. Doch die Stellung Chinas innerhalb Ostasiens blieb kontrovers. Seit den mittleren fünfziger Jahren bildeten die Küsteninseln zwischen Südchina und Taiwan eine Ursache weltpolitischer Spannungen. Ein chinesisches Bombardement der Insel Quemoy am 3. September 1954, das die Konferenz von Manila für einen Ostasienpakt, South East Asia Organization (SEATO )92, begleitete, zeigte stete Gefahren an. Doch weder der amerikanische Generalstab noch Mao hielten Behauptung oder Eroberung der Inseln für bedeutsam genug, um militärische Aktionen zu unternehmen, die zum Krieg Chinas gegen die zum Schutz Taiwans entschlossenen USA geführt hätten.93 Chruschtschow trat noch im gleichen Monat seine erste Reise nach Peking und durch China an. Drei Jahre später folgte ein zweiter Besuch Maos in Moskau und im Jahr darauf die zweite Reise Chruschtschows nach Peking. Doch die Atmosphäre veränderte sich ständig. Ansichten und Kulturen erwiesen sich als unüberwindbar fremd, was nicht wunder nimmt angesichts der menschlichen Differenzen zwischen dem fraglos begabten und intelligenten, aber spät erst aus dem Analphabetentum herausgewachsenen, intellektuell auf Lehren Lenins beschränkten Chruschtschow und dem mit einer alten Kultur und chinesischer Philosophie vertrauten, aber eigensinnigen Mao. Beide begegneten sich als mächtige Männer der Welt, doch – nach allem, was überliefert ist, – ohne wirklichkeitsnahe Zukunftsvisionen, die über Zustände und Schlagworte hinausweisende

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Politik zu entwickeln vermochten. Die globale Ausweitung amerikanischer Stützpunkte und Pakte irritierte Mao stärker als den Sowjetführer.94 Für Chruschtschow bedeuteten Atombomben die letztlich militärisch entscheidende Macht. Mao hielt sie für „Papiertiger“.95 Er dachte geostrategisch in längeren Zeitläufen und weiten Räumen. Macht in den Beziehungen der Staaten zueinander setzt immer Verfügbarkeit über Einheiten voraus, die sich als Faktoren einsetzen lassen. Große Macht verlangt nach großen Einheiten, die sich behaupten und gegen ausgemachte Gegner einsetzen lassen. Das ist auch ein Problem herrschender und einheitsstiftender Ideologie. Verträge, Pakte, Staatenordnungen – mit beachtlicher Ausnahme der Vereinten Nationen –, haben sich nach einiger Zeit meist nur von begrenzter Reichweite erwiesen oder sind beiseite gelassen oder aufgegeben worden – oder sie wurden fortgebildet und auf diesem Wege gefestigt. Der Anspruch auf die globale Reichweite von Regelungen läßt sich aber auf Dauer doch wohl nur vor dem Hintergrund einer durchsetzungsfähigen, überlegenen Großmacht verwirklichen. Vergleichbare Großmächte erzeugen aber Spannungen. Dies illustriert auch die Entwicklung sowjetisch-chinesischer Beziehungen zur Zeit Chruschtschows und Maos. Beeindruckt von dem Aufstieg des ersten russischen Erdsatelliten, Sputnik, in den Weltraum im Oktober 1957 wie von dem wachsenden Ansehen der Sowjetunion im Irak, in Ägypten und Syrien, hielt es China für angebracht, Maos These „Der Ostwind siegt über den Westwind“ zu veranschaulichen.96 Im August 1958 begann chinesische Küstenartillerie erneut eine diesmal tagelang anhaltende Beschießung der kleinen Archipele Quemoy und Matsu – nach vorheriger Unterrichtung Moskaus mit dem Verlangen nach waffentechnischer Unterstützung, die auch gewährt wurde. Doch eine entschlossene Absicht, dies militärisch zu nutzen, hegte Mao nicht. Die Demonstration diente offenbar lediglich der Darstellung rotchinesischer Entscheidungsfreiheit über das immer als innerchinesische Angelegenheit betrachtete Taiwan, das als Pfahl im eigenen Fleische

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empfunden wurde. Ein verwirrender und im einzelnen nicht leicht zu deutender Notenwechsel der Großmächte, China, USA und die Sowjetunion, führte schließlich Ende Oktober zu der öffentlich verkündeten Entscheidung auf chinesischer Seite, an geraden Tagen des Monats Schiffe und Flugzeuge unbehindert zwischen Taiwan und den Küsteninseln passieren zu lassen und an allen ungeraden Tagen des Kalenders das Bombardement wiederaufzunehmen. Die Beschießung wurde bald zu einem kurzen, fast rituell vollzogenen Akt, der die geforderte Einheit des kleinen mit dem großen China auf eine merkwürdige Weise tagtäglich vor Augen führte und von den Medien der Welt in beiläufiges Zeitkolorit verwandelt wurde. John Foster Dulles verhandelte erbittert mit Chiang Kai-shek, um jede Kriegsgefahr auszuschließen. Der status quo der weltpolitischen Teilungen – Deutschland, Korea, Festlandchina und Taiwan – erschien unbedingt erhaltenswert. Aber Mao triumphierte – seinem Leibarzt gegenüber: „Die Inseln [Quemoy und Matsu] sind wie zwei Taktstöcke, die Chruschtschow und Eisenhower zum Tanzen bringen. Sehen Sie nicht, welche Bedeutung diese Inseln besitzen?“97 Begreiflicherweise „waren viele im Kreml unglücklich über eine chinesische Führung, die ihre eigene Schule der Risikopolitik entwickelte, welche die Sowjetunion in einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten zu ziehen drohte“.98 Inzwischen war der erste chinesische Atomreaktor mit sowjetischer Hilfe gebaut worden. Mao demonstrierte seine Stärke, während Eisenhower Großbritannien und die Sowjetunion zu Verhandlungen aufforderte, die Atomwaffentests ausschlossen.99 Aber es gab noch weitere Probleme, die Spannungen erzeugten, die nicht einmütig abgetan oder gelöst werden konnten: Titos Jugoslawien, Chinas Vorgehen in Tibet und die daraufhin entstandene Spannung und Konfrontation mit Indien unter Nehru, dem ersten Mann der „Blockfreien“. Indien gewährte dem Dalai Lama Asyl. Die Entschlüsse Chinas unter Mao erschienen in europäischer Rationalität kaum noch faßbar. In den Jahren 1960 und 1961, als sich Chruschtschow von dem Kult

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um Mao vollends abwandte, endete die Zusammenarbeit zwischen China und der Sowjetunion. Der Ostblock war kein Monolith. Die tiefen Risse im Ostblock schienen allerdings weltpolitisch überdeckt. In der UNO Vollversammlung im September 1960 brachte Chruschtschow eine Deklaration für die Unabhängigkeit aller kolonialer Staaten und Völker, für alle nicht unabhängigen Gebiete ein. Außer von Vertretern der Ostblockstaaten erhielt er keine Zustimmung für diese propagandistische Forderung. Aber das Traktandum war auf die Tagesordnung gelangt100 und bot den afroasiatischen Vertretern willkommene Gelegenheit zur Ausarbeitung einer eigenen Deklaration, die im Dezember 1960 als Resolution angenommen wurde, als „Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples“. Chruschtschow bestaunte die neuen Revolutionäre und bewunderte ihre Rhetorik. Es mag sein, daß ihn „romantische Begeisterung“ für eine neu empfundene Aufbruchsstimmung, für Fidel Castro, Che Guevara und für Kuba erfüllte. „Das sowjetische revolutionär-imperiale Paradigma erlebte 1960 ein spektakuläres Comeback, – vielleicht das bemerkenswerteste in der Geschichte des sowjetischen Kalten Kriegs, … das sichtbarste seit der thermonuklearen Revolution“.101 Aber Chruschtschow setzte auch einige Hoffnungen auf den jungen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy, den er im amerikanischen Wahlkampf auf seine Weise zu unterstützen versuchte. Die propagierte Idee einer „friedlichen Koexistenz“ Rußlands und Amerikas entschwand jedoch, als Chruschtschow der Schwierigkeiten gewahr wurde, in die ein revolutionärer Machtwechsel auf Kuba die Politik der Vereinigten Staaten versetzte. Seitdem der neue Diktator Fidel Castro daran ging, amerikanisches Eigentum zu verstaatlichen, benutzte Chruschtschow jede Gelegenheit, um seine Unterstützung zu bekunden. Während seines Aufenthaltes in New York umarmte er Castro im Stadtteil Harlem vor aller Öffentlichkeit.102 Im November durfte Che Guevara während der Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution neben Chruschtschow Platz nehmen. Der im Kongo ermor-

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dete Lumumba wurde zum revolutionären Märtyrer erhoben. Chruschtschow war begeistert, von einer neuen Idee der Weltrevolution erfüllt und fühlte sich aus Verlegenheiten befreit und zu neuen Ansichten gelangt.

Die Vereinigten Staaten von Eisenhower bis Kennedy. Kuba Unter düsteren Schatten endete die Amtszeit Eisenhowers. Nach dem Suezkonflikt versuchte die Doktrin des amerikanischen Präsidenten, der der Kongreß im März 1957 zustimmte, die Lage außerhalb Europas zu verändern und durch ein allgemeines Unterstützungsangebot an jede „Nation oder Gruppe von Nationen“, die Hilfe wünschten, unter Kontrolle zu bringen. Das Vorbild der amerikanischen Aufbauhilfe nach dem zweiten Weltkrieg behauptete sich indes unter Außenminister John Foster Dulles nur in eingeschränkter Form. Der Erfolg der diplomatischen Bemühungen blieb nach dem Sturz der Dynastien im Irak und danach im Iran103 begrenzt. Gegen Ende des Jahrzehnts befanden sich in ganz Nordafrika die Bewegungen zur ethnischen Verselbständigung auf dem Vormarsch und war auch der von den Vereinigten Staaten inspirierte Bagdad-Pakt hinfällig geworden. 1960 wurde das neue Regime im BelgischKongo durch die Separation des Bergbaulandes Katanga und die Ermordung des Nationalistenführers Patrice Lumumba zum neuen Unruheherd. Selbst den Anstrengungen, die politischen Entwicklungen innerhalb Amerikas unter Kontrolle zu behalten, blieb das durchschlagende Ergebnis versagt. In der karibischen See begann eine bis an den Rand des Kriegszustands führende Konfrontation, als sich Kuba unter einer revolutionären Diktatur an die Sowjetunion anschloß. Am Ende der Ära Eisenhower war der wichtigste Grundsatz der Truman-Doktrin von 1947, die die Politik des Containments eingeleitet hatte, keine Veränderung des Status quo durch Zwangsmaßnahmen oder durch politische Penetration zuzulassen, als ein Prinzip der amerikanischen Außenpolitik in wesent-

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lichen Hinsichten außer Kraft geraten. Mit dem Amtsantritt John F. Kennedys begann eine neue Richtweisung der amerikanischen Außenpolitik, deren Ziel der junge Präsident schon zweieinhalb Jahre vorher in einer Senatsrede am 14. August 1958 erklärt hatte: Die militärischen und politischen Verpflichtungen der Vereinigten Staaten erstreckten sich über die ganze Welt. Doch es erscheine nicht sicher, inwieweit die militärische Lage noch in vollem Maße übersehbar und kontrollierbar bleibe, um eine Erfüllung aller eingegangenen Verpflichtungen zu erlauben. Daher sollte eine neue politische Strategie das auf militärischer Macht und Bündnissicherung basierende System der Containment policy ablösen.104 Auch in Europa entstanden neue Beunruhigungen und Unsicherheiten. Der Euratom-Vertrag wie der EWG -Vertrag traten mit Jahresbeginn 1958 in Kraft. Damit gelangte die auf wirtschaftliche wie politische Synthese zielende Europa-Politik vorläufig an einen Endpunkt, dem insofern besondere Bedeutung zukam, als diese Verträge nicht mehr, wie bei völkerrechtlichen Verträgen in der Regel üblich, eine Befristung vorsahen, sondern auf Dauer, unbegrenzt gelten sollten. England versuchte, einen eigenen Weg auch innerhalb Europas beizubehalten. Der konservative Premierminister Harold Macmillan beharrte auf einem Kurs, der Großbritannien eine Frankreich wie dem Kontinent gegenüber bedeutsamere, entscheidende Position in den Beziehungen zu den Weltmächten USA und Sowjetunion sichern sollte. Er empfahl sich als stetiger Bündnispartner der Vereinigten Staaten und versuchte, die eigene Stellung zu sichern und zu stärken durch eine ausgleichende, Gegensätze abbauende Politik der Sowjetunion und Chruschtschow gegenüber.105 Es mag offene Frage bleiben, inwieweit er Kennedy und inwieweit Chruschtschow in ihren Neigungen zu Aktionen und Reaktionen bestätigte oder bekräftigte. Verleger, Erbe eines alten bedeutenden Verlages, hatte sich Macmillan in schwierigen Zeiten des Empire Erprobungen in der Politik ausgesetzt gesehen, zunächst in jungen Jahren in diplomatischer Karriere während und unmittelbar nach dem ersten

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Weltkrieg, dann als Abgeordneter im Unterhaus, der in den dreißiger Jahren innerhalb der konservativen Partei als Opponent der Regierung Chamberlain, vor allem der Außenpolitik unter Eden und Lord Halifax hervortrat. Während des zweiten Weltkriegs gehörte er der Regierung Churchill an und hatte er als Vertreter des Kriegskabinetts im alliierten Hauptquartier in Nordafrika ein für die Zusammenarbeit mit Amerikanern und Franzosen bedeutsames Amt inne. Nach dem Kriege gelangte er über mehrere Ministerämter 1957 an die Spitze der Regierung, wo er zunächst das für England bittere Fazit der Suez-Krise und die schwierige Position auf der arabischen Halbinsel zu meistern hatte. Hinzu kam die Zypern-Krise, die durch gewaltsame Trennung der griechischen von der türkischen Bevölkerung und die faktische Teilung der Insel heraufbeschworen wurde, dann aber britische Stützpunkte und Übungsplätze auf der Insel beließ. Im Foreign Office hatte die Auffassung Boden gewonnen, daß die Zukunft Englands in engerer Verbindung mit dem europäischen Kontinent oder in enger Beziehung zu den Vereinigten Staaten liege.106 Der Wahlsieg der konservativen Partei 1959 stärkte Macmillan, der nun die Stellung Großbritanniens zu festigen suchte. Dies geschah einmal durch die Gründung der oben schon erwähnten westeuropäischen Freihandelszone außerhalb der EWG , der European Free Trade Association (EFTA ),107 die einen engen Zusammenschluß innerhalb der OECD begründete, der Nachfolgeorganisation der OEEC , jedoch mit lediglich beratender Koordinationsaufgabe. Dann versuchte Macmillan, auf allen Seiten eine Entspannung herbeizuführen. Zu dem jungen Präsidenten Kennedy fand der Premier eine günstige Beziehung, die Verhandlungen ermöglichte, die schließlich die atomare Rüstung der westlichen Staaten auf einer neuen Stufe vertraglich regelten. Die neben anderem überaus kostspielige Entwicklung der atomaren Waffentechnik führte seit der NATO -Tagung in Athen im Mai 1962 in verwirrende, technisch, politisch-strategisch wie finanzpolitisch bedachte Diskussionen, die dann gegen Ende des Jahres in Macmillans und Kennedys Bahama-Konferenz zu Nassau mit der Bildung einer multilateralen Atomstreitmacht inner-

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halb der NATO – unter amerikanischer wie englischer Führung – zu einem gewissen Einklang fanden.108 Das diente wenige Jahre später de Gaulle als Begründung zum Austritt Frankreichs aus der militärischen Organisation der NATO . Auch mit der Sowjetunion versuchte Macmillan entspannende Verhandlungen anzuknüpfen. Die Berlin-Frage diente als Anlaß. Chruschtschows Rede im Moskauer Sportpalast und sein nachfolgendes Ultimatum vom 27. November 1958, das den Viermächte-Status Berlins aufkündigte und den Abzug der Truppen der Westmächte aus West-Berlin forderte und die hierdurch ausgelöste Krise109 belasteten auch das bis dahin offenbar ausgeglichene Verhältnis Adenauers zu dem schon vom Tode gezeichneten amerikanischen Außenminister John Foster Dulles.110 Dulles hat vor Ende seiner Amtszeit noch den Druck des Chruschtschow-Ultimatums hinweggeschoben. Die Außenminister der drei Westmächte sowie der Bundesrepublik und wenige Tage danach der Nordatlantikrat erklärten auf einem Treffen noch im Dezember 1958 ihre fortdauernde Verpflichtung für West-Berlin.111 Die auftauchende Frage, welche Konsequenzen sich aus einer harten sowjetischen Entgegnung und aus Aktionen in Berlin ergeben könnten, beschäftigte Dulles anders als Adenauer in diesen schwierigen Wochen.112 Weder deutsche noch die westlichen Staatsmänner wollten wegen Berlin Krieg riskieren. Aber auch die Sowjetunion wollte dies nicht. In einer Note an alle einstigen Kriegsgegner Deutschlands sowie an die DDR und die Bundesrepublik schlug Chruschtschow am 10. Januar 1959 eine Viermächtekonferenz über einen Friedensvertrag mit Deutschland vor, der die Anerkennung der OderNeiße-Grenze sowie eines Status Berlins als „Freier Stadt“ bis zu einer Wiedervereinigung Deutschlands vorsah.113 Bei einem Blitzbesuch in Moskau Ende Februar 1959 sagte Macmillan die Anerkennung der DDR durch Großbritannien zu. Diese neue Berlin-Krise, schon das Ausmaß der ein Jahr vorher einsetzenden Bewegung gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland bezeichnen in Europa eine erste Zäsur. Der Phase stetiger politischer Konsolidierung folgte nun eine

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Phase abnehmender Stabilität, in der überraschende Entwicklungen zutage traten. Der außenpolitische Druck auf die Bundesrepublik ist lange nicht wieder gewichen und hat sich wiederholt verstärkt. Chruschtschows Berlin-Initiative und die dann erkennbare Zurückhaltung der amerikanischen Politik, die bis zur strikten, militärisch überwachten Abtrennung Ostberlins und zum Bau der Berliner Mauer im August 1961 unverändert blieb, bewirkte eine engere Verbindung zwischen dem Frankreich de Gaulles und der Bundesrepublik unter der Politik Adenauers, das in der persönlichen Begegnung beider im lothringischen Colombey-les-deux-Églises einen Höhepunkt erreichte.114 Es hatte sogar den Anschein, als könne sich eine neue Art von Beziehungen zwischen West- und Osteuropa und der Sowjetunion ausbilden. Hintergründige französisch-polnische Verbindungen haben häufig bestanden. Der französische Präsident hing seit Jahren der Vorstellung eines Europas vom Atlantik bis zum Ural an115 – unter unbestrittener französischer Führung. Für ein seines Kolonialreiches ledigen Frankreich schien eine enge Verbindung mit Deutschland – nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, mithin der Respektierung Polens in seinem status quo – als Kern eines föderierten Europas „von den Pyrenäen bis zur Wolga“, gleichsam als Keimzelle eines neuen Europa-Gedankens vorstellbar, ja greifbar. Um dem französischen Sicherheitsverlangen nachzukommen, aber auch den Vorbehalten gegen eine amerikanische Führung, strebte der General und Präsident dann eine gleichsam überwölbende, absichernde Verbindung innerhalb der NATO in einem Dreierdirektorium Paris – London – Washington an.116 Als dies mißlang, schied Frankreich aus den militärischen Verpflichtungen des Nordatlantikbündnisses aus. Chruschtschow hatte unterdessen die wachsende Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit an der russischen Raumfahrt nutzen können. Die erste geglückte Erdumrundung eines künstlichen Satelliten der Sowjetunion – „Sputnik“ – gelang im Oktober 1957, im April 1961 der erste Menschenflug des sowje-

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tischen Majors Gagarin, was das größte Aufsehen erregte. Doch die Amerikaner folgten dichtauf.117 Nehru bemerkte dies mit den Worten: „Die Politik wird heute noch nach Steinzeit-Bedingungen geführt; der erste künstliche Mond umkreist eine Erde, die noch im Zustand der Militärbündnisse, des Wettrüstens und der Kriegsdrohung ist“.118 Ein neues Zeitalter schien anzubrechen. Mit zeitnahem sarkastischen Unterton urteilte ein Beobachter in Deutschland über die amerikanische Außenpolitik des John Foster Dulles unter der Präsidentschaft Eisenhowers: „Unter dem Schirm der ‚massiven Vergeltung‘ zeugten Stützpunkte neue Stützpunkte …, … Die letzten Jahre … wurden so in dem zwangsläufig fruchtlosen Bemühen vergeudet, die ‚MaginotLinie‘ gegen Angriffe stalinistischen Stils zu verlängern – auch als Chruschtschow schon begonnen hatte, sie durch seinen neuen politischen Bewegungskrieg zu überspringen“.119 Eine von der CIA unter Allen Dulles noch zur Amtszeit Eisenhowers vorbereitete Invasion konterrevolutionärer Freiwilliger (Contras) in der fortan weltbekannten Schweinebucht Kubas mißlang,120 da Chruschtschow hiervon erfahren und dies Castro rechtzeitig mitgeteilt hatte. Dies führte in rasch sich ausbreitendem weltweiten Echo zum Prestigeverlust der Vereinigten Staaten, kurz nachdem durch richterliche Entscheidung ein neuer, junger und politisch unerfahrener Präsident ins Amt gelangt war, John Fitzgerald Kennedy. Er war vor und im Wahlkampf mit weltpolitischen Ambitionen hervorgetreten und mußte nun gleich darauf um sein Ansehen in der Außenpolitik ringen. Dies versuchte Chruschtschow zu nutzen. Kurz vor der Berlin-Krise nach dem Mauerbau im August 1961 veranlaßte er die Verabschiedung einer neuen Direktive des Zentralkomitees, deren Grundgedanken aus einem Memorandum des KGB -Chefs Schelepin herrührten. Sie liefen darauf hinaus, „in verschiedenen Weltregionen eine Situation zu schaffen, welche die Aufmerksamkeit und Kräfte der Vereinigten Staaten und ihrer Satelliten ablenken“ und während der Berlin-Aktionen binden würde.121 Dazu gehörten subversive

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Aktivitäten unter Anwendung von Mitteln des KGB in Nicaragua in Koordination mit Castros Kuba, eine Erhebung in El Salvador, eine Rebellion in Guatemala, alsdann in Afrika in den letzten Kolonien Englands und Portugals, mit Massenaufständen in Kenia, Rhodesien, Guinea usf. Die Zuspitzung der Kuba-Krise gleicht einem bis zur äußersten Anwendung technischer Instrumente gesteigerten Manöver. Hochentwickelte Abhörvorrichtungen und geheime Kontrollen trafen in einem kriegsnahen Szenarium äußerster Anwendungen aufeinander. Die Entdeckung kubanischer Angriffsübungen für Küsten der Vereinigten Staaten, dann der eifrig fertiggestellten Startbahnen für sowjetische Mittelstreckenraketen alarmierte Washington. Dies zog eine Vollmacht für das Strategic Air Command nach sich, Kuba zu überwachen.122 Zu diesem Zweck waren ständig Flugzeuge über der Küste in der Luft. Schwer beladene russische Schiffe befanden sich in der Anfahrt nach Kuba. Die Beobachtungen ließen auf Angriffsabsichten gegenüber den Vereinigten Staaten schließen, die sich seit ihrer Unabhängigkeit von außen noch nie einer vergleichbaren Bedrohung ausgesetzt sahen. Ein hochfliegendes U 2 – Beobachtungsflugzeug wurde über Kuba abgeschossen, was die Krise zum äußersten zuspitzte. Später wurde festgestellt, daß 161 Atomsprengköpfe und 90 taktische Sprengköpfe auf Kuba stationiert worden waren.123 Nur die frühe Entdeckung konnte ein großes Unheil verhindern. Nach entscheidenden Gesprächen zwischen Justizminister Robert Kennedy, dem Bruder des Präsidenten, und dem sowjetischen Botschafter kam es zu einem von Chruschtschow öffentlich erklärten Rückzug Rußlands aus Kuba, aber auch zu einer amerikanischen Gegenleistung, dem Rückzug aller Luftwaffenverbände aus der Türkei. Die neue unmittelbare Verbindung für den „Ernstfall“ über einen „heißen Draht“ vom Weißen Haus zum Kreml wurde am 30. August 1963 in Betrieb genommen.124 Castro zeigte sich enttäuscht. Kubanisch-russische Spannungen konnten nicht ausbleiben.125 Die weitere Entwicklung wurde durch die Ermordung Präsident

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Kennedys abgebrochen, deren Hintergründe bislang nicht aufgeklärt sind.126 Kennedys Politik war weit mehr als ein kurzes aufregendes Zwischenspiel. Sie erscheint im Rückblick wie die Reflexion einer sich schon weltweit auswirkenden Verschiebung im Staatengefüge, die unter der Oberfläche des Containments begonnen hatte. Das als Großmacht wieder aufgestiegene China hatte seinen Einfluß auf die Randzonen Ostasiens auszudehnen und auch in den afroasiatischen Staaten Fuß zu fassen versucht, die dem Vorgang der Dekolonisation der Überseeimperien Großbritanniens, der Niederlande, Frankreichs und zuletzt Belgiens ihre Verselbständigung verdankten, aber fortan unter eigenen inneren Gegensätzen und Bürgerkriegen litten. Die häufig so genannten „Entwicklungsländer“ befanden sich überwiegend nicht in einem Zustand, in dem günstige wirtschaftliche und politische Entwicklungen einsetzen konnten. Der rasche Rückzug der alten Mächte gab den Raum frei für neue Formationen, in den auch andere auswärtige Mächte einzudringen vermochten. Frankreich hatte Indochina nach heftigem militärischem Widerstand gänzlich aufgegeben, während die Vereinigten Staaten die Rolle eines militärischen und politischen Protektors des Teilstaates Südvietnam übernahmen, der – nach Deutschland und nach Korea – aus der dritten Staats- und Volksteilung der Nachkriegsära hervorgegangen war, aber fortgesetzt zum Schauplatz weiterer heftiger innerer Rivalitäten und Gegensätze wurde. Das anhaltende, sich fortgesetzt verstärkende militärische Engagement in diesem Gebiet ist dann im Verlauf eines mit allen Mitteln geführten Krieges, die Lehren für die Zukunft erteilen können127, für eineinhalb Jahrzehnte zu dem riskantesten, opferreichen und für ihre internationale Stellung folgenreichsten politischen Unternehmen der Vereinigten Staaten geworden, das in weitere Verstrickungen hineinführte.

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VI Auflösung der weltpolitischen Blöcke Nach Kennedy. Vietnam Während innerpolitisch schwierige Entscheidungen anstanden, als Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson mit dem Civil Rights Act 1964 der Rassentrennung im Süden der Staaten ein Ende setzte, erlitt die außenpolitische Strategie Kennedys postum – nach der Ermordung ihres Initiators – unter Johnson und Nixon eine in größtem Ausmaß sichtbare Niederlage. Doch „im Gedächtnis der Öffentlichkeit genoß John Kennedy ein weit größeres Ansehen, als seine Leistungen als Präsident rechtfertigten. Und es wurde immer größer …“.1 Vietnam war nach der Genfer Indochina-Konferenz nicht zur Ruhe gekommen. Die Teilung des Landes provozierte aufständische Kräfte, die Ho Chi Minh als Befreier verehrten, gegen den Präsidenten Ngo Dinh Diem. Eine neue Guerrilla entbrannte. In Washington nahm man hiervon zunächst kaum ernsthaft Notiz. Die Eisenhower-Administration „entschied sich fürs Schwimmen“.2 Doch Kennedy brauchte nach dem Schweinebucht-Desaster Erfolge. Die noch mit einiger Vorsicht begonnene Strategie der „Counterinsurgency“ steigerte sich allmählich – bis zu einem Putsch gegen Diem, ließ aber keinen Raum für Vermittlung. Eine nordvietnamesische Angriffsoperation gegen amerikanische Zerstörer im Golf von Tongking Anfang August 1964 führte dann zur Tongking-Golf-Resolution des Kongresses – „the functional equivalent of a declaration of war“ – und zu stetiger Verschärfung des Krieges zwischen Südund Nordvietnam mit offener, rasch zunehmender Beteiligung nordamerikanischer Streitkräfte.3 Die lange Dauer der Vietnam-Kriege – bis zum Ende über ein Vierteljahrhundert –, die

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Opfer, die sie forderten, und vor allem die Permanenz eines sich ständig vergrößernden militärischen Engagements der Vereinigten Staaten, die schließlich mehr als eine halbe Million Mann, starke Luftwaffenverbände und Marineeinheiten, zudem neue Kampfmittel einsetzten und noch weitere Verstärkungen vorsahen, dies ergäbe eine Abhandlung für sich, die hier nicht zu schreiben ist.4 Es war in der Tat ein „Irrweg“. Das Übergewicht militärischer Urteile und Prognosen, unter Verkennung der politischen Entwicklung und neuer Formen der Kriegführung vertieften die erste Zäsur in der Nachkriegsperiode der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die amerikanischen Bemühungen um militärische Unterstützung durch Bundesgenossen stießen in der NATO auf Widerstand Großbritanniens und Frankreichs. Sie wurden innerhalb der SEATO nur von Südkorea akzeptiert.5 Die Ankündigung Präsident Johnsons, daß eine Mobilmachung erforderlich sei, führte zu rasch sich ausbreitenden Antikriegsstimmungen vor allem in der Jugend und unter Intellektuellen. Johnson intervenierte zudem 1965 militärisch gegen eine Rebellion in der Dominikanischen Republik. Er war mit einem innerpolitischen Reformprogramm angetreten und konnte der sich ausbreitenden Gegensätze zwischen der Massenbewegung des Civil Rights Movements und ihren Gegnern nach der Ermordung des Initiators Martin Luther King im April 1968 nicht mehr Herr werden. Er verzichtete auf eine erneute Kandidatur. Geheimdienstberichte hatten wiederholt Widerstands- und Kampfkraft der Gegner hervorgehoben. Doch Politiker, Militärs, Außen- und Kriegsminister behielten das letzte Wort und beharrten auf waghalsigen oder fehlgehenden Urteilen. Das Geschehen des Krieges in Vietnam und seine Folgen breiteten sich nach vielen Seiten aus, die von den in Washington Entscheidenden – nun Johnson, Nixon, McNamara, Kissinger – erst mit Verzögerung erkannt oder gar falsch eingeschätzt wurden. China und die Sowjetunion verfolgten verschiedene Zwecke, die in dem verwirrenden Kräftespiel Südostasiens sich meist erst nachträglich deuten ließen.6 Die Hilfe Chinas für Nord-

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vietnam fiel sowohl im Krieg gegen die Franzosen als auch in dem viel längeren gegen die Amerikaner entscheidend ins Gewicht. Mao Zedong sah ihn als Befreiungskrieg gegen eine imperiale Weltordnung, versuchte aber stets, sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Sowjetunion auf Distanz zu halten und gegeneinander auszuspielen. Die Teilung Vietnams in der Genfer Konferenz 1954 fand die Unterstützung Chinas wie der Sowjetunion, die den Vietminh zur Annahme brachten. Doch China zog sich bald von dieser Lösung zurück und lieh dem nordvietnamesischen Angriff starke und wirksame Unterstützung schon während der Kennedy-Ära, 1965–68 dann auch starke militärische Hilfe durch den Einsatz von bis etwa 320 000 Mann eigener Truppen. Dieser Kriegseinsatz wäre noch verstärkt worden, wenn die Vereinigten Staaten eine Invasion in Nordvietnam vorgenommen hätten. Die amerikanische Kriegführung setzte indessen vor allem auf den Einsatz starker Bomberkräfte und deren vernichtende Wirkungen. Insgesamt wurden acht Millionen tons Bomben in allen Kriegstheatern abgeworfen, doppelt soviel wie die Alliierten während des zweiten Weltkrieges niedergehen ließen.7 Doch die Ergebnisse entsprachen keiner der gehegten Erwartungen. Auch die großen Offensiven der südvietnamesischen Bodentruppen – mit amerikanischer Unterstützung – gegen die Nordvietnamesen brachten keine Entscheidung. Seit Beginn von Verhandlungen Nordvietnams mit den Vereinigten Staaten 1968 ging die Einflußnahme Chinas zurück, wuchs nun aber der Einfluß der russischen Politik. Die Verhandlungen waren noch im Gange, als Ho Chi Minh starb und China in dem von Amerikanern aus Absicherungsgründen besetzten Kambodscha Pol Pot und die revolutionären „Roten Khmer“ unterstütze. Im Februar 1971 rückten die Amerikaner dann mit starker Luftunterstützung in Laos ein, um die Versorgungslinie der im Süden kämpfenden vietnamesischen Streitkräfte, den Ho-Chi-Minh-Pfad, zu zerstören. Man nannte dies programmatisch „Vietnamization“ – Vietnamisierung –, was Stärkung und Rüstung der Landesstreitkräfte und Vorbereitung des amerikanischen Abzugs bedeuten,

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doch jeglichen Angriff auf Südvietnam unterbinden sollte. Dies führte jedoch zu einem Fehlschlag. Präsident Nixon bemühte sich um Auswege. Zhu En-lai, der vielseitige autoritative Unterhändler, vermittelte in Vietnam wie auch Washington gegenüber.8 Die Beziehungen zur Sowjetunion blieben gespannt. Präsident Richard Nixon, der seine Wahl mit der Ankündigung eines Friedens in Vietnam gewann, bemühte sich mit Hilfe seines Beraters und späteren Außenministers Henry Kissinger nach dem Ausscheiden Chruschtschows aus der Führung der Sowjetunion um eine Ausgestaltung der Dreiecksbeziehungen zwischen den Großmächten, zwischen Washington, Moskau und Peking auf der Grundlage eines internationalen Status quo. Mit der über Rumäniens Diktator Ceaus¸escu angebahnten Entsendung Kissingers nach Peking 1971, dann Nixons China-Reise im Februar 1972 und der Ankündigung, daß die Vereinigten Staaten ihren Widerstand gegen die Aufnahme der „Volksrepublik“ als legitime Vertretung Chinas in die UNO aufgäben, begann der Versuch einer Öffnung. Zur Beendigung des VietnamKrieges führte aber erst der militärische Sieg des Vietminh und die Eroberung Saigons Ende August 1975.9 In Amerika trafen mehrere Momente mit einander verstärkenden Wirkungen zusammen. Innere Gegensätze waren nach dem zweiten Weltkrieg in rassischer Einfärbung, zwischen Weißen und Schwarzen im Süden und Weißen und Gelben im Westen der USA erneut hervorgetreten. Dies hatte zur Gründung und Entfaltung einer Bewegung zugunsten gleicher Bürgerrechte geführt. Nachdem Bürgerrechtssprechern wie politischen Aktivisten das Betreten des zum Zentrum heftiger Diskussionen gewordenen Campus der Universität Berkeley in Kalifornien untersagt wurde, kam es nach Übertretung des Verbots zur Suspendierung von Studenten. Darauf folgte im Oktober 1960 in Berkeley die Gründung des „Free Speech Movement“. Demonstrationen häuften sich, sogenannte Sit-ins schlossen sich an, die die Verfügung über Räume und Gebäude der Universität durch Studenten unter politischen Parolen durchsetzten. Anfang Dezember nahm die Polizei mehrere

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hundert Teilnehmer in Haft, was als „die größte Massenverhaftung in der Geschichte Kaliforniens“ galt.10 In England hatten schon seit 1958 regelmäßige Osterdemonstrationen gegen die Drohung eines Atomkrieges – unter führender Beteiligung des Philosophen und Nobelpreisträgers Lord Bertrand Russel – Aufsehen erregt. Auch dies förderte in den Vereinigten Staaten die in Gang kommende Bewegung von Gegnern des VietnamKrieges, der die National Security Agency, „der weder Gesetze noch Vorschriften Zügel anlegten“11, durch geheimdienstliche Überwachung einzelner Persönlichkeiten zu begegnen versuchte. Im April 1968 wurde der häufig Demonstrationen anführende Bürgerrechtler und Nobelpreisträger Martin Luther King jr. ermordet, im Juni Robert Kennedy, der sich um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten bewarb. Auf dem Parteitag der Demokraten in Chicago kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Im Herbst 1969 gab es Massendemonstrationen von Kriegsgegnern, an denen in Washington und San Francisco Hunderttausende teilnahmen.12 Konflikte eskalierten. Im Mai 1970 wurde im Staat Ohio die Nationalgarde auf dem Campus der Kent State University eingesetzt, einer jüngeren Gründung des 20. Jahrhunderts. Schüsse fielen. Sie gaben das Signal zu weiteren Demonstrationen, die in mehreren Staaten der USA zur zeitweiligen Schließung von Universitäten führten.13 Aber Studentenunruhen breiteten sich auch in anderen Ländern aus. „Fraglos hat Ansteckung eine Rolle gespielt“.14 Ausführliche Berichte aus Berkeley lösten in westdeutschen Ministerien und Berliner Amtsstuben Erstaunen und Verlegenheiten aus.15 Die amerikanischen „Anti-Vietnam-Demonstrationen“ teilten sich 1967 aus mancherlei Anlässen auch deutschen Universitäten mit – in Berlin schließlich einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien –, wo nun gegen Amerika und für „Antifaschismus“16 demonstriert wurde. Doch in derselben Phase der sechziger Jahre gerieten auch die Führer anderer Weltmächte in innere Konflikte und setzten Wandlungen der politischen Systeme ein.17 In China hatte sich die Revolution in allen realisierbar erscheinenden Varianten ver-

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ausgabt. Seit 1964 beschwor der Maoismus heftige Konflikte herauf. Man sprach von einer „Kulturrevolution“, die über Jahre kein Ende fand und eine zunehmend chaotische Situation heraufbeschwor, solange das Militär lediglich untätig beobachtete. Radikale Änderungen lagen in der Luft. In Rußland währenddessen „scheint die Parteibürokratie einen Grad von oligarchischer Solidarität entwickelt und ein Maß von kollektiver Kontrolle durchgesetzt zu haben“, wie man es zuvor kaum kannte.18 Nach Jahren der parteiinternen Auseinandersetzung begann mit dem 1962 von Chruschtschow verkündeten Programm des Primats wirtschaftlichen Aufbaus, „dramatisiert durch seine radikale Umorganisation der Partei nach Produktionsaufgaben“19, der eklatante Fehlschlag. Viele Parteifunktionäre zeigten sich ökonomischen Aufgaben gar nicht gewachsen. Sie stürzten ihren Parteiführer. Die Ära Breschnew brach an. Spätestens seit der Kuba-Krise 1962 schien es evident, daß eine bipolare politische Welt nicht mehr existierte20, wie es bis dahin scheinen konnte. Nixons Reisen nach Peking und in die Sowjetunion hatten ein trianguläres System zwischen den drei Größtmächten angedeutet. Es ließ sich nicht mehr übersehen, daß sich der Westen in Wirtschaft und Technik weit überlegen entwickelt hatte. Und „das technokratische Ethos autoritärer Verfügungsgewalt einst aus der forcierten Industrialisierung hervorgegangen, verlor spätestens seit den siebziger Jahren seine Dynamik“.21 Das Regime einer auf eigenen Nutzen bedachten Nomenklatura22 geriet in Konflikte mit einigen „Volksdemokratien“, zuerst mit Polen, wo Unruhen der Arbeiter auf Danziger Werften 1970 eine neue Bewegung ankündeten. Wenige Jahre später entstand die syndikalistisch organisierte Massenbewegung der „Solidarität“ (Solidarnos´c´, seit 1978) des Lech Wałes¸a, die Arbeiter, Intellektuelle und katholische Kirche miteinander vereinigte und schließlich zehn Millionen Mitglieder zählte, ehe sie im Dezember 1981 unterdrückt wurde, was den Widerstandsgeist keineswegs zu schwächen vermochte.23 Die Jahre des Übergangs unter einer Militärdiktatur konnten nicht verbergen, daß der Westrand des Ostblocks zu einer Zone der

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Beunruhigungen geworden war, die militärischen Operationen alles andere als günstige Voraussetzungen bot. Um so gewichtiger erschienen Raketen und Atomwaffen. Nach einer Resolution der UN -Vollversammlung und nach der erfolgreichen Kernwaffenexplosion in China nahmen 1964 die USA und die USSR Verhandlungen auf. Es gelang, drohende Gefahren zu begrenzen, zunächst durch Verzicht auf Atomwaffenversuche in der Atmosphäre, dann auch der Stationierung von Atomwaffen im Weltraum, über eine kernwaffenfreie Zone in Lateinamerika und schließlich den Kernwaffensperrvertrag (Nonproliferation of Nuclear Weapons) 1968, der die Weiterverbreitung von Kernwaffen unterband und der Internationalen Atomenergiekomission (International Atomic Energy Agency, IAEO ) die Kontrolle hierüber zuwies. Die USA , Rußland und Großbritannien waren die Erstunterzeichner dieses Vertrages, der 1970 ratifiziert, 1995 unbegrenzt verlängert wurde und dem 1992 Frankreich und China, bis 1995 insgesamt 178 Staaten beitraten. Ein Meeresbodenvertrag 1971 und eine Konvention über das Verbot bakteriologischer und toxischer Waffen (1972) erweiterten dieses System bedingter Absicherungen, das schließlich im Mai 1972 in dem Interimsabkommen der USA mit der USSR über die Begrenzung interkontinentaler Nuklearwaffen, „Strategic Arms Limitation Treaty“ (SALT I), sowie dem vertraglich vereinbarten Verbot von AntiRaketen-Systemen (ABM ) eine Abrundung erfuhr. Die Unterzeichnung nahmen Nixon und Breschnew im Kreml vor, nachdem sich beide zu einer mehrtägigen Begegnung in Jalta getroffen hatten.24 Die Zahl der Interkontinentalraketen und Atomsprengköpfe wurde auf dem erreichten Stand festgehalten, nachdem schon Kennedy eine Versuchsstopvereinbarung zustande gebracht hatte – „nach 356 Atomexplosionen in der Atmosphäre, die von den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion ausgelöst worden waren, nach dreizehn Jahren fast gleichmäßigen Anwachsens der radioaktiven Verseuchung der Luft“.25 Das konnte aber nicht verhindern, daß sich auch einige andere Staaten derartige Waffen zulegten.

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Wirtschaftstheoretische Einsichten, die weite Hintergründe abzumessen versuchten, erschienen indes geeignet, die Überzeugung von voraussehbaren Entwicklungen zu stützen und zu verbreiten. Ein anregender und einflußreicher Mann in der Umgebung des Präsidenten Kennedy war der bedeutende Wirtschaftswissenschaftler am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT ) Walt Whitman Rostow. Er wurde auch Leiter der Planungsabteilung im State Department, den Kennedy und nach ihm Johnson als außenpolitischen Sonderberater heranzogen. Rostow hatte in einflußreichen Schriften über Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung die Theorie verdichtet26, daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft das Ziel auch für alle anderen Volkswirtschaften bezeichne, daß dies mithin in Wirklichkeit den Endpunkt des geschichtlichen Prozesses und die Überwindung der einander störenden Widersprüche darstelle. Hieraus folgte die Aufgabe, stabile politische und soziale Rahmenbedingungen für die Massen zu schaffen, von deren Entscheidung letztlich die Lösung auch der großen politischen Konflikte abhängt. Doch hinter dieser Kulisse globaler Vorgänge verschoben sich in Washington die Gewichte. Schon Kennedy hinterließ ein Feld ungelöster Probleme. Nach dem Ende der Präsidentschaft Johnsons sah es nicht besser aus. Weltpolitische Probleme wuchsen auch hier über den Rahmen des politisch routinemäßig beherrschten Feldes weit hinaus. Die Präsidentschaft Richard Nixons seit 1969 endete mit seinem Rücktritt, um dem drohenden Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, das nach Bekanntwerden seiner Verstrickung in den Watergate-Einbruch unausweichlich schien. Sein Vertrauter Kissinger sprach später rückblickend vom „Zerfall der Nixon-Administration“, vom „Niedergang der Präsidentschaft“ angesichts „nicht enden wollender Enthüllungen, der erbitterten Feindseligkeit der Medien, des offenen Krieges zwischen Exekutive und Legislative“. Daß „der Zerfall der Exekutive der demokratischen Supermacht“ nicht zu einem „Zusammenbruch ihrer internationalen Positionen“ führte, war, wie Kissinger meint, nur einer Mischung aus

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verbleibendem Ansehen und einer Politik äußerster Raffinesse zu danken, die „einem Bluff nahekam“. Gegen Ende des Nahostkrieges im Oktober 1973 entschloß man sich dann sogar, die Streitkräfte „mit ihrem gesamten Atomwaffenarsenal in Alarmbereitschaft zu versetzen“.27 Der wendige und vielfach verwendbare politische Missionar Washingtons, Henry Kissinger, der erste gebürtige Nichtamerikaner in dem bedeutsamen Amt des Außenministers der USA , beurteilt in rüchschauender Betrachtung die Präsidentschaft von Gerald Ford, des Nachfolgers von Nixon, unter dem er den größten Einfluß besaß, als „Auftakt zu dem, was wir heute als neue Weltordnung bezeichnen: Lokale ethnische Konflikte nahmen internationale Dimensionen an und breiteten sich seit dem Ende des Kalten Krieges immer weiter aus. Die Debatte über die Rolle der Menschenrechte in der Außenpolitik wurde damals zum ersten Male geführt und ist seitdem nicht mehr verstummt“.28 Anders gewendet, könnte der Befund wohl lauten, daß sich während seiner letzten Amtszeit als Außenminister neu empfundene Maßstäbe in der Politik zu bilden begannen.

Blick auf Deutschland Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit erreichte in Europa wie in Nordamerika vorher nie gekannte Größenordnungen. Die stete Ausdehnung intensiv wirtschaftender Räume, das Bevölkerungswachstum, Zuwanderungen, technische Modernisierungen und Neuerungen, aber auch vielseitige Förderungen durch die liberalen Regierungen führten zu einem lange anhaltenden Wirtschaftsaufschwung. Lediglich eine Rezession zu Beginn des Korea-Krieges, der dann ein gewaltiger Boom nachfolgte, und seit 1957 nach restriktiven Maßnahmen einiger Staaten gegen konjunkturelle Überhitzungen und dann im Gefolge der Ruhrbergbaukrise, die in Westdeutschland die ersten Massendemonstrationen nach dem Kriege veranlaßte,

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unterbrachen das permanente Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik29, das das der Nachbarn noch erheblich übertraf. Zu einer deutschen Eigenart bildete sich das Amt des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik aus, des Bundespräsidenten. Mit dem Abstandnehmen vom Reichspräsidenten der Weimarer Republik und seiner Verfügungskompetenz zum Notstandsrecht – und der Unvergleichbarkeit mit der Monarchie letzter englischer Ausprägung30 – entstand eine indefinite Konstruktion, bei der viel, letztlich sogar sehr viel von dem persönlichen Amtsverständnis und der Gestaltungskraft, dem Ansehen wie dem Machtgefühl des Präsidenten selbst abhängen kann. Seine auctoritas mag den Mangel an potestas vergessen lassen, wie es Theodor Eschenburg einmal angedeutet hat.31 Man könnte Vergleiche mit Präsidenten der Dritten Republik Frankreichs anstellen. Auch in der Bundesrepublik wurde ein Amt geschaffen, „auf das sich bewußt oder unbewußt sehr hohe, vielleicht ganz überzogene Erwartungen richteten“.32 Der tradierte Stil des Umgangs im englischen House of Commons wie im House of Lords blieb in Deutschland unerfahren. Der Ton innerhalb des Parlaments blieb unvergleichbar.33 Unter zunehmendem Einfluß moderner Medien nahm die öffentliche Diskussion der Politiker rhetorischen Charakter an, häufig zugespitzt auf Schlagworte.34 Die selektive Aufmerksamkeit und das Interesse des großen Publikums wechseln rasch. Die Eindrücke bleiben ephemer. Es gab und gibt immer auffallende, sogar glänzende Ausnahmen innerhalb des Personals von Ausschußvorsitzenden oder Parteisprechern für spezielle Aufgaben. Aber subtile Sachkenntnis ist bei weitem nicht immer gesichert, ebensowenig wie ein angemessen geregelter Umgang mit dem politischen Gegner. Die Rekrutierung des politischen Personals – für den Bundestag, für mittlerweile 16 Landtage oder gleichartige Gremien in Berlin, Hamburg und Bremen, etwa 100 Minister und mehr als doppelt so viele Staatssekretärsämter, viele Berater in zentralen Angelegenheiten, vom auswärtigen Personal und von den zahlreichen Oberbürgermeister- und Bürgermeisterämtern abgese-

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hen, – sowie Formen und Eigenarten der Patronage der Aufsteigenwollenden bilden ein in ihrer Problematik gänzlich unzulänglich reflektiertes System. Hieran sind auch Eigenarten des Parteiwesens35 beteiligt, das in Deutschland seit jeher vom amerikanischen wie vom englischen Abstand hielt. Deutsche Parteien sind nach schier uferloser Zersplitterung in den zwanziger und ersten dreißiger Jahren in Neuansätzen als Weltanschauungsparteien wiedererstanden und scheinbar erstarrt.36 „Als Körperschaften, die Sachverstand für eine qualitative, gute politische Willensbildung liefern sollen, sind sie tot“, urteilten gar schon enttäuschte Politiker.37 Erst allmählich und nach mehrfacher Erörterung der Wahlergebnisse seit Kriegsende begannen sich anfängliche weltanschauliche Bindungen zu lockern. Für die CDU /CSU sorgte die längere Regierungsbeteiligung unter Adenauer mit originellen und erfolgreichen Wirtschaftspolitikern, wie Erhard und – innerhalb des Bundeswirtschaftsministeriums – Müller-Armack, den Programmatikern der „sozialen Marktwirtschaft“, für eine realistische Liberalisierung. Dies begründete auch ein längeres Bündnis mit den Liberalen, der FDP.38 Der SPD gelang mit einiger Verzögerung in der Generationenfolge allmählich – über ein Aktionsprogramm 1952, die Stärkung der Stellung der Bundestagsfraktion, nach empfindlichen Wahlniederlagen – ein neues, das Godesberger Parteiprogramm vom November 1959. Dies leitete die Wandlung der tradierten „Arbeiterpartei“ in eine linke liberale „Volkspartei“ ein.39 In scheinbar steter Distanz zur Politik der jeweiligen Regierung und der hinter ihr stehenden Parteien führten sich die Gewerkschaften insgesamt – ganz gleich, welcher Sparte und welcher Vorgeschichte zugehörig, – als strikt an das Interesse ihrer Mitglieder, der Arbeitnehmer gebunden und im Rahmen ihres permanenten Zwecks auf: der zu tarifvertraglichen Regelungen gelangenden steten Erhöhung der Arbeitnehmerbezüge, der zu gesetzlichen Regelungen gelangenden Optimierung des innerbetrieblichen Mitbestimmungsrechts der Arbeitnehmer und – weniger vor der Öffentlichkeit – für den Ausbau der Mitwir-

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kung in überbetrieblichen Konzernen. Rivalitäten blieben den Medien wie der Öffentlichkeit meist verborgen. Mit einem Wort gesagt: Auch die Gewerkschaften insgesamt wie in den Branchen wurden Gewinner einer dauernden günstigen wirtschaftlichen Entwicklung. Die Ausbreitung bürokratischer Gewohnheiten und Formalismen blieb allerdings in all dem unverkennbar. Man könnte von einer Rezeption bürokratischer Ideen, Begriffe und Praktiken durch Parlamente und Organisationen sprechen. Am deutlichsten ist dies dort, wo dieser Vorgang am frühesten, am längsten und am weitesten fortschreiten konnte: in den Ländern. Bereits frühe statistische Angaben sind aufschlußreich. Im dritten Bundestag (1957–1961) gehörten 18,4 Prozent der Abgeordneten dem öffentlichen Dienst an, im vierten 22,6 Prozent, im fünften Bundestag sogar 27,7 Prozent, mehr als ein Viertel der Abgeordneten. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen war zur gleichen Zeit jeder dritte Abgeordnete Beamter oder Angestellter des öffentlichen Dienstes, im Landtag von Baden-Württemberg fast jeder zweite; er zählte 27 Bürgermeister und Landräte und 31 andere Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Ruhestandsbeamte zu seinen Mitgliedern.40 Im bayerischen Landtag waren es zur gleichen Zeit 105 von 204 Abgeordneten, 52 Prozent also, im hessischen sogar 70 Prozent. 1967 waren 11,25 Prozent aller Erwerbstätigen im öffentlichen Dienst tätig. Diese Entwicklung des frühen deutschen Nachkriegsparlamentarismus konnte man in der Tat schon eine „Unterwanderung der Legislative durch die Exekutive“ nennen.41 Zu alten Ministerien traten neue hinzu, im Bund wie in den Ländern, alsdann weitere Bundesbehörden, Bundesämter und Bundesanstalten. Die Zahl ihrer Bediensteten wuchs ständig und übersteht regelmäßig auch jede in Medien verbreitete, stets ephemer bleibende Kritik. Das schuf zahlreiche Aufstiegsmöglichkeiten auch für Politiker. Politik konnte zum Beruf werden – in einem Ausmaß, das Max Weber, der diesen Ausdruck fand, noch kaum geahnt haben dürfte. Gegensätze und Abhängigkeiten werden durch ein weiteres

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Element des öffentlichen Lebens, vornehmlich dank der Wahlkämpfe vermittelt, mediatisiert, durch die Medien aller Arten und Sparten. So entstand in mancher Hinsicht ein Konkurrenzverhältnis meinungsbildender Organe zu Parteien und Bürokratien. Regierungen, Ministerien, Parteien und auch Interessengruppen sehen sich veranlaßt, direkt oder indirekt an die Öffentlichkeit heranzutreten, Medien zu gewinnen oder in Dienst zu nehmen. Offen bleibt die Frage, ob oder inwiefern unmittelbaren Kontakten der Beteiligten mit den Medien, etwa in Sendungen des Fernsehens, größeres Gewicht beigelegt wird als den Vorgängen innerhalb der Parlamente, die wiederum in den Gesichtskreis der Medienwirkung geraten, während dann Parlamentsbeschlüsse weithin nur noch als Sanktionierung von Entscheidungen gelten, die zwar vor der Öffentlichkeit durch Reden vorbereitet, aber häufig mit nahezu mechanischer Präzision von einer fest konturierten Mehrheit zum Beschluß erhoben werden. Dieser geht auf Kosten der Beziehungen des Bürgers zu seinem Staat wie der Anteilnahme des einzelnen am Staat, der sich ihm in doppelstufiger Organisation, der Eigenart des historischen deutschen Föderalismus gemäß als Landesstaat und Bundesstaat und dieser wieder als Bundeszentralgewalt und als beschlußfähige Mehrheit der Länder darstellt.42 „Nur soweit organisierte Willensbildung möglich ist, ist man vertragsfähig und bündnisfähig“, schrieb Carlo Schmid im zweiten Jahr des Bestehens der Bundesrepublik.43 Wenige Jahre später wurde die Zahl verschiedenartiger Interessenorganisationen in der Bundesrepublik mit 3600 beziffert.44 Sowohl neue Ansprüche innerhalb der Gesellschaft als auch das Verlangen resistenter Interessen führten und führen ebenso zur Organisation wie die zielbewußte Expansion von Großverbänden in Wirtschaft und Politik. Die Vielzahl organisierter Interessen sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es nur wenige mächtige Großgebilde gibt. Industrielle – weniger agrarische – Interessenten und solche der Finanz- und Bankwelt bevorzugen gelegentlich lockere, individuelle Beziehungen, auch diskrete Klubs, die keine Chronik kennen. Alle Interessenten bilden

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aber auch für den Gesamtbereich ihrer wirtschaftlichen Sparten Spitzenverbände oder Kartelle, die Lückenlosigkeit der Erfassung anstreben. Die Funktionsfähigkeit der parlamentarisch fundierten Institutionen der Demokratie beruht weithin auf dem Konsens, der die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen anerkennt. Über all dem aber wacht die „Dritte Gewalt“, eine vielfältig gestaltete Justiz im Hort eines Bundesverfassungsgerichts, das in zunehmendem Maße politische Entscheidungen eingrenzt oder gar aufhebt und darüber hinaus Richtungen zu weisen vermag. Wenn vom Staat die Rede ist, so wendet sich die Aufmerksamkeit häufig den Parteien zu.45 Der Wähler versteht sie meist als Anhang oder Instrument einzelner Persönlichkeiten und ihrer programmatischen Äußerungen; oder er betrachtet sie unter dem Gesichtspunkt des nächsten absehbaren Nutzens. Das erforderte und erfordert immer mehr finanzielle Aufwendungen, was zumindest in den großen Wahlkämpfen jedermann deutlich vor Augen tritt. In Amerika gilt etwa der erfolgreiche Werber um Gelder für eine Partei und ihre Wahlkämpfe als tüchtig und anerkennungswürdig. In Deutschland hat sich eine ähnliche Auffassung nie durchzusetzen vermocht. Die Parteien sollen „finanzielle Unabhängigkeit“ erreichen.46 Doch niemand weiß verläßlich, wie das geschehen soll. In früheren Jahren widmeten sich Untersuchungen und Diskussionen diesem Thema.47 1969 konnte in Deutschland ein Autor feststellen: „Politische Finanzierungen werden aus guten Gründen geheingehalten, vor allem solche, die den Eindruck gefährden, die Politik diene dem Gemeinwohl“.48 Wenn eine Partei nicht selbst Wirtschaftsunternehmen betreiben will, dann bleiben ihr nur Zuwendungen von anderer Seite oder die „Staatsknete“. Diese Erfahrung hat im Laufe der Jahre Verhalten und Mentalitäten in den großen Parteien deutlich beeinflußt.49 Das Wirtschaftswachstum Deutschlands wich 1966/67 einer Rezession. Anzeichen gab es schon vordem in einer Krise des deutschen Steinkohlebergbaus, der seit 1958 stagnierte und seit 1965 rapide zurückging. Am stärksten litt das Ruhrgebiet, wo

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die Zahl der Beschäftigten seit 1958 sich sukzessiv verminderte. Importiertes Heizöl war in der Industrie wie in den Haushalten zu unüberwindbarer Konkurrenz gelangt. Sein Verbrauch steigerte sich von 1958 bis 1969 auf mehr als das Siebenfache. Dies zeitigte vielfältige soziale und politische Folgen und verunsicherte die handelnde Elite der großen Parteien.50 In diesen Jahren trat auch eine andere Erscheinung hervor, „ein spezifisch deutscher Generationenbruch, der natürlich mit der einzigartig zerklüfteten Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert zu tun hat,“ wie gesagt worden ist.51 Doch der allgemeine Wandel der äußeren Verhältnisse trug fraglos hierzu bei. Die starke Dezimierung der Zwischengeneration der zahlenmäßig schwächsten Jahrgänge, die erst unter dem Druck der Auswirkungen und Nachwirkungen des ersten Weltkriegs aufwuchs und im zweiten die größten Verluste erlitt,52 wurde mitsamt den Folgen nach und nach sichtbar. Diese Generation wuchs im Schatten der noch stärkeren älteren auf, aus der sich die politische Führung rekrutierte. Doch diese beiden Generationen sahen sich ebenso wie die nächsten nachkommenden Jahrgänge gegen Ende der sechziger Jahre mit jüngeren, zahlenmäßig weit stärkeren Jahrgängen konfrontiert, die mit geringer Erfahrung der Ungewißheiten und Unsicherheiten während des zweiten Weltkrieges und unmittelbar nach dem Zusammenbruch aufgewachsen waren und die Erlebnisse der zwanziger, dreißiger und frühen vierziger Jahre mit den Älteren nicht mehr teilten. Ihre ausreifende politische Erlebniswelt blieb auf eine gewiß nicht konfliktarme, aber überschaubare, von aufstrebenden Entwicklungen bestimmte Periode konzentriert, in der nun überraschende Erfahrungen einer unversehens abflachenden und endenden Konjunktur Platz griffen. Thomas Jeffersons Theorie von der Ablösung der Generationen in der Politik und im Verfassungsleben der Völker schien sich am Beispiel der Bundesrepublik zu erhärten: Jede Konstitution trete nach dem Ablauf von 19 Jahren außer Kraft. Letztlich gebe es keine legitime Verpflichtung „außer dem Gesetz der Natur“, demzufolge „sich eine Generation zu einer anderen verhält wie eine unab-

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hängige Nation zu einer anderen“.53 Das wird kaum wörtlich genommen werden können. Doch die Erlebenden sahen, wie in den letzten sechziger Jahren zum ersten Male seit einem halben Jahrhundert wieder eine – zahlenmäßig – starke junge Generation heranwuchs, Kinder einer nach Krieg, Vernichtung und Verheerungen in verhältnismäßig breitem und verhältnismäßig gesichertem Wohlstand lebenden Gesellschaft, die dem Einzelnen große Rechte und Freiheiten einräumte. Gegen diese Ordnung begehrten diese Kinder auf mit allen Mitteln ihrer – überaus begrenzten – Erfindungskraft. Sie zehrten mit jeder ihrer Regungen von dieser Gesellschaft; dennoch war ihr Ton auf Änderung oder gar auf Zerstörung gerichtet, auch bald entschieden antiamerikanisch eingestellt. Dies galt in der Bundesrepublik vor allem für eine rege Minderheit unter Studenten, die über die größte Freiheit, über eine autonome Verwaltung in ihren eigenen Angelegenheiten und an mehreren Universitäten über nahezu unbeschränktes politisches Organisations- und Betätigungsrecht verfügten. Das Vorbild Berkeleys faszinierte und wurde imitiert.54 Zunächst gab die Diskussion über „Notstandsgesetze“ Anlaß, gegen die Regierung einer großen Koalition aus CDU /CSU und SPD zu demonstrieren, die im Juni 1968 das Grundgesetz ergänzte – für den Fall des äußeren Notstandes, des Verteidigungs- wie des Spannungsfalles. Währenddessen breitete sich die Erregung über den Vietnam-Krieg nach allen Seiten aus. Die von den Vereinigten Staaten nach Europa reichende Welle der Empörung berührte außerhalb Rußlands, des Ostblocks und Südosteuropas viele Universitätsstädte Kontinentaleuropas wie auch überseeischer Länder. Die Unzufriedenheit mit den jeweiligen politischen Verhältnissen, die in den einzelnen Ländern nicht unwesentlich voneinander abwichen, war allem Anschein nach zum erregenden Anlaß einer mit wechselnder oder auch ohne Begründung starke Töne anschlagenden Minderheit geworden.55 Sie nannte sich „Außerparlamentarische Opposition (APO )“; sie war eine radikale Bewegung, in der die action directe et provocative kleiner Minderheiten nachgerade zum

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Selbstverständnis gehörte. Einzelne Gruppen beanspruchten autonome Entscheidungen über Gewaltanwendung gegen konkurrierende Kräfte der Gesellschaft wie gegen Einrichtungen und Anordnungen des Staates, dessen legitimes Gewaltmonopol von den Rebellierenden bestritten wurde. Und es gab schließlich noch schlimmere Fälle. „Was mit einer ursprünglich noch nachvollziehbaren Oppositionshaltung begann, führte über eine die politischen und sozialen Realitäten aus den Augen verlierende Mischung unernster, spätpubertärer Happeninglust mit spielerischer Provokation der Staatsgewalt … hinüber in den Teufelskreis der Gewalt und des Terrorismus“56 – ohne jedwede politisch geklärte Vorstellung, aus purer Empörung, Wut und Haß in engster Gemeinschaft zusammengedrängter Täter. In dem geteilten Deutschland bot dies dem östlichen, durch polizeistaatliche Stringenz gesichert erscheinenden Staatswesen Möglichkeiten zu untergründigen Einwirkungen im Westen, deren Bedeutung jedoch begrenzt blieb.57 Man möchte es eine nachgerade verständliche Begleiterscheinung nennen, daß auch manche viel Ältere der „heutigen Form unseres Regierungssystems“ den Prozeß zu machen suchten und die Rebellion der Jugend in ihrem Sinne interpretierten: Die Jugend „sagt sich, daß an diesem System, dessen wirtschaftstechnische Nützlichkeit und dessen sozialer Erfolg unbestritten bleibt, etwas nicht stimmt, daß eine geistige Wandlung Not tut. Den unguten Erfahrungen der Weimarer Republik mit ihrem terroristischen Ausklang ist bis jetzt keine geistige Wandlung gefolgt. Am Ruder sind bei uns die gleichen Parteigruppen von damals mit ihren hergebrachten Vorstellungen … wenn unsere Jugend hiergegen den geistigen Kampf aufnimmt und nach einem Ausweg sucht, wenn sie den imperialistischen Militarismus mißbilligt, wenn sie der konformistischen Meinungsmache die Gefolgschaft versagt, wenn sie die Versuche einzelner Parteigruppen, ihre Herrschaft zu verewigen, ablehnt, wenn sie das Versagen der Kirchen und Bildungsstätten anklagt, so kann man nur wünschen, daß sie in diesem Kampf nicht erlahmt“.58 Die Frage nach geistigen Positionen derer, die in Deutschland

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die „Neue Linke“ genannt wurden, läßt sich indessen nur schwer beantworten. Manches sprach dafür, daß das, was mehr als drei Jahrzehnte zuvor nach „rechts“ hinauswuchs, nun nach „links“ okuliert wurde.59 Schon Pascal sprach in seinen „Pensées“ von „deux extrémités qui se touchent“, Rousseau am Ende seines „Contrat social“, daß „les excès se touchent“. Exotische Helden anderer Erdteile und antikolonialer Bewegungen wurden ohne nähere Kenntnis fanatisch verehrt, von Che Guevara bis Mao und dem auf die massenvernichtenden Roten Khmer Kambodschas sich stützenden Pol Pot, mehr Namen als Taten verherrlicht und in höchste Sphären der Einbildung erhoben.60 Deutlich klang das Urteil in einer Rede in Frankfurt 1977 über das „Bemühen um Reinigung“ und die „gegenwärtige Welle der Gewalt … Dieser Hang zum Extrem, die Verachtung der Kompromisse, die ja tief in der deutschen Tradition verankert ist, hat – wie wir alle sehen – auch heute ihre Wirksamkeit noch nicht verloren“.61 Nach all dem drängte sich die Frage auf, was wohl aus der politischen Organisation, die die Menschen Westdeutschlands umfaßte, noch werden könne. Obgleich es episodisch auch anders schien, war die Bundesrepublik in den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Geschichte den unmittelbaren Regungen und Konflikten der Gesellschaft stetig näher gerückt. – Später kam das undeutliche Schlagwort von der „Zivilgesellschaft“ in Schwang. – Jede ihrer Bewegungen teilte sich unmittelbar dem Staate mit62, vermochte ihn sogar zu verändern, am deutlichsten auf der höchsten Stufe seines Bildungswesens, in den Hochschulen. Auf Bewegung kam es an, weniger auf sorgsame Analysen der Situation und deren gründliche Erörterung. Die soziologische Wirklichkeit einer unabsehbar differenzierten, horizontale wie vertikale Strukturen bildenden, sich in unaufhörlicher prozeßartiger Veränderung befindenden Gesellschaft bedarf einer sich fortgesetzt weiter ausbildenden und verbessernden Technik der Produktion, der Distribution, der Kommunikation, der Transportation, der Administration, aber auch permanenter Reflexion und wohldurchdachter Prävention. Die

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lebensnotwendigen Zusammenhänge würden auseinanderfallen, wenn es keine sichere Steuerung gäbe. Das liberale Zeitalter, das nach der Depression der dreißiger und dem Bruch der vierziger Jahre in dem vollen Ausmaß seiner Errungenschaften wiedererstanden war und ein respektables materielles und geistiges Arsenal der westlichen Hemisphäre nutzen konnte, schien sich einer Krise zu nähern.

Shoah – Holocaust Wirkungen nach außen wie äußere Einwirkungen blieben nicht aus. Ein neues Zeichen setzte die Entführung des einstigen SS Offiziers Adolf Eichmann aus Argentinien, eines während des zweiten Weltkriegs mit wichtigen Zuständigkeiten betrauten Referatsleiters im Reichssicherheitshauptamt Heydrichs und Organisators von Judentransporten aus dem deutschen Machtbereich in Konzentrations- und Vernichtungslager Polens. Gegen ihn wurde 1961 in Jerusalem ein Aufsehen erregender Prozeß geführt.63 Danach erreichte auch die bald nach Kriegsende einsetzende Diskussion über das Ausmaß der Judenvernichtung innerhalb des deutschen Machtbereichs einen neuen Höhepunkt.64 Die „Gesamtbilanz ergibt … ein Minimum von 5,29 Millionen und ein Maximum von knapp über sechs Millionen“ Juden, allein für Deutschland eine „realistische Schätzung“ von 165 000.65 Bald kam ein neuer Begriff in Brauch, der richtweisend werden konnte. Schon David Ben Gurions Erklärung in der Knesset über die Entführung Eichmanns und die Absicht, ein Gerichtsverfahren in Jerusalem zu eröffnen, hatte heftige Diskussionen in Israel wie in Amerika ausgelöst.66 Wenn der Beginn des Prozesses zeitlich nicht mit dem SchweinebuchtAngriff auf Kuba zusammengefallen wäre, hätte es vermutlich noch länger anhaltende Erregungen gegeben; hinzu kam der erste russische Weltraumflug, des „Sputnik“ mit Jurij Gagarin. Der hebräische Begriff der Shoah wich nun dem alsbald welt-

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weit gebräuchlichen Begriff für Judenverfolgung und Judenvernichtung: Holocaust.67 Seit 1979 machte ihn ein Film weltweit bekannt, der nach Vorbereitung durch Umfragen in der Bundesrepublik im Fernsehen von allen dritten Programmen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten an einem Abend gleichzeitig ausgestrahlt wurde und damals 16 Millionen Zuschauer erreicht haben soll.68 „Auschwitz“ war zu einem Sinnbegriff der Geschichtsdeutung des zweiten Weltkriegs geworden, was aus der Geschichte des Judentums und Israels vollauf verständlich ist, auch zum Inbegriff einer Geschichte des Genozids im 20. Jahrhundert, die in der Türkei mit den Armenierdeportationen 1915 begonnen hatte. 1919 folgte in Rußland die Vernichtung der Don-Kosaken, seit 1922 die Vertreibung der Türken aus Griechenland und von Griechen aus der Türkei, dann in Rußland Stalins Verfolgung der Kulaken und einiger Minderheiten wie Polen und Ukrainer, um mit der Vertreibung und massenhaften Tötung Deutscher kurz vor und nach Kriegsende und den späteren Schicksalen von Völkern Afrikas oder des Balkans die nicht endende Kette hier nur anzudeuten. Die Judenverfolgung konnte und sollte nicht unter einer bloßen Metapher figurieren. Ein Ausdruck aus der ältesten Geschichte ergab den vielfältig gedeuteten Begriff höchsten Ranges. Das Theologenproblem, wie das Brandopfer vom Menschen in der Geschichte Altisraels als Gotteswille zu deuten sei, wurde durch die zu allgemeiner Akzeptanz gebrachten Deutung des Wortes Holokaust, meist Holocaust, für die Geschichte der Juden im 20. Jahrhundert in einem Allgemeinsinn aufgelöst, der den Zionismus unübertrefflich zu rechtfertigen schien. Die Massenvernichtung von Juden während des zweiten Weltkriegs, die nach und nach bekannt, bestätigt und weltweit diskutiert wurde, ließ die religiöse Judenheit als „Opfervolk“ zu neuartigem Ansehen gelangen. Das war mehr als eine Ideologie neben anderen. Der Holocaust wurde in einer weltlich gewordenen Staatsreligion zum Stifter neuer israelischer Identität.69 Das war Propaganda im uralten Sinne, in jüdischer Sicht von kompetenter Seite bekannt: „Die westliche

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Zivilisation beruhte auf römischem Recht, griechischer Ästhetik und jüdischer Moral und Prophetie … Doch im heutigen Griechenland haben sich die Sprache und Religion gewandelt, obwohl die Tradition nachklingt. Ebenso verhält es sich mit Italien und den Römern … Allein die Juden sprechen noch dieselbe Sprache wie ehedem. Viele von ihnen hängen noch demselben Glauben wie ihre Ahnen an, und sie verwenden dieselben Texte wie vor Jahrhunderten. Ihre Kultur ist durch die Bibel in die westliche Zivilisation eingedrungen, und ihr Einfluß ist auch in säkularisierter Form noch groß. Schließlich besteht die christliche Bibel aus zwei Anthologien, den beiden Testamenten, und beide stammen hauptsächlich von Juden … Der Holocaust ist ein Genozid unter vielen und zugleich ohne Vorbild“.70 Man darf dies die am tiefsten greifende späte Auseinandersetzung mit der Geschichte des zweiten Weltkriegs nennen. Sie rührt an alte religiöse Überzeugungen, um sie zu beleben, und fordert doch auch pragmatische Folgerungen in der Politik. Dies spielt sich in Amerika, in Israel wie in Ländern Osteuropas ab. Westdeutschland blieb merkwürdig einseitig berührt. Man übernahm weithin den Begriff des Holocaust als Schlüssel zu einem Geschichtsverständnis, gar als bündige dialektische Synthese einer Phase der deutschen Geschichte71 – mitunter sogar in der schlichten Version eines eindeutigen Kollektivbezugs von „Opfern“ und „Tätern“.72 In den Vereinigten Staaten wurde 1992 im Herzen Washingtons ein „United States Holocaust Memorial Museum“ errichtet, das in fünf Jahren zehn Millionen Besucher zählen konnte. Innerhalb weniger Jahre entstanden weitere Holocaust-Museen. An amerikanischen Schulen ist der „Holocaust“ Pflichtlehrstoff geworden. Hierzu gehört auch der Besuch dieser Museen.73 Man darf wohl spätestens an der Jahrhundertwende von einer auf Dauer eingestellten Bindung sprechen, die stärker sein kann, als Verträge zu gewährleisten vermögen.74

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Brennpunkt im Nahen Osten In vier kurzen, aber heftigen Kriegen zeigten sich Israels Streitkräfte den zahlenmäßig weit stärkeren der arabischen Nachbarn gewachsen, schließlich deutlich überlegen. Israel gebot über eine erstaunlich schnell aufgebaute Militärmacht. Zu einem Teil hatte es dies der Schulung einzelner Gruppen in alliierten Armeen des zweiten Weltkriegs zu verdanken, die auch aus Deutschland Emigrierte zu besonderen Einsätzen heranzogen. Ein anderer Teil war in den militanten Untergrundorganisationen der Vorkriegs- und der Kriegszeit – Lehi, Irgun später Hagana – eingeübt worden.75 An Übung und Bewährung fehlte es nicht, auch nie an Bewaffnung. Frühe Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei unterblieben mit Beginn der russischen Unterstützung der arabischen Staaten. Danach trat Frankreich ein bis zum Beginn der deutschen Rüstungshilfe.76 „Die Beschaffung vom Rüstungsmaterial war – und blieb – eine absolute Lebensfrage für Israel“.77 Die von Adenauer begründeten, auch in Israel heftig umstrittenen, über Jahre streng geheimgehaltenen, durch den Luxemburger Vertrag von 1952 erhärteten Leistungsverpflichtungen der Bundesrepublik Israel gegenüber78 gerieten unter Bundeskanzler Erhard in eine unvorhersehbare Entwicklung der Bonner Außenpolitik. Trotz wiederholter entschiedener Erklärungen vor allem des Auswärtigen Amtes, keine Waffen in Spannungsgebiete zu liefern, mußte die Bundesrepublik im Rahmen ihrer Leistungsverpflichtungen gegenüber Israel liefern – streng im Geheimen, nach Absprache von Franz Joseph Strauß mit Shimon Peres. Um dies 1965 zu beenden, riet der amerikanische Botschafter in Bonn, McGhee, ein texanischer Ölmillionär, zur Anwendung einer Kündigungsklausel und zum Angebot von Geldzahlungen statt Waffenlieferungen. Man wollte daraufhin über die Lieferung eines „Restpostens“ an Israel verhandeln: nur noch 90 Panzer, zwei U-Boote, sechs Schnellboote, drei Dornier-Transportflugzeuge und 36 Haubitzen.79 Doch Israel lehnte „die einseitige Aufhebung von Ver-

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pflichtungen einer Israels Sicherheit und Verteidigungspotential betreffenden Vereinbarung“ ab als „eine Kapitulation gegenüber der arabischen Erpressung auf Kosten Israels“.80 Währendessen waren deutsche Raketenexperten in Nassers Ägypten tätig, was weltweit bekannt wurde. Sie kehrten allerdings bis 1967 nach Deutschland zurück. Doch Anfang 1965 hatte sich die Lage so zugespitzt, daß Walter Ulbricht von Nasser eingeladen wurde und „in Kairo den Jubelmassen zuwinkte“, sechs Jahre, nachdem Otto Grotewohl den gleichen Weg angetreten hatte, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen.81 Ulbrichts Auftreten fiel in eine Phase verstärkter deutschdeutsch-israelisch-arabischer Spannungen. Einen Ausweg aus dem Dilemma suchte die Regierung Ludwig Erhards in der Anbahnung offizieller Beziehungen zu Israel. Dies blieb in der Bundesregierung umstritten. Doch Erhard entschied. Die Außenminister der Arabischen Liga beschlossen daraufhin auf ihrer nächsten Tagung im März 1965, ihre Botschafter aus Bonn abzuberufen. Dem kamen zehn der dreizehn arabischen Staaten nach, die nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel im Mai 1965 ihre Beziehungen zur Bonner Regierung abbrachen. Nur Libyen, Marokko und Tunesien behielten ihre Verbindungen bei.82 Die weitere Geschichte der Entscheidungen, deren spätere Auswirkungen geringer blieben als befürchtet, ist hier nicht nachzuzeichnen. Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel haben sich vor dem Hintergrund der geheimen deutschen Leistungen einige Jahre hindurch günstig entwickelt.83

Neue Ostpolitik Auch in anderer Hinsicht ergaben sich in den sechziger Jahren veränderte Perspektiven84 – früh schon in de Gaulles Vision eines von Paris und Moskau gemeinsam geführten Kontinents „vom Atlantik bis zum Ural“.85 In einem der denkwürdigen Gespräche, die der General mit Adenauer unter vier Augen 1958

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bis 1963 führte86, offenbarte de Gaulle einige Wochen nach Annahme des deutsch-französischen Vertrages, des sogenannten Elysée-Vertrages, am 4. Juli 1963 in Paris dem Bundeskanzler seine Sicht der weltpolitischen Entwicklung, die sich wie weite Voraussicht auf kommende Dinge ausnimmt – nach der deutschen Niederschrift: „Wenn es nicht zum Kriege komme, werde eines Tages der Friede, d. h. auch der Friede mit der Sowjetunion, einkehren. Damit es Frieden geben könne, sei es natürlich notwendig, daß Rußland die aggressive kommunistische Ideologie verliere, und Rußland sei bereits dabei, diese Aggressivität aufzugeben. Was dann übrig bleibe, sei Rußland. Mit dem Abstieg der aggressiven kommunistischen Ideologie sehe sich Rußland allmählich wieder Staaten wie Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und mehr noch den Ostdeutschen gegenüber, die wieder eine größere Selbständigkeit haben wollten. Hinzu käme der Ärger mit den Chinesen und die innenpolitischen Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite befände sich ein gewisser westlicher Zusammenhalt, der eine Eroberung des Westens unmöglich mache. Sei dies einmal alles eingetreten, dann glaube er, könne man zum Frieden kommen. Sein großer Wunsch sei, daß dieser Friede ein Friede europäischer und nicht so sehr amerikanischer Prägung sein solle. Heute aber habe der Kommunismus noch Rußland, die Satelliten und Ostdeutschland im Griff, und daher glaube er, daß ein Friede heute noch nicht möglich sei. Das schließe aber die Möglichkeit nicht aus, zu lokalisierten Teilarrangements zu kommen, zu einer Verminderung des Streits und vor allem des kommunistischen Drucks auf Ostdeutschland. Solchen möglichen Arrangements widersetze sich Frankreich selbstverständlich nicht. Heute aber, und auf lange Jahre hin, sei ein echter Friede nicht möglich … Bei zwischenzeitlichen Arrangements dürfe sich der Westen jedoch in keiner Weise zerstreuen lassen“.87 Im Oktober trat Adenauer, wie vorgesehen, vom Amt des Bundeskanzlers zurück, wenig später Macmillan als britischer Premierminister. Im November wurde Kennedy ermordet. In der Sowjetunion hatte Breschnew, Chruschtschows Nach-

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folger als Generalsekretär der Partei, wachsenden Einfluß auch auf die Regierung des Ministerpräsidenten Kossygin gewonnen. Im Innern versuchte er, der Stalin-Kritik ein Ende zu setzen und durch restriktive Maßnahmen gegen opponierende Intellektuelle die sowjetische Macht im Ostblock zu konsolidieren. Die Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes zu Bukarest im Juli 196688 nahm sich – nach vorausgegangenen Vorschlägen des polnischen Außenministers Rapacki – mehrerer Aufgaben an, die unter sowjetischer Führung zielbewußt verfolgt wurden: eine Politik gesicherten Friedens in Europa und eine Entspannung des Verhältnisses zur USA , eine engere, straffer organisierte und dauernd gefestigte Zusammenarbeit der Staaten des Warschauer Paktes, der sich vorübergehend die Tschechoslowakei und Rumänien zu entziehen versuchten. Die im Oktober 1968 erklärte sogenannte Breschnew-Doktrin versuchte, die Souveränität aller Staaten des „sowjetischen Lagers“ zu beschränken, was die Intervention in der Tschechoslowakei gegen Dubcˇeks Kurs aller Welt anschaulich vor Augen führte. Die Spannungen zu China blieben bestehen. Doch im Westen, der NATO gegenüber bemühte sich die sowjetische Diplomatie um Entspannung, die in einer Europäischen Sicherheitskonferenz und in einer Mäßigung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten gipfelte. Die Kominform hatte mittlerweile indirekt eine fernwirkende, aber in ganz anderere Richtung weisende Anregung vermittelt. Auf Betreiben der Labour Party schon seit den letzten Kriegsmonaten war – über mehrere Stufen – 1951 von den nichtkommunistischen sozialistischen Parteien Westeuropas auf einem Kongreß in Frankfurt eine neue Sozialistische Internationale gegründet worden. Angesichts hinhaltenden Widerstandes einzelner englischer und einiger französischer sozialistischer Politiker mußte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Jahre hindurch mit einer isolierten Stellung abfinden.89 Diese neue Internationale fand unter den Ereignissen der fünfziger Jahre zunächst lediglich beiläufig Aufmerksamkeit. Ihr schlossen sich jedoch nach und nach weitere sozialisti-

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sche Parteien, auch solche außereuropäischer Länder an, so daß ihre Kongresse allmählich an Aufmerksamkeit gewannen. Von Bedeutung erwiesen sich in ihrem Rahmen Kontakte und dann wiederholt lockere Zusammenkünfte einzelner Parteiführer. Zwischen- und überstaatliche Vermittlungen ließen sich in einem solchen Rahmen anbahnen, wenn auch bei weitem nicht immer erfolgreich durchsetzen. Die Verbreitung revolutionärer Stimmungen lag dieser Internationale fern und ließ sich angesichts der angestrebten Regierung oder Regierungsbeteiligung der Mitgliedsparteien auch gar nicht sinnvoll vertreten. Will man es kurz und bündig ausdrücken, so ließe sich sagen, daß diese Internationale – als Dachverband souveräner Parteien ohne Direktivgewalt90 – sich fortgesetzt um die Formierung eines Kartells sozialistischer Parteien bemühte. Neben den völkerrechtlichen Formen von Staatenordnungen könnte man dies eine weitere Art von Ordnung nennen, die in Europa auch zur Bildung oder Unterstützung konformer Parteienkoalitionen geeignet schien. Dies hatte in der Bundesrepublik später auch Bundeskanzler Willy Brandt vor Augen, als er eine „Neue Ostpolitik“ verfolgte, Verbindungen zur DDR -Führung und Kontakte mit Polen wie mit der Sowjetunion aufnahm. Nach Vorbereitungen und Absicherungen in Washington wie in Paris und London trat er 1976 als Präsident an die Spitze dieser Sozialistischen Internationale. Mit Adenauer hatte noch Chruschtschow direkte Verhandlungen begonnen, die unter Bundeskanzler Erhard fortgesetzt wurden, jedoch keine Veränderung der Lage in Deutschland brachten. Im Grunde wurde de Gaulles schlichte Bekundung in seinem letzten Gespräch mit dem vor seinem Rücktritt stehenden Adenauer 1963 bestätigt: „Deutschland werde niemals eine Trennung als endgültig hinnehmen, und die Russen würden niemals einer Wiedervereinigung zustimmen“.91 In der Regierung der großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger traten Brandt, als Außenminister seit Ende 1966, und sein enger Mitarbeiter Egon Bahr für einen „Wandel durch Annäherung“ an die Sowjetunion und die nächsten Staaten des Ostblocks

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ein. Doch „die Bundesrepublik glich einem stattlichen Baum mit flachen Wurzeln, der von einem plötzlichen starken Windstoß umgeworfen werden kann“.92 Das atlantische Bündnis sollte nicht beeinträchtigt werden. Aber Bahr ging von der schon mehrfach erkannten mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und den technischen Schwierigkeiten der Sowjetunion aus. Da dies nicht ohne Folgen bleiben könne, wagte der Planungsstab die Prognose: „Letztlich stellt sich für die Sowjets nur die Aufgabe, die Erosion ihrer Herrschaft so weit wie möglich zu verzögern“.93 Zu seiner Konzeption gehörte der Gedanke einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Rahmen eines vertraglich abgesicherten gesamteuropäischen Sicherheitssystems.94 Dies führte die FDP an die Seite der Sozialdemokraten, die nach der Bundestagswahl 1969 gemeinsam eine Regierungskoalition bildeten, in der Brandt das Amt des Bundeskanzlers und für die FDP Scheel das Auswärtige Amt übernahm. Der versuchte Sonderweg der tschechoslowakischen Regierung 1968 und der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag hatten neue Pläne verzögert, die das Hauptanliegen der Regierung Brandt bildeten. Der „Prager Frühling“, dem sowjetische Truppen und die Absetzung der Regierung ein Ende setzten, gab das Signal für eine ganz anders geartete Studentenrevolte im Schicksalsmonat Mai in Paris und danach in Westdeutschland. Für einige Tage konnte es in Paris gar scheinen, als gelänge den Wortführern um Daniel Cohn-Bendit im Bunde mit einem Generalstreik der Gewerkschaften der Umsturz und das Ende der Fünften Republik. Doch de Gaulle behielt – nach Zögern und scheinbaren Rückzügen – dank eines rhetorischen Meisterstücks am Ende in Paris die Oberhand.95 Anfang 1970 begann Bahr in Moskau Verhandlungen, die im August zu einem Gewaltverzichtsvertrag, dem Moskauer Vertrag führten, den Brandt und Scheel unterzeichneten.96 Dem folgte wenige Wochen später der Warschauer Vertrag mit Polen, den schon de Gaulle gedanklich vorbereitet hatte und der die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze garantierte.

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„Westintegration plus Ostöffnung gleich Einheit“, drückte Bahr die Ziele später in Kurzform aus.97 Brandts Geste eines Kniefalls vor dem Ehrenmahl des alten Warschauer Ghettos fand weltweit Beachtung und sicherte dem Bundeskanzler dauernde Aufmerksamkeit und Sympathie. Dem folgten Verhandlungen mit der DDR , die über die Stationen eines Transitabkommens, eines Verkehrs- und dann eines Grundvertrags tatsächlich einen Wandel der deutsch-deutschen Beziehungen brachten ohne Veränderung der Regierungssysteme wie der Eigenarten ihrer Verteidigungs- und Sicherheitsorganisationen. „Annäherungen“ gab es in Gestalt vielerlei persönlicher Kontakte,98 von denen die der beiden Generalsekretäre, Herbert Wehner in Bonn und Erich Honecker in Ost-Berlin, allmählich die wichtigsten wurden. Ein in Ost-Berlin im November 1972 paraphierter „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik“ führte nach heftigen parlamentarischen Auseinandersetzungen in Bonn zur Aufnahme gegenseitiger Beziehungen in der neuartigen Gestalt „Ständiger Vertretungen“ gegen Aufgabe der sogenannten Hallstein-Doktrin, des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik.99 Der Grundlagenvertrag war „im Kern ein Vertrag der Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik“. Er differenzierte die Beziehungen unterhalb der Ebene der Besatzungsmächte, unterlag jedoch unterschiedlicher Auslegung, was in vielfältig entwickelten Alltagspraktiken nach und nach annähernd ausgeglichen werden konnte.100 1971 erhielt Brandt den Friedensnobelpreis. 1972 gewann er den Bundestagswahlkampf mit dem besten jemals von der SPD erreichten Ergebnis. Scheel wurde 1973 zum Bundespräsidenten gewählt. In seiner Regierungserklärung am preußisch-deutschen Nationalfeiertag – und dem Jahrestag der Eröffnung der Friedenskonferenz von Versailles 1919 –, am 18. Januar 1973 sprach Brandt von einem nun „gewandelten Bürgertypus“, der „seine Freiheit auch im Geflecht der sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten behaupten“ könne. „Produktive Unruhe aus den Reihen der Jungen und die Einsicht

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der Älteren“ hätten sich vereinigt zu dem, „was sich als die neue Mitte darstellt: die soziale und liberale Mitte … Wir sind dem angelsächsischen Citoyen geistig nähergerückt; und vielleicht kann man sagen, die Bundesrepublik sei insofern ‚westlicher‘ geworden – sogar in einer Zeit, die im Zeichen der sogenannten ‚Ostpolitik‘ stand“.101 In der DDR war Ulbricht als Ministerpräsident zurückgetreten, Honecker sein Nachfolger geworden. 1972 wurde die DDR in die UNESCO aufgenommen, 1973 als 133. Staat die Bundesrepublik, die als 134. Mitglied der UNO beitrat. Beide Staaten nahmen schließlich an der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE ) teil, die die NATO -Staaten, die Staaten des Warschauer Paktes und blockfreie Staaten Europas seit der „Schlußakte von Helsinki“ 1975 in wiederholten Konferenzen zusammenführte und Vereinbarungen abschloß. Der Gewinn an praktischen Alltagsverständigungen war nicht unerheblich, der Gewinn an außenpolitischem Prestige der DDR beträchtlich. Sie verdankte dies sowohl der „Neuen Ostpolitik“ der Bundesrepublik als auch der Drei-Großmächte-Politik Richard Nixons und der Doktrin Breschnews, der sich mit einer großen sowjetischen Delegation im Mai 1973 nach Bonn begab, um in persönlichen Verhandlungen den Ausbau der Beziehungen zur Bundesrepublik zu regeln.102 Wie sich später aber erwies, entstanden fortgesetzt neue Probleme und auch Spannungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik, die dann Wehner in eigene Regie zu nehmen versuchte. Die Beziehungen der Bundesrepublik zu anderen Staaten des Ostblocks besserten sich allmählich. Sie trieb unterdessen auch die Entwicklung in Richtung auf engere europäische Vereinbarungen voran, die den Nöten der Zeit wie auch neuen Ideen folgten. Nach jahrelangen Verhandlungen, mehr als sechs Jahre nach SALT I wurde 1979 ein Abkommen über Mittelstreckenraketen beschlossen (SALT II ).103 Das russische Vordringen in Afghanistan seit Ende 1979, das nicht endende Kämpfe nach sich zog, verhinderte die Ratifikation; es wurde dennoch eingehalten. Der bald nachfolgende britisch-argentinische Krieg um die

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Falkland-Inseln fiel in eine Phase bereits begonnener Bemühungen europäischer Staaten um Beseitigung politischer Spannungen und militärischer Hochrüstung innerhalb Europas. Die Folgekonferenzen der KSZE führten 1994 zur Unterzeichnung der Charta von Paris, die den Abbau der konventionellen Streitkräfte festlegte. Diese Nachfolgetreffen der KSZE wurden 1995 umbenannt in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE , englisch OSCE ), diese als regionale Organisation der Vereinten Nationen anerkannt. Die Permanenz der treibenden und sich erweiternden Ideen gehört fraglos in die Geschichte europäischer Einigungsbemühungen. Sie wäre aber nicht denkbar gewesen ohne die stetige Beteiligung Englands, der USA und Rußlands, der amerikanischen Präsidenten James Carter, Ronald Reagan und George Bush und auf der russischen Seite Breschnew, dann Gorbatschow, dessen Tätigkeit nicht nur inner- und wirtschaftspolitisch der Erklärung bedarf104, sondern vor allem auch in außenpolitischer Hinsicht Würdigung verdient.

Globale Krisen Im Westen erwiesen sich in diesen Jahren die verdichteten wirtschaftlichen Zusammenhänge mehrfach krisenanfällig.105 Die Europäische Zahlungsunion (EZU ) war 1957 ausgelaufen. Die vom amerikanischen Kongreß vorgenommenen allgemeinen Zollsenkungen im GATT führten zu Konflikten, in denen die Bundesrepublik die amerikanische Initiative unterstützte, da sie Vorteile für den deutschen Export erwartete. Frankreich verlangte eine vorausgehende Stützung des Agrarmarktes. Es kam auch ein gemeinsamer EG -Markt für Industrie- und Agrarerzeugnisse zustande, eine ebenfalls angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion jedoch nicht. Das System von Bretton Woods, das auf dem Dollar als jederzeit in Gold konvertierbarer Währung beruhte, erwies sich der gewaltigen Nachkriegsexpansion des Welthandels als längst nicht mehr gewachsen. Der auf der

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Grundlage des Abkommens von Bretton Woods errichtete Weltwährungsfonds (International Monetary Fund), dem bis 1969 111 Staaten – außerhalb des Ostblocks – beitraten und dessen Währungsreserven sich aus ihren Mitgliedsbeiträgen speisten, hatte Jahre hindurch fruchtbare Arbeit geleistet. Im Vordergrund stand die Fixierung der Wechselkurse, wobei Dollar und Pfund als stabile Leitwährungen galten. Dies sollte der Währungspolitik weltweit Stabilität sichern und ein ausbalanciertes Wachstum des Welthandels wie des internationalen Zahlungsverkehrs fördern. Bei stärkeren Schwankungen waren die Notenbanken zur Kursstützung verpflichtet. Doch die rapide Vergrößerung des Handelsvolumens führte zu Revisionen des Verfahrens, schon 1962 zu besonderen Zusammenkünften und Entscheidungskraft eines „Zehnerklubs“ der zehn wichtigsten Industriestaaten. Mehrere Reformpläne lösten einander ab. Eine „Dollarschwemme“ zeigte Ende der sechziger Jahre eine sich bedrohlich zuspitzende Währungskrise an, die durch Spekulationen noch vergrößert wurde. Ende 1969 folgte eine unausweichlich gewordene Aufwertung der D-Mark als erster Schritt in Richtung auf eine Beilegung, während Ansätze und Verhandlungen über eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion weitere Jahre hindurch keine tragfähigen Ergebnisse zeitigten. Die Aufhebung der Konvertibilität des Dollars durch Präsident Nixon im August 1971 führte allgemein zu ständig schwankenden Währungen. Maßnahmen, um der weltweiten Schwankungen Herr zu werden, verfingen nicht. Als weitere schwere Belastung der Wirtschaft in den hochindustrialisierten Ländern vornehmlich Europas trat eine Ölkrise hinzu. Auf Initiative eines der südamerikanischen Ölförderländer, Venezuelas, war im September 1960 in Bagdad eine Interessenorganisation mehrerer Öl exportierender Staaten gegründet worden, die Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC ), die sich eine Koordination der Erdölpolitik zum Ziele setzte, um die Weltmarktpreise zu stabilisieren. Die Mitgliedstaaten, die sich 1961 zu Caracas ein Statut gaben, wollten solidarisch entscheiden und ihre Fördermengen nach Absprachen

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regulieren. Außer Venezuela und dem Irak zählten Iran, Kuwait und Saudi-Arabien zu den Gründungsmitgliedern. Doch ihr Kreis weitete sich ständig – nicht zuletzt unter dem Eindruck des unsicher gewordenen Dollarkurses. Bis 1971 traten Algerien, Ecuador, Gabun, Indonesien, Katar, Libyen, Nigeria und die Vereinigten Arabischen Emirate bei. Anfang 1968, nach dem zweiten Nahostkrieg, entstand eine Sonderformation der arabischen Länder innerhalb der OPEC , die Organization of Arab Petroleum Exporting Countries (OAPEC ), der auch Bahrain, Syrien und Tunesien, zudem für mehrere Jahre Ägypten zugehörten. Die OPEC beschloß 1970 die Anhebung des Rohölpreises um 30 Prozent und der Besteuerung der Ölgesellschaften um mindestens 55 Prozent. Im Gefolge des Jom KippurKrieges 1973 setzte die OAPEC innerhalb der OPEC , die zu dieser Zeit 55, 5 Prozent der Welterdölförderung erbrachte, eine weitere Erhöhung des Ölpreises durch. Man nennt dies die erste Ölkrise, der sechs Jahre später eine zweite folgte, die allen Industrieländern außerhalb Rußlands und Ostasiens überraschend große wirtschaftliche Schwierigkeiten bereitete. Erst die achtziger Jahre führten zu Mäßigungen, seitdem Nicht- OPEC -Staaten ihre Förderungen steigerten und unter den OPEC -Ländern konkurrierende Bestrebungen zum Zuge kamen. Doch wir verlassen hier dieses höchst aufregende Kapitel der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Mit der OPEC , vornehmlich der OAPEC „hatte zum ersten Mal eine Gruppe von Ländern der Dritten Welt die Vormachtstellung der Industriestaaten angefochten“106, mehr noch: Die Dritte Welt hatte sich geteilt. Die Staaten mit den für die Industrieländer wichtigsten Ressourcen hatten eine Machtstellung erlangt. Aus arabischer Sicht erschien dies als weiteres Mittel, um im Nahen Osten die Vereinigten Staaten wie Israel in ihrer Haltung nachgiebig und verhandlungsbereit zu stimmen. Zu den Auswirkungen gehörte auch eine Komplizierung der deutsch-französischen Beziehungen, die eine einheitliche Politik im Nahen Osten ausschloß. Wenn man einen Vergleich so anstellen wollte wie Henry Kissinger, dann ließe sich sagen: „Im

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Unterschied zur sowjetischen Herausforderung gefährdete die Energiekrise nicht das physische Überleben, sondern den inneren Zusammenhalt der demokratischen Staaten, der auf der allgemeinen Überzeugung beruhte, sie könnten stetigen sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt garantieren“.107 Die Bundesrepublik Deutschland durchlebte eine in der Nachkriegszeit neuartige Rezession. Die Ölkrise, die enorm gestiegenen Ölpreise und die Reduzierung des Exports in Ölverbraucherländer, zu denen von den Gewerkschaften durchgesetzte erhebliche Lohnerhöhungen hinzutraten, ließ das Bruttosozialprodukt 1975 absinken und die Arbeitslosenzahl über eine Million ansteigen. Diese vergrößerte sich während der ersten Hälfte der achtziger Jahre und blieb seitdem eine Dauerbelastung – mit mehrfachen Ab- und Aufschwüngen. Die Währungskrise und das Floaten des Dollars hatte seit 1973 wiederholt Treffen der Finanzminister der Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik, Frankreichs, Großbritanniens und Japans zum Gedankenaustausch über Wirtschaftsprobleme im kleineren Kreis veranlaßt.108 Aus dieser Library Group – nach der Bibliothek des Weißen Hauses in Washington, wo man sich traf, – entstand dann nach der Wahl Giscard d’Estaings zum Staatspräsidenten und auf dessen Einladung, mit lebhafter Unterstützung des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ein erster Weltwirtschaftsgipfel im Schloß Rambouillet bei Paris im November 1975.109 Außer dem amerikanischen Präsidenten Ford nahmen der britische Premierminister Harold Wilson und die Ministerpräsidenten Japans und Italiens, Aldo Moro und Takeo Miki, teil. Das erste Treffen dieser sechs bildete den Auftakt zu regelmäßigen Zusammenkünften (G-6, seit 1976 unter Hinzutritt Kanadas G-7), die einem gemeinsamen Vorgehen in Währungsfragen, in der Reform des Internationalen Währungsfonds, gegen Protektionismus und zur Stützung des wirtschaftlichen Aufschwungs dienen sollten. Die spätere regelmäßige Teilnahme des Präsidenten der EG Kommission symbolisierte die Wahrnehmung der Interessen auch anderer Staaten der Europäischen Gemeinschaft, von der

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noch zu handeln sein wird. Kontroversen aus Anlaß einer zunehmenden Dollarschwäche und einer Festigung der Mark, über Zölle und Handelsbeschränkungen füllten die nächsten Tagesordnungen. Doch nach dem deutsch-französischen Vorstoß zur Schaffung eines europäischen Währungssystems (EWS ) 1978 wurden diese Wirtschaftsgipfel schließlich zum ständigen „Instrument wirtschaftspolitischer Globalsteuerung“.110 Es überstand auch die weltweite Wirtschaftskrise der ersten achtziger Jahre, die zweite Ölkrise, eine bittere Notlage erdölimportierender Entwicklungsländer mit der heraufziehenden Gefahr einer internationalen Schuldenkrise vor dem Hintergrund erneut sich verschärfender amerikanisch-russischer Spannungen, dann das sowjetische Vordringen in Afghanistan seit Weihnachten 1979. Hinzu kam ein handelspolitischer Dissens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Administration Präsident Reagans in Fragen des Osthandels wegen russischer Erdgaslieferungen und deutscher Gegenlieferungen von Leitungsröhren. Weltweite Regulierungen des Handels und Leistungen für Entwicklungsländer sollten das Wirtschaftswachstum durch zunehmende Beteiligung am Welthandel fördern. Es gab Fortschritte vom GATT zur institutionalisierten UN Conference on Trade and Development (UNCTAD ) seit 1964. Doch die regional begrenzten Annäherungen überwogen an Bedeutung und Gewicht: der Gemeinsame Markt in Europa, der Mercosur der südamerikanischen Staaten wie die nordamerikanische Freihandelszone der USA , Kanadas und Mexikos, die die Vereinigten Staaten stetig auszuweiten bestrebt sind. Die Bundesrepublik Deutschland folgte den von den Großmächten ausgehenden Zeichen der Zeit. Der von Kennedy ausgehenden Idee einer „flexible response“, eines Schrittes zur Mäßigung im Gegensatz der Größtmächte, der einen atomaren Automatismus unterband, folgte Ende 1979 ein NATO -Doppelbeschluß über die Stationierung bodengestützter nuklearer Mittelstreckenwaffen mit gleichzeitigem Verhandlungsangebot an die Sowjetunion.

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Unter den folgenreichen Ereignissen der 70er Jahre kann nicht übergangen werden, daß es 1976 in der Bundesrepublik zu einer innerwirtschaftlichen sozialen Intensivierung kam, die die Arbeitnehmerseite der Betriebe und Gewerkschaften enger aneinander band. Sie schuf eine über die Regelung der Montanmitbestimmung von 1951 hinausgehende allgemeine Mitbestimmung für Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmern.111 Doch wir wenden uns zunächst wieder Rußland zu.

Von der Ära Breschnew zur Perestroika Stalin propagierte nach Kriegsende: „Unser Sieg bedeutet vor allem, daß unsere sowjetische Gesellschaftsordnung gesiegt hat, daß die sowjetische Gesellschaftsordnung die Feuerprobe des Krieges bestanden und ihre völlige Lebensfähigkeit bewiesen hat“.112 Davon konnte bald nicht mehr die Rede sein. Die wirtschaftlichen Probleme, Folgen von Kriegsverlusten, der bürokratisch operierenden zentralen Kommandowirtschaft in dem großen Land, die allzu lange ausschließliche Bevorzugung der Schwerindustrie und die völlige Vernachlässigung von Rentabilitätskriterien, all dies kam in den Jahren Chruschtschows nur zögernd und verspätet zur Sprache.113 Eine tiefgreifende Reform blieb aus.114 Im Oktober 1964 hatte sich das Politbüro gegen Chruschtschow entschieden.115 Ihm folgte Leonid Iljitsch Breschnew als Generalsekretär, der den verwegenen, mitunter abenteuerlich anmutenden Entschlüssen seines Vorgängers den Versuch einer langfristigen, festen und sicheren Konzeption entgegensetzte. Auf lange Sicht, für mehrere Jahrzehnte wollte er die Vereinigten Staaten isolieren, Europa beiseite drängen, „finnlandisieren“, prosowjetische Regimes in der Dritten Welt und vor allem die Aufstandsbewegungen in Lateinamerika unterstützen.116 Dies erforderte eine gewaltige Steigerung der militärischen Kräfte, eine starke Hochseeflotte und eine Lufttransportflotte, die auf weite Distanzen eingesetzt werden konnten, die Schaffung

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rasch disponibler Interventionsstreitkräfte, Marinelandungseinheiten und Fallschirmjägertruppen. Das Vorhaben, militärische Überlegenheit zu erlangen, war die sowjetische Entgegnung darauf, daß sich die Vereinigten Staaten mit starken Kräften in Vietnam gebunden hatten. Die „Ära Breschnew“ hat für einige Jahre eine äußere Stabilisierung des Sowjetimperiums herbeigeführt. Breschnew war für die Zerschlagung des „Prager Frühlings“ maßgehend verantwortlich, ebenso für die Expansionen sowjetischer Interessen in der Dritten Welt und schließlich für das sowjetische Vorgehen in Afghanistan. In Europa sorgte er in Gemeinschaft mit Kossygin und Gromyko für Entspannung der Beziehungen zur Bundesrepublik wie den Vereinigten Staaten gegenüber. Doch am Ende bildete „die fortschreitende Erstarrung des gesamten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Systems der Sowjetunion, die der greise Breschnew geradezu personifizierte, eine entscheidende Ursache für den Zusammenbruch des gesamten Systems“117. Breschnew, der 1976 einen schweren Schlaganfall erlitt, starb im November 1982 vor Vollendung seines 76. Lebensjahres. Er hatte sich als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, mithin als Staatsoberhaupt (1960–1964 und erneut 1977) tonangebend am Sturz Chruschtschows beteiligt und dessen Amt als Erster Sekretär – später „Generalsekretär“ – der KPSU übernommen. Er beendete im Innern der Sowjetunion die in Gang gekommene „Entstalinisierung“ und leitete 1968 die militärische Intervention gegen die auf Selbstständigkeit bedachte Tschechoslowakei. Die „Breschnew-Doktrin“ rechtfertigte dieses Vorgehen nachträglich mit der These von der beschränkten Souveränität der Staaten des „sozialistischen Lagers“, einer neuartigen Imperialstruktur des Ostblocks. Doch auch die längerhin außenpolitisch wegweisenden Verträge, der Moskauer Vertrag und das Berlin-Abkommen kamen in dieser Ära zustande. Auf amerikanischer Seite begegnete dann Präsident Ronald Reagan der starken russischen Rüstung mit dem Programm eines umfassenden, auch weltraumerweiteten Abwehrsystems

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gegen Atomraketen, „Strategic Defense Initiative“ (SDI ), das allen weiteren Verhandlungen über Rüstungsbegrenzungen einen neuen hohen Rang gab. In dem Parteiergreifen der amerikanischen Öffentlichkeit in der polnischen Krise, wohl auch mit Unterstützung durch den ersten Papst polnischer Herkunft, Johannes Paul II ., zeichnete sich eine neue Form propagandistischer Einwirkung auf das Sowjetimperium ab.118 Die Nachfolger Breschnews im Amt des Generalsekretärs wie – mit Verzögerung – dann des Staatsoberhauptes folgten in verhältnismäßig kurzem Abstand, ohne viel zu bewirken. Jurij W. Andropow, vorher Leiter des Geheimdienstes KGB , verstarb im Februar 1984 und nach ihm Konstantin U. Tschernenko schon im März 1985. Als in Genf Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wieder aufgenommen wurden, stand der Kreml unmittelbar vor einer neuen Personalentscheidung. Im November traf dann Präsident Reagan in Genf mit Michail Sergejewitsch Gorbatschow zusammen, dem neuen, politisch ungewöhnlich begabten Mann an der Spitze der Sowjetunion.119 Er war innerhalb der Parteiorganisation rasch aufgestiegen, 1971, erst vierzigjährig, Mitglied des Zentralkomitees der KPSU geworden, wo er nach einigen Jahren bereits als Fachmann für die Landwirtschaft anerkannt und für sie auch zuständig wurde. Als unermüdlicher Programmatiker ökonomischer Effizienz bezog er dann in seine Betrachtungen und Reden das ganze System ein, da auch eine partielle Wirtschaftsreform angesichts der dauerhaften Fixierung wirtschaftlicher Entscheidungen und Größenordnungen auf Plandaten das gesamte Wirtschaftssystem tangieren mußte. Die Umsetzung eines Reformprogramms zog zwangsläufig umfassende Maßnahmen im gesamten Wirtschaftsleben nach sich, nicht zuletzt auch Eingriffe in den Staats- und den Parteiapparat. Die Sowjetunion war „in ein aufreibendes Wettrüsten eingespannt und durch dieses an den Rand des Ruins getrieben worden“, urteilte Gorbatschow120, der sich im März 1985 bereit erklärt hatte, auf Gromykos Vorschlag hin das Amt des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPSU zu übernehmen und hiernach auch ge-

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wählt wurde.121 Er sah vieles von der wirtschaftlichen Notlage der Sowjetunion, wenn auch noch nicht alles. Er strebte eine Reform des Wirtschaftsystems an. Doch nahezu zwangsläufig, wenn auch zunächst keineswegs in vollem Umfang vorausgesehen, wurde hieraus eine umfassende Veränderung des gesamten politischen Systems. „Großen, ja vielleicht den größten Schaden hat die verspätete Befassung mit der Nationalitätenfrage angerichtet,“ urteilt Gorbatschow nachträglich.122 Doch die Aufmerksamkeit der Welt galt zunächst vor allem der Katastrophe von Tschernobyl, wo schwere Bedienungsfehler im Reaktorblock des Kernkraftwerks am 26. April 1986 eine unkontrollierbare Kettenreaktion auslösten – mit Niederschlagsfolgen in ganz Europa und ideologischen Folgen in der Politik und im Parteiwesen. Allerorten sprach man wie nie zuvor von Rußland. Auf lange Sicht dürfte das von Gorbatschow als Losung weithin populär gemachte Schlagwort „Perestroika“ für die zweckund zielbewußte Umgestaltung des politischen Systems der Sowjetunion – zunächst unter Beibehaltung der bestimmenden Rolle der KPSU – epochenmachende Bedeutung besitzen: „eine Art zündende Idee …, aber kein durchdachtes ausformuliertes Konzept“123. Zwei Jahre nach Amtsantritt Gorbatschows waren „nur noch 16 % der Sekretäre und gut 10 % der Abteilungsleiter des Zentralkomitees“ der Kommunistischen Partei in ihren alten Ämtern.124 Außenpolitisch brachte die Phase der Perestroika eine Milderung und schließlich Beseitigung der Konfrontationen des Kalten Krieges, nachdem während der Präsidentschaft von George Bush in Amerika eine Verständigung über den neuen Krisenherd in der Zone des Irak – unter Saddam Hussein – und Israels angebahnt worden war.125 Eine wahrhaft innerrussische Revolution kündete sich 1988 auf der 19. Parteikonferenz der KPSU an, als Gorbatschow die Einberufung eines „Kongresses der russischen Volksdeputierten“ durchsetzte, der, jeweils auf fünf Jahre gewählt, alle wichtigen Entscheidung zu Politik und Verfassung eingehend erörtern sollte – ein höchstes Gremium zur Diskussion also; aber

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auch das neue Amt des Staatspräsidenten sollte geschaffen und dieser durch Wahlakt des Volkskongresses eingesetzt werden. Das kam den Grundzügen einer Verfassung gleich, die neues Recht schuf und von der Diktatur Abstand nahm. Dies belebte auch die Politik. Gorbatschow „öffnete ungewollt die Schleusen für eine Fundamentalkritik“, die das ganze System mitsamt seinen historischen Ursprüngen in Frage stellte. So kam es nicht zu einer Erneuerung und Stärkung der Sowjetunion, sondern zur Auflösung ihres Imperiums, zum „Ende einer Weltordnung … des Kalten Krieges. Es war die eigentliche Revolution der Weltpolitik“.126 Gorbatschow zog die sowjetischen Truppen aus Afghanistan wieder ab. Er begab sich alsdann mit Geschick auf eine regelrechte Werbetour und erschien in deutschen und in amerikanischen Städten. Auch ausländische Beobachter und Gesprächspartner zeigten sich beeindruckt von einem Mann, der gewandt und anscheinend völlig überraschend mit entgegenkommenden Angeboten für sich einzunehmen wußte. Ein Zeitzeuge resümiert: „Der Empfang“, der Gorbatschow „1987 in Washington, 1988 in New York und bei verschiedenen Stationen in Europa bereitet worden war, hatte ihn in seinem Instinkt für die Stimmung auf der Straße … noch bestärkt. Doch während er mit den Massen im Ausland leichtes Spiel hatte, waren die Massen zu Hause weit weniger begeistert“.127 Sie waren nur schwer zu bewegen. Im Ausland wurde Gorbatschow von Sympathien getragen und feierte er seine größten Triumphe. 1990 erhielt er den Friedensnobelpreis. Nach dem bahnbrechenden, von Außenminister George Shultz unter Präsident Reagan erwirkten INF -Vertrag 1987 über die gegenseitige Verpflichtung zur weltweiten Abschaffung aller landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen (IntermediateRange Nuclear Forces), der Vereinbarung eines Zieles, kam es schließlich zu den Rüstungsbeschränkungen in den Strategic Arms Reduction Talks, dem START I- und START II -Vertrag der USA und Rußlands 1991 und 1993 und dem ABM -Vertrag (Anti-Ballistic Missiles) zur Begrenzung der Raketenabwehr.

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In einer Rede vor den Vereinten Nationen im Dezember 1989 kündete Gorbatschow eine Initiative zum umfassenden Abbau auch der konventionellen Streitkräfte an. Präsident Bush und sein Außenminister Baker waren nun bemüht, die Initiative den Vereinigten Staaten vorzubehalten und die kleineren und auch die osteuropäischen Staaten einzubeziehen. „Rom, Madrid und Lissabon vertraten ganz eigene Standpunkte; aber die Regierungschefs legten großen Wert darauf, die ironische Dichotomie hervorzuheben, in der sich das Bündnis befinde: Einerseits gebe es Gorbatschow, der einem zusammenbrechenden System vorstehe, im eigenen Land kaum Widerstand erfahre und über kein Rezept verfüge, um den Gärungsprozeß in Osteuropa aufzuhalten; andererseits gebe es den lebenssprühenden, erfolgreichen, dynamischen Westen, der sich dennoch hilflos Gorbatschows Vorschlägen ausgesetzt sehe“.128 Dem amerikanischen Außenminister wurde „bewußt, daß wir seinem Geschick irgend etwas entgegensetzen müßten.“

Auflösung des Ostblocks und staatliche Vereinigung Ostdeutschlands mit Westdeutschland Nur neue, kühne Initiativen vermochten auf nächste Sicht politische Führung sichtbar zu machen und gar zu gewährleisten. Gorbatschow war zum Herausforderer geworden. Nach Amtsantritt des Präsidenten George Bush im Januar 1989, der zu einer NATO -Gipfelkonferenz nach Europa kommen wollte, geriet der Diskurs über die Raketen unversehens zu einem Wettbewerb zwischen amerikanischer und russischer Seite über Abrüstungsvorschläge. Man ging hierbei von einer beträchtlichen zahlenmäßigen Unterlegenheit der NATO dem Warschauer Pakt gegenüber aus – etwa im Verhältnis 90 zu 1400. Außenminister Baker hielt gegen erhebliche Widerstände im Weißen Haus an einer amerikanischen Initiative fest, um von Seiten der USA eine Reduzierung um ein Viertel vorzuschlagen, was keinen gravierenden Abbau bedeutete, aber vor russischen Aktio-

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nen dem Präsidenten die Initiative sicherte und doch die Einheit der NATO gewährleistete. Von einer Breite gewinnenden öffentlichen Diskussion in der Sowjetunion begleitet („Glasnost“129), führte das Unternehmen einer Modernisierung von Staat und Gesellschaft in den Jahren 1989 und 1990 in eine schwere Krise. Wirtschaftsprobleme, vor allem zunehmende Versorgungsmängel, Streiks, neue Parteibildungen und Abspaltungen, Machtkämpfe, ein schier grenzenloser, aber „rudimentärer politischer Pluralismus“130 und heftig aufbrechende Unabhängigkeitsbestrebungen der Unionsrepubliken führten zum Zerfall der Sowjetunion in ihrer überkommenen Gestalt. Auch in den Ländern des Ostblocks setzten unaufhaltsame Umwälzungen ein. Ereignisse der großen weltpolitischen Wende fallen in das Jahr 1989. Zu den Daten zählt auch ein chinesisches Ereignis: Das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, das in seinen Wirkungen weithin die Überzeugung von einem friedlichen chinesischen Weg zum Weltkommunismus zerstörte. In den folgenden Monaten überstürzten sich die Ereignisse in Ostund Mitteleuropa. „Das Tempo der Wende gehörte ebenso zur Dynamik des Gesamtprozesses wie die grenzüberschreitenden Auswirkungen, die die Kampfansagen an die kommunistischen Machthaber in den einzelnen Staaten hatten. Die Verkettungen waren evident …“131 In Polen beschworen Transparente mit der Aufschrift „1789–1989“ das „Bild zweier Revolutionen“132 unter verachtender Auslassung aller anderen. Der bekannte tschechische Schriftsteller Václav Havel, als Dissident noch zu Beginn des Jahres 1989 in Haft, wurde am Ende des Jahres zum Staatspräsidenten der tschechischen Republik gewählt. In der Prager wie in der Warschauer Botschaft der Bundesrepublik strömten im Spätsommer Flüchtlinge aus Ostdeutschland zusammen, deren Ausreise in Sonderzügen Außenminister Genscher in Verhandlung mit Ostberlin herbeiführen konnte. Die ungarische Regierung öffnete für Flüchtlinge aus Ostdeutschland die Grenze nach Österreich. Im September kam es zu Demonstrationen mit zunehmender Teilnehmerzahl

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für die Gründung eines „Neuen Forums“ zunächst in Leipzig, die weite Wirkung zeitigten. Am 4. November demonstrierten weit über 500000 Teilnehmer in Berlin. Am 18. Oktober hatte der ostdeutsche SED -Machthaber Erich Honecker seine Ämter niedergelegt.133 „Wie die sprichwörtliche Bombe“ schlug dann „die Nachricht von der Öffnung der Grenze am Abend des 9. November im Deutschen Bundestag ein“. Wenige Tage später begann in Berlin der Abriß der Mauer.134 Mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte am 13. November die Volkskammer in Ostberlin Hans Modrow. Sicherlich „hätte alles auch ganz anders kommen können“.135 Die Zuspitzungen in der DDR und in Ostberlin fügen sich in das Bild eines Umsturzes im gesamten Ostblock. Die nicht abgebauten Konfliktstoffe kumulierten mit den sich erneuernden Nationalbewegungen, die auch fast alle ethnischen Gruppen Rußlands hervorbrachten.136 Die „Umwandlung des überzentralisierten Einheitsstaates in eine echte Förderation wurde zu sehr in die Länge gezogen“.137 Der Streit um die Angliederung des zur Republik Aserbaidschan gehörenden, überwiegend von Armeniern bevölkerten autonomen Gebietes Nagorny-Karabach führte 1990 in einen verlustreichen Bürgerkrieg, der mehrere Jahre dauerte. Eine föderative Reorganisation der Sowjetunion mißlang, seitdem sich die baltischen Länder, Litauen, Estland, Lettland, dann Georgien, die Ukraine, Weißrußland, Moldawien, Aserbaidschan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan, Armenien und Turkmenistan in rascher Folge zu verselbständigen begannen. Immerhin gelang im Dezember 1991 mit der offiziellen Auflösung der USSR die Gründung eines lockeren Verbandes souveräner Staaten durch einen Vertrag in Minsk zwischen Rußland, der Ukraine und Weißrußland, dem in einer Konferenz in Alma-Ata zwei Wochen später acht weitere Staaten beitraten.138 Mit der Gründung der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten)139 endete die Präsidentschaft Gorbatschows an der Spitze der Sowjetunion, der sich in einer Fernsehansprache am 25. Dezember 1991 mit starken, selbstbewußten Worten vom

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Volk der Russen verabschiedete. Fraglos war er in seinem großen Vorhaben gescheitert; aber er bezeugte auch in der letzten bedeutenden Amtshandlung kluge Einsicht, aufgeklärte Kenntnis in einem Maße, das historische Größe erkennen läßt. „Das Schicksal hat es so gewollt, daß in dem Moment, als ich an die Spitze des Staates kam, schon klar war, daß etwas mit dem Staat nicht stimmte. Es ist alles im Überfluß vorhanden – Land, Erdöl und Erdgas, andere Bodenschätze, aber auch mit Verstand und Talent hat uns Gott nicht benachteiligt. Dennoch leben wir viel schlechter als die Menschen in den hochentwikkelten Ländern, und der Rückstand wird immer größer. Die Ursache war schon damals erkennbar. Die Gesellschaft erstickte im Würgegriff des administrativen Kommandosystems. Zum Frondienst an der Ideologie verurteilt, mußte sie auch die schreckliche Last des Wettrüstens tragen und lebte am Rande ihrer Möglichkeiten. Alle Versuche von Teilreformen – und davon gab es nicht wenige – scheiterten einer nach dem anderen. Das Land verlor die Perspektive. So konnte man nicht weiter leben. Alles mußte von Grund auf geändert werden“.140 Unter alten Funktionären und Diplomaten entstand zunehmende Gegnerschaft zu einer Politik „der ehrgeizigen und machtgierigen Hoffnungen und Träume Gorbatschows“141. Aber sorgfältig abgewogene Beurteilungen setzten sich durch. Hierzu trug das völlige Mißlingen des großen Putschversuches am 19. August 1991 bei.142 Den Proklamationen am frühen Morgen dieses Tages folgte alsbald eine gegenteilige Erklärung des Vorsitzenden des russischen Obersten Sowjets, daß diese Vorgänge verfassungsfeindlich seien und der gewählte Präsident – eben Gorbatschow, der auf der Krim weilte, – in sein Amt zurückkehren werde.143 Dies war die erste Stunde Boris Jelzins, der gegen Ende des Jahres an die Stelle Gorbatschows trat und das höchste Staatsamt der GUS übernahm, um es für die letzten Jahre des Jahrhunderts durch eine verwirrende Geschichte Rußlands zu steuern,144 bis ihm der bis dahin weitgehend unbekannte, kurz zuvor zum Premierminister aufgestiegene Geheimdienstchef Putin nachfolgte.145

Auflösung des Ostblocks

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Diese Dinge waren nach dem Auseinanderfall des Ostblocks so weit gediehen, daß auch Folgerungen für Ostdeutschland unausweichlich schienen. Den Deutschen fiel die Wiedervereinigung wie ein Geschenk zu, nachdem sich Massendemonstrationen in Städten der sowjetischen Besatzungszone ereignet hatten, die gewaltlos verliefen.146 Die Politik der Abschreckung zwischen den Großmächten ging zu Ende. Unter dieser Voraussetzung verlor die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten ihre langjährige Bedeutung. Sie konnte aufgehoben werden, Deutschland wieder zusammenwachsen. Die amerikanische Seite war entschlossen, die Situation zu nutzen und sich als Promotor der deutschen Widervereinigung hervorzutun. Schon Präsident Reagan forderte den Abzug der russischen Truppen aus der DDR . Sein Nachfolger Bush tat es ihm nach. Doch das fand in Europa nicht sogleich Zustimmung. Margaret Thatcher, die konservative britische Premierministerin, verschweigt keineswegs Verwunderung und Befremden: Nach dem Amtsantritt „der neuen Mannschaft im Weißen Haus sah ich mich mit einer Regierung konfrontiert, welche die Bundesregierung Deutschland als ihren führenden Partner in Europa betrachtete, ferner die europäische Integration förderte, ohne anscheinend deren Folgen ganz zu überblicken …“ Sie „erkannte sofort, daß diese Entwicklung erhebliche Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Kräfte in Europa hatte, wo ein wiedervereinigtes Deutschland eine führende Rolle einnehmen würde“.147 Am 28. November 1989 eröffnete Bundeskanzler Kohl während einer Rede im Bundestag die Diskussion durch einen maßvollen Zehn-Punkte-Plan – „einen relativ bescheidenen Vorschlag“148, über den umgehend Präsident Bush telefonisch unterrichtet wurde. Die amerikanischen Bedingungen bestanden auf der NATO -Mitgliedschaft auch des künftigen Deutschlands und der Anerkennung der europäischen Grenzen, was schließlich nach Vereinbarung mit Gorbatschow in sogenannten „Zwei-plus-Vier-Gesprächen“ zwischen den Staatschefs der vier einstigen Kriegsgegner Deutschlands und den Regierungs-

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Auflösung der weltpolitischen Blöcke

chefs der beiden noch existierenden deutschen Staaten vom Mai bis September 1990 zu gegenseitigen Klärungen führte. Seit dem 2. Oktober ist Deutschland wieder vereinigt. Die verschiedenartigen Folgen des danach einsetzenden Prozesses wurden kaum deutlich vorausgesehen. „Die Kehrseite dieses selbstherrlichen Staates, der vorgibt, auch über das Blühen von Landschaften oder die Zahl der Arbeitslosen gebieten können, ist, daß er die Kosten der Wiedervereinigung ebensowenig aufdecken darf wie die der Sozialpolitik“.149 Auch die Gewerkschaften sind erstarkt, für einige ihrer Führer „eine außerparlamentarische Kraft“ mit der Potenz einer „außerparlamentarischen Opposition“.150 Unter der Präsidentschaft Clintons – während der Jahre 1993–1997 – gelangten osteuropäische, vor allem polnische und tschechische Bestrebungen zum Ziel, die NATO nach Osteuropa hin zu erweitern. Von vornherein lag es aber in der Absicht der amerikanischen Seite, die Transformation Rußlands hierdurch nicht zu gefährden. Im Verlaufe mehrerer Begegnungen Clintons mit Jelzin konnte Einvernehmen über eine zusammenführende NATO erreicht werden mit einer Beitrittsoption auch Rußlands auf weitere Sicht.151

In globaler Sicht: ein neues Zeitalter

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VII Regionale Konflikte und Kriege In globaler Sicht: ein neues Zeitalter Wer die Welt umrundet – längst kein seltenes Ereignis mehr –, benötigt keine raffiniert ausgefüllten achtzig Tage, wie es Jules Verne 1873 in einem spannungsreichen Zukunftsroman schilderte, sondern mit Flugzeugen nicht einmal dieselbe Zahl von Stunden. Die ganze Welt zu erfahren, was freilich nicht bedeutet, schon alles zu sehen, zu begreifen oder zu verstehen, könnte Ziel und Zweck vieler Jedermanns sein, die über Geld und etwas Zeit verfügen. Von der sich immer mehr verkürzenden Spanne der Übermittlung von Nachrichten in Bild und Ton ist hier nicht zu reden. Viele Menschen rücken in vielen Zentren der Regionen dieser Erde einander ständig näher. Vor diesem Hintergrund ist konstatiert worden, daß das Bevölkerungswachstum in muslimischen Ländern besonders hoch ist. „Auf Jahre hinaus werden muslimische Populationen unverhältnismäßig junge Populationen sein, wobei die Altersgruppe der Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen demographisch auffällig ist. Die Menschen dieser Alterskohorte werden darüber hinaus überwiegend urbanisiert sein …, Protagonisten von Protest, Instabilität, Reform und Revolution“.1 Es gibt offenbar keinen beschreibbaren Rhythmus der zutage tretenden Bewegungen. Aber Probleme werden im Laufe der jüngste Geschichte gehäuft sichtbar. Wer vor dem ersten Weltkrieg geboren wurde und das zwanzigste Jahrhundert durchleben konnte, erfuhr oder erlitt mehrfach Umbrüche oder Zusammenbrüche in der Staatenwelt und wirtschaftliche wie politische Krisen. Trotz dieser Bewegungen mochten sich Gewohnheiten behaupten, mental und psychisch

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Regionale Konflikte und Kriege

festigen, gar als Essenz des Daseins begreifen lassen; doch sukzessive Partizipationen an der Entwicklung politischer Konstruktionen und Reaktionen folgten keiner deutlichen Regel. Von den Brüchen blieben in Europa die breiten Schichten der Bevölkerung nur in England und Irland, in der Schweiz und in Schweden größtenteils verschont so wie in den großen Staaten Nordamerikas, in den USA und Kanada. Die Masse, von der man – mit diesem Ausdruck – sprechen darf, wie auch viele Intellektuelle hielten sich vornehmlich an drastisch bekundete Wegweisungen. 1945 war die zwölfjährige totalitäre Phase der deutschen Geschichte beendet, die Herrschaft des Nationalsozialismus besiegt, vernichtet, zusammengebrochen, bald schon vergessen, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen, von Gedächtnisaufarbeitungen und von Gedenkstätten abgesehen. Zu den Siegern von 1945 gehörte die vernichtend und triumphierend in Berlin einziehende Sowjetunion, deren ebenfalls bald totalitär genanntes Regime unter dem siegreichen Führer Stalin schon länger dauerte und nun im Sieg über Deutschland neue Stärke gewann. Die drei Weltmächte, die Vereinigten Staaten, Rußland und schließlich China, blieben fortan von neuen Weltkriegen verschont. Doch mehr als 200 regionale Kriege und viele schwere Konflikte folgten auf den zweiten Weltkrieg. Allein in der ersten Hälfte der neunziger Jahre waren 71 Staaten in 95 Kriege verwickelt, in deren Verlauf insgesamt fünfeinhalb Millionen Menschen ums Leben kamen.2 Neue Staaten haben sich gebildet; einige sind erschüttert oder zerrüttet worden. Die Formen des Krieges und der militärischen Aktionen wandelten sich. Doch Waffen scheinen allerorten in Spannungsfällen verfügbar, alte wie neue und höchst moderne, viel vernichtende. Sogar Raketentechnik und Atomwaffen haben sich vermehrt. Neben der USA und Rußland sind Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea zu Atommächten geworden; und noch eine andere lebensvernichtende Waffe ist entwickelt: Anthrax.3 Die Vorsorge der Regierenden hat bislang einer Anwendung

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dieser Waffen entsagt. In der Bindung völkerrechtlicher Verträge konnten sich Abschreckung und Vernichtungspotentiale bislang als stabilisierende Faktoren erweisen. Die Ausbreitung und Verschärfung von Konflikten geschieht einstweilen auf andere Weise und mit anderen Mitteln. Die Bestimmung von Clausewitz, Krieg sei ein „Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen,“ aber letztlich „ein wahres politisches Instrument … eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“4, unterliegt einer Vervielfältigung der anwendbaren Mittel, die immer größer werdende Bedeutung gewinnt. Nachdem im zweiten Weltkrieg Kriegführung wie Kriegsziele in Mittel- und Osteuropa in ethnische Vertreibungen und Vernichtungen ausarteten, kam es zu vorher unbekannten Exzessen. Dies nahm bislang eine nationale Historiographie zur Kenntnis, ohne epochale wie globale Sichtweisen zu entwikkeln, auch ohne Einsicht in die schier unaufhaltsame Enthumanisierung der nur noch aufs Feindetöten fokussierten Kriege, Anschläge und Bürgerkriege. Neben den stehenden und mobilisierbaren Heeren mit konventioneller, technisch fortschreitender Bewaffnung konnten sich die nach dem zweiten Weltkrieg weiter und rascher ausbreitenden Guerrillas – wie schon im Partisanenkrieg – als ein neuer Typ des Kampfes immer häufiger durchsetzen. Der „low intensity war“, der mit kleinen Verbänden, aber stetem Rückhalt in Teilen der Bevölkerung mit leichten Waffen geführte Kampf, hat sich mitunter auch gerüsteten starken Gegnern gegenüber als erfolgreich erwiesen.5 Die verschiedenartigen Gründe sollen hier nicht untersucht werden. Festzuhalten bleibt, daß für manche Guerrilleros über Jahre Kampf und Kampftraining zum Beruf und Lebenszweck werden können. In den sich vergrößernden Armutszonen der Erde dürfte dies einem Gewaltverzicht in politischen Auseinandersetzungen nur begrenzte Aussichten eröffnen. Daraus läßt sich aber auch folgern, daß die Zukunft der jeweiligen Staaten, zumindest ihrer Machthaber ständig auf dem Spiele steht. Mit Entwicklungshilfen im bisherigen Sinne wird sich nur in engen

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Grenzen etwas ausrichten lassen. Tritt als absicherndes Moment eine militarisierte Form der Verherrlichung von Gewalt, Männlichkeit und Jugend hinzu, die stetig weiter gedeihen kann, mit deutlicher „Tendenz zu einem autoritären, charismatischen, personalisierten Führungsstil“ – das meint Gefolgschaft strukturierende Beziehung zu einem Führer6, da entsteht das, was man häufig als Eigenheit des Faschismus betrachtet. Er scheint vergangen und ist doch nicht aus der Welt. Auf der Grundlage statistischer Erfassung ist erkannt worden: „Die meisten Kriege der Gegenwart sind Bürgerkriege. In der Regel sind es schwelende Konflikte, die immer wieder – auch in größeren Abständen – plötzlich in aktive Gewalt umschlagen“.7 Die meisten Schauplätze und Zentren steter Unruhe finden sich in Süd- und Ostasien, im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, im nördlichen und westlichen Südamerika sowie in den meisten mittelamerikanischen Staaten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbarte sich ein neuartiges Paradox: „Die wirtschaftliche und soziale Modernisierung umfaßte die ganze Welt, und gleichzeitig fand eine weltweite Renaissance der Religion statt.“ Schließlich ist gesagt worden, diese „Renaissance, la revanche de Dieu,“ habe am Ende „jeden Kontinent, jede Zivilisation und praktisch jedes Land erfaßt“.8 Lassen wir dies dahingestellt. Aber es bleibt die Erkenntnis eines Strebens nach „Wiedergewinnung eines sakralen Fundaments für eine Gesellschaftsordnung“ – nach dem Zusammenbruch und Versagen totalitärer Ideologien. Dies gelang in der religiös fundierten Erneuerung eines jüdischen Staates in Palästina und weit darüber hinaus in weltweit dominierenden Tendenzen des Islam, so daß gar „Islamisierung der Moderne“ zum Schlagwort werden konnte.9 Viel diskutierte Begriffe wie auch Theorien zur Demokratie, zum Pluralismus und Parlamentarismus wie ihren Gegenbildern, „Diktatur“, „Totalitarismus“ und „Einparteienstaat“ (recte: Einheitsparteistaat), die die Nachkriegsgeschichte Europas über Jahrzehnte belebten, sind dahingegangen.10 Zugrunde lag das Bestreben, nach der Krisenabfolge des Jahrhunderts, angesichts der politischen Wirkung propagierter Ideologien mit

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den erfahrenen Auswirkungen mehrerer Formen der Tyrannis neue, sowohl überzeugende als auch politisch pragmatische Orientierungen zu geben. Man mußte, mit anderen Worten gesagt, Lösungen erproben für die existentiellen wie auch künftigen Probleme der Massenstaaten mit stetig wachsenden Bevölkerungen und in neue Größenordnungen vorstoßenden Riesenstädten11 – sogar in noch wenig entwickelten Ländern. Regierungen wie Völker sollten allgemein anerkennungsfähige Regeln nach vorwiegenden Wertvorstellungen finden. Europa gerät indes in neue Bewegung. Ein gewiß parteiisch, nationalistisch, einseitig urteilender, aber international erfahrener einstiger russischer Politiker schrieb vor einigen Jahren: „Ein riesiger Kontinent mit einer buntgemischten Bevölkerung von fast 300 Millionen Menschen wird neu aufgeteilt. Die wahren Folgen dieser tektonischen Verschiebung werden erst in Jahren und Jahrzehnten sichtbar werden. Aber bereits heute ist eines unbestreitbar: In ihren regionalen und globalen Ausmaßen sind diese Folgen – bei allen Besonderheiten der Epoche – noch gewaltiger als die Veränderungen beim Zerfall des ersten und zweiten Roms zusammengenommen“.12 Doch ein „drittes Rom“ hat es – auch im Osten – nie gegeben. Dennoch bleibt zu entgegnen, daß sich heute wie einstmals neues Leben zu regen beginnt. Harold Laski, in England einer der Begründer einer Wissenschaft von der Politik als Verbindung von politischer Theorie und politischer Soziologie, Vorsitzender der Fabian Society, Unterhausabgeordneter, 1945–46 Vorsitzender der Labour Party, sprach sehr entschieden vom Pluralismus. Dieser Begriff fußte auf einer nach Erfahrungen mit totalitären Systemen entwickelten Theorie, die eine neue Konkretisierung der Demokratie anstrebte in freien wie legitimen Gruppen- und Gemeinschaftsbildungen. Sie war von Otto von Gierkes Genossenschaftslehre angeregt. Auch die Demokratie als Staat großer Massen kann nur bestehen aus Interessen und auf solidarische Gegenseitigkeit eingestimmten Korporationen, Verbänden, Vereinen, Berufsorganisationen wie Gewerkschaften – und was sonst noch

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zusammenfindet und Dauer gewinnt. Umgrenzte Gruppen oder Kollektive sollen sich im pluralistischen Verbändestaat frei bewegen und selbsttätig Regeln schaffen, nachdem sich die Hoffnung mancher Sozialisten verloren hatte, den Parlamentarismus „zum Werkzeug des Proletariats zu machen“.13 Noch bevor man von Totalitarismus sprach14, wurde die auffallende Beziehung zwischen permanent erzeugter Massenbegeisterung und einem sich an messianische Wort- und Bildprägungen anlehnenden Führertum mit dem Ausdruck der „politischen Religion“ bezeichnet.15 Totalitarismus ist ein gewiß schwieriger und auch umstrittener Begriff.16 Er relationiert genetisch aufeinander folgende Ereignisse, summiert von ihrer Wirkung her Phänomene und ergründet Strukturen verschiedenartiger Staatswesen, die – dieser Phänomene halber – miteinander verglichen werden. Totalitarismus bezeichnet den Staatstypus, der sich – nach historischen Anläufen17 – im 20. Jahrhundert mehrfach geschichtsbestimmend durchsetzte. Die Wurzeln des Nachdenkens und des Theoretisierens sind verschiedener Art. Die Denkformen wechseln. Doch das Faktum der Vernichtung um des nächsten Zieles, der Aufrichtung neuartiger Herrschaftsmacht willen bildet das dominierende Objekt, das sich jedem bewußt Erlebenden aufdrängt, wie früh schon einem deutschen Korrespondenten in Moskau 1918, der vom „revolutionären Totalismus Lenins“ schrieb und von dem „Gräßlichen der planmäßigen Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsklasse“.18 Dem entsprachen vor und im zweiten Weltkrieg im deutschen Machtbereich Verdrängungen und schließlich systematisch betriebene Vernichtung der erreichbaren und kenntlich gemachten Juden. Dies alles geschah in dem „Jahrhundert des Totalitarismus“.19 Daß dieser Ausdruck auch Anwendung finden kann auf die mittlerweile zahlreich gewordenen, durch massenhafte Vernichtung zu Macht gelangenden kriegführenden Gruppen, Stämme, Banden oder Völkerschaften vor allem in Teilen Afrikas und Asiens wie auch in Ländern Lateinamerikas steht kaum in

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Frage. Die Ideologie scheint auf Formen, Riten, Mythen oder religiöse Neigungen geringsten Erfahrungsanspruchs, die Reflexion menschlicher Beziehungen auf begrenzte Gruppen diminuiert. Menschenrechte einer europäischen Aufklärung sind dieser Welt aus Waffen und Blut unbekannt, nachdem die Ambivalenz kolonialer Regierungen definitiv geendet hat. „Die Dekolonisation, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist … ein Programm absoluter Umwälzung“, schrieb 1961 der literarisch einflußreiche Afroamerikaner Frantz Fanon.20 „Die Masse denkt nur bis übermorgen“, schrieb einst Max Weber.21 Aber in vielen Menschen ist offenbar der Drang und vielleicht ein tiefes Sehnen nach geordneter Gemeinschaft angelegt. Schon nach dem ersten Weltkrieg hatte der idealisierte strenge Dienst mit der Waffe eigentümliche Gefühle nicht nur in Europa sondern auch in Amerika hinterlassen. „Obgleich der Dienst mörderisch war, war der Bürger unter Waffen erfüllt von einer glühenden Überzeugung: Er hatte eine Mission ohne materiellen Eigennutz; und die Nation erwies ihm Ehrfurcht und Bewunderung, wie er sie im allgemeinen seither nicht mehr erfahren hat“; und „dieses Gefühl erstreckte sich in gewisser Weise auch auf die Zivilbevölkerung“.22 Darauf konnten auch Diktatoren bauen. Die alte Guerrilla Südamerikas, Partisanen des zweiten Weltkriegs und schließlich die revolutionäre, kommunistische Erneuerung Chinas unter Führung Mao Zedongs gaben Jahrzehnte hindurch weltweit wirkende Beispiele. Sie brachten den Erweis eines „beträchtlichen Rebellionspotentials“ einiger „in ihrer Existenzgrundlage erschütterten, traditionellen Bauerngesellschaften“.23 Wir behelfen uns mit dem summarischen Ausdruck des „ethnischen Radikalismus“, der hintergründiges Einwirken supraethnischer, namentlich religiöser Regulatoren nicht ausschließt. Revolutionsbegriff und Revolutionsverständnis unterlagen und unterliegen fortschreitendem Wandel.24 Doch Revolutionen dauern fort. „Es blieb das Schwanken der Oberschicht und des Militärs, und es blieb der radikale Appell an die Massen von rechts und links,“ wenn man mit Maßstäben nach europäischen Erfahrungen mißt. Auch

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Gegenkräfte wähnen sich mitunter auf einen Weg in die Diktatur verwiesen.25 Doch dies ist die Crux: Versagt die rationale Verständigung über objektivierbare Probleme vor einem vorbehaltlosen Drang nach Macht und Geltung, so droht das Umschlagen der Ordnung menschlicher Gesellschaft in Kampf, Zerstörung oder absolute Herrschaft. Diese Überlegungen erneuern und erweitern sich angesichts anders gearteter Voraussetzungen der Politik in Übersee, in Ostasien, weithin in Lateinamerika und in Afrika, in den sogenannten „Entwicklungsländern“, die wirtschaftliche Hilfen wohl benötigen, aber in ihren politischen Entwicklungen eigene Wege einschlagen. Neue Staaten entstanden. Es gab und gibt Verfassungen, häufig auch Wahlen; doch die Regimes entwickeln sich in gestaltenreichem Wechsel unter dem Einfluß historischer, ethnischer, religiöser und wirtschaftlicher Gegebenheiten. Es gab allenthalben Auseinandersetzungen, häufig Kämpfe zwischen Autoritäten, Gruppen, Klans, Cliquen – vornehmlich der Generalität, der Armee, der Geistlichkeit – um den Vorrang im Staat, über die Macht im Staat oder gar über jedwede Art von Politik im Innern wie nach außen. Das in Westeuropa vorherrschende Bild des verfassungsrechtlich geordneten Parteienstaates mit der Regierungsbildung durch parlamentarische Mehrheiten nach Wahlen mit Programmen und hervortretenden Persönlichkeiten – und funktionsstarken Medien – läßt sich vereinzelt, aber keineswegs als beständiges System in „Entwicklungsländern“ beobachten. Die landläufig als Demokratie bezeichnete Staatsform hat sich nach dem zweiten Weltkrieg dauerhaft in Nordamerika, im westlichen Europa, in Australien, Neuseeland und noch in Israel behauptet, doch nur in wenigen Ländern Afrikas ausbreiten können. Mit einem Ausbrechen aus der Ordnung, einem drastischen Abweichen von den Alltäglichkeiten des Daseins ist in jedem Leben in jeder Gemeinschaft zu rechnen, sofern nicht tradierte Vorstellungen und Mächte dies wirksam unterbinden, zu relativieren, zu begrenzen, wenn nicht gar von Grund auf jedwede Haltung im voraus zu disponieren vermögen. Der Befund einer

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weiten Untersuchung hierzu fiele wohl nach Regionen und Ethnien recht unterschiedlich aus. Die Erlebniswelt ist individuell geprägt, wenn auch in sozialen Beziehungen und Bedingungen aufgehoben, deren Anteil sich indessen im Einzelfall nicht verläßlich bestimmen läßt. Man mag gar folgern, daß sich die soziologische Komponente im Tun und Lassen, im Denken und Wollen mit jedweder ermittelten Konfiguration des Selbstseins der Individualität auf undefinierbare Weise miteinender vereinen. Diese historische Unschärferelation voraussetzend, mag man über eine unermeßliche Vielfalt von Erscheinungen im Leben nachdenken. Eine „Harmonie der Welten … ist ein Rechtfertigungsprinzip auch jeder bestehenden Ordnung … unsere grundsätzlich unfertige, stets offene demokratische Staatsform vertraut in rationalem Optimismus auf die Harmonie des diskursiven Entscheidungsprozesses ihrer … politischen Willensakte“.26 Dies ist die rationalistische Utopie der Europäer. Offenbar sind Menschen seit jeher im Begriff, Regeln zu entdecken, auch Regeln für menschliches Verhalten zu bestimmen. Daraus entwickeln sich Religionen – als historisch erste und größte Ordnungsstifter – wie politische, mit dem Monopol der Macht in umgrenzten Territorien ausgestattete Ordnungen, die wir Staaten nennen. Ein französischer Historiker äußerte in einer seiner späten Betrachtungen: „Jede Kultur besteht aus einander überlagernden, lebendigen, sich gegenseitig bekämpfenden Schichten. Zuunterst kommen die primitiven Überzeugungen und der Aberglaube – sie haben ein langes Leben, sie sterben nicht so leicht –, darüber die festgefügten Religionen mit einer zusammenhängenden Lehre, die sich schon sehr bald zu einem eroberungsfreudigen, herrschsüchtigen, eigensinnigen Überbau aufwerfen … Und später entwickeln sich dann die Ideologien im weiteren Sinne des Wortes“, um „mit ihren Rauchschwaden alles zu vernebeln“27. Die Geschichte erscheint gleichsam als Analogon zu einem Vulkanausbruch. Die Stratigraphie läßt sich wohl in jeweiligen Zonen der Erde in ihrer regionalen oder gar lokal eingegrenzten Bedeutung verifizieren

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und variieren. Und es gibt im Laufe der Geschichte zunehmend globale Beziehungen, Verbindungen, Zusammenhänge und Vorgänge, die das Bild der Schichtungen tangieren. Aber auch das Gesetz fortgesetzter Beschleunigung in der Geschichte rückt in ein Zentrum der Aufmerksamkeit, wie Huntington schon einen chinesischen Autor zitiert: „Wir sind Agrargesellschaften, die innerhalb von einer oder zwei Generationen industrialisiert worden sind. Was im Westen zweihundert Jahre und mehr beansprucht hat, vollzieht sich hier in rund fünfzig Jahren und weniger. Alles ist in einen engen zeitlichen Rahmen gezwängt, so daß es zwangsläufig zu Verzerrungen und Funktionsstörungen kommen muß. Wenn Sie sich die rasch wachsenden Länder ansehen …, so gibt es dort ein bemerkenswertes Phänomen: den Aufstieg der Religion … Es gibt eine Suche nach irgendwelchen höheren Erklärungen über den Zweck des Menschen, über die Frage, wozu wir hier sind“. Den „Grund für einen weltweiten Aufschwung der Religion“ sieht Huntington „in der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ganze Welt erfaßt hat,“28 in globaler Mobilisierung und der Gegenwehr also. Das Menschenbild bliebe unvollkommen, wenn es nicht die Neigung zur Gewaltanwendung, zum Haß und zur Grausamkeit einschlösse. Kulturleistung, Staatsbildung, politische Ordnungen und ihre Geschichte erzeugen Verfeinerung, Veredelung und Rationalisierung, von der schließlich die Geschichte der Wissenschaften Zeugnis ablegt. Aber starke Abweichungen, die man Rückfälle, Ausfälle oder Regressionen nennen mag, fehlen nicht.29 Das möge man im Auge behalten, wenn eine Form von Grausamkeit oder gar Menschenvernichtung weltweit bekannt wird. Soweit Ursachen erforscht und nicht nur Meinungen der Kombattanten berichtet werden, treten verschiedene Momente in Erscheinung, die sich in stärker werdender Relevanz in die globale Entwicklung einschalten und bedacht werden müssen. Als ein Element der Politisierung erscheint seit einigen Jahren

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der bis in extreme Posen entwickelte Kampf, Handstreich oder Widerstandsakt, der nicht nur oder nicht einmal in erster Linie Gegner schlägt oder vernichtet, sondern Kampfgeist und Vernichtung demonstriert, um Aufsehen und wahrscheinlich Furcht zu erregen, und der über tragende oder symbolisch tragende Elemente der bestehenden Ordnung zu triumphieren und andere zum Mittun zu bewegen versucht. Das weltbekannte Geschehen am 11. September 2001 in New York und der vermutete Hintergrund einer hierzu tätigen und befähigten Organisation gibt das sinnfällige Beispiel, das mit dem Begriff des Terrors verknüpft ist, bei weitem nicht „einer neuen Erscheinung“ wie zu Recht festgestellt worden ist. „Neu sind allenfalls die weltweiten Dimensionen und die noch gesteigerte Grausamkeit von Waffen und Erpressungsmethoden. In ihnen spiegelt sich jedoch die allgemein erhöhte Verwundbarkeit moderner Zivilisationen, die sich sogar mit der apokalyptischen Möglichkeit der Selbstvernichtung konfrontiert sehen, auch wenn sie bis heute den terroristischen Zugriff auf atomare Zerstörungsmittel zu verhüten wußten“.30 Aber auch die Meinung läßt sich vernehmen, dies sei „an einen sich rasch ausbreitenden Staatszerfall gebunden, der dem Terrorzweck vielfältige Verwurzelungsmöglichkeiten eröffnet“, die „weder an einen bestimmten Raum noch an eine bestimmte Kampfweise gebunden ist …“.31 Einer klaren, übersichtlichen, nutzenstiftenden Staats- und Rechtsordnung jüngeren europäischen Formates entbehren viele überseeische Staaten, was auf Dauer schwere eigentümliche Folgen zeitigt, wie nach Vergleichungen im globalen Zusammenhang deutlich werden kann.32 Hinzu kommt, daß die ökonomische Determination umgreifender gesellschaftlicher Vorgänge und Entwicklungen Lebenshaltung und Daseinsführung tangieren. Hieraus können – wenn eine Gesellschaft, ein Staat vorsorglicher Regulierungen ermangelt – Unzufriedenheit und Empörung erwachsen, die sich ideologisch vereinnahmen und darstellen, zur Rebellion und Kampfeswut steigern lassen, was spätestens mit der Lehre von Marx und Engels weltweit bekannt geworden ist. Der Deutungen gibt es viele. Wir halten

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fest: „Wenn aber der Bürgerkrieg den Kampf so leicht zu einem Kampf um das nackte Überleben – auf der einen oder auf beiden Seiten – steigert, und wenn von Anfang an … das Ehrgefühl einer Gruppe und der unbedingte Glaube an den Wert einer eigenen Religion, Kultur und Geschichte den Krieg auslösen und fortdauernd rechtfertigen, so sind die Chancen seiner Begrenzung und Einstellung gering. Gegner, die sich wechselseitig eine Vernichtungsabsicht zuschreiben und sich grenzenlos verachten, können einander nicht mehr trauen und wollen einander nicht mehr begegnen“.33 Man mag sich ein sehr sarkastisches Wort Mark Twains in Erinnerung rufen: „The joy of killing! The joy of seeing killing done – these are the traits of the human race at large“34. Die fortwirkende aggressiv ausartende Folklore aus vornationalstaatlichen Perioden, wie in Nordirland und bei den nach Selbständigkeit strebenden Basken in ihrem Land, sei hier nur beiläufig als altes europäisches Beispiel erwähnt.

An der Peripherie neuer Imperien Dies sei vorausgeschickt, um den Hintergrund jenes Trends zur bipolaren Ordnung der Welt nach dem zweiten Weltkrieg zu beleuchten, mit dem wir uns bisher vor allem anderen beschäftigt haben. Nach dem Kriege bildeten die beiden Größtmächte globale Einflußbereiche aus, in denen bis zum zweiten Vietnamkrieg Zonen politisch verdichteter Beziehungen stetig enger zusammenwuchsen. Mit guten Gründen ist von „neuen Imperien“ gesprochen worden.35 Rußland war seit dem Zarenreich ein Vielvölkerstaat und blieb es. Er brachte seit dem zweiten Weltkrieg sieben osteuropäische „Volksdemokratien“ in seine Abhängigkeit, Ostdeutschland – die DDR , Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Albanien und Bulgarien; Estland, Lettland und Litauen hatte er sich zuvor schon einverleibt. Die USA schufen enge Beziehungen zu ostasiatischen Staaten, die gelegentlich als Satelliten angesehen wurden: Ja-

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pan, Südkorea, Taiwan, Thailand, die Philippinen, bis zum Vietnamkrieg Vietnam, Laos und Kambodscha. Die großen volkreichen asiatischen Staaten zwischen den Imperien, Japan, Indien, Pakistan, Indonesien, das innerlich bewegte, außenpolitisch erfolgreich und konfliktlos operierende Birma (seit 1989 Myanmar) und allen voran China, blieben in ihrer Unabhängigkeit gänzlich unangetastet, wenn auch von den wechselnden Gegensätzen der beiden Größtmächte nicht unberührt. 1954 – nach dem ersten Indochina-Krieg – war Pakistan dem amerikanischen Paktsystem beigetreten, im Mai in einem bilateralen Abkommen mit den USA und im September durch Unterzeichnung des Südostasienpaktes – South East Asia Treaty-Organization, SEATO –, den die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Australien und Neuseeland mit den Philippinen, Thailand und Pakistan abschlossen,36 der sich aber nach dem Ende des zweiten Vietnam-Krieges 1977 wieder auflöste.37 Über Zwischenstationen verschiedener begrenzter Bündnisse hatten 1967 Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Thailand einen Staatenbund gegründet – ASEAN (Association of South East Asian Nations), dem später Brunei, dann Vietnam, Laos, Myanmar und 1999 auch Kambodscha beitraten. Er gewann im Laufe der Jahre Konturen und Beständigkeit – auch als erklärte nuklearwaffenfreie Zone, nicht zuletzt in deutlicher Distanz zur Großmacht China. Zwischen Japan und China hat faktisch seit 1948 das in zwei Staaten geteilte Korea auch ein geteiltes Nachkriegsschicksal erfahren. Das agrarisch ertragreiche Südkorea erlebte eine Periode hoher Industrialisierung, die der Bevölkerung ein hohes ProKopf-Einkommen sicherte (1995: 10 076 US -Dollar). Neben vielen anderen Industrien entwickelten sich vor allem die Bauwirtschaft, Schiffbau und Automobilproduktion. Ein gänzlich anderes Schicksal hatte das kommunistische, diktatorisch regierte Nordkorea, dessen Landwirtschaft für die Bewohner keinen ausreichenden Ertrag erbringt, so daß Hungersnöte nicht ausblieben. Dem um seinen Personenkult bemühten, weltweit werbenden, im Ostblock auch wirtschaftlich gestützten Diktator

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Kim Il Sung folgte 1994 Kim Jong Il.38 Seit dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion bleiben auswärtige Unterstützung und wirtschaftlichen Hilfen aus. Kim Jong Il versucht daher, sein rücksichtloses Regime im Innern, das auch Hungersnöte in Kauf nahm, durch Atomrüstungen nach außen zu stärken, um durch Bedrohung der Nachbarstaaten Südkorea, Japan, auch China wirtschaftliche Hilfen zu erzwingen. Bislang konnten Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den Regierungen Süd- und Nordkoreas eine Entladung angehäufter Spannungen verhindern. Doch vier Nuklearanlagen und ein geheimer Handel mit Raketenbauteilen vor allem mit Pakistan zeigen wachsende Gefahren an. Pakistan erscheint seit längerem als Unruheherd, der nicht nur von religiösen Gegensätzen, sondern auch von heftigen Rivalitäten zwischen Generälen und Parteiführern ausgeht. Diese Geschichte ist hier nicht zu schreiben.39 1977 bis 1985 herrschte Kriegsrecht. Ein Staatspräsident, Zulfikar Ali Bhutto (1971–1977), wurde 1979 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Seine Tochter, Benazir Bhutto, war zweimal Ministerpräsidentin und wurde zweimal – 1990 und 1996 – des Amtes enthoben, angeklagt und zuletzt verurteilt. Sie lebt in Haft. Indien befand sich mit diesem Nachbarn Pakistan häufig in wiederkehrendem Streit um Kaschmir, 1947–1949 und wiederholt im Krieg, zudem in heftigen militärischen Auseinandersetzungen, als das östliche Pakistan 1971/72 nach Selbständigkeit strebte. Dies führte zur Proklamation des Staates Bangladesh. Nach der kurzen, aber an erschütternden Ereignissen reichen Geschichte mit Militärputschen, der Ermordung zweier Staatspräsidenten und des Flugzeugabsturzes eines dritten erscheint diese junge Republik äußerlich parlamentarischen Zuschnitts mit über 130 Millionen Einwohnern und der größten Bevölkerungsdichte unter allen Flächenstaaten der Erde – bei rascher Vermehrung der Einwohnerzahl – zum Schauplatz politischer Kontraste nachgerade prädestiniert.40 Indien konnte zur Befriedung nichts beitragen. Die Erklärung des Islam zur Staatsreligion 1988 leitete nur eine kurze Phase der Beruhigung ein.

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Häufige Überschwemmungskatastrophen und die Importabhängigkeit des Landes bewirkten weitere Unsicherheiten. Ein 1997 erreichter förmlicher Friedensschluß der Regierung Bangladeshs mit den seit über zwei Jahrzehnten regen, wenn auch zahlenmäßig unbedeutenden buddhistischen Rebellen in den Bergen um Chittagong dürfte wohl Randerscheinung bleiben. Auch radikale Muslime, die keine Gegner dulden, geben keine Ruhe. Ein weiteres Unruhegebiet in Südasien entstand mit der Unabhängigkeit der Insel Ceylon, die bis 1948 als Kronkolonie und danach als Dominion dem British Commonwealth angehörte, ehe die buddhistisch-singhalesische Nationalpartei unter der Führung von Salomon Bandaranaike – aus aristokratischer Familie – zur Macht gelangte und die Unabhängigkeit des nun Sri Lanka genannten neuen Staates mit sozialistischer Programmatik begann.41 Der Bergbau fördert Graphit, Kaolin, Titan und Edelsteine. Dies ergänzt den ertragreichen Landbau, der das „Fröhliche Lanka“ zum drittgrößten Teeproduzenten der Welt – nach Indien und China – und zum bedeutenden Exportland für Kautschuk und Kokosnüsse werden ließ. Die Plantagen wurden seit 1975 größtenteils verstaatlicht. Doch dies war nicht mehr das Werk Salomon Bandaranaikes, der 1959 ermordet wurde, sondern – nach der Ermordung weiterer Amtsnachfolger – das seiner in das Amt des Premierministers gelangten Witwe Sirimawo Bandaranaike, die nach politischen Auseinandersetzungen und Kämpfen mehrfach mit der politischen Führung betraut war und einen Kurs verfolgte, der wirtschaftliche Hilfen auch aus Rußland und China gewährleistete. In den seit 1983 andauernden Bürgerkriegswirren wurden die politischen Auseinandersetzungen im Lande von ethnischen und religiösen Gegensätzen überlagert. Die weit überwiegende Bevölkerungsmehrheit der Singhalesen – mit wechselnden Mehrheitsparteien – befindet sich in einem ständigen Behauptungskampf gegen die Minderheiten vor allem der meist hinduistischen Tamilen und ihrer Guerrilla-Organisation, die „Tiger“, neben den islamischen Nachfahren einst arabischer Stämme. Von den im

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inneren Gebirgsland verbliebenen Ureinwohnern, den Wedda kann hier abgesehen werden. Indien schaltete sich ein. Doch eine erfolgreiche Beruhigung gelang nicht. Schließlich bleibt Osttimor zu nennen, eine alte Kolonie, zuletzt Überseeprovinz Portugals unter den Kleinen Sundainseln. Selbständigkeitsbestrebungen wurden von China unterstützt; doch Indonesien unter Suharto versuchte, sich diesen kolonialen Restbestand in Südostasien einzugliedern. Nach einem Besuch Präsident Fords und seines Außenministers Kissinger bei Suharto konnten hochgerüstete indonesische Truppen Ende 1975 den Rest der Insel besetzen. Doch die Angliederung gelangte nicht zu internationaler Anerkennung.42 Aufstände und blutige Terrorwellen wurden erst unter UN -Aufsicht unterbunden. Seit 2002 ist Osttimor unabhängig. In China, wo sich die Vereinigten Staaten vergeblich bemüht hatten, Chiang Kai-shek zur Bildung einer Regierung zu veranlassen, an der sich auch die Kommunisten beteiligten, waren diese unter Führung Mao Zedongs nach langem Bürgerkrieg 1949 auf dem Festland zu unumschrittener Herrschaft gelangt. „Die Genügsamkeit, Disziplin und Entschlossenheit der kommunistischen Truppen erwiesen sich vertrauenserzeugender als die durch Vetternwirtschaft und Korruption verderbte Guomindang-Regierung“.43 Die „Widersprüche zwischen Nationalismus und Modernität“ suchte die Diktatur der „Volksrepublik“ zu überwinden, was nicht ohne radikale Einschnitte zunächst und vor allem im Landbesitz, im Landbau und dann im gesamten Wirtschaftsleben abging. In den Dörfern herrschte die Partei zuerst.44 Die von Mao dirigierten Massenkampagnen führten in kurzen zeitlichen Abständen zur Ausschaltung, im Anfang gar zur Vernichtung der jeweils erklärten Gegner der Partei: „Konterrevolutionäre“, „Korruption“, „Verschwendung und Bürokratismus“, städtische Unternehmer und Geschäftsleute, schließlich 1951/52 intellektuelle Gegner der „Gedankenreform“. „Bis Ende 1952 … hatte die KPCh eine totalitäre Kontrolle über ganz China errichtet“.45 Dieses China bemächtigte sich nahezu ohne Gegenwehr des

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alten Nebenlandes Tibet, das nach den Wirren der Revolution 1911 zur Unabhängigkeit gelangt war.46 1950 erneuerte Mao Zedong den Anspruch Chinas auf Tibet. Ein von Indien vermittelter Vertrag sollte Tibet innerhalb Chinas Autonomie sichern. Doch im September 1951 marschierten Soldaten der „Volksbefreiungsarmee“ in der Hauptstadt Lhasa ein. Die rigorose Besatzungspolitik und das Vorgehen gegen religiöse Stätten verursachten eine Kette von Unruhen und Aufständen, zuletzt 1995. Der Dalai Lama floh 1959 nach Indien. Er weiß das Interesse der Welt an Vorgängen in Tibet wach zu halten. China, von der nie endenden Demonstration gegen die Selbständigkeit Taiwans abgesehen, blieb vor allem mit sich selbst beschäftigt, um als großes Land mit der größten Bevölkerung der Erde eine neuartige Einheit zu schaffen.47 Mao starb 1978. Sein Nachfolger Deng Xiaoping wurde zum Vater des wirtschaftlichen Wideraufstiegs Chinas. Die vollständige Staats- und Planwirtschaft mit einer rasch aufgebauten Schwerindustrie – zu Lasten der schwächsten Schicht, der Bauern –, die Deng vorfand, baute er innerhalb von 19 Jahren Schritt für Schritt um, um die Armut zu beschränken und Leistungskraft zu fördern. Er begann mit der Entkollektivierung der Landwirtschaft, setzte aber niedrige Abgabepreise für bestimmte Ablieferungen an den Staat fest. Das sicherte die Ernährung und beließ den Bauern Restmengen für den Marktverkauf. Dann erhielten die ländlichen Dörfer die Erlaubnis zur Eigenproduktion von Bedarfsgütern. Bürgermeister und Parteifunktionäre wurden zu Unternehmern und sorgten für geeignetes Personal. 1995 übertraf die ländliche Industrieproduktion die städtische.48 Mit der 1984 mit Großbritannien vereinbarten Rückgabe Hongkongs an China 1997 und der Schaffung einer Sonderverwaltungszone kamen auch enge Verbindungen zwischen europäischer und chinesischer Industrie zustande. Dies leitete zur nächsten Reformstufe über, der Öffnung Chinas für ausländische Investitionen und für alle Arten des Außenhandels. Die großen Flüsse Chinas erleichtern den Binnenverkehr. Ein großer Teil der städtischen Staatsunternehmen wurde ver-

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kauft. Diese Entwicklung blieb nicht völlig frei von Krisenphasen. Doch unverkennbar hat China schließlich mit seiner Hochtechnologieindustrie und seiner großen entwicklungsfähigen Bevölkerung bedeutende und leistungsfähige ausländische Unternehmen angezogen. Es steht im Begriff, in die wirtschaftliche Nachkriegsrolle Japans vorzurücken – schon längst als großer Herausforderer der japanischen Wirtschaft, aber auch der deutschen und der amerikanischen. Der blutig ausgegangene Militäreinsatz gegen große Demonstrationen von Intellektuellen und Studenten, der sich Tausende aus allen Teilen der Bevölkerung anschlossen, aus Anlaß von Gedächtniskulten um und auf dem Tiananmen-Platz Anfang Juni 1989 – und der fortdauernde Kult Maos können freilich nicht übergangen werden. Doch von kurzen Kriegen an der Grenze zu Indien in Kaschmir 1962 abgesehen, war das revolutionäre China nach dem Bürgerkrieg an militärisch ausgetragenen Konflikten nicht beteiligt. Die Revolte der Maoisten im westlichen Nepal 1996 blieb offenbar ohne Einwirkungen aus China. Die größte und westlichste Provinz, die „autonome uigurische Region Xinjiang“ beherbergt 21 ethnische Minderheiten, von denen sich einige durch terroristische Anschläge gegen das chinesische Regiment wiederholt zur Wehr zu setzen versuchten. Zu erwähnen bleiben auch in der pazifischen Weite zwischen Ostasien und dem amerikanischen Kontinent die Philippinen, deren schwierige innere Probleme hier nicht zu behandeln sind.49 Nach heftigen Kämpfen und wechselnden Eroberungen im zweiten Weltkrieg – erst durch die Japaner, dann nach der größten Seeschlacht der Geschichte in der Bucht von Leyte die Rückeroberung durch die Amerikaner – erlitten sie ein nicht minder wechselvolles Schicksal, nachdem sie 1946 von den USA in die Unabhängigkeit entlassen worden waren. In Guerrillakämpfen, Verhängung des Kriegsrechts (1972–1980), Separationsversuchen muslimischer Kämpfer (Moro) wuchs die Zahl der Opfer, die bis 1996 auf mehr als hunderttausend Tote geschätzt wurde. Am Übergang zum nächsten Abschnitt darf das Thema Af-

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ghanistan nicht fehlen, das in seiner Geschichte kaum je für längere Zeit ein in sich ruhender Staat gewesen ist, sondern ein in den Gegensätzen verschiedenartiger Ethnien, Stämme und Klans voller erodierender Energien in Kämpfen und Kriegen sich darbietendes politisches Konstrukt. Etwa die Hälfte der Bevölkerung in den geographisch fest umrissenen Grenzen des Landes sind Paschtunen, die überwiegend nach strengem Ehrenkodex der Stammesregeln in deutlich umgrenzten Gemeinschaften leben, meist sunnitische Muslime. Neben ihnen leben Tadschiken, Turkmenen, Usbeken, Kirgisen, Beludschen, am Hindukusch schiitische mongolische Hasara, außerdem Hindu, Sikhs und andere. Großbritannien versuchte vergeblich, seine Vorherrschaft durchzusetzen. Dies ließ Afghanistan zum Pufferstadt zwischen Britisch-Indien und Rußland werden, was die Einwirkungen anderer Interessen auch nach der erklärten Unabhängigkeit im Vertrag von Rawalpindi (1919) nie gänzlich ausschloß. Im Innern wechselten Reformperioden unter modern eingestellten Königen, Sturz der Monarchie, Königsmord, Putsch und Diktaturen bis zum Einmarsch der sowjetischen Roten Armee am Jahresende 1979. Damit begann eine lange Folge von Widerstandskämpfen und Krieg im Lande unter Einschaltung anderer Mächte – bis zum Abzug der Sowjettruppen. Der muslimisch-antikommunistische Widerstand wurde von den Glaubenskämpfern – Mudschaheddin – von Pakistan aus organisiert, die 1989 in Peshawar eine Exilregierung bildeten. „Das Land war in Lehnsgüter für die Kriegsherren aufgeteilt, die verwirrende Bündnisse schlossen, wieder lösten, Blut vergossen, die Seiten wechselten und kämpften“.50 Bis zum Kriege versorgte ein gut erhaltendes Bewässerungssystem die ertragreichen Plantagen. Doch dies zerfiel im Bürgerkrieg. Innere Uneinigkeit führte zu neuen Gegensätzen und Kämpfen in Permanenz, aus denen die radikalen Taliban seit 1996 unter der Führung von Mullah Omar, dem „Führer der Gläubigen“, als stärkste Bürgerkriegspartei hervorgingen.51 Seit November 1994 gleicht die innere Geschichte Afghanistans einer erneuten ununterbrochenen Abfolge von Kriegs-

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handlungen52 der schwer bewaffneten, mit starken Panzern und eigenen Luftwaffeneinheiten kämpfenden Taliban. Unter diesen äußeren Voraussetzungen konnte ein reicher, und radikal islamisch eingestellter Araber aus Saudi-Arabien, Osama Bin Laden, 1989 an der pakistanischen Grenze zu Afghanistan eine Militärbasis – Al Qaida – schaffen, wo freiwillige Krieger aus muslimischen Ländern ausgebildet wurden. Doch nach der radikalen antisaudischen und antiamerikanischen Wendung des Bin Laden – unter dem Eindruck der Taliban – reiste dieser arabische Führer 1996 zurück nach Afghanistan. Im August erklärte er zum ersten Mal den Dschihad gegen die Amerikaner: „Die Mauern von Unterdrückung und Demütigung können nur durch einen Kugelhagel zerstört werden“. Die Katastrophe am 11. September 2001, die weithin sichtbaren und opferreichen Angriffe auf die beiden Hochhäuser des World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington, führte aller Welt Eigenart und Stärke einer neuartigen Qualität von Bedrohungen durch „Terror“ vor Augen.53 „Ein einziger Krieger zu Fuß wird zum Entsetzen des Königs, auch wenn dieser über tausend bewaffnete Reiter verfügt“54. Der Einsatz von Selbstmordattentätern, Haschischin – Assasinen, ist im muslimischen Orient seit dem 12. Jahrhundert bekannt. Doch diese Eigenart des Kampfes blieb immer auf Sonderfälle beschränkt und erlaubt keine generalisierenden Urteile über islamischem „Fundamentalismus“. Die enge Verbindung von Al Qaida mit den Taliban in Afghanistan und zu häufig revoltierenden Paschtunen in Pakistan gaben Anlaß zum ersten Orientfeldzug des amerikanischen Präsidenten George W. Bush. Der zweite bahnte sich an – wie vorausgesagt55 – gegen den Irak. In Kabul greift neue Anarchie um sich.56

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Staatenlose Völker – schwache Staaten Das reiche Tal des Brahmaputra durchfließt Assam, das als Bundesstaat zu Indien gehört, durch einen Korridor mit ihm verbunden. Dieses Land ist größter Teeexporteur der Erde. Es wurde schon in britischer wie auch wieder in jüngerer Zeit ein Einwanderungsgebiet für Nachbarvölker und befindet sich häufig im Kriegszustand. Assam beherbergt mehr als zwei Dutzend Völker und ist ein Schauplatz fortgesetzter ethnischer und religiöser Konflikte. Mehr als 30 Rebellenorganisationen führen Krieg gegeneinander und gegen die indische Staatsgewalt – für eine „Befreiung Assams“. „Auch längerfristig besteht kaum Hoffnung auf Frieden“.57 Bangladesh und Sri Lanka erscheinen als neue Staaten, die sich gegen Empörer und Rebellen offenbar zu behaupten und zu sichern wissen. Das große Inselreich Indonesien sieht sich hingegen an seinen Ost- wie Westrändern stärkeren Kontroversen und Belastungen ausgesetzt, seitdem es im Jahre 2002 Osttimor in die lange umstrittene Selbstständigkeit entließ. Im wirtschaftlich ertragreichen westlichen Neuguinea, Westirian (Irian Jaya), machen sich Loslösungsbestrebungen der Papuas zunehmend stärker bemerkbar. Noch weit kritischer entwickelt sich erneut der Unruheherd der reichsten indonesischen Provinz Aceh in Nordsumatra mit etwa vier Millionen Einwohnern. Das kämpferische und kriegerische Streben der strenggläubigen muslimischen Bewohner, sich von der Umwelt strikt zu distanzieren, reicht weit in das 19. Jahrhundert zurück. Hierbei spielt der wirtschaftliche Reichtum dieses Gebietes eine bedeutende Rolle, der das Sondertum stärkt. Erdgas, Erdölförderung und -export in amerikanischen Händen, Reis, Zuckerrohr, Kautschuk, Gewürze und ein reicher Fischfang zeichnen das kleine bevölkerungsreiche islamische Gebiet aus. Im Dezember 2002 kam es nach 26 Jahren heftigen Bürgerkriegs und nach jahrelangen Verhandlungen auf amerikanischen Druck zur Unterzeichnung eines Waffenstillstandsabkommens. Die schrittweise Demilitarisierung sollte von einer internationalen Kommission

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überwacht werden. Die indonesische Zentralregierung unter der Präsidentin Megawati Sokarnoputri garantierte dafür der Provinz gesetzlich die Überlassung eines großen Anteils der Rohstoffeinkünfte. Doch seit Mai 2003 sind erneut Kämpfe entbrannt und gilt das Kriegsrecht. Staatenlose Ethnien existieren in Afrika, auch am Rande Europas und in benachbarten Regionen Asiens. Aber auch schwache Staaten führen eine wechselvolle Existenz. In den überwiegend von islamischen Völkern bewohnten Ländern Rußlands,58 Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan, im Kaukasus und in Transkaukasien Aserbaidschan mit dem Erdölgebiet um Baku, Tschetschenien, Inguschien, neben den ethnisch heterogenen Dagistan, Abchasien – und dem heute selbstständigen Georgien –, entstanden in der Stalin-Zeit sogenannte autonome Gebiete oder Republiken. In ihnen gab es keine definierte Selbstverwaltung, nur in Grenzen geduldete Religion, registrierte Moscheen und beaufsichtigte Mullahs. Doch ein islamischer Untergrund behauptete sich und trat während der Perestroika-Periode vor allem im Kaukasusgebiet militant und aggressiv in neuer Pose in Erscheinung. Sufi-Gesellschaften und Wahhabiten hatten erheblichen Anteil am Überleben des Islam und alsdann an der Aufrüstung kämpferischer Klans. Doch während sich in Kasachstan und Turkmenistan bislang das Regiment der aus der alten sowjetischen Parteiführung hervorgegangenen Politiker behauptet,59 konzentrieren sich fundamentalistische islamische Kräfte in den Republiken des Fergana-Tales, Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan, gegen den heftigen Widerstand der regierenden Staatslenker und ihrer Religionsgesetze auf die Errichtung einer umfassenden islamischen Republik. Die USA blieben nicht unbeteiligt.60 In der Nordkaukasuszone ging schon nach dem Rückzug deutscher Truppen aus dem Terek-Gebiet die russische Seite rücksichtslos vor, wurden 1944 nach systematischer Einkesselung durch starke Armeeeinheiten Hunderttausende der islamischen Tschetschenen und Inguschen nach Mittelasien de-

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portiert und über Jahre dort festgehalten. 1957 kam es zur Wiederherstellung des Gebietes Tschetscheno-Inguschetien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrten sich die Konflikte im Nordkaukasus, den 28 verschiedenartige ethnische Gruppen bevölkern. Anhaltende blutige Kämpfe haben Abchasien und Tschetschenien am stärksten in Mitleidenschaft gezogen. Es kam hinzu, daß eine junge Generation der Tschetschenen in stets kinderreichen Familien vom sunnitischen Islam zu den strengen Formen der Wahhabiten fand, die vordem keine Bedeutung in diesen Gebieten besaßen. Dies gab dem strikten Streben nach Unabhängigkeit neue Brisanz. Es entstanden Banden, vermochten Bandenführer regionale Konflikte aufzubauen, in Nachbarländer zu transferieren und stetig zu vergrößern, wie Schamil Bassajew oder Emir al-Khattab, angeblich Sohn einer reichen jordanischen Familie. Er studierte in den Vereinigten Staaten und übte sich in Afghanistan in Kämpfen gegen die russische Armee, danach in Anschlägen gegen Ziele in Israel, ehe er mit einigen Anhängern in Tadschikistan und dann in Tschetschenien wieder gegen Russen kämpfte. Er schuf Ausbildungslager, erteilte an geheimen Orten des Kaukasusgebietes Anweisungen und gab Interviews als stets bekennender „Soldat des Islam“ – mit disziplinierten, aber zu Grausamkeiten fähigen Anhängern – für die staatliche Unabhängigkeit Tschetscheniens und des benachbarten multiethnischen Dagistan. Religiöse Strenge und Kampfeswille gelangten zu personifizierter Einheit;61 in Grausamkeiten wie im Vernichtungswillen blieb keine Seite hinter der anderen zurück. Der Luftwaffengeneral Dudajew wurde im Oktober 1981 zum Präsidenten der Republik gewählt und Tschetschenien für unabhängig erklärt. Moskau führte zwei Kriege gegen die Tschetschenen mit vernichtenden Luftbombardements der Hauptstadt Grosny. Dudajew fiel im ersten Krieg, den ein förmlicher Friedensschluß mit dem neu gewählten tschetschenischen Präsidenten Maschadow, einem ehemaligen russischen Artillerieoberst, beendete. Aber der Status Tschetscheniens blieb unerwähnt und unberücksichtigt, faktisch vom militärischen Kräftemessen

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der Gegner abhängig. Die Konfrontation nahm vielfältige Formen an. Doch die konventionelle Kriegführung mit allen verfügbaren Mitteln erreichte weder Frieden noch staatliche Ordnung in Tschetschenien. Zudem haben der Ölreichtum des Landes und die Ölleitung von den Quellen um Baku ans Schwarze Meer die Entwicklung in der Kaukasuszone zu einem Politikum ersten Ranges werden lassen. Ein Volk, das nie zu einer staatlichen Ordnung fand, ebensowenig zu einem einheitlichen religiösen Bekenntnis, dessen Zahl offenbar groß, aber kaum verläßlich bestimmbar ist und das sich wiederholt gegen die Staaten erhob, die in der von ihm bevölkerten Zone zwischen Anatolien, dem Libanon und dem russischen Zentralasien herrschen, sind die Kurden. Nach dem ersten Weltkrieg sah der Vertrag von Sèvres 1920 einen kurdischen Nationalstaat vor, der nie entstanden ist. 1923 wurde diese Entscheidung in Lausanne aufgehoben. Etwa die Hälfte aller Kurden lebt in der Osttauruszone, südlich von Erzerum, westlich Diyarbakir, ein weiterer großer Teil im nördlichen Irak. Aufstände und Kriege charakterisieren die Geschichte dieses Volkes in der Türkei, im Irak und im nordwestlichen Iran. 1915 waren kurdische Truppen an türkischen Massakern in Armenien beteiligt. Zehn Jahre später schlug Atatürk einen ersten kurdischen Aufstand nieder, was 250000 Tote gefordert haben soll. Die weitere Entwicklung des irakischen Kurdistan wurde vom Verlauf der Golfkriege bestimmt. Ein Aufstand im Frühjahr 1991 endete in einer Massenflucht vor irakischen, Giftgas einsetzenden Truppen. Schließlich entstand ein annähernd, wenn auch schwer zu definierendes autonomes Gebiet innerhalb einer der von den Vereinten Nationen bestimmten, von den USA und Großbritannien kontrollierten Flugverbotszonen im Norden des Irak. Diesen Beispielen lassen sich weitere an die Seite stellen, sobald sich der Blick des Betrachters anderen Regionen zuwendet. Wie schon dargetan, vermochten die europäischen Kolonialmächte ihren kolonialen Besitz nach dem zweiten Weltkrieg nicht zu behaupten. Doch aus Aufständen und Unabhängig-

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keitsbewegungen gingen keine in sich ruhenden, Dauer gewinnenden souveränen Staaten hervor. In der vorkolonialen Periode existierten viele Länder Afrikas unter althergebrachten, altertümlichen Verhältnissen in Stämmen, Klans und Reichen unter harten Herrschern in Kriegen und Feindschaften. Die Jahrhunderte einer allmählich fortschreitenden Europäisierung hatten eine neue Ökonomie, weithin neue Bildungseinrichtungen mit Schulen geschaffen und waren auch in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens von Einfluß. Doch souveräne Staaten waren außerhalb Indiens, Ägyptens, Südafrikas und Äthiopiens in weiten Zonen kaum annähend vorbereitet. Es fehlten starke intellektuelle und politische Eliten und funktionstüchtige Verwaltungen; es fehlte an Unternehmern und geschulten Verwaltungsbeamten. Rebellenführer und eingeborene Generäle eroberten die Macht, die sie mit ihren Günstlingen und Gefolgsleuten gewaltsam zu behaupten suchten. Europäischen und amerikanischen Konzernen wurden die Haupterträgnisse des Landes für Gegenleistungen – auch Rüstungslieferungen – überlassen, etwa Öl in Nigeria und später im Sudan oder Öl und Diamanten in Angola. Die Entwicklungshilfe, wo sie gewährt wird, nährt die Vermittler und benötigt zudem verläßliches Aushandeln der gewährten Leistungen, etwa Lebensmittelhilfen und medizinische Versorgungen. Die Abhängigkeit der jungen Staaten hat neue Gestalt angenommen; aber ihre Souveränität und innere Funktionsfähigkeit bleiben fragwürdig. In einigen Staaten sind Industrien entstanden, außer in Südafrika in Ägypten, Mosambik, Libyen, Algerien, Senegal und Nigeria. In anderen hat diese Entwicklung begonnen. Doch weithin fehlt es an Kapital; denn Reichtümer werden häufig außerhalb Afrikas sicher angelegt. Die Mehrheit der Bevölkerungen lebt in Armut. Der Rückzug europäischer Mächte aus ihren Kolonialgebieten hinterließ mehrere Krisenregionen. Vom französischen Indochina und den Kriegen in und um Vietnam wurde schon gesprochen. Auch in der konfliktreichen Einflußzone Frankreichs in Nordafrika machten sich Aus- und Nachwirkungen über

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Jahrzehnte bemerkbar. Die Bevölkerung Algeriens, das über ein Jahrhundert als transmaritimes Pendant eng mit Frankreich verbunden war, erlitt schwere Verluste. Zu ihnen zählen die Opfer, die die frankreichtreue eingeborene algerische Bevölkerung brachte. Formell waren Algerier Angehörige Frankreichs, wenn auch kaum im vollen Sinne staatsbürgerrechtlicher Bestimmungen. Es gab auch stets bereitwillige Kämpfer für die Sache dieses Vaterlandes – sowohl im ersten Weltkrieg als auch später, auch im Kampf gegen die Unabhängigkeitsbewegung. Einige Generäle hatten dies erkannt und militärisch zu nutzen gewußt. Eine „transformation of war“62 läßt sich in Nordafrika auf beiden Seiten beobachten. Mit einer sorgfältig gesteuerten Serie von Anschlägen am 31. Oktober und 1. November 1954 begann der Algerienkrieg, in dessen Verlauf die französische Armee sich zur Bildung von Jägerkommandos („commandos de chasse“) aus einheimischen, zum äußersten bereiten Kämpfern entschloß, bäuerlichen Algeriern unter dem Kommando französischer Offiziere, nach einem arabischen Wort „harki“ genannt, zuletzt etwa 150 000 Mann – neben etwa 60000 in der französischen Armee dienenden Algeriern. „Sie bewegen sich zu Fuß und meistens bei Nacht, sie führen Überraschungsangriffe auf gut gewählte Ziele aus, sie kommen unerwartet in Dörfern an …, sie verhaften oder eliminieren die Rebellen, decken Informationsnetze auf … sie rufen Artillerie und Luftstreitkräfte, um größere Rebellenverbände zu binden; diese Einheiten schaffen beständige Unsicherheit für den Gegner, während sie der Landbevölkerung ein dauerhaftes Gefühl der Sicherheit geben“.63 Als nach dem Abkommen von Evian 1962 Algerien seine Unabhängigkeit – gegen Absicherung französischer Nutzungsansprüche in der Sahara – erlangte, begann eine qualvolle Leidenszeit dieser „Kollaborateure“, der Harkis, die verfolgt und in großer Zahl umgebracht wurden, ohne daß ihnen Frankreich Hilfe oder Schutz gewähren konnte. Für diejenigen, denen die Flucht nach Frankreich gelang, auch ihre Familienangehörigen wurden im Süden Transit- und Aufnahmelager, zwischen 1962

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und 1974 auch zahlreiche isolierte Waldgehöfte oder abgelegene Randgehöfte außerhalb städtischer Wohngebiete geschaffen.64 Langwährende, wenn nicht dauerhafte Isolation auch innerhalb Frankreichs war die Folge. In Algerien wurde währenddessen die militärische Konfrontation von innerpolitischen Konflikten abgelöst, die aus einem „kriegsorientierten Weltbild“ hergeleitet worden sind, einem „Glauben an die Wirksamkeit von Gewalt, Wohlstand, Prestige, um sozialen Aufstieg zu erreichen“.65 Nicht allerorten drängt sich diese Einsicht in politisch-radikale Vorgänge so deutlich auf wie in Algerien. Die „extrem gewaltsame Dekolonisation Algeriens“66 hat dauerhafte Spuren hinterlassen. Die Konflikte begannen mit zunehmenden Spannungen zwischen dem Kommando der Befreiungsarmee und dem aus französischer Gefangenschaft entlassenen Ahmed Ben Bella, einem einstigen Feldwebel der französischen Armee, der zu den Initiatoren des Aufstandes von 1954 und zu den Gründern und ersten Führern der FLN (Front de Libération Nationale) gehörte, nach Jahren in französischer Haft 1962 ihr Generalsekretär und Ministerpräsident wurde und im September 1963, nach Annahme einer Verfassung durch Volkswahl in das Amt des Staatspräsidenten gelangte. Nach dem Verbot oppositioneller Gruppen entwickelte sich die FLN zur Einheitspartei unter der persönlichen Diktatur Ben Bellas, der für einen „arabischen Sozialismus“ sprach. Er strebte führenden Einfluß in der Arabischen Liga, in der „Organisation für afrikanische Einheit“ und in der Gruppe der blockfreien Staaten an. Seine Unterstützung der Separatisten in der Westsahara führte zu Spannungen mit dem Nachbarn Marokko, diese fortgesetzte Steigerung entschlossener Aktivität zum Auseinanderfallen der Führergruppe von 1954. Im Juli 1965 wurde Ben Bella von seinem Stellvertreter, dem Generalstabschef Houari Boumedienne, gestürzt und inhaftiert, der zunächst als Vorsitzender eines Revolutionsrates, schließlich als Staatschef, seit 1977 Staatspräsident, alsbald auch als Sprecher der blockfreien Staaten amtierte. Der Islam wurde zur Staatsreligion. Einheits-

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partei und religiöse Einheit bildeten die Grundlage des sich nunmehr der Industrialisierung öffnenden algerischen Staates. Nach dem Tode Boumediennes Ende 1978 ließ sich die Entfaltung der Wirtschaft, dank eines allmählichen, bürokratisch zentralistisch gelenkten Übergangs zur Marktwirtschaft nicht mehr aufhalten. Auch Parteien schossen aus dem Boden. Bis 1991 hatten sich 42 neu registrieren lassen. Die Ölhausse seit den siebziger Jahren brachte einen schwindelhaften, kurzlebigen Wohlstand. Die Exporterlöse erlaubten der politischen Führung, „teure, aber keineswegs effektive Industrien schlüsselfertig zu importieren und einen Versorgungsstaat aufzubauen“67. Mit dem Einbruch der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit 1986 wurden dann Mängel, Mißwirtschaft, aber auch Korruption deutlich sichtbar. Es kam zu Unruhen, 1988 zum förmlichen Ausscheiden der algerischen Volksarmee aus der FLN und zu militärischem Vorgehen. Daraufhin folgte die erneute Bildung einer das politische Monopol anstrebenden fundamentalistischen Überpartei, der „Islamischen Heilsfront“ (Front Islamique du Salut, FIS ), die die Vielfalt der politischen Parteien in den Schatten zu drängen versuchte, obgleich die neue Verfassung vom Oktober 1988 keine religiöse Partei kannte. Die Heilsfront verlangte einen islamischen Staat. Sie fand wachsenden Zulauf vor allem in der Jugend und verzeichnete große Erfolge in den Kommunalwahlen 1990. Doch die Parlamentswahlen wurden abgebrochen, Führer der FIS verhaftet. Das Militär ergriff die Macht. Ein von verschiedenen Kräften Anfang 1992 aus der Emigration zurückgerufener, ehemals führender Mitgestalter der Unabhängigkeitsbewegung von 1954, Mohammed Boudiaf, wurde zum Präsidenten eines „Hohen Staatskomitees“ gewählt. Es verhängte den Ausnahmezustand und verbot die FIS . Dieser „Retter des Volkes“, wie er gepriesen wurde, forderte in seinen Reden die Wiederherstellung der nationalen Einheit, Modernisierung und Vertrauen. Wenige Monate später wurde der mahnende Rhetor ermordet. Die Tat, als individuelle Handlung eines Leibwächters bezeichnet, blieb ohne überzeugende Aufklärung. Seitdem agiert die FIS gegen staatliche Einrichtun-

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gen wie gegen ausländische Einflüsse. Algerien führt am Rande der mittelmeerischen Staatenwelt ein konfliktreiches Dasein mit widersprüchlichen politischen Aktionen. „… Was ist heute aus Algerien geworden, durch diese Serienmorde an Schriftstellern, an Journalisten und Intellektuellen? Auf sie antwortet eine verstärkte Regression – die einzige Politik, mit der man auf einen religiösen Fundamentalismus reagiert, der entschlossen ist, um jeden Preis die Macht zu ergreifen. Konvulsionen, die mein Land in einen Krieg versinken lassen, der seinen Namen verschweigt …“, klagt eine bedeutende Schriftstellerin des Maghreb.68 „Die Macht der hohen Offiziere über das politische System“69 sieht sich einem stetigen untergründigen Krieg ausgesetzt mit im Geheimen agierenden Organisationen, die aus der FIS hervorgingen, die Armée Islamique du Salut (AIS ) und das Groupement Islamique Armé (GIA ), das von algerischen Veteranen des Afghanistankrieges geführt wurde. In Überfällen, Morden, Bombenanschlägen, Massakern in einzelnen Dörfer suchten sie die neue Form des Bürgerkrieges fortzubilden. In den Jahren 1992 bis 1997 kamen etwa 100 000 Menschen ums Leben.70 Erst allmählich flachte die Kurve der Gewalttaten ab und sank die Zahl der Getöteten, seitdem sich eine großzügige Amnestierung und Freilassung von Gewalttätern um Milderung der Gegensätze bemüht. Die Unabhängigkeit, die Algerien von Frankreich in Evian gewann, zeitigte aber auch ein langdauerndes Nachspiel in Europa. Den ins Mutterland zurückkehrenden, häufig im Landbau erfahrenen Franzosen bot die Regierung Ländereien auf Korsika an, die sie zuvor günstig erworben hatte. Doch gegen diese Zuwanderung wandten sich die Klans der altansässigen Korsen, die sich an ihre herkömmlichen Regeln und Machenschaften hielten und keine neuen Einflüsse und Rechte dulden wollten. Eine mit allen Mitteln vorgehende Bewegung verfocht eine Autonomie Korsikas. Eine Untergrundorganisation nahm Ende der 1960er Jahre Schiffsmüllentladungen italienischer Schiffe vor der korsischen Küste zum Anlaß, um gegen die Verwaltung und die Regierung zu agitieren. Im August 1975 ent-

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stand eine marxistisch orientierte Partei, auch hier eine „Nationale Befreiungsfront“ (FLN ), die sich sowohl gegen die französische Verwaltung als auch gegen die alten Klans wandte und seit 1977 mit Attentaten und Sprengbombenaktionen gar auf dem französischen Festland die radikalsten Formen des politischen Kampfes wählte, die sich auszubreiten begannen. Dem folgten Jahre politischer Prozesse mit hohen Strafzumessungen, die jedoch Staatspräsident Mitterand nach seiner Wahl durch eine Amnestie aufhob. Aber auch die Gewährung eines Autonomiestatuts der Insel beendete weder die Kette terroristischer Gewalttaten noch die nachfolgende Vendetta. Auch hier gehörten Morde und Gewalttaten zu den Phänomenen der Politik.

Irak – Iran Ein Kreuzungspunkt starker regionaler wie überregional agierender Interessen liegt seit langem im Zweistromland, dem Gebiet um Euphrat und Tigris mit dem hauptstädtischen Zentrum Bagdad. Dieses Mesopotamien war das Land altorientalischer Hochkulturen und Reichsbildungen, Sumer, Akkad, Babylon, Assyrien, ehe es vom Perserkönig Kyros II . und zwei Jahrhunderte später von Alexander dem Großen erobert wurde. In den nachfolgenden Jahrhunderten blieb es Schauplatz und Kernraum neuer Reiche, schließlich des islamischen Weltreiches – mit Bagdad als Residenz des Kalifen, ehe es von Mongolen erobert und Bagdad von ihnen zerstört wurde. Man kann sagen, daß hier mehr als an irgendeinem anderen Brennpunkt der Erde Schauplätze menschlicher Kulturleistungen wie Eroberungen und Kriegszüge, Reiche wie Kämpfe, Siege und Niederlagen dem historisch Sehenden vor Augen treten. Im 17. Jahrhundert gehörte Mesopotamien zum Osmanenreich. Nach dem ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf britische Truppen die türkischen Provinzen Basra, Bagdad und Mosul besetzten, mit dem Vertrag von Sèvres erhielt Großbritannien den Irak als Völker-

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bundsmandat zugewiesen, um es auf den Weg der Selbstbestimmung zu geleiten. Nach einem blutigen Aufstand fiel die Entscheidung. Feisal, aus dem Geschlecht der Haschimiten, der scherifischen Emire von Mekka, während des Krieges Führer der arabischen Revolte gegen die türkische Herrschaft, war zunächst zum König von Syrien gewählt, aber dann von französischen Truppen verdrängt worden. Mit britischer Hilfe wurde er 1921 König des Irak.71 Der Irak erhielt eine Verfassung und eine Erbmonarchie; britisches Militär verblieb im Land. 1932 endete das britische Mandat. Der Irak wurde in den Völkerbund aufgenommen; doch im Innern blieb das politische System instabil. Die Kabinette wechselten rasch, und die Konflikte endeten nicht – zwischen einflußreichen Familien und Klans, Stammesführern inmitten einer besitz- und nahezu rechtslosen Masse der Bevölkerung in Stadt und Land. Im bergigen Norden übten faktisch Kurden die Macht aus. Im Süden bildeten die Schiiten die Landbevölkerung, während die städtischen und ehemalig osmanischen Zentren sunnitisch orientiert waren, aber in der Minderheit blieben. In einer Erhebung nach dem Tode König Feisals (1933) stießen aufständische Stämme am mittleren Euphrat auf den harten Widerstand der Armee, die seit einem Staatsstreich 1936 auch ständigen unmittelbaren Einfluß auf die Politik gewann. Während des zweiten Weltkriegs versuchte die Armeeführung sich mit den Achsenmächten zu verbinden, dem britische Truppen im Mai 1941 ein Ende setzten. Aber auch nach der erneuten britischen Besetzung kam das Land nicht zur Ruhe. Eine junge Generation vornehmlich schiitischer Intellektueller, die sich von Ämtern wie von politischen Entscheidungen ausgeschlossen fühlten, wandte sich neuen Ideologien zu. Die Industrialisierung und vor allem die Erschließung großer Ölquellen wurde von zunehmender Landflucht begleitet, was, dem Gesetz des 20. Jahrhunderts folgend, den Agitatoren bewegliche Massen verfügbar machte. Zunächst gewann der Kommunismus an Zulauf. Dann folgte 1958 ein Staatsstreich des Militärs. Der letzte König, Feisal II ., wurde umgebracht, die Re-

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publik ausgerufen. Die britischen Truppen räumten ihre Standorte. Die Folge von Putschen, Aufständen, Massenerhebungen und diktatorisch regierenden Generälen – Kassem, die Brüder Aref – kann übergangen werden. „Schon in der Zeit der Monarchie hatte es immer wieder Putschversuche und politische Morde gegeben. Man gewinnt bei der Lektüre der Quellen aus dieser Zeit den Eindruck, daß die politische Entwicklung im Irak immer ein höheres Maß an Gewalt mit sich brachte als in anderen Ländern der Region“.72 Und so blieb es. Eine panarabische republikanische Partei der „Wiedergeburt“, die BaathPartei, konnte unter nationalen Kommandoräten in Syrien, danach im Irak und auch im Libanon Fuß fassen. Sie fand Anhang in verschiedenen Gruppen und Schichten, auch im Offizierskorps. 1968 kam General Ahmed Hasan al-Bakr an die Macht. Seine rechte Hand wurde ein Verwandter, Saddam Hussein73, der die Führung der Baath-Partei und die Kontrolle über die Straße ebenso gewann wie die über Geheimdienste und die Parteimiliz. Man kann von einer mittelöstlichen Erneuerung nach faschistischen Vorbildern der Zwischenkriegszeit sprechen. Über Partei-, Günstlings- und Vetternwirtschaft in der Periode eines gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwungs dank der Ölausbeute gelangte Saddam Hussein 1979 in das Präsidentenamt und in die Ämter des Vorsitzenden des Revolutionsrates, des Generalsekretärs der Baath-Partei, sowie des Oberbefehlshabers der Streitkräfte. In den Jahren zuvor hatte es kurdische Aufstände gegeben, die in ein Konfrontation zweier rivalisierender kurdischer Parteien übergingen, die um die Kontrolle der Bergregionen, von Schmuggel- und Fluchtrouten rangen und unter wachsenden Einfluß auch türkischer und iranischer Interessen gerieten. Die erhebliche Steigerung der Einkünfte aus der Ölförderung hatte den Irak inzwischen zu einem reichen Land mit einer gut verdienenden Mittelschicht werden lassen, die schließlich auch die Unterhaltung einer großen Armee, einer der stärksten im Orient ermöglichte. Die jüngere Geschichte des Irak gleicht einer Abfolge diktatorischer Regimes, von poli-

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tischen Morden und raschem Wechsel der Orientierungen – in eklatantem Gegensatz zu einem offenkundigen Mangel an politischem Diskurs, an Dialogfähigkeit und intellektuellen Ansprüchen. Gegensätze spitzen sich rasch zu und führen zum äußersten, zu Kampf, Morden und Krieg, zu Massenverhaftungen und 1969 zu öffentlichen Exekutionen. Saddam Hussein gewann das Interesse auswärtiger Mächte, die Einfluß auf den Irak zu nehmen suchten, so der Sowjetunion, an der schon al-Bakr außenpolitisch Rückhalt suchte und hierzu 1972 einen irakisch-sowjetischen Freundschaftspakt unterzeichnete; Frankreich und später auch die USA zeigten sich um Gegenwirkung bemüht und zur Unterstützung der Politik Saddams bereit. Aufstände der Kurden forderten die Machthaber des Irak heraus, die dennoch expansiv vorzugehen versuchten. Schon der Diktator Kassem hatte 1961 Anspruch auf Kuweit erhoben, den Saddam 1990 unter scheinbar für ihn günstigen Vorausstetzungen zu verwirklichen trachtete. Seit 1979 nahmen dann die Spannungen zum Iran zu, nachdem dort Religionsführer der Schiiten die islamische Republik ausgerufen hatten. Auch dieses größere Nachbarland des Irak,74 verfügte über die lange, kulturell bedeutsame Geschichte eines großen Reiches, eines der ältesten Staaten der Erde, der nach den Mongoleneinfällen des hohen Mittelalters unter die Herrschaft eines turkmenischen militanten religiösen Ordens gelangte. Schah Ismail I ., im frühen 16. Jahrhundert Führer des Ordens der Safawiden und Gründer der gleichnamigen Dynastie, war der erste Herrscher und Begründer des iranischen Nationalstaates – mit der Scharia als islamischer Staatsreligion – unter Einschluß Armeniens und Aserbaidschans, die später an Rußland verloren gingen. Nach einer unruhigen Periode, auch unter dem Einfluß britischer und russischer Interessen im 19. und frühen 20. Jahrhundert schwang sich der oberste iranische Offizier einer Kosakenbrigade, von England unterstützt, zum Herrscher und Begründer einer neuen Dynastie auf, Resa Kahn, Resa Schah I .

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Pahlewi. Er bemühte sich nach dem Vorbild der Türkei unter Atatürk, den Iran nach westlichen Maßstäben zu modernisieren. Während des zweiten Weltkrieges besetzten britische, russische und amerikanische Truppen das Land. Der mit den Achsenmächten sympathisierende Schah wurde zur Abdankung zugunsten seines Sohnes veranlaßt. Die vom Ministerpräsidenten Mossadegh, an der Spitze einer bei Wahlen 1950 siegreichen Koalition, der „Nationalen Front“, vorgenommene Verstaatlichung der Anglo-Iranian Oil Company und hiernach ein internationaler Ölboykott führten in eine Krise, in der der Schah vorübergehend das Land verließ. Doch ein Coup der Armee, der von amerikanischer Seite Unterstützung erhielt, führte zu seiner Rückkehr. Der Schah regierte fortan diktatorisch und zerschlug die parlamentarischen Gegenkräfte – nach einem Ölabkommen 1954 und einer Politik politischer Reformen, die „Weiße Revolution“ genannt: eine Landreform, eine Reform des Bildungswesens und schließlich eine forcierte Industrialisierung. Außenpolitisch vertrat der Schah zwar eine prowestliche Linie im CENTO -Pakt. Er bemühte sich aber auch um gute Beziehungen zur Sowjetunion – ein Wechselspiel, das der Irak nur noch akzentuierter verfolgte. 1975 schlossen Iran und Irak ein neues Abkommen über die Grenze am Schatt el-Arab. Doch die innere Opposition wuchs angesichts der areligiösen Vorschriften (z. B. Kopftuchverbot für Frauen in der Öffentlichkeit) und des offenkundigen Mangels an Mitbestimmung, zumal sich auch die USA von der Politik des Schahs zu distanzieren begannen. Sozialrevolutionäre und immer stärker hervortretende fundamentalistische schiitisch-islamische Kräfte unter dem Einfluß des zunächst im Irak, zuletzt in Frankreich im Exil lebenden Ayatollah Khomeini trieben 1979 den Schah außer Landes. Khomeini kehrte zurück und proklamierte nach einer rasch inszenierten Volksabstimmung die „Islamische Republik Iran“, die fundamentalistische Grundsätze unverzüglich zu verwirklichen trachtete. Gegner, wie die Repräsentanten des beseitigten Regimes wurden von „islamischen Revolutionsgerichten“ zum Tode verurteilt. Der

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erste nach der neuen Verfassung eingesetzte Staatspräsident wurde nach kurzer Amtszeit von Khomeini abgesetzt, sein Nachfolger nach wenigen Monaten ermordet. Mit äußerster Härte wurde gegen religiöse und ethnische Minderheiten vorgegangen, die Beziehung zu den Vereinigten Staaten durch Besetzung der amerikanischen Botschaft und der Geiselhaft des gesamten Personals – bis Anfang 1981 – rücksichtslos abgebrochen. Auch Israel wurde mit allen, außer militärischen Mitteln bekämpft. Unter diesen Umständen marschierten irakische Truppen 1980 in die iranische Provinz Khusistan ein, womit der erste Golfkrieg begann, in den sich der Iran jedoch in verlustreichen Kämpfen zu behaupten vermochte, obgleich der Irak Waffenlieferungen und Hilfen von den Großmächten erhielt. Nur die wirtschaftliche Abschnürung veranlaßte die iranische Führung zum Einlenken. Die Kämpfe endeten im August 1988 durch einen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen vermittelten, vom Sicherheitsrat beschlossenen Waffenstillstand. Doch erst nach dem Tode Khomeinis begannen sich allmählich innere Verhältnisse wie äußere Beziehungen des Irans zu mildern, kaum schon zu normalisieren. Unter dem 1997 von der Bevölkerung zum Staatspräsidenten gewählten Mullah Khatami begann sich allmählich eine Politik der Liberalisierung durchzusetzen. Seit Beginn des irakisch-iranischen Krieges setze Saddam Hussein alles daran, seine Kriegsmacht aufzurüsten und zu modernisieren. Nach Ende des ersten Golfkriegs, noch 1988 begann er eine Großoffensive gegen die Kurden im nördlichen Irak. Hierbei setzte er auch chemische Waffen ein.75 Im Gefolge der Auseinandersetzungen über die Erdölförderung im südlichen Grenzgebiet besetzte er im August 1990 das Emirat Kuweit mit seinen ergiebigen Erdölanlagen. Das forderte die Großmächte heraus, die unter amerikanischer Führung im zweiten Golfkrieg im Februar 1991 mit starken militärischen Kräften rasch und erfolgreich gegen den Irak vorgingen und ihn nach wenigen Tagen mit geringen eigenen Verlusten zur An-

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nahme von UN -Resolutionen brachten, zur Räumung Kuweits und zur Anerkennung seiner Unabhängigkeit und zur Anerkennung einer Schutzzone der Kurden nördlich des 36. Breitengrades unter der Aufsicht der Alliierten und der UN . Doch gegen kurdische und schiitische Aufstände – und gegen mehrere Offiziersrevolten – vermochte sich Saddam Hussein zu behaupten und sein Herrschaftssystem zu stabilisieren. Auch eine südliche Flugverbotszone unterlag seit 1992 der Kontrolle durch die Vereinten Nationen. Ein UN -Einfuhrembargo wurde wegen sich häufender Menschenrechtsverletzungen, der weiteren konventionellen Aufrüstung des Iraks und der hoch eingeschätzten Menge seiner einsatzfähigen biologischen Waffen mehrfach verlängert. Die wirtschaftliche Isolierung führte in eine schwere Versorgungskrise des Landes, zur Lebensmittel- und Medikamentenknappheit und zu Erscheinungen von Unterernährung und hoher Kindersterblichkeit. Um dem zu begegnen, wurde 1996 von der UNO ein Abkommen geschlossen, das die begrenzte Ausfuhr von Öl zum Zwecke der Nahrungsmitteleinfuhr regelte. Doch der Ölschmuggel entwickelte sich nebenher und ließ den alles kontrollierenden Diktator und seine Günstlinge noch reicher werden.76 Jede Art von Kontrolle gestaltete sich schwierig und führte immer wieder zu Spannungen, auch gezielten Luftangriffen in den erklärten Schutzzonen des Nordens wie des Südens. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 in New York bezog die Regierung des Präsidenten George W. Bush erneut den Irak in ihre Feldzugpläne ein. Im März 2003 begann der dritte, nur kurze Golfkrieg.77 Doch die Zukunft liegt im Ungewissen.

Der Mittlere Osten Die größte Region häufiger und anhaltender politischer Konflikte befindet sich seit Jahrzehnten im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Irak und Iran waren und blieben zeitweilig Zentren bewegender Kräfte. Doch die Krisen kumulierten auch

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in den Nachbargebieten, in Syrien und Jordanien wie im Libanon, was hier nicht im einzelnen erörtert werden soll.78 Die Teilung Palästinas durch die Empfehlung der Vollversammlung der Vereinten Nationen im November 1948 hatte arabische Ablehnung, israelische Staatsgründung und den ersten PalästinaKrieg zur Folge. Neben dem Staat Israel fielen die verbleibenden arabischen Gebiete, die Westbank (Westjordanien) an Jordanien und der Gaza-Streifen an Ägypten. Doch seit der weltpolitisch überaus folgenreichen Suez-Krise 1956 ist hiernach ein Zentrum permanenter Krisen entstanden, das nebenher ein palästinensisches Nationalbewußtsein hervorbrachte und allmählich stärkte.79 Seit 1956 konnten sich im jordanischen Teil Palästinas politische Organisationen entfalten. Neben ihnen formierte sich im Exil, in Ägypten und in den Staaten am Persischen Golf vor allem unter Studenten eine „Palästinensische Befreiungsfront“, Al-Fatah (PNLM ), während im Lande selbst eine Organisation für die Befreiung Palästinas (PLO ) Unterstützung fand und 1964 offiziell proklamiert wurde. Schon nach dem Suez-Krieg erhielt Israel beispiellose Rüstungshilfe, eine Atomanlage, die in Frankreich erprobt war, und auch Atombomben. Wichtiger Verbindungsmann war Jacques Soustelle, ein bedeutender Ethnologe, der während des Krieges unter de Gaulle den Geheimdienst in Algerien leitete, später Generalgouverneur von Algerien, dann Minister für Saharafragen, Überseegebiete und Atomenergie war, ehe er 1960 mit de Gaulle wegen dessen Algerienpolitik brach und emigrierte. Er hatte hinter dem Rücken des Generals und seiner Regierung die Beziehung zu Israel gefestigt. Dies vertrat auch de Gaulle; doch der General wollte bei aller ausgesprochenen Sympathie für „un peuple d’élite, sûr de lui-même et dominateur“80 und bei seiner Unterstützung auch durch Waffenlieferungen die Beziehungen zur arabische Welt nie preisgeben. Soustelle handelte hinter seinem Rücken, was erst 1960 zutage trat. Die französischen Firmen arbeiteten weiter. Die nukleare Rüstung stand alsdann im Mittelpunkt amerikanisch-israelischer Verhandlungen. Kennedy wollte eine inter-

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nationale Kontrolle herbeiführen. Sein Nachfolger Johnson zeigte sich nachgiebiger und konzilianter – der heranwachsenden Großmacht im Nahen Osten gegenüber. Von 1968 bis 1991 gab es dreimal in Israel Atombereitschaft. Im Libanon, in der Hauptstadt Beirut war eine von Amerika aus gegründete und ausgebaute Universität entstanden, die wesentlich zur Bildung einer arabischen, nun auch einer palästinensischen Intelligenz in der Nähe zum heimischen Boden beitrug. Doch die politischen Entscheidungen wurden durch Kriege herbeigeführt. Im arabisch-israelischen Krieg im Juni 1967 gelang es Israel, mit starker militärischer Macht die ägyptische Sinai-Halbinsel, die syrischen Golan-Höhen, die Westbank und den Gaza-Streifen handstreichartig zu besetzen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen faßte Beschlüsse, vermochte jedoch keinen dauerhaften Frieden zu stiften. Erst der sogenannte „Jom-Kippur-Krieg“ im Oktober 1973 ging für Israel weniger günstig aus.81 Mit einem Treffen des ägyptischen Staatspräsidenten Sadat und des israelischen Premierministers Begin in Jerusalem begann im November 1977 eine Phase der Friedensverhandlungen. Auf der Grundlage des vom amerikanischen Präsidenten Carter im September 1978 vermittelten Camp-David-Abkommens kam dann im März 1979 in Washington ein Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel zustande, der die Räumung des letzten Streifens der Sinai-Halbinsel nach sich zog. Im Südlibanon besetzen israelische Truppen die Region der beherrschenden Golanhöhen und damit das Kerngebiet der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO ) unter der Führung des offenbar unüberbietbar umtriebigen Jassir Arafat. Die schiitische „Partei Gottes“, Hizbullah, in Beirut, kämpft vom Libanon aus gegen Israel. Sie wird vom Iran unterstützt und setzte als erste Gruppe Selbstmordattentäter gegen israelische Truppen ein, die sich 1982 aus dem größten Teil des Südlibanon zurückzogen. Sie ließen es aber zu, daß eine große Zahl palästinensischer Flüchtlinge in den Lagern von Sabra und Shatila von libanesischen Nationalisten umgebracht wurden. Die radikalen politischen Gruppierungen, die auf arabischer

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Seite in und im Umkreis von Palästina in Erscheinung treten und von sich reden machen, halten ihre Motivationsebene wie ihr Rekrutierungsreservoir weithin im Verborgenen im Schatten unantastbarer Autoritäten – religiöser Art bei Fundamentalisten. Das muß letztlich auch von ihren Zielen, Absichten und ihren Grundlagen gesagt werden.82 Eine politische Beurteilung erscheint daher schwierig oder gar unmöglich. Man kann nur Anzeichen registrieren, ohne den Grad einer möglichen Zusammenführung oder Vereinigung festzustellen. Radikalismus in äußerster Zuspitzung erscheint als primäres Erkennungszeichen dieser im Dunkeln bleibenden Kräfte. Der arabische Radikalismus entbehrt einstweilen jedweden konstruktiven Vermögens innerhalb der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO ), die für einen Palästinenserstaat eintritt. Ende 1987 begann die „erste Intifada“, der Großaufstand unter Führung der „Hamas“, die Israel völlig ablehnt und einen gesamtarabischen Staat anstrebt. Im Widerstreit mit den Kräften um Arafat, die sich um ein Gegengewicht zu radikal religiösen Gruppierungen bemühten, bildeten sich 1995 TansimMilizen, deren Al-Aqsa-Brigaden seit der „zweiten Intifada“, dem im September 2000 erklärten Aufstand, alle denkbaren Formen des Kampfes gegen Israel entwickeln. Vorbild ist der Islamische Dschihad des Scheich Omar Abdul-Rahman in Ägypten, der 1981 in Kairo Präsident Sadat ermordete und den ersten Anschlag 1993 auf das World Trade Center in New York verübte. Der Scheich ist durch eine theoretische Schrift als Begründer dieser Bewegung hervorgetreten, die mit Gewalt sowohl gegen den „gottlosen Westen“, gegen Israel als auch gegen jene Muslime vorgehen will, die von den Lehren des Islam abweichen. Dies fand auch Aufnahme im Afghanistan der Taliban. Die Verfassung des Staates Israel von 1948 erklärte: „Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein“.83 Unter dieser Voraussetzung werde er „allen seinen Bürgern ohne Unterschied der Religion, der Rasse oder des Ge-

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schlechts soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen“. Doch die große Mehrheit der arabischen Bevölkerung lebt heute in Aufnahmestätten und Flüchtlingslagern, 27 im Westjordanland und im Gazastreifen, die seit 1967 von Israel besetzt gehalten werden, und 32 in Jordanien, Syrien und im Libanon.84 Die Zusammendrängung in Lagern, über die man nur wenig erfährt, die Massierung von Menschen auf engem Raum in eintöniger Alltäglichkeit ohne freie Entfaltungsmöglichkeiten kann auf Dauer kaum von allen ertragen werden. Das Ausbrechen aus diesem gebannten Dasein ist vorhersehbar. Man kann auf Entsagung und gar Verzweiflung bauen. Gewalttaten können auf Dauer nur durch eine irgendwie geartete äußere Befreiung gemindert oder verhindert werden. 1995 gab es über 4 Millionen palästinensische Flüchtlinge. Im Westjordanland und im Gazastreifen leben etwa 2 Millionen von ihnen; die gesamte Einwohnerzahl beläuft sich auf etwa 6 Millionen. Dem stehen 5, 9 Millionen Einwohner des Staates Israel gegenüber, von denen über 81 Prozent Juden sind. Neue israelische Siedlungen in den seit 1967 besetzen Gebieten sind miteinander teilweise durch separate und militärisch geschützte Straßen verbunden. Ein nach norwegischer Vermittlung und geheimen Verhandlungen in Oslo zustande gekommenes Abkommen bildete den Anfang der gegenseitigen Anerkennung Israels und der PLO , die in einer Reihe weiterer Abkommen ausgestaltet wurde. Die palästinensischer Verwaltung (PLO ) unterstellten Gebiete – Westjordanland und Gaza-Streifen – mit palästinensischen Siedlungen und Lagern verfügen über eine eigene untere Verwaltung und Polizei. Das mag Vergleiche mit Formen begrenzter Autonomie in einstigen britischen Kolonialgebieten nahelegen. Den Palästinensern wurde ein politisch eingeschränktes Heimatland zugestanden. Doch die Ausdehnung der Macht Israels durch stärkste militärische Mittel auch in diesen Gebieten hält sich an keine Grenzen. In dieser Situation kam es seit der zweiten Intifada zunehmend zu Selbstmordanschlägen nicht nur auf israelische Kriegsmittel sondern auch auf die Zivilbevölkerung.

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Die Idee zweier Staaten im gleichen Territorium mit der überwölbenden Souveränität und militärischen Macht des einen ist ein Phantasma geblieben. Mittlerweile ist zwischen ihnen ein Krieg entbrannt, zwischen dem mit stärksten Waffen herkömmlicher Art operierenden Israel und dem auf der anderen Seite nun schon massenhaft erfolgenden Einsatz und Selbsteinsatz zum Opfertod entschlossener ziviler und im Verborgenen rekrutierter Sprengmittelkämpfer. Der Fortgang dürfte nach der Auffassung eines in Jerusalem lehrenden Kriegshistorikers und -theoretikers, die er vor wenigen Jahren kund tat, auch über Rüstungen und künftige Strategien und Taktiken entscheiden: In seiner Sicht „wäre der Palästinenseraufstand in der Westbank und im Gazastreifen, die Intifada, schon nach Tagen zusammengebrochen, wenn die Israelis sich zu dem Entschluß durchgerungen hätten: Jetzt ist aber Schluß! Wenn sie die internationale Öffentlichkeit und ihre selbstauferlegte Beschränkung beiseite gewischt hätten, dann hätten sie die Demonstranten und Steinewerfer wie richtige Feinde behandeln können. In diesem Fall hätten sich die Panzer und die Selbstfahrgeschütze aus dem Notfalldepots gewälzt, in denen sie aufbewahrt waren. Viele Palästinenser wären ums Leben gekommen, die große Mehrzahl wäre vermutlich über die Grenze nach Jordanien vertrieben worden. Abgesehen von möglichen internationalen Verwicklungen hätte dies unter verschwindend geringen israelischen Verlusten geschehen können. Israel hätte daraus zumindest kurzfristig enormen Nutzen gezogen“.85 Das letzte Jahrzehnt hat hierzu neue Lehren erteilt. In der Weltöffentlichkeit tritt eine Scheidung von Verteidigern und Kritikern des militärischen Vorgehens Israels unter seinem General und derzeitigem Regierungschef Scharon immer deutlicher in Medien und Meinungsäußerungen hervor. Die Politik der Vereinigten Staaten erweist sich freilich stets als stärkster Rückhalt für Israel. Die wichtigste radikal islamisch palästinensische Bewegung, die „Bewegung des Islamischen Widerstandes“, Hamas (Harakat al -muqawama al-islamija), ging aus der Muslimbruderschaft Ägyptens hervor. Sie lehnt in ihrer Charta

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den Staat Israel und auch die Friedensvereinbarungen von 1993 zu Oslo strikt ab. Um das Bild abzurunden, bedarf es aber auch noch der Erwähnung einer „demokratischen Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (DFLP ), einer Abspaltung von der „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP ), beide von Christen gegründet. Die beiden Parteiführer folgen marxistischen Doktrinen und unterstützen das syrische Regime. Unter diesen radikalen, miteinander rivalisierenden, teilweise zum äußersten entschlossenen Organisationen, die Kampf und Krieg mit drastischen und mörderischen Zielsetzungen als Daseinszweck erachten, ist es Jassir Arafat gelungen, nach außen eine überragende Führungsposition aufzubauen, indem er in zugespitzten Situationen mit einigem Geschick immer wieder bestimmend in den Vordergrund zu treten wußte – als erster Repräsentant der Palästinenser, als freundlicher Unterhändler, als Redner und gar in der Rolle des Märtyrers. Sein Antlitz wurde zu einem der bekanntesten dieser Jahre. Kein Weg, der das Verhältnis zwischen Arabern und Juden anging, führte an ihm vorbei. Doch sein wirklicher Einfluß auf die radikalsten Gruppen und ihre Handlungen läßt sich kaum bestimmen. Er scheint zu handeln und doch offenbar nichts oder nur Unzulängliches zu erreichen, zu wenig, um ein greifbares Ziel erkennen zu lassen und begehbare Wege anzubahnen. Händeschütteln und Willkommensgesten für hochrangige Gesprächspartner oder als Gast amerikanischer Präsidenten in Camp David haben ihn weltweit bekannt gemacht. Die politischen Probleme erscheinen freilich unlösbar. Zwei Staaten in einem Land zu schaffen, wie es 1993 in Oslo in Aussicht zu stehen schien, schon der Weg dorthin würde angesichts des Standes der Dinge größte Schwierigkeiten bereiten. Der arabische Teil würde auch nach Rückzug eines Anteils jüdischer Siedler nur als israelisches Protektorat existieren, dessen Außenpolitik und Militärpolitik israelischer Kontrolle unterläge. Da Israel atombombenfähig ist, ließe sich die Bedeutung einer Zuspitzung in der gesamten Region leicht vorstellen. Sie würde auch Großmächte einem Handlungszwang aussetzen, auch die

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derzeit einzig verbliebene Weltmacht, die USA , ohne daß sich die nächsten wie die weiten Folgen abmessen ließen. Die Kampfparole des Präsidenten George W. Bush gegen die „Achse des Bösen“, nach dem 11. September 2001 ausgegeben, leitete Sondierungen unter den Mächten ein und eröffnete den Feldzug gegen das als Rückzugsgebiet radikaler islamischer Kriegführung geltende Afghanistan. Führt man sich die rasche Bevölkerungsvermehrung in den arabischen Gebieten vor Augen, die in wenigen Jahren die Einwohnerzahl ganz Israels weit in den Schatten rückt, dann ergeben sich kaum vertretbare Vorstellungen für irgendeine politische Lösung, die über ein bloßes kurzbefristetes Provisorium hinauswiesen, um Formen des „low intensity conflict“ hier noch gar nicht zu erörtern.86 Sprengstoffattentate weisen die Richtung. Auf Folgen im nördlichen Afrika wird noch zurückzukommen sein.

Balkanwirren Der größte Herd permanenter Spannungen, Unruhen und Konflikte in Europa ist die Balkanhalbinsel. Sie war dies im ganzen 20. Jahrhundert, auch aufgrund einer bis in das Altertum zurückreichenden ereignisreichen Vorgeschichte87; und dies hat bislang noch kein deutliches Ende gefunden. Alle Formen und Gewänder europäischer Staatenordnungen vermochten kaum jemals die Länder des Balkans zu umhüllen – ihre Ordnungen einzubeziehen. Und von der anderen, der asiatischen Seite aus vermochte die Türkei einen Herrschaftsanspruch nicht dauerhaft und nie ohne Konflikte geltend zu machen. Der zweite Weltkrieg brachte in Teilen des Balkans die Entfaltung heftigster Partisanenkämpfe, die länger anhielten und verlustreicher verliefen als die Feldzüge der Achsenmächte.88 Der Ustascha-Staat Kroatien wurde als ein Satellitengebilde ins Leben gerufen, der Juden und Serben vertrieb. Serbische Tschetniks versuchten, Bosnien gänzlich serbisch zu machen,

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und töteten massenhaft. Bulgarische Truppen drangen in Nordgriechenland und Thrakien vor und töteten Tausende, um das Land für bulgarische Siedler zu okkupieren. In Griechenland ging der Widerstand gegen die besetzenden Truppen Italiens und Deutschlands schon früh 1942 in einen Krieg linker gegen rechte Partisanen über, in einen Bürgerkrieg, der erst 1949 durch englisches und schließlich auch amerikanisches Eingreifen beendet wurde. Die letzten Partisanen suchten Zuflucht auf albanischem Gebiet. Auch im Kosovo hielt der Kampf zwischen Albanern und jugoslawischen Partisanen noch nach Kriegsende an. Der großserbische Adriastaat Jugoslawien konnte sich erneuern89 dank der Tatkraft und Überlegenheit des Partisanenmarschalls Tito, Josip Broz, vor dem Kriege Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und am Bürgerkrieg in Spanien beteiligt. Seiner Politik kam zugute, daß er selbst kein Serbe war und aus seiner heftigen Vorkriegsopposition gegen die Regierung in Belgrad heraus die Fundamente des Zwischenkriegsstaates zu erhalten und nun ohne Monarchie befestigen konnte, nachdem er die jugoslawische Exilregierung in London diplomatisch ausmanövriert und englische Unterstützung gewonnen hatte.90 Seit Ende 1944 übte Tito an der Spitze des „Antifaschistischen Rates der Nationalen Befreiung“ faktisch alle Macht in Jugoslawien aus, seit 1945 dann als Ministerpräsident, seit 1953 als Staatspräsident, der seit 1963 auf Lebenszeit amtierte. Tito starb 1980 fast 88-jährig in Ljubljana, im mütterlich slowenischen Heimatgebiet. Sein Name bleibt weltgeschichtlich bedeutsam – für den „Titoismus“ – für den Bruch mit Stalin 1948, einen erfolgreichen Weg zur „Blockfreiheit“ in Verbindung mit anderen Staatsmännern und Staatsgründern der „Dritten Welt“, wie Nehru, Nasser oder Sukarno, dann in enger werdender Verbindung zu Griechenland und zur Türkei. Ihm gelang die allmähliche Annäherung an westliche Wirtschaftsweisen, ohne innerpolitisch die Macht der Einheitspartei zu beschränken. Der Zentralismus der Verwaltung von Belgrad aus wurde aufgegeben und ein föderatives System geschaffen. Jugoslawien erneuerte sich als Bundesstaat. Doch der Bund

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fiel nach dem Tode Titos gänzlich auseinander. Enver Hoxha, Gründer und Führer albanischer Kommunisten, hatte sich schon nach Kriegsende von Tito und seinem Jugoslawien getrennt, um sich zunächst eng an die Sowjetunion anzuschließen, dann nach China auszurichten und alsdann völlig von allen Mächten abzuschließen. Mitte der sechziger Jahre waren Jugoslawien, Albanien aber auch Rumänien91 vom Ostblock gelöst, enger mit China verbunden, zeitweilig dem Westen geöffnet. Aber schon 1970 war es in Zagreb zu Studentendemonstrationen gekommen und hatte sich kroatischer Nationalismus zu regen begonnen, den Tito kompromißlos unterdrückte. „Sobald der Vielvölkerstaat sich aufzulösen begann, sah sich jede außerhalb der Grenze ihrer jeweiligen Republik lebende nationale Gruppe plötzlich in der Position einer gefährdeten nationalen Minderheit“.92 Ein neuer Machthaber versuchte alsdann, den Föderalismus Jugoslawiens kurzhin aufzuheben. Slobodan Milosˇevic´, seit 1989 Präsiden Serbiens und seit 1990 Vorsitzender der Sozialistischen Partei Serbiens, wollte mit allen erreichbaren Mitteln die nationalistischen Kräfte in Serbien hinter sich bringen und jede Eigenständigkeit und Gegenwehr in Kroatien wie in Bosnien und der Herzegowina unterdrücken. Jugoslawien ging 1988 zu einem Mehrparteiensystem über. Doch die neu entsehenden Parteien konzentrierten sich auf die jeweilige Republik.93 Die serbische Kommunistische Liga unter der Führung von Milosˇevic´ bemühte sich mit einem nationalistischen serbischen Programm um die Bevölkerung im Kosovo durch Stärkung des bürokratischen und militärischen Apparates und schließlich gewalttätige Unterdrückung der nichtserbischen Bevölkerungsteile. Milosˇevic´ erhob kompromiß- und verhandlungslose Ansprüche auf das weit überwiegend von muslimischen Albanern bevölkerte Kosovo mit dem legendären Kosovo Polje (Amselfeld), der mythologischen „Wiege Serbiens“. Zur gleichen Zeit brachten Mehrparteiensysteme der anderen Republiken ebenfalls ethnisch nationalistische radikale Parteien zur Herrschaft, so im April 1990 in Kroatien die Kroa-

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tische Demokratische Union unter der Führung des einstigen Partisanengenerals Franjo Tudjman – auch mit finanzieller und persönlicher Unterstützung durch kroatische Emigranten.94 Ein großer Teil der Serben lebte aber nun in Kroatien und in der Republik Bosnien-Herzegowina, deren größte Bevölkerungsgruppen – neben Serben und Kroaten – ethnisch divers, aber im Islam zusammengefunden hatten. In Serbien wie in Kroatien spielte sich eine neue Tragödie der an Tragödien reichen Geschichte Serbiens ab. Der Ursprung lag in der Art und Weise, wie die ethnisch nationalistischen Parteien und Organisationen mit den ethnischen Enklaven in diesen beiden Republiken und in Bosnien umgingen. Slowenien hatte sich gleichzeitig mit Kroatien im Gefolge eines erfolgreich verlaufenen Unabhängigkeitsreferendums im Juli 1991 zum souveränen Staat erklärt. Dieser Akt erlangte – im Unterschied zu Kroatien – nach dem kurzen Intermezzo einer Besetzung durch serbische Truppen, auch durch Vermittlung der EU infolge Anerkennung durch die Bundesregierung in Belgrad definitiven Charakter. Mazedonien folgte noch im gleichen Jahr nach. Doch der anschließende Krieg der Serben Milosˇevic´s gegen Kroatien sowie gegen die neue Republik Bosnien und Herzegowina, die sich nach ersten freien Wahlen (seit 1945) im Oktober 1991 durch Beschluß der Parlamentsmehrheit – gegen erbitterten Widerstand der serbischen Abgeordneten – ebenfalls zum souveränen Staat erklärte, forderte viele Opfer. Unter internationalem Druck kam es im November 1995 zum Friedensabkommen von Dayton und einige Wochen später zur Unterzeichnung in Paris, was nun die staatliche Selbständigkeit der umkämpften Teile der alten Republik Jugoslawiens gewährleistete. Milosˇevic´ wurde noch im Juli 1997 Präsident Jugoslawiens, doch im Dezember 2000 von einer innerserbischen Opposition zum Rücktritt gezwungen. Als Hauptverantwortlichem für die Eskalation der internationalen Krise um das Kosovo wurde gegen ihn im Mai 1999 vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Anklage erhoben. Der Prozeß dauert an.

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Die neu entstandenen Kleinstaaten übernahmen Streitkräfte und Geheimdienste in ihre staatliche Organisation, was ethnische Konflikte zu Programmen und diese zum Krieg steigerten. Ethnische Fluchtbewegungen zerstörten ältere Verbindungen wie Kontakte. „Eine ganz besondere Form des Zusammenspiels von postkommunistischer Staatsgewalt und ethnischen Konflikten hat diese hochgradig zerstörerische Variante des Nationalismus hervorgebracht“.95 Das durch amerikanische Vermittlung zustande gekommene Abkommen zu Dayton ließ die Statusfrage und damit den Kern des Problems ungeklärt. Massenmorde erregten die Weltöffentlichkeit und gaben dem Namen der Stadt Srebrenica 1995 einen schrecklichen Klang. Die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Milosˇevic´ und deren Reaktion in blutig agierenden Freischälerverbänden, die sich ausländischer Förderung sicher waren, hat schließlich einen neuen blutigen Krieg heraufbeschworen. Ein Ultimatum des UN -Sicherheitsrates im Oktober 1998, ein Waffenstillstand, eine internationale Kosovo-Konferenz im Schloß Rambouillet und in Paris im Februar und März des nächsten Jahres blieben folgenlos. Dies führte zum Eingreifen der NATO und zu Luftangriffen – ohne UN -Mandat –, zu stetiger Verschärfung kriegsmäßiger Gegensätze, doch im Sommer 1999 zur Einrichtung einer UN -Übergangsverwaltung im Kosovo. Aber der serbischalbanische Gegensatz bleibt allgegenwärtig. Auch die Krise Mazedoniens scheint nicht ausgestanden.96 „Die Balkanstaaten sehen einer ungewissen Zukunft entgegen … Mit besonders ungünstigen Startbedingungen haben die Völker im ehemaligen Jugoslawien zu rechnen. Durch den monatelangen mörderischen Bürgerkrieg ist in weiten Teilen des Landes die Infrastruktur nahezu völlig vernichtet worden“.97 Im März 2003 wurde der serbische Ministerpräsident Djindjicˇ ermordet. Der Täter blieb unbekannt. Der Amtsnachfolger bekannte offen: „Wie überall auf dem Balkan hat auch in Serbien die Organisierte Kriminalität Verbindungen zur Polizei, Medien oder Justiz“.98

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Panafrikanismus und Regionalstaaten im Widerstreit Die Geschichte panafrikanischer Ideen, Bewegungen und Kongresse schwarzer Intellektueller in Amerika und England reichen bis in die Jahre vor dem ersten Weltkrieg zurück.99 Ein früher Anstoß ging vom nordamerikanischen Sezessionskrieg und der Sklavenemanzipation aus. Als bedachtes Pendant zur Pariser Weltausstellung 1900 fand in London eine Konferenz statt, die erstmals die Bezeichnung „Pan-African“ führte. Sie vermochte sich in einer Zeit, in der nicht nur von Völkern, sondern immer mehr auch von Rassen gesprochen wurde, ebenso durchzusetzen wie der Gedanke, die britische Bevölkerung, Parlament und Regierung über afrikanische Menschen und Zustände aufzuklären, über den Erdteil der Herkunft aller Schwarzen. Diese Aufgabe ergriff eine „African Association“. 1919 fand dann ein Erster Panafrikanischer Kongreß in Paris statt, 1945 der fünfte dieses Namens in London. Die Bestrebungen kumulierten. Im gleichen Jahr tagte eine „Pan-Africanist Conference“ in Manchester. Doch einer ihrer Organisatoren, Jomo Kenyatta, der bald noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, warb nach Rückkehr im folgenden Jahr vor allem anderen für Kenia, das Volk der Kikuyu und seine Probleme.100 1952/53 galt Kenyatta als Initiator einer von der Geheimorganisation „Mau-Mau“ inszenierten Revolte der Kikuyu, die sich erbitterte und zum Teil grausame Kämpfe mit Briten und regierungstreuen Schwarzen lieferten.101 Er wurde festgenommen und zu mehrjähriger Haft verurteilt. Die dann der Dekolonisation folgenden, sich weltweit ausbreitenden Spannungen und Umwälzungen, Revolutionen und Kriege beförderten auf dem afrikanischen Kontinent wiederholt sich verdichtende Versuche zu panafrikanischer Zusammenarbeit und solidarischer Politik der neuen Staaten. Zu den Urhebern dieser Politik zählte Kwame Nkrumah, einst Mitorganisator der Konferenz von Manchester, dann energievoller Ministerpräsident von Ghana, der im April und im Dezember 1958 die ersten panafrikanischen Konferenzen auf afrikani-

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schem Boden, nach Accra, einberief, auf denen außer Ghana Ägypten, Äthiopien, Liberia, Libyen, Marokko, der Sudan und Tunesien vertreten waren. An der zweiten dieser Konferenzen, nachdem der Zusammenschluß von Ghana und Guinea gelungen schien, nahmen zudem Repräsentanten der noch unter europäischer Botmäßigkeit stehenden Gebiete sowie der algerischen Exilregierung teil. Kwame Nkrumah versuchte, eine gesamtafrikanische Gemeinsamkeit einerseits in der Abwehr von Imperialismus und Kolonialismus, aber auch in gemeinsamer Distanz zu den weltpolitischen Gegensätzen der Großmächte und anderseits im Appell zur staatenübergreifenden kulturellen wie wirtschaftlichen Kooperation aufzubauen. Dem als Gefahr erkannten Zerfall der dekolonisierten Staatenwelt Afrikas in ethnische Gegensätze und Konflikte sollte die Parole steter Solidarität entgegenwirken, die nationalstaatliche Entwicklungen in dem Vorstellungsrahmen europäischer Geschichte ausschloß. Zur gleichen Zeit, da die zweite Konferenz zu Accra tagte, fand in Kairo eine Afrikanisch-asiatische Wirtschaftskonferenz statt, auf der sich die Vertreter von 40 teilnehmenden Staaten auf eine „Afrikanisch-asiatische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ mit ständigem Sitz in Kairo einigten. Mit der doppelten Zwecksetzung der Blockfreiheit wie der Zusammenarbeit schufen dann 1963 die Emissäre von 30 unabhängigen afrikanischen Staaten die „Organization of African Unity“ (OAU ) mit ständigem Sitz in Addis Abeba, die allen afrikanischen Staaten offensteht. Sie wuchs stetig. Sie zählt 53 Mitglieder. Die Ziele waren hochgesteckt. Jährliche Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs und die Geschäftsführung eines ständigen Generalsekretariats erarbeiteten eine Reihe von Resolutionen.102 Doch erst 1991, nach dem Ende des Ost-WestGegensatzes schlossen die Mitglieder den wegweisenden Vertrag über die „Afrikanische Wirtschaftsgemeinschaft“ (AEC ), der das Ziel vorgab, bis zum Jahr 2025 den Zusammenschluß zum kontinentalen Wirtschaftsraum – schrittweise über regionale Kooperationsverträge – herbeizuführen. Alle OAU -Staa-

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ten schlossen 1999 ein Gewaltverzichtsabkommen. Ein Sondergipfel entschied sich für die Gründung einer „Afrikanischen Union“ mit eigener Verfassung, Parlament, Gerichtshof und Zentralrat. Eine Vorbildwirkung der Europäischen Gemeinschaft läßt sich kaum verkennen. Sie hat wohl auch dem Fernziel der AEC neuen Auftrieb gegeben. Im Juni 2002 wurde auf einem Treffen der G 8-Regierungschefs mit den Vertretern von 52 der 53 afrikanischen Staaten eine „New Partnership for Africa’s Development“ (Nepad) beschlossen, um in Verbindung mit dem Weltwährungsfonds zur fortschreitenden Rationalisierung der Entwicklungspolitik der großen Industriestaaten in den afrikanischen Ländern beizutragen. Die Vielfalt von Völkern und Stämmen mit vielen hundert Sprachen und einer Mehrzahl religiöser Überlieferungen, das Ganze unter extremen Klimabedingungen hatten die Separation altneuer Staaten von der Geschichte der euro-atlantischen Welt in Permanenz geraten lassen. Nirgends existiert ein homogenes Volk im eigenen Staat. Im Dezember 1963 wurde Kenia unabhängig, Kenyatta der erste Ministerpräsident dieses Landes, dann Staatspräsident. Den größten Nutzen hatten gebildete, landbesitzende, zuvor loyale Kikuyu. Viele intakte große Farmen wurden an kapitalkräftige schwarze Eigentümer veräußert. 49 Farmen ließ Kenyatta in seinem Namen erwerben.103 Der Aufstand der Guerrilla-Kämpfer fand Fortsetzung in den Wäldern, bis ihn Kenyatta beenden konnte. Doch Kenia kam nicht zur Ruhe. Ein Minister und möglicher Nachfolger Kenyattas wurde unter mysteriösen Umständen ermordet. Kenia blieb im Unterschied zu Tansania, dem Land des „afrikanischen Sozialismus“ unter dem Diktator Julius Nyerere marktwirtschaftlich, westlich orientiert, wurde aber zu einem Einheitsparteistaat der „Afrikanischen Nationalunion von Kenia“. 1977 wurde die Grenze zwischen beiden Ländern geschlossen und auch die Zollunion aufgelöst. Außenpolitisch knüpfte Kenia Verbindung mit dem Sudan unter seinem Diktator Idi Amin. Grenzkonflikte mit Somalia, die durch bewaffnete Banden verschärft wurden, konnten 1980 durch den Ver-

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zicht Somalias auf Gebietsansprüche in Kenia beendet werden. Kenyatta starb 1978 im Alter von 86 Jahren in seinem Amt. Nachfolger wurde der Vizepräsident Daniel arap Moi. Der Lebensstandard der rasch wachsenden Bevölkerung ist unterdessen unter das Niveau von 1970 gefallen. 1999 lebten etwa 43 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.104 Die größte Plage geht jedoch seit langem von Aids vor allem in Westkenia aus. Mysteriöse Todesfälle erschütterten seit 1990 jegliches Vertrauen. Ein anglikanischer Bischof, der als innerpolitischer Kritiker hervorgetreten war, kam bei einem unaufgeklärten Verkehrsunfall ums Leben. Der Außenminister, der als unbestechlicher Politiker galt, beging angeblich Selbstmord. Aber auch andere Menschen, die sich um Aufklärung bemühten, kamen in den folgenden Jahren auf rätselhafte Weise um. Im Juli 1991 kam es zu den schlimmsten Unruhen seit Beginn der Unabhängigkeit. Weltbank und Gläubigerstaaten verhängten eine Kreditsperre. Unter äußerem und innerem Druck – und schweren Unruhen – führte Moi 1991 wieder ein Mehrparteiensystem ein. Dem tansanischen Staatspräsidenten Benjamin Mkapa gelang es, die East African Community (EAC ) von 1967 – Tansania, Kenia, Uganda und Tanganjika – wiederherzustellen. 1996 wurde in Arusha am Kilimandscharo ein ständiges Sekretariat errichtet und im September 1999 ein Vertrag verabschiedet, der fundamentale Prinzipien sichern soll: friedliche Koexistenz, Beilegung von Konflikten und Rechtsstreitigkeiten, Achtung der Menschenrechte und Kooperation zu gegenseitigem Nutzen. Vorgesehen sind ein gemeinsamer Markt der drei Staaten, eine Währungsunion, um schließlich eine politische Föderation anzubahnen. In Paris taten sich gegen Ende der Zwischenkriegszeit schwarze Intellektuelle aus französischen Kolonien zusammen, die für eine „Négritude“ eintraten, eine literarische wie politische Darstellung des mit Frankreich verbundenen Negertums – nach europäischer, vornehmlich französischer Schulung. Der Begriff behauptete sich, obgleich er im Nordafrika der Nach-

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kriegszeit Wandlungen durchlief. Einer seiner markantesten Fürsprecher, der Senegalese Léopold Sédar Senghor, seit 1946 Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, trat besonders als Lyriker in einem reich nüancierten Französisch hervor. Als erster Afrikaner wurde er 1983 zum Mitglied der Académie Française gewählt. Er amtierte von 1960 bis zu seinem Rücktritt in hohem Alter 1980 als geachteter Staatspräsident des Senegal. Der Senegal schloß sich 1982–89 mit Gambia zur Konföderation Senegambia zusammen, die in einer Phase separatistischer und bürgerkriegsartiger Unruhen wieder aufgegeben wurde, was den Unruhen jedoch noch kein Ende setzte. Die Vorgänge in den afrikanischen Staaten im Ringen um die Macht darzustellen, ist wiederholt versucht worden. Eine neue afrikanische Gesellschaft war herangewachsen, wie gesagt worden ist: „Händler, Angestellte europäischer Handelsfirmen, Pflanzer, Geldverleiher, Juristen, Lehrer, Journalisten, Ärzte, Apotheker, Transportunternehmer … Der geographische Ort dieser Gesellschaft waren die Städte, welche die Kolonialregierungen als Umschlagplätze für Import-Export, als Verwaltungszentren in die Landschaft setzten …“105. „Idealtypisch“, so hören wir, „stellt sich die gewaltfreie Nationale Befreiungsfront eines afrikanischen Landes um das Jahr 1960 als eine dominierende Partei dar, geführt von städtischen Intellektuellen. An der Spitze steht ein Führer, zu beständiger Festigung seiner Macht geneigt. In freien und geheimen Wahlen verbucht die Partei Erfolge auch bei der Masse der Bauern. Sie organisiert in Gestalt von Frauen- und Jugendverbänden, von Gewerkschaften Transmissionsriemen … in die jeweiligen Schichten der Gesellschaft. … Diese Führungspartei arbeitet mit den Behörden der Kolonialmacht um so vertrauensvoller zusammen, je deutlicher den letzteren bewußt wird, daß sie nur noch dabei sind, ihren geordneten Abzug zu organisieren.“106 In den meisten Ländern Afrikas gewannen seit ihrer Unabhängigkeit einzelne herausragende Männer als Diktatoren nahezu unumschränkte Gewalt – bis zu ihrem Sturz. Die Diktatur ist mithin aus der Geschichte gar nicht wegzudenken. Auf jede

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Revolution folgt eine Diktatur, aber auch auf nahezu jeden Putsch oder Staatsstreich. Dies kann weithin als Regel gelten. Aber selten vermochte sich ein Machthaber aufgeklärten Geistes einige Zeit zu behaupten und auch seine intellektuelle Gestalt zu wahren wie wohl beispiellos Léopold Senghor. Als ein Beispiel der entgegengesetzen Art darf Jean-Bedel Bokassa gelten, ein ehemaliger Soldat der französischen Kolonialarmee im ersten Vietnam-Krieg. Er gelangte 1966 durch einen Putsch an die Spitze der „Zentralafrikanischen Republik“, des ehemals französischen Äquatorialafrika. 1972 erklärte er sich zum Präsidenten auf Lebenszeit und 1977 krönte er sich zum Kaiser Bokassa I . Zwei Jahre später wurde er durch eine französische Militäraktion abgesetzt, dann mehrfach verurteilt. Das Terrorregime des ugandischen Generals Idi Amin, der 1971 an die Macht gelangte, 1979 gestürzt wurde und außer Landes floh, gibt ein weiteres Beispiel. Auch Sekou Touré, 1958 bis 1984 diktatorisch amtierender Staatspräsident in Guinea, einst Organisator eines afrikanischen Gewerkschaftswesens, bleibt zu nennen. Für eine andere Spielart steht der an Hochschulen in den Vereinigten Staaten ausgebildete Kwame Nkrumah, erster Staatspräsident von Ghana, der auch für panafrikanische Ideen eintrat. Ghana und Nigeria schufen Verfassungen nach europäischen und amerikanischen Vorstellungen, die aber nur die erste Wahl überstanden. Danach beherrschten Putsche und annullierte Wahlergebnisse den weiteren Gang. An der ehemals französischen Kolonie Elfenbeinküste, Côte d’Ivoire, regierte der Gründungsvater, der Arzt und Großbauer Félix HouphouetBoigny unangefochten von 1950 bis zu seinem Tode 1993. Es soll hier nicht in eine Vergleichung der politischen Systeme Afrikas eingetreten werden.107 Hier interessieren Konflikte und Kriege. Wo immer auch der Blick auf der Landkarte der Staaten Afrikas Halt sucht, er gerät stets in Gebiete, in denen Kämpfe, Mordtaten, diktatorische Regimes einander ablösen, so daß es schwer fällt, eine Regel zu entdecken, die friedvolles Entwickeln langfristig begleiten könnte.

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Im Nordwesten enstand in Spanisch-Sahara die Frente POLISARIO (Frente Popular para la Liberación de Saguia el Hamra y Rio de Oro), eine rebellierende Befreiungsarmee, die mit algerischer Unterstützung in dem unabhängigen Staat Westsahara Krieg führt, der im Norden an Marokko, im äußersten Nordosten an Algerien und im Osten und Südosten an Mauretanien grenzt. Das große Wüstenland mit wenigen Oasen ist gering bevölkert. Seine Einwohner zählen weniger als 300000 muslimische Saharaui. Die Ansprüche Marokkos und Mauretaniens auf dieses Gebiet nach der Entdeckung großer Phosphatlager führten 1975 zu einer Reihe von Konflikten, die durch die marokkanische Besetzung des Nordens und des Küstenlandes der Westsahara ausgelöst wurden und die sowohl die UN als auch die USA nicht zu beenden vermochten. Tausende von Saharaui flüchteten in das benachbarte Algerien, das die Polisario gegen Marokko unterstützt. Das Ergebnis war ein über eineinhalb Jahrzehnte geführte Guerrillakrieg, bis es Marokko gelang, einen festen Verteidigungswall um die Westsahara zu errichten. Mehr als 70 Staaten habe die von der Frente Polisario ausgerufene Republik Westsahara anerkannt. Doch von ihr ist bislang wenig mehr existent als die Flüchtlingslager, die im angrenzenden Algerien liegen – auch ein großes Lager marokkanischer Kriegsgefangener, die auf algerischem Boden, seit 1979 in den Händen der Polisario festgehalten werden, ohne daß irgendeine Macht bislang das Schicksal dieser von der Welt Vergessenen zu ändern vermochte.108 Die Gegenwart ist reich an politischen wie menschlichen Tragödien. Doch die Welt verschließt die Augen; Historiker kennen sie gar nicht mehr.109 Am Horn von Afrika, in Äthiopien, Eritrea, dem seit 1991 unabhängigen Somaliland und Djibouti, einstige Kolonialbesitzungen Italiens, Großbritanniens und Frankreichs, ist der überwiegende Zeitraum der Nachkriegsunabhängigkeit beherrscht von Gewaltakten, Aufständen, Guerrillakämpfen, heftigen Streiks und gewaltsamem Sturz der Regierung.110 Es klingt poetisch und trifft doch den Kern der Fakten: „Weitläufig und abgelegen, ist das Horn von Afrika wie eine Arche, die einer erstaun-

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lichen Vielfalt menschlicher Gesellschaften Zuflucht bietet: von den uralten und hochentwickelten zu den fernen, einfachen und unberührten Lebensformen … sie alle haben ihren Platz in diesem Mikrokosmos des afrikanischen Kontinents“.111 Weithin erscheinen deutliche Gegensätze prägend: von Hochland und Tiefland, Bauern und Nomaden, von Christen und Moslems. Staatenbildung und Grenzziehungen seit dem 19. Jahrhundert zerrissen bestehende kulturelle Einheiten und teilten ganze Völker. Die Expansionspolitik Kaiser Meneliks II . machte Äthiopien zu einem Vielvölkerstaat. Eritrea war dies in kleinerem Maßstab, ähnlich Djibouti. Nur Somalia, ethnisch-kulturell homogen, von islamischen Nomaden, den Somali bewohnt, vermochte sich zu behaupten – bis zum Einsatz britischer Bombenflugzeuge in dem ersten Luftwaffenangriff in der Geschichte Afrikas 1920. Nach dem Niedergang der europäischen Kolonialmächte wurden die Sowjetunion und die USA auf verschiedene Weisen in den Ländern am Horn von Afrika präsent. Nur Frankreich verblieb in Djibouti. Die Vereinigten Staaten unterstützten die Regierung Äthiopiens unter Kaiser Haile Selassie, der schon gegen die Italiener Krieg geführt hatte und dann entscheidend zur Schaffung der „Organisation für afrikanische Einheit“ (OAU ) beitrug. Eritrea wurde schrittweite einverleibt. Der Kaiser mußte aber nach Unruhen 1974 auf Druck der Armee abdanken. Ein „Provisorischer Militärverwaltungsrat“ rief 1975 die Republik aus und begann die Zerschlagung des Feudalsystems. Hieraus erwuchs nach blutigen Revolten ein strikt marxistischleninistisches Programm und außenpolitisch eine enge Anlehnung an den Ostblock. Der amtierende Staats- und Regierungschef Mengistu Haile Mariam wurde nach Schaffung einer neuen Verfassung 1987 Staatspräsiden, ehe er in den Wirren des Bürgerkriegs 1991 nach Simbabwe floh. Wir übergehen die weiteren Stationen inneräthiopischer Unruhen, Kämpfe und Kriege. Die USSR stärkte auch das Regime Somalias. Innerhalb des geostrategischen Gegensatzes im Rahmen des Ost-West-Kon-

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flikts entstanden Militärstützpunkte und kamen wirtschaftliche Hilfen zustande. Grenzkonflikte und anhaltende Kämpfe zwischen Äthiopien und Somalia seit 1964 und der Unabhängigkeitskampf Eritreas gegen Äthiopien bezeugten, daß auch lokale Interessenten im Spiel waren, aber auch andere Staaten neben den großen Mächten: Ägypten, Sudan, Jemen, Israel, Saudi-Arabien, auch China und sogar Kuba. Auffallend erscheinen die nach der Dekolonisation hervortretenden Differenzen von Wirtschaftskraft und Wohlstand. Geht man etwa vom Bruttosozialprodukt pro Kopf der Einwohnerzahl aus, so treten krasse Unterschiede zwischen den Ländern dieses über mehrere Klimazonen sich erstreckenden Kontinents in Erscheinung.112 Einige nördliche, am Mittelmeer gelegene Staaten einerseits und die im Süden – die Südafrikanische Republik, Botswana und Namibia – anderseits heben sich deutlich, montanös möchte man sagen, in der afrikanischen Staatenwelt ab, von den Inselstaaten einmal abgesehen. Das kleine Land Djibouti und das uralte Kulturland Ägypten durchbrechen allerdings dieses Gesamtbild. Die Südafrikanische Republik mit etwa 45 Millionen Einwohnern, zu 77 Prozent Schwarzen, 12 Prozent Weißen, über 8 Prozent Mischlingen und einem Anteil Asiaten, und sieben verschiedenen Amtssprachen gibt wohl das einzige Beispiel dieser Art. Nach dem Burenkrieg an der Jahrhundertwende wurde zunächst der Gegensatz zwischen pro- und antibritischer Partei, nach dem zweiten Weltkrieg der zwischen der weißen, auf Apartheid113 bedachten und der schwarzen Bevölkerung zur politisch bestimmenden Konfrontation, die auch die außenpolitischen Beziehungen tangierte. Nach einer langen Phase heftiger Unruhen in der Rassenfrage, in der auch die EU 1986 durch Wirtschaftssanktionen eingriff, und nach Aufhebung eines Ausnahmezustandes (1986–90) kam im April 1994 eine neue vorläufige Verfassung und eine Regierung der nationalen Einheit zustande. Der lange inhaftierte Nelson Mandela wurde Staatspräsident. Die Anwendung der Apartheidsgesetze führten dazu, daß die UNO Südafrika das Mandat über die einstmals deutsche Kolo-

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nie Südwestafrika absprach, die seit 1968 den Namen Namibia führt. Die Versuche eines Ausgleichs zwischen Ethnien und Parteien scheiterten jedoch an harten Widerständen. Die SWAPO (South West Africa People’s Organization),114 die aus einer Studentenorganisation hervorgegangen war, die sich über die verkaufsartige Vermittlung schwarzer Arbeitskräfte vor allem der Ovambos empörte, vermochte die Unterstützung der OAU zu gewinnen. Doch dies führte schließlich in einen heftig geführten, 23 Jahre dauernden Guerrillakrieg. Die SWAPO wurde von Angola und Kuba aus unterstützt, bis sie 1989 einem von diesen Staaten mit Südafrika vereinbarten Waffenstillstand zustimmte, der freie Wahlen unter UNO -Aufsicht sicherte. Seit 1990 ist Namibia ein innerlich und äußerlich beruhigtes Land unter der Präsidentschaft des Gründers und Führers der SWAPO , Sam Nujoma. In den einstmals von weißen Minderheiten beherrschten britischen Kolonien Nordrhodesien (Kronprotektorat) und Südrhodesien (Kronkolonie), heute Sambia und Simbabwe, wo neuerdings weiße Landbesitzer enteignet werden, dauern die inneren Auseinandersetzungen an wie auch in dem kleinen Swasiland. Die Beteiligung Kubas – und der Sowjetunion – an diesen Vorgängen erscheint historisch von keineswegs geringerem Gewicht als anderseits die Rückwirkung der Vorgänge in den portugiesischen Kolonien Angola, Mosambik und Guinea-Bissau auf das Heimatland. Eine der Kolonialkriege überdrüssige „Bewegung der Streitkräfte“ stürzte 1974 in einer unblutigen Erhebung, der sogenannten „Nelkenrevolution“ die heimische Diktatur. Eine Militärjunta und ein Revolutionsrat übernahmen die Regierung, die nach einigen radikalen Experimenten wenige Jahre später – zeitweilig unter sozialistischer Führung – Verfassung und Parteiensystem Portugals erneuerte. Aus dem Verlust der Kolonien und dem Rückwanderungsstrom von Portugiesen in ihr Heimatland erwuchs mancherlei wirtschaftlicher Nutzen, was Portugal zu einer günstigen Position auch für die Europäische Union verhalf.

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Nach Norden erstreckt sich das Riesenland Kongo mit unermeßlich reichen Bodenschätzen und gewaltigen Wasserreserven in fruchtbaren Tälern. Es verfügt über einen wirtschaftlichen Reichtum, der den aller südafrikanischen Staaten in den Schatten stellt. Doch in der Statistik der Bevölkerungen mit dem größten Anteil der Unterernährten – nach der Statistik der Food and Agriculture Orgnization der UNO – nimmt Kongo (Kinshasa), République Démocratique du Congo, zeitweise Zaire genannt, ebenfalls einen der Spitzenplätze ein – neben Somalia und Burundi. Im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts wuchs der Anteil der Unterernährten auf annähern zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Dies ist auch eine Folge der nahezu ununterbrochenen Wirrnisse, Abspaltungen, wie dem Katanga-Konflikt, Revolten und Bürgerkriege – und Begleiterscheinungen, wie einer zunehmenden Korruption – nach dem überstürzten Rückzug Belgiens aus seiner großen, unkontrollierbar gewordenen Kolonie 1960. Wir übergehen die einzelnen Stationen wie die Taten ihrer Helden – von dem inzwischen mystisch verklärten Patrice Lumumba bis Mobutu Sese-Seko und Kabila. Permanente Unruhe geht von den dicht bevölkerten benachbarten Kleinstaaten Ruanda und Burundi aus. Dort leben zwei sich streng gegeneinander abgrenzende Volksgruppen, Hutu und Tutsi, durchmischt. Hutu bilden in beiden Staaten die Mehrheit. In Ruanda regiert seit 1959 ein Hutu-Regime, in Burundi nach Erlangung der Unabhängigkeit, seit 1961 eine TutsiElite. In beiden Ländern kam es zu Bürgerkriegen. Seit einem blutigen Machtgewinn der Tutsi-Rebellen in Ruanda 1994 ergoß sich eine Flüchtlingswelle vieler Hunderttausender von Hutu in östliche Gebiete des Kongo. Doch eine Hungersnot ließ viele wieder zurückkehren. Hutu mordeten Tutsi. Die Schwerpunkte weiterer Kämpfe im Kongo verlagerten sich nach Norden, wo schließlich Ruanda und Uganda – mit Unterstützung durch die USA – eine Militärrevolte gegen das selbsternannte Staatsoberhaupt Laurent-Désiré Kabila unterstützten, wogegen Angola, Simbabwe und Namibia einschritten. Dies

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beschreibt den Hintergrund der ganz auf Vernichtung der Gegner gerichteten massakerartigen Kämpfe zwischen verfeindeten Gruppen der Ethnien der Hema und Lendu, die auch Kindersoldaten in das Interesse der Welt rückten. Die Gesamtzahl der Opfer des letzten Jahrzehnts in diesem dunkelsten Teile Afrikas geht in die Millionen. Vieles beispielhaft Erwähnte müßte wiederholt werden, sollten die Gewalttätigkeiten, versuchten und geglückten Putsche und Bürgerkriege auch in anderen afrikanischen Staaten hier Revue passieren. Das gilt für die République du Congo, Kongo (Brazzaville), nach ihrem Ausscheiden aus dem französischen Kolonialreich, vor allem in den Jahren 1993 bis 2000. Die Geschichte der Nachbarstaaten Gabun, Kamerun, schließlich auch Angola nahm sich nicht wesentlich anders aus. Stetig gab es Versuche, eine Einheitspartei zu schaffen, denen die Parteigänger eines Mehrparteiensystems entgegenwirkten. Nur die Schärfe der Konflikte variiert. Die Liste der gescheiterten ausländischen Interventionen in Afrika ist lang und übertrifft die der zeitweilig erfolgreichen.115 Namibia, Angola, Libyen – während eines Grenzkonfliktes mit dem Tschad –, Somalia, Nigeria, die Zentralafrikanische Republik, Mosambik und Ruanda unterlagen jeweils mehrere Jahre der Aufsicht der UNO , die im Falle Somalias Truppen bis zu 28 000 Mann unter amerikanischer Führung einsetzte. In Westsahara, in Äthiopien/Eritrea, Sierra Leone, der Côte d’Ivoire und im Kongo bestehen weiterhin UN -Mandate, ohne daß deutliche Erfolge absehbar scheinen. Die UNO erscheint durch die Unruhen im Schwarzen Erdteil gänzlich überfordert. Zu gleicher Zeit, während im nordöstlichen Kongo grausame Vernichtungsfeldzüge stattfinden, rebellieren militante Kräfte in der Côte d’Ivoire und müssen Ausländer in Liberia aus der Kampfzone von Regierungstruppen und Rebellen in Sicherheit gebracht werden. In Mauretanien führen arabisch-nationalistische Militärs blutige Kämpfe gegen Regierungstruppen in der Hauptstadt Nouakschott. Allein dies geschah innerhalb weniger Wochen im Mai und Juni 2003.

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Weithin gilt auf der anderen Seite, was von Ägypten gesagt wird: „Politik wurde – und wird … weniger von organisierten autonomen Gruppen innerhalb von Institutionen gemacht als in den informellen Strukturen von Klientelnetzen und persönlichen Beziehungen“.116 Ägypten kam nach der demütigenden Niederlage im ersten Palästinakrieg und heftigen Unruhen inmitten einer schweren Krise durch einen Staatsstreich und den Sturz des Königs im Juli 1952 unter die Herrschaft einer politischen Bewegung der „Freien Offiziere“ und ihres Führers Oberst Gamal Abd el-Nasser.117 Das Exekutivkomitee bildete einen Revolutionsrat, das den alten angesehenen General Ali Mohammed Nagib zum Vorsitzenden wählte, ihn zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte und wenig später zum Ministerpräsidenten machte. Die einzelnen Stationen dieser „Revolution“ dienten zur Begründung staatsrechtlicher Beschlüsse und zur Entwicklung des Regierungssystems, mithin zu seiner Legitimation. Bedeutsam wurden eine Landreform, die den großen Grundbesitz zwar nicht depossedierte, aber seine politische Potenz strikt regulierte, ein Problem, das sich jetzt wie früher auch schon in anderen Staaten stellte. 1953 wurde Nagib Staatspräsident, aber schon im folgenden Jahr von Nasser zum Rücktritt gezwungen, unter Hausarrest gestellt und politisch ausgeschaltet. Nasser folgte ihm unmittelbar in seinen Ämter. Nach Annahme einer neuen Verfassung durch Plebiszit im Juli 1955 wurde Nasser mit fast 100 Prozent der abgegebenen Stimmen erneut zum Präsidenten gewählt. Die einzige zugelassene Partei stellte die Kandidaten für die Nationalversammlung. Nassers zielbewußtes Eintreten für den „Neutralismus“ der Blockfreien, alsdann die Verstaatlichung des Suez-Kanals und sein erfolgreicher politischer Widerstand gegen Großbritannien, Frankreich und Israel im und nach dem Suez-Krieg 1956 ließen ihn zum angesehen Führer eines panarabischen Nationalismus werden, der 1958 einen zeitweiligen Zusammenschluß mit Syrien zur „Vereinigten Arabischen Republik“ (VAR ) ins Werk setzte. Nach anfänglichen guten Erfolgen der „binnengerichteten Entwicklungsstrategie“118 mit Verstaatlichung, Land-

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reform, Aufbau einer Eisen- und Stahlindustrie und hohen Investitionen folgte in den sechziger Jahren eine Wende. Wirtschaftskreise in Syrien wandten sich gegen Nassers Verstaatlichungen. Im September 1961 kam es zu einem Staatsstreich und zur Sezession Syriens. Die Nachfolger Nassers, der 1970 starb, übernahmen ein schwieriges Erbe. Kriege mit Israel, innere Unruhen und neue Parteien hielten das Land in Bewegung. Anwar al-Sadat verfolgte eine Liberalisierungspolitik – auch im Verhältnis zur USA – und schloß mit Israel Frieden. Am 6. Oktober 1981 wurde er während einer Militärparade ermordet. Das Ehrenmal, das man ihm errichtete, konnte Jahre hindurch als ein Sinnbild militärischer Kameradschaft unter Generälen und hohen Offizieren gelten. Als politisches Gegengewicht gegen die Linke hatte Sadat an den Universitäten des Landes „Islamische Gemeinschaften“ gefördert. Er hatte auch geduldet, daß die von Nasser unterdrückten Muslimbruderschaften und weitere religiöse Organisationen wieder tätig wurden und bald starken Zulauf erhielten. Sadats Nachfolger Hosni Mubarak hat dann mit Bedacht und Kalkül Ägypten durch die wirtschaftliche und soziale Krise der letzten siebziger und achtziger Jahre zu steuern vermocht. Doch auch der radikale Islamismus gewann an Boden in der ethnisch vielfältigen, doch zu 93 Prozent dem sunnitischen Islam anhängenden Bevölkerung in den diversen Regionen dieses Landes mit der größten Hauptstadt Afrikas und der gesamten arabischen Welt. In ganz Nordafrika wie im Mittleren Orient spiegelt die Politik das Erbe alter Religionen in verschiedenartiger Gestalt. „Sozialismus und Nationalismus sind zusammengebrochen“, wie behauptet worden ist – von der geschichtlichen Entwicklung beiseite gedrängt oder überwunden worden. „Es blieb … der Islam. Der Islam ist nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine politische Religion, eine moralische Anleihe des gesamten menschlichen Handelns im Alltag. Das ist seine verführerische, aber auch seine gefährliche Besonderheit – seine Tendenz zum

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Totalitären. … Trotzdem liegt die einzige Entwicklungschance der islamischen und arabischen Welt darin, diesen Ganzheitsanspruch aufzulösen. Der Islam muß in den Herzen und in den Moscheen bleiben; er darf sich nicht mit Politik, dem absolut Zeitlichen vermengen“119. Dies scheint bislang in idealer Weise im Königreich Marokko gelungen, einem „Land im Aufbruch, ganz nah an Europa. Wenn die Europäische Union dort investiert, wenn Sie Marokko die Hand reicht, könnte ein arabischislamisches Vorbild an Modernität entstehen“. Auch Tunesien war ein französisches Protektorat, das auf politische Parteien und einer Reihe origineller Politiker zurückblicken konnte, als es 1953 völlig unabhängig wurde. Einer der Parteiführer, Habib Bourguiba, seit 1956 Ministerpräsident, seit 1958 Staatspräsident, seit 1976 auf Lebenszeit, entwickelte ein diktatorisches Herrschaftssystem, das er im Gefolge innerer wirtschaftlicher Krisennöte der an Heftigkeit zunehmenden Opposition zweier islamistischer Richtungen aussetzte. Einem angeblich bevorstehenden Putschversuch kam der amtierende Premierminister Ben Ali zuvor, der den 84jährigen Bourguiba absetzte, um dessen Nachfolge anzutreten.120 Doch dies blieben innertunesische Vorgänge, die die Nachbarn nicht tangierten. Anders entwickelte sich Libyen. König Idris wurde wegen seiner Anlehnung an die USA und Großbritannien, die Stützpunkte im Lande unterhielten, unter dem Eindruck des arabisch-israelischen Krieges 1967 gestürzt. Dadurch gelangte Muammar alGaddafi an die Macht, der Führer eines „Bundes freier Offiziere“, der zunächst dem Vorbild Nassers in Ägypten nachzueifern versuchte. Doch zu Beginn der siebziger Jahre folgte die Lösung von dem ägyptischen Vorbild und die „Proklamation der Volksrevolution“ mit häufigen Einberufungen von „Basisvolkskonferenzen“ ohne Parteien. Die ökonomische Entwicklung ging zunächst von äußerst günstigen Voraussetzungen aus, dank der seit Ende der siebziger Jahre drastisch steigenden Erdöleinnahmen, die allerdings zu Investitionen in überdimensionierte Großprojekte führten: große Flußverkehrsstraßen, ein großes Stahlwerk und Rüstungsprogramme. Doch „ob Versor-

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gung mit einwandfreiem Trinkwasser, Wohnräumen, Straßen, Flughäfen und Kommunikationsmitteln oder Ausbau des Schulund Gesundheitswesen, in allen Bereichen nimmt Libyen im afrikanischen Durchschnitt den ersten oder einen der ersten Plätze ein“.121 Unter seinem Revolutionsführer Gaddafi weitete Libyen vornehmlich durch Waffenlieferungen seinen Einfluß auf große Teile des Kontinents aus. Einen Brückenkopf libyschen Einflusses bildet die Zentralafrikanische Republik. In der Hauptstadt Bangui beschützten sogar libysche Soldaten den Präsidenten Ange-Félix Patassé gegen eine immer mächtiger werdende Rebellenarmee, die von Tschad aus versorgt wird. Libysche Kampflugzeuge bombardieren Stellungen der Aufständischen im Norden Zentralafrikas. Als Gegenleistung hat Gaddafi das Recht für „99 Jahre“ erhalten, Bodenschätze abzubauen. Das Land ist reich an Edelsteinen, Gold und anderen wertvollen Rohstoffen. Waffenhandel und Waffenschmuggel beziehen die Nachbarländer mit ein, Sudan und Tschad, sowie die Rebellen im Kongo, die Gaddafi ebenfalls unterstützt. Ganz anderes ist etwa von Liberia zu sagen – einst die Gründung freigelassener amerikanischer Sklaven, seit 1847 unabhängig, ein kleines Land mit wenig mehr als drei Millionen Einwohnern mit verschiedenen religiösen und ethnischen Traditionen. Es durchlebte alle Konflikte, die für Afrika in wechselnden Regeln in Erscheindung treten. Jahre hindurch ließen sich Gegensätze zwischen Amerikoliberianern und Afroliberianern nur schwer überbrücken. Blutige Aufstände („Reisunruhen“) und ein Militärputsch 1979 leiteten eine Periode heftiger innerer Kämpfe ein, die sich 1990 zu einem Krieg verschiedener Rebellengruppen ausweiteten. Das Eingreifen der in Mitleidenschaft gezogenen Nachbarstaaten, der „Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (Economic Community Of West African States, ECOWAS ) mit ihren 16 Mitgliedsstaaten, der OAU , auch der UN und der USA , vermochten bislang nur kurzfristig scheinbare Normalzustände herbeizuführen. Seit der Wahl des „warlord Charles Taylor“ zum Präsidenten im Juli 1997122 hat

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sich der Kreis der über die Grenzen von Nigeria, Guinea und Sierra Leone operierenden Rebellenarmeen erweitert. Frieden ist nicht in Sicht. Der Sudan mit einer Bevölkerung aus mehr als einem halben hundert ethnischen Gruppen zählt zu den Schauplätzen der heftigsten Gegensätze – zwischen muslimischen Arabern im Norden in der fast menschenleeren Wüstenzone wie in der stark bevölkerten Zentralregion um die Hauptstadt Khartum und den teils christlichen, teils animistischen Völkern des Südens (Dinka, Nuba, Bedja, Nuer, Kuschiten u. a.). Seit alters bestehen heftig ausgetragene Feindschaften.123 Im November 1985 übernahm ein Oberster Rat der Streitkräfte unter General Ibrahim Abbud die Macht, um Stabilität mit einem prowestlichen Kurs zu sichern. Das führte zu einem allgemeinen Parteienverbot, zu Verhaftungen, Pressezensur, Verbot der Gewerkschaften, dann zur Erklärung des Ausnahmezustandes. Hiergegen wandte sich die unblutig verlaufene „Oktoberrevolution“ 1964, die zur Wiederherstellung der Vorläufigen Verfassung von 1956 und zur Freilassung politischer Gefangener führte und erstmals das Frauenwahlrecht festlegte. Schließlich gab es Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung. Doch eine neue Verfassung kam nie zustande. Aus dem Südsudanproblem erwuchsen zusätzliche, sich vergrößernde Belastungen. Ein Staatsstreich des Militärs im Mai 1969 brachte Oberst Jaafar Mohammed anNumeiri, den Vorsitzenden eines „Bundes der freien Offiziere“, ans Ruder. Sein revolutionärer Kommandorat löste den Staatsrat wie die Verfassunggebende Versammlung auf, verbot die politischen Parteien und stellte Politiker wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht. Hiergegen richteten sich seit März 1970 große Massendemonstrationen, die militärisch niedergeschlagen wurden. Im Juli 1971 wurde ein kommunistischer Putschversuch durch libysche und ägyptische Intervention zunichte gemacht. Im Oktober des gleichen Jahres wurde die Sudanese Socialist Union (SSU ) als eine neue politische Massenorganisation gegründet. Schon im Juni hatte sich das Regime zugunsten einer Option

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für den Beitritt des Sudans zu einer Föderation arabischer Republiken – mit Ägypten, Libyen und Syrien – entschieden. Ein Abkommen zu Addis Abeba vom März 1972 beendete den Bürgerkrieg im Südsudan durch Zugeständnisse weitgehender Autonomie an die Südprovinzen Equatoria, Bahr al-Ghazal und Uppernile. Doch dann folgten Putschversuche im Januar 1973, September 1975 und Juli 1976 gegen Numeiri und die Bildung einer „Nationalen Front“ gegen sein Regime. Eine verfehlte Wirtschaftspolitik, fortschreitende Verschlechterungen der wirtschaftlichen Lage eines großen Teiles der Bevölkerung infolge des allgemeinen Rückganges der Kaufkraft stimulierten Unzufriedenheit und Empörung. Eskalierende Massenproteste führten zu gewalttätigen Ausschreitungen im August 1979, daraufhin in den folgenden Jahren die Einführung der islamischen Strafgesetze und islamisch begründeter Steuergesetze sowie die Aufhebung der Teilautonomie des Südsudans. Dies ließ im Frühjahr 1985 eine „Volksbewegung des zivilen Ungehorsams“ entstehen. Sie führte zur Entmachtung des zu einem Staatsbesuch im Ausland weilenden Numeiri durch ein „Transitional Military Council“ unter Vorsitz des seit März amtierenden Verteidigungsministers und Generalstabschefs. Er löste die SSU wie die Nationalversammlung auf. Nach einer Übergangsverfassung vom Oktober 1985 fanden mehrtätige Parlamentswahlen im April 1986 mit 29 rekonstruierten Parteien statt. Damit begann die dritte demokratische Periode mit vier einander ablösenden Regierungen (1986–1989). Sie verlief ähnlich wie die vorausgegangen Phasen und bezeugte erneut die Unfähigkeit zur Lösung der drängenden Probleme: dem immer verlustreicheren Südsudankonflikt und der Entartung der Auseinandersetzungen zu Lasten der „Menschenrechtsbilanz“124. Dies führte zu erneuter Intervention des Militärs, eines „Revolutionären Kommandorates“ unter dem proislamisch eingestellten Ahmed al-Bashir im Juni 1989, der einen Kurs der „nationalen Errettung“ verkündete. Grenzstreitigkeiten mit den Nachbarländern ergänzen das Bild scheinbar unlösbarer politischer Konflikte. 1992 begann eine Militäroffensive gegen die „Suda-

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nesische Befreiungsarmee“ im überwiegend christlichen Süden. Sie wurde mit große Härte geführt und stützte sich auf die nationale islamische Front unter Führung von Hasan Abdallah Turabi. 1999 wurde der Ausnahmezustand verkündet und das Parlament aufgelöst. Im Dezember 2000 fanden wieder Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Nur noch zwei weitere Beispiele seien erwähnt. Niger, das bevölkerungsreichste Land Afrikas, hat nach häufigen inneren Wirren und einem blutigen Bürgerkrieg gegen die separatistische Ostregierung Biafra (1967–1970) seit 1999 unter seinem Präsidenten Olusegun Obasanjo eine außenpolitisch einflußreiche, von den USA geförderte Stellung errungen. Weiter westlich liegt eines der kleinsten Länder Afrikas, Togo zwischen Ghana, Benin und Burkina Faso. Es wird seit 1967 von dem dienstältesten Diktator des Kontinents geführt, dem ehemaligen Feldwebel der französischen Kolonialarmee Gnassingbé Eyadéma. Das Land führt keine Kriege; der Präsident wurde wiederholt wiedergewählt. Doch dies geschah innerhalb einer Abfolge von Mordtaten, Parteiverboten, Anschlägen und Putschen, die Tausende zur Emigration in Nachbarländer veranlaßten. Doch enge Bindung an Paris läßt Eyadéma stets als feste Stütze im frankophonen Afrika erscheinen. Schon früh erkannte ein in Vergessenheit geratener deutscher Autor, in großen Teilen Afrikas werde es „schwerfallen, bei der Bevölkerung etwas zu entdecken, was mit unserem Staatsgefühl oder auch nur dem Zugehörigkeitsbewußtsein einer Nation identisch ist. Die einzige politische Realität in Afrika … ist der Stamm und die Zugehörigkeit zu ihm. Es ist ganz gewiß richtig, wenn ein Schweizer Journalist aus dem kongolesischen Unruhegebiet die Ansicht vertritt, daß das Ziel der UNO -Aktion im Kongo, die staatliche Einheit des Landes zu erhalten, auf einem politischen Mißverständnis beruhe. Die Grenzen all dieser Territorien tragen den Stempel der Zufälligkeit, wie sie sich aus dem Vordringen der Kolonialmächte in Afrika … ergab“. Das traf vor 40 Jahren zu und hat sich bis heute kaum verändert. „Wo aber das Analphabetentum noch die Regel bildet, kann

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sich nicht eine hinreichend große Anzahl qualifizierter Menschen finden, die in dauernder politischer Konkurrenz in der Lage wären, eine Parteimaschinerie zu bedienen, Parlamentssitze zu besetzen oder zu Kabinettsposten aufzusteigen. Es fehlt an Spezialisten als Berater für Parlament und Regierung, es fehlt eine durchgebildete Bürokratie, deren sich eine demokratische Regierung bedienen könnte“.125 Nach einer jüngeren Erfassung entfielen auf Afrika von 1945 bis 1993 84 Prozent aller bewaffneten Konflikte in der Welt.126 Auch Europa durchlebte eine Geschichte der Kämpfe, Kriege und Vernichtungen. Doch eine Wende steht seit einiger Zeit in Aussicht. Die Wirklichkeit läßt sich nur in Erfahrungen erkennen und meistern, die stetig reflektiert, summiert, analysiert und fundiert begründet werden. Die selektive Wahrnehmung reicht nicht. Sie taugt nicht für Konstruktionen, Pläne, Zielsetzungen. Sie muß in stetig erweitertere Horizonte einbezogen und in der Zeit mit weiteren Wahrnehmungen verknüpft werden.

Lateinamerika Auch Lateinamerika stellt sich als ein Kontinent diktatorischer Regierungen dar, deren Wechsel die politischen Prozesse im Innern der Länder widerspiegeln, was hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann. Man möchte auf die weise Einsicht eines kenntnisreichen Mannes verweisen: „Die auffälligen Unterschiede zwischen der Geschichte der Völker der verschiedenen Kontinente, in großen Zeiträumen betrachtet, beruhen nicht auf angeborenen Unterschieden zwischen den Völkern, sondern auf der Unterschiedlichkeit ihrer Umwelt“.127 In Lateinamerika gab es im 19. Jahrhundert zahlreiche Bürgerkriege und die Errichtung diktatorischer Regimes. Im 20. Jahrhundert gehörten sie nachgerade zur Tagesordnung. Bolívar hatte die Diktatur als aufgeklärtes, von erblicher Monarchie emanzipiertes politisches Leitbild und als Rechtfertigung revolutionärer Erhebung angesehen.128 Ökonomische, vor allem handelspolitische

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und schließlich regional einsetzende industrielle Entwicklungen hatten Unsicherheiten, Unruhe und ständig sich rasch verschärfende soziale Spannungen in einen Kontinent gebracht, in dem vom Landbau lebende Völker mit alten Besitzverhältnissen ihr überkommenes Dasein mit allen Mitteln zu verteidigen suchten. Machtstreben wie das kumulierte Verlangen nach besseren Lebensbedingungen ließen sich leicht aus der Latenz zur Virulenz bringen. Umgreifende und mitreißende Rhetorik, gesteigerte Erwartung von Vorteilen, die Erringung und Behauptung möglichst großer Macht sind die nachgerade stereotyp wiederkehrenden politisch bewegenden Momente der Zeit schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Seit dem zweiten Weltkrieg scheint sich dies noch zu beschleunigen, aber auch der Kreis der inneren Momente wie der äußeren Einflüsse zu erweitern. Einzelne Parolen, Ideen, Vorbilder und vermittelte Vorstellungen geben den Anlaß, Bewegungen (movimientos) zu schaffen, die ohne Aufklärung und meist ohne Ahnung eines ethischen Imperativs auskommen wollen. Wir wissen, daß Errichtung und Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols Voraussetzung jedweder höheren Zivilisation ist.129 Die gewaltsame Selbsthilfe des einzelnen muß aufs äußerste beschränkt, das Denken unbedingt auf Auswege aus jedweder Art eines Freund-Feind-Schemas gerichtet sein. Dem ruhigen Norden Amerikas, den Vereinigten Staaten und Kanada, das sich Ende 1948 um das britische Dominion Neufundland erweiterte, liegt eine seit jeher stark bewegte südliche amerikanische Staatenwelt gegenüber, deren Geschichte eine Abfolge von Diktaturen, Bürgerkriegen, Kriegen und Revolutionen widerspiegelt.130 So bietet sich dieser Subkontinent als Ursprungsdomäne moderner Diktatur, von Staatsstreichen, Guerrillas und Bandenkriegen dar. Eine Aufzählung der umstürzenden Ereignisse und der hervortretenden Persönlichkeiten könnte nur ermüden. Dennoch bleibt die Wirtschaftskraft insgesamt bislang von hohem globalen Rang und im großen und ganzen in stetiger Zunahme begriffen, obgleich sich einzelne Staaten – innerhalb einer hypothetischen Wohlstands-

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skala – auf eine Gegenposition hin bewegen. Haiti versinkt seit Jahren im Wirtschaftselend. Im Norden Brasiliens, dem fünftgrößten Agrarland der Erde, sterben alljährlich viele Menschen an Unterernährung. Der jüngst gewählte Präsident Lula hat einen Feldzug gegen den Hunger proklamiert. Agrarische und bergbauliche Erzeugnisse – für einige Staaten Erdöl – stehen vornan. Opiumerzeugung und Kakaoanbau, Handel und Schmuggel mit diesen Produkten bilden in einigen dieser Staaten einen nie vollends geregelten Wirtschaftsbereich, der Kriminalität wie auch politisch motivierte Gewalttaten in erstaunlicher Dichte hervorbringt. Mexiko, Costa Rica, Kuba, Paraguay, Bolivien, Ecuador und vor allem Kolumbien sind in erster Linie zu nennen. Der Streit um Landbesitz wird häufig gewaltsam ausgetragen und gehört in Kolumbien, Peru, Honduras, in Mexiko und in der Dominikanischen Republik gleichsam zur Tagesordnung. Guerrillas beherrschten zeitweilig das Hochland von Peru, Guatemala und Kolumbien, das fast in jedem hier interessierenden Betracht eine herausragende Stellung einnimmt. „Kolumbien weist weltweit die höchsten Mordraten auf. Gewalt ist dort sowohl auf dem Lande als auch in jüngerer Zeit in den Städten zu einem Alltagsphänomen geworden“.131 Organisierte Verbände treten als „Gewaltakteure“ in Erscheinung. Der Staat hat ein Gewaltmonopol auf längere Sicht nicht erlangen und durchsetzen können.132 Seit dem zweiten Weltkrieg gab es zwei „große Wellen von Guerrillabewegungen“.133 Verbindung und stetige Kommunikation mit den kommunistisch geprägten Regionen – häufig auch mit der Sowjetunion – formierten sich politisch seit Beginn der sechziger Jahre im Norden Lateinamerikas, auf Kuba und in seinem nächsten Einflußbereich. Empörungen, Gewaltaktionen, Mafia-Treffen in Havana, Studentenunruhen, Morde und Mordanschläge charakterisieren das politische Milieu, das sich bald in den meisten Hauptstädten Lateinamerikas findet – etwa in Bogotá, wo im April 1948 die Organisation amerikanischer Staaten (OAS ) gegründet wurde, wo dann fast zeitgleich nach der Ermordung eines liberalen Politikers eine Revolte losbrach,

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die Geschäfte plünderte, Polizeistationen niederbrannte und mehrere Tausend Menschen zu Tode brachte. Der Kampf gegen Diktatur und Korruption verstand sich für jede auf Anhang bedachte politische Richtung ebenso, wie diese Feindbilder sich zu behaupten vermochten. Der Gegensatz von Arm und Reich nahm vielfach sich wandelnde, politisch genutzte Formen an. Zentrum und Ausgangspunkt der Unruhe, von Kämpfen und Bürgerkriegen in Lateinamerika war Mexiko, wo sich schon vor dem ersten Weltkrieg Konflikte zuspitzten und vor allem im Norden die eigentumslosen Kleinbauern, Campesinos, sich unter dem Einfluß radikaler Führer erhoben – gegen große Landbesitzer, gegen die Kirche und – seit ihrem militärischen Einschreiten in Veracruz – gegen die Vereinigten Staaten. Man sprach früh schon von einer „mexikanischen Revolution“ unter Männern wie Francisco „Pancho“ Villa und Emiliano Zapata. Nach dem bewegten, von Gegensätzen und Kämpfen erfüllten zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebte Mexiko eine längere Phase überwiegend kontinuierlicher Entwicklung. Die Verfassung von 1917 bewirkte unter einem Präsidialsystem die Fortbildung demokratischer Grundsätze. Sie enthielt ein umfassendes Programm, so die Enteignung des Großgrundbesitzes und Staatseigentum am Boden und an allen Bodenschätzen, auch der Kirchen wie des Kirchenbesitzes. Die Verwirklichung war das Werk der an die Macht gelangten und bei den Wählern bis 1997 erfolgreichen Partei „Partido Nacional Revolucionario“ (PNR ). Sie entwickelte sich zur Einheitspartei und wurde 1946 in „Partido Revolucionario Institucional“ (PRI ) umbenannt. Sie beruft sich auf die Verfassung, die seit der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934–1940) in einer Kette von Reformen verwirklicht wurde, vor allem in der Landreform, in der Sozialgesetzgebung und im Schulwesen. „Während seiner Regierungszeit wurde mehr Land an die Bauern zurückgegeben als unter allen Präsidenten vor ihm zusammen“.134 Es fehlte nicht an einzelnen Gewaltausbrüchen. Doch außenpolitisch blieb Mexiko maßvoll. Es wurde in den dreißiger Jahren gar zu einer Zufluchtsstätte für politisch, rassisch und religiös verfolgte Eu-

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ropäer, nach dem zweiten Weltkrieg auch für politisch Verfolgte aus lateinamerikanischen Ländern. 1938 „nationalisierte“ Cárdenas die größten amerikanischen und britischen Erdölkonzerne – auch dies getreu den Bestimmungen der Verfassung, was weltweit Aufsehen erregte. Seit 1942 beteiligte sich Mexiko an der Seite der Alliierten am zweiten Weltkrieg. Trotzki kam nach Mexiko und wurde hier von der Verfolgung durch Stalin ereilt. Durch einen Militärputsch aus Guatemala vertriebene Linke fanden in Mexiko Aufnahme. Fidel Castro folgte 1955 seinem Bruder Raúl in dieses Exil und fand hier Zeit und Gelegenheit, seine Aktion gegen den kubanischen Diktator Batista vorzubereiten und mit bewährtem rhetorischen Geschick Anhang unter den teilweise wohlhabenden kubanischen Emigranten zu gewinnen. Die erste weltweite Nachkriegsrezession in den letzten fünfziger Jahren ging allerdings auch an Mexiko nicht spurlos vorüber. Hinzu kam die in ruhigen Jahren zunehmend stärker werdende Wirkung des Bevölkerungswachstums, das alsbald Massenarmut und Differenzen in der Einkommensentwicklung deutlich in Erscheinung treten ließ. Es kam zu Aufruhr und landesweiten Streiks, die gewaltsam unterdrückt wurden. Doch in den nächsten Jahren löste sich Mexiko allmählich immer deutlicher aus seinen Beziehungen zu den USA und nahm 1965 diplomatische Beziehungen zum sozialistischen Kuba Fidel Castros auf, was letztlich auch die sowjetischen Ambitionen auf ein revolutionsreifes Lateinamerika bestärkte. In dem weltweit bewegten Jahr 1968 kam es aber auch hier – im Vorfeld der Olympischen Spiele in Mexiko City – zu Studentenprotesten, die blutig unterdrückt wurden. Das Auf und Ab in der inneren Politik Mexikos folgte weitgehend der wirtschaftlichen Entwicklung und der Lage der Staatsfinanzen, die in erster Linie vom Außenhandel und im besonderen von der Erdölförderung und dem Ölpreis abhingen. Der Verfall des Ölpreises Ende der siebziger Jahre führte in eine schwere Wirtschaftskrise. Die Regierung verstaatlichte 1982 die Privatbanken, verfolgte eine strikte Sparpolitik, kürzte

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ihre Programme und verschärfte dadurch die soziale Lage. Neu aufkommende Parteien konkurrierten keineswegs erfolglos mit der regierenden und ihre Machtstellung nutzenden PRI . Doch der Staat zog sich in den folgenden Jahren allmählich aus der Wirtschaft zurück und versuchte, durch eine Reihe von Abkommen die Außenhandelsbilanz zu aktivieren. In weiterhin deutlicher Distanz zu den USA verfolgte Mexiko eine eigene Lateinamerikapolitk. Es unterstütze die chilenische Volksfrontregierung unter Allende und brach nach dem Militärputsch 1973 die diplomatischen Beziehungen zu Chile ab. In Nicaragua wurden die Sandinisten gegen den Diktator Somoza unterstützt. In der wirtschaftlichen Krise der achtziger Jahre bezog Mexiko außenpolitisch eine Vermittlerrolle in den Bürgerkriegskonflikten, nach 1983 für einige Jahre in der Contadora-Gruppe, zu der auch Kolumbien, Venezuela und Panama gehören, die den Contra-Krieg in Nicaragua beendete und sich um eine Beendigung des Bürgerkriegs in El Salvador bemühte. Nach dem Erdbeben 1985 mit Zehntausenden von Opfern, das eine Welle der Solidarität in ganz Mexiko auslöste, begann ein neuer wirtschaftlicher Aufschwung mit einer Reprivatisierung der Banken und anderer Wirtschaftszweige unter dem Präsidenten Carlos Salinas de Gortari. Mit dem Freihandelsvertrag zwischen den USA , Kanada und Mexiko (NAFTA ) entstand ein großer nordamerikanischer Wirtschaftsraum. Das rege literarische Leben Mexikos bedarf besonderer Erwähnung.135 Der einstige Diplomat Octavio Paz erhielt 1990 den Nobelpreis, ein anderer, nicht weniger berühmt, Carlos Fuentes, gilt seit Jahren als Kandidat. In Kuba setzte Fidel Castro Ruz mit seinen Anhängern nach mehrjährigem Guerrillafeldzug in der Sierra Maestra der Diktatur des Generals Batista am 1. Januar 1959 ein militärisch siegreiches Ende.136 Dem erfolgreichen Partisanenfeldzug des Fidel Castro folgte eine neue, nun auf breiter Zustimmung beruhende Diktatur, die mit einer Landreform und verstaatlichter Wirtschaft Erfolg hatte, aber nach Castros Bekenntnis zum Kommunismus zusehends in außenpolitische Isolation geriet,

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die weder der sowjetische Beistand in der Raketenkrise 1962 noch Fühlungnahmen mit China auf längere Sicht überwanden. Doch auf Kuba blieb der „Große Führer“ unumstritten. Sein Kampfgenosse Che Guevara exportierte diese Art von Revolution zuerst nach Angola, danach nach Bolivien, vermochte jedoch nur ideale Visionen weiterzugeben und gelangte nicht zu politischem Erfolg. Guevaras Theorie der Erfolgschance einer kleinen kampfentschlossenen Guerrilla-Einheit, die in einem System alter Strukturen eine Massenerhebung auslösen werde, scheiterte und vermochte lediglich Unruhen und Unsicherheiten in Permanenz zu bringen.137 In mehreren Ländern, so in Bolivien, Kolumbien, Venezuela und Guatemala behaupteten sich und entstanden wiederholt erneute Guerrillas, „Tupamaros“ in Uruguay138, in den urbanisierten Zonen des südlichen Südamerika Stadtguerrillas, was jedoch nur zur Festigung oder Übernahme der politischen Macht jeweils durch die Spitze der Streitkräfte führte. Kriege gingen im Innern des Kontinents vom Andenstaat Bolivien aus, dem Lande mit einer Verfassung und dem Namen Simón Bolívars, das im 19. Jahrhundert erst in heftigen Kriegen gegen Chile und im Streit mit Brasilien seine heutige Gestalt annahm. Sein Verlangen nach einem Zugang zum Meer, zuletzt über den Rio Paraguay führte zu dem verlustreichen ChacoKrieg mit Paraguay 1932–1935 und sicherte Bolivien im Frieden von Buenos Aires nur einen kleinen Zugang zu dem großen Fluß. Bolivien blieb Binnenland. Ernesto, Che Guevaras Unternehmen, in dem Andenstaat Bolivien eine Revolution voranzutreiben, wurde zum Fiasko. Gerade hier stieß er auf überlegene Gegner und erwiesen sich die Voraussetzungen für sein Unternehmen als überaus ungünstig.139 Ein aus der militärischen Führung hervorgegangener Caudillo, General René Barrientos, agierte auf der Grundlage eines „Militär-Bauern-Paktes“, dem Rückgrat seines Systems. „Als ‚oberster Bauernführer‘ pflegte er häufig mit dem Hubschrauber von Dorf zu Dorf zu fliegen, mit den Campesinos zu trinken und zu tanzen und freigebig Fußbälle und Fahrräder zu

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spendieren“.140 Getreu ihrer verwegenen Theorie, die Revolution durch kleine Gruppen vom Lande in die Stadt zu transferieren, versuchten Guevara und sein französischer Gefährte Régis Debray mit etwa 50 kolumbianischen und bolivianischen Gefolgsleuten Ende 1966 in Bolivien eine neue revolutionäre Front gegen den nordamerikanischen Imperialismus zu errichten. Doch Bewegung und Statik gerieten durcheinander. Die bolivianischen Linksparteien hielten sich zurück. Die Campesinos zeigten wenig revolutionäre Neigung und blieben skeptisch. Die Guerrilleros verzettelten sich in Scharmützeln und gerieten in Gefangenschaft. Dem verhängten Ausnahmezustand und dem Feldzug der Truppen erwiesen sie sich nicht gewachsen. Im Oktober 1967 geriet Che Guevara verletzt in Gefangenschaft und wurde erschossen. Allerdings verlor Barrientos seine Popularität in Militäraktionen und gewaltsamer Unterdrückung aufbegehrender bolivianischer Bergarbeiter. Auch innerhalb des Militärs regte sich Widerstand. Es kam zu Putschen, raschem Wechsel des Regimes und einem Sommer der Anarchie 1971. Aber das Kokaingeschäft erlebte eine neue Blüte. Wie übergehen die nächsten Stationen. Gewerkschaften und Parteien konnten sich wieder betätigen. Ein rasches „Wechselbad von Wahlen, Putschen, Provisorien und Diktaturen“ war die Folge, bis im Anschluß an einen Putsch im Juli 1980 „das Land auf den absoluten Tiefpunkt seiner politischen Kultur“ gelangte.141 Von Chile über Argentinien, Uruguay, Paraguay, Peru und Bolivien bis Brasilien herrschten seit den siebziger Jahren Diktaturen.142 In Bolivien sorgt der Diktator General Banzer mit harter Hand für Wachstum und Modernisierung der Wirtschaft. Sie erlangt ausländische Kredite und nutzt die Entwicklung der Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. Kaffee, Zucker, Baumwolle und Erdöl erreichten Mitte der siebziger Jahre ein Mehrfaches der Preise der sechziger. Wohlstand und eine neue Mittelschicht konnten sich hier und da ausbreiten. Der ungleich verteilte Landbesitz etwa in El Salvador mit seinen sechs Millionen Einwohnern, das mehr als die Hälfte seiner Exporterlöse durch den Landbau, vor allem Kaf-

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fee, Baumwolle und Zuckerrohr erwirtschaftet, sollte 1980 revidiert werden. Doch die Reform geriet ins Stocken. Nach der Machtübernahme durch eine Militärjunta geriet das Land für Jahre in einen Bürgerkrieg. Doch ganz Mittelamerika litt unter grenzenüberschreitenden Unruhen und Guerrillas, vor allem Nicaragua und Honduras, die verschiedenartige Interventionen auswärtiger Mächte, vor allem der USA und auch der Sowjetunion provozierten. Als einziger Staat Lateinamerikas hatte Chile bis 1945 den europäischen Achsenmächten nie den Krieg erklärt. Es zögerte auch den Abbruch diplomatischer Beziehungen trotz nordamerikanischen Drucks bis 1943 hinaus. Der historische Hintergrund dieser Außenpolitik liegt in einer eigenartigen Synthese aus sozialer bis sozialistischer Parteiprogrammatik und diktatorischem Regime, das Präsident Carlos Ibañez del Campo 1927 zu verwirklichen versuchte, ehe er unter dem Eindruck schwerer Folgen der Weltwirtschaftskrise 1931 gestürzt und der ehemalige Präsident Arturo Alessandri Palma, der sich als erster um einen Ausgleich zwischen den inneren sozialen Gegensätzen bemüht hatte, wiedergewählt wurde. Dieser wandte sich unter dem Eindruck der Geschehnisse der Rechten zu.143 Er unterdrückte revolutionäre Unruhen und Bestrebungen gegen die Interessen ausländischen Kapitals. Sein Gegner, Aguirre Cerda, der erste Kandidat der Linksparteien einer Volksfront (Fronte de Acción Popular, FRAP ), unter Einschluß der Kommunisten, siegte bei der Präsidentenwahl 1938. Er nahm Verbindung mit den Achsenmächten Europas auf. Diese Politik setzte nach seinem Tode sein Nachfolger Juan Antonio Rios Morales fort. Auch dessen Nachfolger Gabriel González Videla verfolgte zunächst diesen Kurs, um dann die Beziehungen zu den USA wie zu Argentinien wieder enger zu gestalten. Er löste die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion und schloß 1947 die Kommunisten aus der Regierung aus, die der chilenische Kongreß im Juli 1948 für staatsfeindlich erklärte. 1952 wurde Ibañez del Campo als Präsident wiedergewählt, auf den dann Jorge Alessandri Rodríguez folgte, der Sohn des einstigen Präsidenten

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Alessandri. Doch in den letzten fünfziger Jahren mehrten sich die Spannungen und Unruhen, die nach einem Erdbeben im Mai 1960 in eine wirtschaftliche Krise mündeten, der Alessandri durch zweimalige Abwertung der Währung vergeblich zu begegnen versuchte. Die Spannungen nahmen stetig zu. 1961 wurde eine Verschwörung von Anhängern Fidel Castros aufgedeckt, 1962 die Beziehung zu Bolivien abgebrochen. Im nächsten Wahlkampf gelangte der Kandidat der Christlichdemokraten, Eduardo Frei Montalva, als Gegner des Kandidaten der Volksfront und des Partido Socialista, Salvador Allende Gossens, in das Präsidentenamt. Frei versuchte, mit der Parole „Revolution in Freiheit“ durch Staatsinterventionen in der Wirtschaftspolitik und durch Agrarreformen eine allmähliche Besserung der gesamten Situation anzubahnen. Die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion wurden noch 1964 wiederaufgenommen. Freis Reformwerk schrittweise fortschreitender Veränderungen war umfassend und wurde umsichtig ins Werk gesetzt: eine Änderung der Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft, wo seit 1967 etwa 20 Prozent der nutzbaren Flächen an landlose Bauern übergingen, wie in der Industrie und im Bergbau, wo die Hälfte der Kupferminen verstaatlicht wurde. Im sozialen Wohnungsbau wie im Schulwesen schlug die Regierung neue Wege ein. Doch auch die Opposition wuchs und bereitete Frei Schwierigkeiten sogar innerhalb seiner Partei. Salvador Allende gelang für wenige Jahre eine Sammlung der linken Parteien in Chile gegen die regierenden Parteien. Sie vereinigte von 1969 bis 1973 den Partido Socialista Allendes mit der Kommunistischen Partei, der Radikalen Partei und den christlichen Linksorganisationen Mapu und Izquierda Cristiana, zeitweilig mit Unterstützung von Organisationen, die auf den kubanischen Weg Castros eingeschworen waren.144 In der Präsidentschaftswahl von 1970 erreichte Allende als Kandidat der Volksfront (FRAP - UP, Unidad Popular) mit seiner Konzeption eines chilenischen Weges zum Sozialismus zunächst die relative Mehrheit. Nach Kongreßentscheid kam er in das seit langem angestrebte Amt. Als Freund und Verehrer Ca-

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stros erwies er sich aber angesichts der durch seine Politik verschärften Wirtschaftslage und der Notlage weiter Teile der Bevölkerung wie auch angesichts der politischen Strömungen und Traditionen in den Streitkräften Chiles bald als realitätsfern. Er verkündete in einer großen Rede am 24. Oktober 1970 die Umwandlung Chiles in eine „Republik der Arbeiterklasse“. Frei hatte die Teilverstaatlichung der Kupferminen in Absprachen mit den überwiegend nordamerikanischen Unternehmen herbeigeführt. Allende begann indes unverzüglich mit der entschädigungslosen Enteignung von Minen und Textilfabriken, von Banken und Versicherungen. Auch die gesetzlosen Landaneignungen revolutionärer Gruppen nahm er hin und legalisierte er nachträglich. Verknappung der Güter, eine rasch wachsende Inflation, der Verfall des Kupferpreises auf dem Weltmarkt, Führungsprobleme im Bergbau, bald ein hohes Defizit im Außenhandel, Finanznöte des Staates, Konflikte mit ausländischen Kreditgebern und Kapitalflucht führten in wirtschaftliche Stagnation und schürten Konflikte. Revolutionäre, terroristische Aktionen der Linken verschlimmerten die Lage, ohne daß ihnen der Präsident angemessen zu begegnen wußte. Das nutzte eine rechtsterroristische Organisation „Patria e Libertad“, um Boden zu gewinnen, was die Republik an den Rand des Bürgerkriegs brachte. Als Allende spontane Fabrikbesetzungen im Juni 1972 verbot, trennte sich der Führer der Sozialistischen Partei, Altamirano, von ihm und verbrüderte sich vor dem Fernsehen mit den Fabrikbesetzern. Ende Juni 1973 scheiterte ein Putschversuch von rechts. Doch ein vom nordamerikanischen Geheimdienst unterstützter landesweiter Streik des Transportgewerbes legte die Wirtschaft des ganzen Landes lahm. Im August lehnte der Kongreß weitere Verstaatlichungen ab. Wenig später, am 11. September 1973, putschte die Armee unter Führung des kurz zuvor zum Armeechef ernannten Generals Augusto Pinochet Ugarte, der in heftigen Kämpfen unter Einsatz von Panzern und Flugzeugen den Regierungssitz Moneda in Santiago besetzen ließ. Allende nahm sich das Leben.145

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Pinochet – seit 1974 Präsident – errichtete eine Militärdiktatur, löste das Parlament auf und verbot politische Parteien. Erst seit Mitte der achtziger Jahre milderte sich dieser Totalitarismus. Unter einer neuen Verfassung und dem gewählten Präsidenten Patricio Aylwin Azócar (seit 1990) begann eine allmähliche Liberalisierung. In Venezuela klammert sich Hugo Chávez, letzter gewählter Präsident, an sein Amt und ignoriert auch den wachsenden wirtschaftlichen Schaden, der dem erdölexportierenden Land durch die Lahmlegung von Schiffahrt und Verkehrsverbindung in einem viele Wochen andauernde Streik entsteht. Seine Verteidigung ist Sache eines weitverzweigten Netzes von Rollkommandos, die rasch mobilisiert und auch gegen Massendemonstrationen einsatzfähig sind. Diese „Círculos Bolivarianos“, die Chávez 2001 nach dem Vorbild der kubanischen „Komitees zur Verteidigung der Revolution“ gründete, waren anfänglich Nachbarschaftsorganisationen, die in Armenvierteln Sozialprojekte betreuen sollten. Hieraus erwuchs eine das ganze Land erfassende Organisation von Kleingruppen mit vielen Tausenden von Mitgliedern. Häufig sind Taxifahrer die Anführer, die sich über eine bestimmte Funkfrequenz verständigen können und von der Regierung neue Lizenzen erhalten. Sie verfügen auch über ein eigenes Erkennungszeichen: Rote Barette.146 So kommt es zu Straßenschlachten in Caracas. Demgegenüber erscheint Brasilien, das reichste und größte Land Südamerikas, trotz seiner schweren, vor allem infolge verfehlter Währungsspekulationen verschlimmerten wirtschaftlichen Krise in jüngerer Zeit durch einsichtige Staatsmänner an seiner Spitze ausgezeichnet, Fernando Henrique Cardoso und dann dem durch einen überwältigenden Erdrutschwahlsieg in das Amt des Präsidenten gelangten Führer einer neuen linken Arbeiterpartei, Luis Inácio da Silva, „Lula“ genannt. Brasiliens Probleme liegen in dem Kontrast moderner technischer und industrieller Entwicklung einerseits und dem verbreiteten Massenelend anderseits. Nach Erhebung der Weltbank leben 53 Millionen Einwohner unterhalb der Elendsgrenze.

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Die Zukunft verlangt daher nach sozialer Effizienz und Reformen. Dieses gewaltige Land, der Subkontinent eines Subkontinents, umfaßt die größten geographischen, klimatischen, ethnischen und wirtschaftlichen Gegensätze innerhalb der föderativen Republik aus 23 Bundesstaaten, drei Bundesterritorien und einem Bundesdistrikt.147 Die Außenpolitik liegt wohl auch in Zukunft, wie gesagt worden ist, in der „Fortsetzung des bisherigen Kurses, das heißt einer zunehmend selbständigen und pragmatischen bzw. auch opportunistischen Verfolgung wirtschaftspolitischer Interessen, wobei anzunehmen ist, daß Brasilien in absehbarer Zeit außerhalb Lateinamerikas keine wirklich entscheidende Rolle in der internationalen Politik spielen wird“.148 Wie Argentinien verfolgt Brasilien das Ziel eines gemeinsamen Marktes in Südamerika durch stufenweisen Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen und eine Koordination der Wirtschaftspolitik. Durch Vertrag von Asunción im März 1991, der zu Jahresbeginn 1995 in Kraft trat, wurde der „Mercado Común del Cono Sur“ (MERCOSUR ) geschaffen, dem sich auch Uruguay und Paraguay anschlossen.149 Bolivien und Chile sind assoziierte Mitglieder geworden. Vorgesehen ist nach brasilianischen Vorgaben die Schaffung einer Zollunion bis 2006.150 Auch die Haltung Argentiniens erschien im zweiten Weltkrieg unentschieden. In völliger außenpolitischer Isolation versuchte es bis 1945, Beziehungen zu den Achsenmächten aufrechtzuerhalten. Unter einem 1943 an die Macht gelangten geheimen Offiziersbund bewegte es sich im Innern in Richtung auf eine klerikal-faschistische Diktatur. Dies änderte sich erst im folgenden Jahr unter General Edelmiro J. Farrell und einer Gruppe von Offizieren unter dem Einfluß des Oberst Juan Domingo Perón,151 der über wachsendes Ansehen in den Gewerkschaften wie in der Volksmenge gebot, je häufiger er sie zu versammeln wußte. Nach seiner Wahl zum Präsidenten 1946 unterwarf er die Wirtschaft der Kontrolle des Staates. Aus der zusammenfassenden Organisation der gesamten von Perón geführten Bewegung in einer Partei mit einheitlichen, von ihm

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bestimmten Statuten erwuchs der „Peronismus“. „Das Leben der Arbeiter änderte sich grundlegend. Sie erhielten höhere Löhne, eine soziale Absicherung und bezahlten Urlaub, den sie nicht selten in staatlich subventionierten Gewerkschaftshotels verbrachten. Die Integration der Arbeiterschicht in die argentinische Gesellschaft und Politik fand nicht in erster Linie durch die Garantie politischer Rechte statt, sondern vor allem durch die Gewährung von sozialen Rechten und einem direkten privilegierten Zugang der Gewerkschaften zum Staat“.152 Man spricht seitdem vom Peronismus, zu dem auch die früh verstorbene Ehefrau Peróns, Maria Eva Duarte, beitrug. Doch in wirtschaftlicher Hinsicht ergaben sich bald Probleme, da die auf Breitenwirkung angelegte Bewegung keineswegs allen Interessen gerecht werden konnte, zumal mit zunehmendem Wohlstand der städtischen Bevölkerung die Preise stiegen. Währung und Finanzen zeigten alarmierende Wirkungen. 1955 wurde Perón vom Militär gestürzt und verbannt. Er wirkte jedoch aus seinem Exil in Spanien auf peronistische Richtungen in Argentinien ein und konnte 1972 zurückkehren. 1973 wurde er erneut zum Präsidenten gewählt, starb jedoch im folgenden Jahr. Unter dem Diktator General Videla wurden schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. Ein militärisches außenpolitisches Abenteuer der argentinischen Regierung inmitten einer schweren Wirtschaftskrise galt dem Versuch, den alten Anspruch auf die seit 1811 zu Großbritannien gehörenden Falklandinseln durch Besetzung einzulösen. Nach wenigen Wochen wurden sie im Juni 1982 von britischen Streitkräften zurückerobert. Ein neuer Tiefpunkt der argentinischen Krise schien an der Jahreswende 2001/2002 erreicht, als innerhalb von zwölf Tagen fünf Präsidenten an der Spitze des Präsidialsystems einander ablösten.153 Peru, das Kernland des einstigen Großreichs der Inka, danach infolge seines Silberreichtums eine der wertvollsten Kolonien Spaniens, war das erste Gebiet, in dem es zu einem Aufstand kam. Von 1780 bis 1782 versuchten Indios des Hochlandes unter einem Anführer, der sich Inka Tupac Amaru II . nannte, vergeb-

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lich die spanische Herrschaft abzuschütteln. Doch 1821 konnte die Unabhängigkeit Perus erklärt werden. Die bewegte innere Geschichte mit den für Südamerika nachgerade typischen diktatorialen Intermezzi ist hier nicht weiter zu verfolgen. Das Verhältnis zu Chile war im 19. Jahrhundert nach den Salpeterfunden in den Südprovinzen kritisch und kriegerisch. Die 1940 und wieder 1995 militärisch ausgetragenen Konflikte mit Ecuador brachen im Streit um Zugänge zum oberen Amazonas aus. Im übrigen erregte die bewegte innere Szenerie des außenpolitisch weitgehend isolierten Landes durch zwei auffallende Erscheinungen weltweite Aufmerksamkeit: den Kampf gegen die marxistisch und vor allem maoistisch orientierte Guerrillabewegung im inneren Andengebiet von Ayacucho und Junín, den Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad)154 unter der Führung eines charismatischen Philosophieprofessors, Abimael Guzmán, und schließlich die Präsidentschaft des einer japanischen Familie entstammenden Fujimori (seit 1990), der sein Amt nach der Aufdeckung von Skandalen aufgab, indem er im November 2000 von einem Staatsbesuch in Japan nicht mehr nach Peru zurückkehrte. Das Parlament erklärte ihn für abgesetzt. Sendero Luminoso zielt auf Systemveränderung von Grund auf, ist jedoch in dieser Hinsicht in Peru nicht ohne Konkurrenz. Es bestehen auch Verbindungen zur südkolumbianischen Guerrillaorganisation „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“ (Farc), der Kontakte zum grenzüberschreitenden Drogenhandel nachgesagt werden. Der Abschnitt über Lateinamerika kann nicht abgeschlossen werden, ohne die vielen bleibenden nachdenkenswerten Fragen anzudeuten. Schon vor Jahren versuchte ein Autor zu resümieren, nachdem er sich über das gewaltige Wachstum der Städte ausgelassen hatte: „Es wäre absurd, wollte man behaupten, das wachsende Elend der großen lateinamerikanischen Städte sei bereits der Schmelztiegel, in dem sich das endgültige Profil des Subkontinents zusammenbraue … Es ist jedoch nicht absurd, darin eine Bestätigung dafür zu sehen, daß diese Zukunft nicht auf Wegen erreicht wird, die durch bestimmte universal gültige Entwicklungsschemata vorgezeichnet sind …“.155

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VIII Europa Ein neues Europa Der Weg zu einer Europäischen Union erscheint historisch als ein langer Weg, sobald man Verfassungsprobleme und Zukunftsfragen mitsamt den globalen Perspektiven ins Auge faßt. Das gilt erst recht, wenn die lange Vorgeschichte einbezogen wird. Daß schon wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg eine politische Bewegung entstand, die für eine Vereinigung der europäischen Staaten „von Polen bis Portugal“ eintrat, Ausdrücke wie „Paneuropa“ und „Vereinigte Staaten von Europa nach dem Vorbild der USA“ weithin bekanntmachte1 und in mehreren Ländern von prominenten Politikern wirksame Unterstützung erhielt, war das Verdienst eines jungen Mannes aus österreichischem Hochadel. Richard von Coudenhove-Kalergi, 1894 als Sohn des österreichisch-ungarischen Botschafters und einer kaiserlichen Kammerdame in Tokio geboren, verkörperte bereits seinem Herkommen nach eine nationalitätsentbundene Vision, die nach der Zerstörung des Habsburgerreiches neuen Ufern zustrebte. Er kam aus alter flämischer, aus den österreichischen Niederlanden stammender Familie und war Enkel einer Kalergi, die, einst in Kreta ansässig, mit einem Zweig in das Libro d’oro, das im Prinzip abgeschlossene Verzeichnis der nobili der Republik Venedig, ehrend aufgenommen wurden. Ihm mochte sich nur ein Weg auftun, der hinter dem einstigen Imperativ des Novalis „Europa oder die Christenheit“ nicht zurückblieb sondern nach vorne blickte. Mehr als von der Völkerbundsidee und auch von Oswald Spenglers Diagnose vom „Untergang des Abendlandes“ beeindruckt, konnte die Paneuropa-Idee von Coudenhove-Kalergi zeitweilig unter Intellektu-

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ellen in die Breite wirken.2 Radikale Sozialisten diffamierten sie allerdings als „konterrevolutionäre Propaganda einer Heiligen Allianz der kapitalistischen Staaten West- und Mitteleuropas gegen die Sowjetunion und als die imperialistische Propaganda eines gemeinsamen Machtkampfes des kontinentalen Westund Mitteleuropa gegen das britische Imperium“.3 Sie bewegte sich fraglos in deutlicher Distanz zu angelsächsischen, vor allem amerikanischen atlantischen Vorstellungen und Interessen. Es fehlte auch nicht an Polemiken gegen die USA wie die Sowjetunion. Doch einzelne Politiker erwärmten sich für den Europa-Gedanken, so Briand und bald auch Churchill. Anfänglich lagen freilich einige Schwierigkeiten in der Existenz des britischen Commonwealth, das kaum in irgendeine Gestalt von Europa einbezogen werden konnte. Erst im zweiten Weltkrieg trat hierin allmählich eine Wende ein, seitdem sich Jean Monnet für eine enge Verbindung Frankreichs mit England einsetzte. Der Gedanke, wirtschaftliche Kartellbildungen der Schwerindustrie zu einer westeuropäischen Organisation auszubauen – ohne Großbritannien – nahm in Form eines Kartells der französischen, belgischen, luxemburgischen und deutschen Stahlindustrie noch 1926 Gestalt an, dem sich einige Monate später die Stahlproduzenten Österreichs, Ungarns und der Tschechoslowakei anschlossen. Das berührte allerdings die Bevölkerung der beteiligten Länder so gut wie gar nicht. Auch Bemühungen Briands um eine engere politische Annäherung zunächst Frankreichs und Deutschlands und eine „europäische Union“ gelangten zu keinem Ergebnis. Doch im Sommer 1929 „lag die Möglichkeit eines engeren Zusammenrückens der europäischen Staaten förmlich in der Luft, war namentlich das französische Interesse an der europäischen Organisation mit Händen zu greifen“.4 Nach eingehender Erörterung und Vorbereitung in Paris kam am Quai d’Orsay ein „Memorandum sur l’organisation d’un régime d’union fédérale européenne“ zustande, das zeitgleich mit der Eröffnung des II . Paneuropa-Kongresses Coudenhove-Kalergis in Berlin im Mai 1930 den europäischen

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Mitgliedsstaaten des Völkerbundes zugestellt wurde.5 Die französische Seite wünschte Stellungnahmen innerhalb einiger Wochen zu den schon klar herausgearbeiteten Grundvorstellungen: der Schaffung eines Grundlagenvertrages, der Institutionalisierung der ständigen Zusammenarbeit in einer regelmäßig unter wechselnder Präsidentschaft tagenden Europäischen Konferenz mit einem Ständigen Politischen Ausschuß als Exekutivorgan und Programmkommission, alsdann der Anerkennung des Primats der Politik vor der Wirtschaft, aber einer Liste von Zuständigkeiten für wirtschaftliche Festlegungen. Eingehende Erörterungen sollten Problem- und Regelungsstoff behandeln, was dann aber erst im Vorfeld des Maastrichter Vertrages 63 Jahre später – für ein kleineres Westeuropa – angebahnt wurde. Die widerstrebenden Tendenzen in Deutschland und Frankreich wie auch in England behielten damals die Oberhand. Auf deutscher Seite gaben die Folgen des Vertrages von Versailles und das vermutete Übergewicht Frankreichs den Ausschlag. Hierbei sprach auch die militärische Unterlegenheit mit, die hintergründig ganz andere Präferenzen entstehen ließ. Der Blick Berlins war meist gen Osten gerichtet, galt der deutschpolnischen Grenze und auch der Sowjetunion. Über „militärpolitische Beziehungen“ zur Roten Armee, die „mit großer Mühe und mit vielen Kosten aufgebaut worden“ seien, vermerkt ein Dokument im Auswärtigen Amt: „Die Rote Armee bildet sich immer mehr zu dem Faktor in der Sowjetunion heraus, der am stabilsten ist und von realpolitischen Erwägungen geleitet wird. Sie ist aus den bolschewistisch-marxistischen Experimenten herausgewachsen, die sonst noch die anderen Fundamente des Staates erschüttern. Die Rote Armee wird zwar streng nach der für die Sowjetregierung im allgemeinen geltenden Staatsauffassung geführt, aber die allgemein gültigen Erfordernisse für eine schlagkräftige disziplinierte Armee werden genau berücksichtigt“.6 Ein langwieriger Prozeß ließ dann nach dem zweiten Weltkrieg im Verlauf von Jahrzehnten eine immer enger zusammen-

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wachsende europäische Union der Staaten werden. Der Gedanke einer künftigen „economic federation“ Europas lag schon der Konzeption des Marshall-Plans zugrunde.7 Doch „die amerikanischen Vorstellungen von einer europäischen Nachkriegsordnung trafen auf eigenständige europäische Integrationsbestrebungen … Die Supermacht USA mußte immer wieder Abstriche von ihren Vorstellungen von Westeuropa machen“.8 In die Regierungszeit Konrad Adenauers fielen die Schaffung der Montanunion – die auf Initiative des französischen Außenministers Schuman zurückgehende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl seit dem Pariser Vertrag 1951 –, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG ) sowie der Europäischen Atomgemeinschaft durch die Römischen Verträge 1957, die Frankreich, die Bundesrepublik, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien miteinander abschlossen. Zum Jahresbeginn 1973 traten Dänemark, Großbritannien und Irland, 1981 Griechenland, 1986 Spanien und Portugal, 1995 Finnland, Österreich und Schweden bei. Unter Vorantritt Frankreichs wurde eine stufenweise voranschreitende wirtschaftliche Integration in die Wege geleitet und ein gemeinsamer Markt geschaffen. Brüssel wurde Sitz einer an der Spitze stehenden Kommission und des höchsten Rates, Straßburg der eines Parlaments und Luxemburg eines Europäischen Gerichtshofes. Sie „boten die Gewähr dafür, daß Französisch die gemeinsame Sprache der europäischen Institutionen werden würde“.9 Mit steter Ausweitung der Kompetenzen und dem Beitritt neuer Mitglieder erscheint die Geschichte der Europäischen Gemeinschaft als eine Geschichte des Erfolges. „Je größer ein Binnenmarkt, desto attraktiver ist es, Teil dieses Binnenmarktes zu werden, denn die Vorteile der Arbeitsteilung wachsen mit dem Marktumfang“10. Nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods, der an den US -Dollar gekoppelten Währungen und den dadurch bedingten starken Wechselkursschwankungen, versuchten europäische Regierungen im Gefolge der weltwirtschaftlichen Krise 1974/75, zu einer Einengung der Schwankungsbreite

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zu gelangen. Nach verschiedenen Versuchen und Annäherungen trat im März 1979 das Europäische Währungssystem in Kraft, ein Wechselkurssystem der EG -Länder mit dem Ziel einer gemeinsamen Währungspolitik, um eine größere Stabilität von Preisen und Wechselkursen zu erreichen.11 Ihm gehören die Zentralbanken aller Mitgliedsländer an, die gemeinsam mit der dann 1998 geschaffenen Europäischen Zentralbank das Europäische System der Zentralbanken bilden. Doch dies gehört schon zur Geschichte der Konvergenzen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nach dem Maastrichter Vertrag. Eine einheitliche Europäische Akte ergänzte 1987 die Gründungsverträge und gab fortan der Europäischen Gemeinschaft den föderativen Rahmen. Die zunehmende Aktivität nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks und der Wiedervereinigung der beiden nach dem zweiten Weltkrieg getrennt gebliebenen deutschen Staaten 1990, die von den Vereinigten Staaten betrieben und von Rußland hingenommen wurde, gab der Europäischen Union eine neuartige Gestalt durch den Maastrichter Vertrag, der im Februar 1992 abgeschlossen wurde.12 Er trat am 1. November 1993 in Kraft, nachdem einige Widerstände ausgeräumt waren, so in Dänemark in einem ersten gegenläufig ausgehenden Referendum, dessen Veto-Wirkung durch ein zweites aufgehoben wurde. So entstand eine neuartige Staatenordnung, die Bürgerrechte, Verteidigungspolitik und Wirtschaftsprinzipien zu vereinheitlichen trachtet und den Kontrollen einer in Brüssel ansässigen Behörde und eines Parlaments unterwirft. Ein einheitliches Währungsgebiet ist entstanden. Eine Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main und die Währung des Euro – bis Ende 2001 neben den Landeswährungen – bestehen außerhalb Großbritanniens, Dänemarks und Schwedens, die ihre alten Währungen beibehielten. Mit dem Auseinanderfallen des Ostblocks entwickelte sich das Interesse weiterer Staaten an einem Beitritt zur EU . Eine Erweiterung ist vorgesehen, aber an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft.13 Als Bei-

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trittskandidaten der nächsten Jahre gelten Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, Slowenien, die Slowakei und Ungarn, außerdem Malta und Zypern. Auch Rumänien, Bulgarien und die Türkei bewerben sich um Aufnahme. Doch die Aussichten auf Zukunft und Leistungen der weiteren Beitrittskandidaten erscheinen noch ungewiß. Zu Rumänien, das ab 2007 zur EU gehören soll und das gute Elektronikund Softwarespezialisten hervorbringt, berichtet das Wiener Institut für Internationale Wirtschaft überaus Bedenkliches. Die Privatisierung komme nur schleppend voran. Dies gilt auch für den Energiesektor. 91 Staatsbetriebe, die längst restrukturiert gehört hätten, kosteten den Staat viel Geld. Die Disziplin im Finanzsektor lasse weithin zu wünschen übrig, die Effizienz der Verwaltung und die Qualität der Justiz würden den Anforderungen einer modernen Volkswirtschaft bei weitem nicht gerecht. Korruption und übermäßige Bürokratie lasteten schwer auf den Unternehmen und wirkten als Barriere gegen benötigtes Auslandskapital.14 Ein Weißbuch von 1995 über den europäischen Binnenmarkt läßt eine Art Fahrplan erkennen, nach dem die Erfüllung der aufgestellten Normen zu erwarten steht. Eine Zentralisierung ist unverkennbar. Etwa 80 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung sind schon Gemeinschaftsangelegenheit. „Das europäische Recht besteht aus etwa 20000 Rechtsakten … darunter sind etwa 4000 Richtlinien und über 9 000 Verordnungen. Jedes Jahr kommen 750 neue dazu“15. Die Europäische Union ist also eine wachsende Föderation mit einer kräftigen Zentrale, der die Staaten selbst große Teilbereiche ihrer Souveränität abgetreten bzw. übertragen haben.16 Das gilt für historische Zentralverwaltungsstaaten ebenso wie für föderativ organisierte Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland und geschieht auf vertragsrechtlichen Wegen; einer Verfassung bedurfte es hierzu nicht.17 „In recent years a ‚permanent revolution‘ of Treaty changes“18 hat ein neues Europa geschaffen. „Nach zähem Ringen haben die Staats- und Regierungschefs der EU -Mitgliedsstaaten mit der Einigung über den Vertrag von

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Nizza am 11. Dezember 2000, der am 26. Februar 2001 feierlich unterzeichnet wurde, die vierte, große Vertragsrevision innerhalb von fünfzehn Jahren beschlossen“19. Allen Ernstes versuchten einzelne Stimmen noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts, ein triumphierendes Deutschland als Mittepunkt Europas zu sehen: „Wir sind zur entscheidenden Großmacht inmitten Europas geworden. Kein Land gruppiert mehr Nachbarn um sich. Keines ist flächenreicher, keines wirtschaftlich stärker. Die von Deutschland ausgehende Kultur und Sprache prägt einen Raum, in dem 92 Millionen Menschen leben – ein Sprachraum, der in Europa den der englischen und französischen Sprache weit übersteigt. Alle Nachbarn sind um beste Beziehungen zu Deutschland bemüht. Wie auch immer die Integration nationaler Kompetenzen in internationalen Organisationen gebündelt sein mag – am faktischen Gewicht Deutschlands ändert das alles nichts“20. Nach Jahren eines zunehmend kritisch bewerteten wechselseitig vernetzten und bürokratischen Föderalismus,21einer zunehmenden Massenarbeitslosigkeit und hoher Staatsverschuldung erscheint diese Zuversicht – trotz starken Außenhandels – doch wohl problematisch.22 Ganz abgesehen von den wirklichen Leistungen, birgt die künftige Verteilung des Stimmrechts in der EU weitere Unsicherheiten. Es sei denn, daß es gelänge, eine enge Koalition der größten Industrienationen zu festigen, eine engere Union innerhalb der größeren Union also.

Fallende Grenzen Im künftigen Europa scheint vieles noch nicht sicher und festgelegt. Eine von der Stabilität einer einheitlichen Währung, so sie sich stabil halten sollte, determinierte Zone der Freizügigkeit und des offenen Handels stieß vor und nach Maastricht auf Widerstand, wurde aber mit auffallender Entschiedenheit von Deutschland stetig vertreten. Doch dessen Staatsfinanzen erwiesen sich bald ungünstiger als zunächst angenommen. Die

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Verknüpfung des großen Projektes mit einer großen Steuerreform steht noch aus. Der große Partner Frankreich bildete immer deutlicher einen Gegenpart, der auch in anderen Vertragsstaaten Unterstützung fand. Arbeitslosigkeit und Lage des Arbeitsmarktes gaben Anlaß, Wirtschaftskompetenzen zu zentralisieren und einem künftigen Europäischen Währungsinstitut, das der Vertrag von Maastricht vorsah, gegenüberzustellen. So deuten sich bereits in programmatischen Umrissen neben einem existierenden europäischen Parlament und der Europäischen Kommission in Brüssel weitere europäische Zentralinstanzen an. Einen Europäischen Gerichtshof gibt es schon seit längerem. Er hat in den letzten Jahren durch einige Tätigkeiten immer größere Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Über die inzwischen geschaffene Zahl und Reichweite europarechtlicher Normen indes bestehen in der Öffentlichkeit kaum blasse, selbst unter Fachleuten nur unvollkommene Vorstellungen. Auch wenn man hoffen könnte, daß diese obersten europäischen Zentralinstanzen zu reibungsloser Erfüllung ihrer Aufgaben finden werden, bleibt die Zukunftsvision mit der Vorstellung belastet, daß Ausdehnung und Anfall erforderlicher Arbeiten zentrale Bürokratien noch ungeahnten Ausmaßes entstehen lassen werden, die nicht nur hohe Positionen schaffen, sondern auch die wachsende Aufmerksamkeit von Betroffenen wie Interessenten erregen werden. Um die höhere Ebene zu markieren, mag man von Eurokratie reden. Das dürfte sich einige Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte hinziehen. Aber eine völlig konkurrenzfreie und reibungslose Zusammenarbeit mit zuständigen Instanzen der Nationalstaaten erscheint angesichts dieser Situation als überaus kühne Erwartung. Die Gesellschaft lebt, sie verändert und entfaltet sich. Die Problematik, die sich ergibt, ist die der Vereinbarung des Wandels mit dem verläßlichen Recht. Zu viele Normen und Instanzen wirken hemmend oder gar erdrückend. Weise Voraussicht ist gefragt. Im übrigen bedarf es äußerster Zurückhaltung. Zu den nicht wegzudenkenden, immer noch möglichen Reibungen zwischen Nationalstaaten werden solche

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zwischen diesen und obersten europäischen Instanzen hinzutreten. Und was wird dann noch „demokratisch“ genannt werden dürfen, auch bei großzügigster Anwendung dieses Ausdrucks? Es fällt schwer, sich einen ganzen Erdteil mit mehreren hundert Millionen Menschen in seit Jahrhunderten selbständigen Staaten mit eigenen Traditionen und vielen hergebrachten Gewohnheiten, die sich in einzelnen Regionen nicht einmal gegen noch ältere und uralte autochthone Sitten durchzusetzen vermochten – man denke nur an Euzkadi, Galicia, Ulster u. a. –, und eine alle einende volonté générale auch nur von Ferne vorzustellen. Wahlen von Zeit zu Zeit wird es geben; Parteien und Gruppen werden so gegeneinander kämpfen, als käme es auf diese allein noch an, obgleich doch Programme nach Wahlen heute schon verblassen und die Personalpatronage immer fühlbarer hervortritt, wenn auch vor öffentlicher Aufmerksamkeit verborgen oder doch im Hintergrund bleibt. Hinzu kommen Differenzen der innerstaatlichen Strukturen. In den letzten Jahren ist das übermäßige, aber verfassungsrechtlich begründete Gewicht der Länder in Deutschland deutlich hervorgetreten, von Länderstaaten, die weit überwiegend historischer Überlieferungstreue ihre Existenz verdanken und nach der Wiederherstellung der sogenannten „neuen Länder“ – in älterer und nur kurzlebiger Gestalt – 1990 die letzte denkbare Reform verpaßten. Schon 1912 begründete der Historiker Karl Lamprecht den „Untergang der sozialgeschichtlichen Bedeutung der Territorien“ im Deutschen Reich.23 Doch über alle historischen Zäsuren hinweg hat sich der länderstaatliche Föderalismus in Deutschland behauptet, nach dem zweiten Weltkrieg schließlich gar verstärkt. Außer Bayern, das seine heutige Gestalt, abgesehen von der Pfalz, die 1946 dem neu gebildeten Land Rheinland-Pfalz zugeschlagen wurde, der Wiener Kongreß-Akte von 1815 verdankt, haben erst die Wechselfälle der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert die Länder zusammengefügt. Thüringen entstand 1920 und wurde 1945 erweitert. Auch Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind erst nach dem zweiten Weltkrieg entstanden. Aus einer

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preußischen Provinz, nach Abtretung im Norden, wurde das Land Schleswig-Holstein, aus der Provinz Hannover und kleineren Ländern das neue Land Niedersachsen, schließlich aus einer um seine Bestandteile östlich von Oder und Neiße reduzierten alten und vorpreußischen Provinz das Land Brandenburg – ohne Berlin; und hierzu gibt es anhaltende Kontroversen. Seit 1952 waren die alten, jetzt sogenannten „neuen Länder“ in Verwaltungsbezirke aufgeteilt; 1990 erstanden sie in ihrer sogenannten „alten“, doch lediglich sechs Jahre dauernden Gestalt. Freilich werden die historischen Zeitspannen in der neueren deutschen Geschichte nahezu regelmäßig in ihrer Bedeutung völlig unrealistisch überdehnt, ohne daß innere Tendenzen und Differenzen noch wahrgenommen werden. Man vereinfacht sie gewissermaßen zum kürzest möglichen Schlagwort ohne Sinn für Zusammenhänge. Das Land Bremen mit Bremerhaven verdankt die kurios anmutende Erhaltung seiner Existenz dem Verlangen der amerikanischen Besatzungsmacht nach einem für sie frei verfügbaren Hafengebiet an der Nordseeküste. Dies diente schließlich auch der Erhaltung der alten und größeren Hansestadt Hamburg nahe der für die Engländer noch wichtigeren Elbemündung, die schwerlich sinnvoll hinter das erneuerte Bremen zurücktreten konnte. Hessen und Niedersachsen wie Nordrheinwestfalen entstanden 1946. Das Saarland war nach dem ersten Weltkrieg wiederholt Objekt des Gestaltungswillens französischer, an der Kohlewirtschaft interessierten Politik. Es erhielt 1947 seine heutigen, in jedem Betracht unhistorischen Grenzen und wurde 1957 Land der Bundesrepublik. Was nun aber die landsmannschaftliche Eigenart, die mit kaum glaubhafter Überbetonung in politischer und verfassungsgeschichtlicher Hinsicht hervorgehoben wird, demonstriert, ist außer Emporwürdigung verwaltungsrechtlicher Organisation und Personalpatronage auf mittelinstanzlichem Niveau wenig mehr als die trachtenreiche Präsentation unterhaltender Medien mit sogenanntem Volkslied-Touch. Dies bleibt schmale Grundlage einer ohne weiterweisenden Bezug differenzierten Kulturpolitik und auseinanderdriftenden Schulpolitik.

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Außerhalb Bayerns ist die geschichtliche Formung der deutschen Länder junger oder jüngster Herkunft das Ergebnis exogener, keineswegs von der Bevölkerung herbeigeführter Einwirkungen. Eine zweite Ausnahme bildet lediglich das Land Baden-Württemberg, in dem sich zuletzt drei Länder zusammenfanden, was auf eine Volksabstimmung 1952 zurückging, die einzige, die über Gestalt der Länder innerhalb Deutschlands entschied. Insofern ist die Existenz Baden-Württembergs, unter älteren Voraussetzungen freilich, durch Mehrheitsentscheidung in demokratischer Manier gegründet, während das jetzige Bayern durch die historische Überlieferung und durch tradiertes Herkommen in Verwaltungsorganisation, Verwaltungspraxis und kulturellen Praktiken, Schulungen und Eingewöhnungen in seiner Gestalt gewährleistet erscheint, die freilich häufig auch als Sonderart von mancher Seite Kritik auf sich zieht. Es läßt sich mithin sagen, daß Bayern einen wirklichen Landesstaat innerhalb Deutschlands auch heute darstellt. Aber die landsmannschaftlichen Eigenheiten und gepflegten Traditionen erscheinen dem heute ernsthaft Zusehenden keineswegs so eindeutig einheitlich, wie vielleicht einige Anhänger der gepflegten Festkultur der Hauptstadt München glauben machen mögen. Landsmannschaftliche Eigenarten ergeben sich auch in Bayern nicht als Einheit. Die mainfränkischen Zonen heben sich deutlich voneinander ab; und Altbayern wie bayerisches Schwaben lassen einen anderen Schlag des Herkommens erkennen. Die Landsmannschaft in ihrer tradierten, durch Familiensinn, Brauchtum und Vereinskultur überlieferten Eigenart lebt unterhalb der länderstaatlichen Sondertümer in Deutschland, ob nun mit stärkerem oder schwächerem kirchlichen Hintergrund. Sie ist den lokalen Gewohnheiten und dadurch auch den Kommunen weit enger verbunden als der Länderstaatlichkeit mit ihren Ansprüchen, wenn auch beides häufig im äußeren Ansehen ineinander gemengt erscheint. Doch dies alles ist in juristischen Folgerungen, die aus dem Grundgesetz von 1949 hergeleitet worden sind, in kaum noch überschaubarer und in den Auswirkungen einschätzbarer Weise bürokratisch ver-

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netzt – ohne dem Staatsbürger und Wähler immer einen klaren Blick auf anstehende Entscheidungen zu lassen.24 Die Liste der fehlgeschlagenen Gesetzesbeschlüsse des Bundestages ist lang. Doch dieser „Verbundföderalismus“ bleibt verfassungsrechtlich geschützt. Deutschland bleibt hierin weithin beispiellos. Es hält keinen Vergleich im europäischen Rahmen aus. Niemand kann behaupten, daß Frankreichs Geschichte weniger historischen Regionalismus entwickelt habe. Sprachliche Differenzen zwischen dem Nordfranzösischen, das bis ins späte 16. Jahrhundert auch in England Hochsprache war, und der langue d’oc spiegeln auch verschiedene Bestandteile der Bevölkerung des spätmittelalterlichen Frankreich. Neben der besonderen Mundart in der Normandie, die im Hundertjährigen Krieg noch einmal über drei Jahrzehnte fest in englischer Hand war, behauptet sich in der Basse-Bretagne das in vier Hauptdialekte unterteilte Bretonische, das noch im 20. Jahrhundert eine bedeutende Literatur hervorgebracht hat. Die von Inselketten umgebene Bretagne, die die besten Seeleute stellte, wurde erst 1499 in Frankreich einverleibt und erst im 16. Jahrhundert christianisiert. Doch ihre kulturelle Eigenart hat der Entwicklung des französischen Staates nie Abbruch getan oder Einhalt geboten. Von der Vendée in der Revolutionszeit und der Erhebung ihres Landvolkes gegen die Revolution kann man als der berühmten Ausnahme sprechen, die die Regel bestätigt. Mit sprachlichem und kulturellem Sondertum hatte sie wenig zu tun. Von dem spät erst französierten Elsaß wie von anderen alten, Frankreichs Geschichte auszeichnenden Landschaften und Volkstümern verschiedener historischer Ursprungs- und Blütezeiten, Burgund, der Franche-Comté, der Picardie, der Champagne, dem Limousin, Aquitanien, der Rhône-Alpenregion, der Provence und Côte d’Azur oder Korsika gilt kaum anderes, falls man nicht einer neuerdings betonten Exklusivität der Korsen besonderes Gewicht beizulegen veranlaßt ist. Die Einheit weit auseinander treibender, wiederholt auch von religiösen Spannungen und Spaltungen getrennter Teile

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zu einem Ganzen herzustellen, war die nie verloren gegebene Aufgabe und bleibende kulturelle Leistung des französischen Staates, erst der Könige, dann der Revolution und des ganzen tätigen Volkes und aller gepflegter Hinterlassenschaften, die Einheit der Sprache – auch dort, wo Zweisprachigkeit erhalten blieb, wie in der Basse-Bretagne und im Elsaß –, der Währung und des Wirtschaftskörpers, spätestens seit dem Merkantilismus des 17. Jahrhunderts, des Schul- und Bildungswesens, der bewaffneten Macht und gewiß nicht zuletzt des politischen Bewußtseins, das sich nachgerade zwangsläufig zu einem nationalen, wenn auch keinem kollektiven ausgestaltete. Ein ständig sich verlängernder, nach äußeren Einwirkungen sich regelmäßig verändernder, aber gewichtig bleibender Länderstaaten-Föderalismus als hälftiger Gesamtstaatlichkeit mit angeblicher Traditionsbeständigkeit, die zu den gepflegten deutschen Geschichtslegenden zählt und sich zum Teil auf den schwerstwiegenden Konstruktionsfehler der Bismarckschen Reichsgründung zurückführen läßt, dies oder ähnliches blieb dem französischen Staat, der République Française, erspart. Dies mag in einigem ihre häufige Überheblichkeit in der Außenpolitik erklären; doch auch hierin ist das Problemfeld auf der Seite Deutschlands noch viel größer. Sogar Spanien, über fast zwei Jahrtausende Schauplatz verschiedenartiger Kräfte, konträrer kultureller und politischer Bestrebungen und vieler Kriege, ist in der frühen Neuzeit zum Einheitsstaat zusammengewachsen – trotz der Ausformungen von Dialekten und drei amtlich zugelassenen Sprachen neben dem Kastilianischen, das Baskische (euskera), das Katalanische (catalán) und das dem Portugiesischen verwandte Galicische (gallego). Dieser Staat konnte neben Portugal seine gesammelte Kraft über vier Jahrhunderte einer gewaltigen überseeischen Ausdehnung zuwenden und eine Zeitlang die Herrschaft über Süditalien behaupten. Der politisch wiederholt und bis nahe an die Separation heranreichende Sonderungsanspruch Kataloniens, des Landes der Vandalen und Alanen mit seiner Metropole Barcelona ist schließlich im modernen Spanien, unter

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Wahrung von Sonderrechten, aufgegangen. Auch die dynastischen bourbonischen Differenzen, die sich sogar in der navarresischen Folklore darstellten, sind verblaßt. Brisante Konfrontationen, die durch Attentate in Erinnerung gehalten werden, die deutlich Grenzen sichtbar machen, aber die politische Entwicklung weder verändern noch folgenreich beeinflussen, stärken letztlich die Legitimation besonderer Polizeiinstanzen und damit einseitige Ansprüche des Staates. Sie ergeben sich aus den Unabhängigkeitsforderungen in dem von Navarra bis an die Biskaya reichenden Euskadi, dem Land der Basken, den Nachkommen einer vielleicht steinzeitlichen Völkerschaft, die die Römer vascones nannten. Ein moderner Staat kann auf sie nicht bauen. Auch das aus verschiedenen Bestandteilen zusammengewachsene Italien ist trotz unüberwindbar scheinender Gegensätze, trotz eines starken Wirtschafts- und Wohlstandsgefälles vom Norden bis zum Mezzogiorno und trotz einer jüngeren Sonderungsbewegung im größeren Po-Gebiet wie in Venezien als politisch handelnde Einheit nie in Frage gestellt worden. Das harte historische Urteil des aus dem Norden Kommenden über Italien, „die Zivilisation hört jenseits des Tibers auf “,25 hat sich wohl gemildert. Aus dem hart empfundenen Gegensatz wurde ein schrittweiser Übergang mit Inseln der Wohlfahrt und des Wohlstandes auch im Süden. Doch die Verwaltung des Königreichs Italien in Provinzen unter Präfekten, die dem Muster der Regierungsbezirke Preußens ähnelten, schuf das einheitliche Netz einer Exekutive ganz und gar unabhängig von historischem Regionalismus, dem erst später mit dem Ausbau der größeren compartimenti gewisse Selbstverwaltungsrechte unterer Stufe zuwuchsen. Die Notstandsfürsorge für den Süden, die Cassa per Opere Straordinarie di Pubblico Interesse nell’ Italia Meridionale seit 1950 blieb eine strikt zentralistische Behörde mit eigenen Finanzmitteln.26 Belgien, Königreich seit der Revolution von 1830, ist ein zweisprachiger Staat, der sich von den Niederlanden getrennt hatte, existiert seit 1982 in zwei sich gesondert verwaltenden

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Regionen. Die beiden Weltkriege wie die Nachkriegszeiten hatten zur ständigen Verschärfung des ethnischen Gegensatzes zwischen frankophonen Walonen und Flamen geführt. Eine Einschränkung der Souveränität von zentraler Regierung und Parlamentsorganen steht außer Frage, wie anderseits die einheitliche vierstufige Verwaltungsgliederung in Provinzen – unter den vom König ernannten Gouverneuren –, dieser in Arrondissements, dieser in Kantone und dieser wieder in Gemeinden offenkundig durch die Bewährung in geschichtlicher Erfahrung ausgezeichnet worden ist. Seit 1956 steht sie unter der Aufsicht eines Staatsrats, der in Kompetenzkonflikten entscheidet und die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausübt, obgleich ihm in der Gesetzgebung nur beratende Funktionen zukommen. Dies erscheint als ein bemerkenswerter Kontrast zum Beispiel des Bundesrates in Deutschland, regionale Eigenheiten bis zur Zentrale mitwirken zu lassen, ohne die Regierungsziele episodisch oder permanent in Frage zu stellen. Dänemark und Norwegen ließen sich auf einer europäischen Skala der inneren Strukturen von Politik und Verwaltung am entgegengesetzten Ort verzeichnen. Durch eine schlichte Ordnung in Staat und Gemeinden, zwischen denen nur Ämter und keine Verwaltungsgerichte figurieren, wird in Dänemark eine lokale Bürger- oder Gemeindeherrschaft begünstigt. In Norwegen hat sich die starke lokale Selbstverwaltung in dem überdimensionierten Rathaus von Oslo mit seinen Riesensälen ein denkwürdiges Denkmal gesetzt. Daß die sprachliche Sonderung das Riksmål verdrängt und im Nynorsk dialektmäßigen Ansprüchen zu stärkstem Ausdruck verholfen hat, zeigt den Triumph dieser aufs Lokale schrumpfenden nationalen Politik ohne weitere Außensicht an. In Deutschland ließ dies allenfalls einen Vergleich mit einigen abgelegenen Teilen im Süden Oberbayerns oder an der Küste zu. In dem Königreich der Niederlande erscheinen die gewählten Parlamente der zwölf Provinzen, die „Provinzialstaaten“, und die von diesen gewählten Vertreter zu den „Generalstaaten“ zwar mit der deutschen Mittelinstanz vergleichbar; doch sie

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sind entschieden parlamentarisch organisiert. Die autonomen Körperschaften der Gemeinden verfügen indessen über weit stärkere lokale Zuständigkeiten als deutsche Kommunen. Aber die alten sprachlichen Unterschiede zwischen den Mundarten der Provinzen sind unter dem Einfluß der predigenden, an lateinischer Grammatik geschulten Geistlichkeit völlig verblaßt, wie es in Deutschland bis heute nicht einmal der „Pfarrersprache“ im Verhältnis zum Schwäbischen gelungen ist, obgleich hier wie dort eine Hochsprache zur Schriftsprache wurde. Das Vereinigte Königreich von Großbritannien mag diese kurze Umschau beschließen, wobei wir die jüngere Entwicklung in Nordirland übergehen wollen. Es hat mit der Geschichte Irlands und mit dem Bestehen Nordirlands seine Konflikte gehabt, die nicht zu enden scheinen. Eine Revision des Status von Schottland bis zu einer Personalunion zweier Königreiche erscheint künftig nicht gänzlich undenkbar. Aber die beim Parlament, Regierung und Krone liegende Souveränität ist ebenso wie die Magna Charta Libertatum zu einer Essenz wie zum Stigma des neuzeitlichen Staates geworden. Diesen Beispielen gegenüber blieb und bleibt Deutschland eine „verspätete Nation“27. Offen erscheint einstweilen die Frage, ob das Schicksal der Deutschen künftig in neuen Euroregionen liegen wird, die aus dem als zerfallen gedachten Gehäuse der Nationalstaaten wie neue Geschöpfe hervorgehen können, wie die „NRW-Nation“28 in neuartiger, wirtschaftlich vorgegebener Einheit mit Belgien, den Niederlanden und dem Nordteil Frankreichs. Die Beziehungen einer Europa-Politik zum Staatenföderalismus bilden anregende Problemfelder29 in dem großen Fragenkreis einer künftigen europäischen Verfassung, wenn es eine solche geben sollte.30

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Folgen und Ausblicke Wenn es unter den europäischen Staaten Spannungen und Konflikte gibt und weiterhin geben dürfte, dann läßt sich hierin ein Versagen oder Unterliegen erkennen angesichts der Herausforderungen aus dem weiteren Osten, die im Grunde immer, wenn auch in wechselnder Gestalt bestanden, nicht erst seit dem Untergang der ägyptisch-mediterranen Kultur. Diese Drohung hat sich während des vergangenen Jahrhunderts stetig verstärkt. In den mit Bedacht gewählten Worten eines ehemaligen Außenministers Frankreichs dringt begründete Kritik durch: „Seit 1989 hat Europa kaum eine Gelegenheit versäumt, seine inneren Spaltungen und seine Machtlosigkeit aller Welt vor Augen zu führen: Gegenüber Jugoslawien, wo es seinen guten Ruf inzwischen verloren hat; gegenüber der dramatischen Arbeitslosigkeit, die wir entstehen ließen, ohne zu handeln; gegenüber den Gefahren, die von Tschernobyl und ähnlichen Reaktoren auf ganz Europa ausstrahlen. Nur mit Vorbehalten und Verzögerungen hat Europa auf die Erwartungen der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa geantwortet, deren Enttäuschung inzwischen nicht mehr zu überhören ist“.31 In der weltpolitischen Lage verschieben sich die Gewichte gegen Ende des 20. Jahrhunderts sichtbar schon fast von Jahr zu Jahr, deutlich greifbar von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Allein in China und Indien lebt mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung. Der Ostasienhandel besaß seit vielen Jahrhunderten Bedeutung und übte schließlich auf die großen seefahrenden Nationen wachsende Anziehungskraft aus. Doch der mit Macht und Energie vorangetriebene wirtschaftliche Neuaufbau Chinas im späten 20. Jahrhundert hat einen Bedarf und dadurch einen Markt größter Maßstäbe entstehen lassen. In den nächsten Jahren32 sollen 17 000 km neue Eisenbahnstrecken, 200 000 km Straßen, 300 neue Häfen gebaut und jährlich mehrere neue Kernkraftwerke errichtet werden. Dies regt einen Wettbewerb neuer Größenordnung zwischen großen Firmen wie Industriestaaten an, dessen Wirkungen zunächst ohne reales Gegenge-

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wicht bleiben. Gewiß sind diese Länder auch zu großen Märkten für den Billigkonsum amerikanischer Produkte geworden, von McDonald’s bis zu Fernsehsendungen und -sendern. Doch jede dieser Produktionen könnte wegfallen, ohne im Konsumentenland Lücken zu hinterlassen, die Konkurrenten nicht zu schließen imstande wären. Anderseits bilden die dicht bevölkerten und erst im späten 20. Jahrhundert industrialisierten Staaten Ostasiens, Indonesien, Vietnam, China, Indien, Pakistan und bald Bangladesh, neben den „Billiglohnländern“ etwas älteren Typs, Singapur, Taiwan und Südkorea, ein gewaltiges, in absehbarer Zeit kaum auszuschöpfendes Arbeits- und Produktionsreservoir mit großem Kapitalbedarf. Ein begreiflicherweise stärker ins Extreme ausartendes Auf und Ab der Konjunkturen wird kaum ohne globale Auswirkungen bleiben, wenn dem nicht durch global aktive Institutionen vorgebeugt werden kann. Doch dies setzt die wesentliche Feststellung nicht außer Kraft: In wahrscheinlich bleibender Distanz zu den derzeitigen Sozialstaaten Westeuropas, wenn auch in rascherem Durchgang durch typische Phasen der Industrialisierungsgeschichte wird sich ein Breitenwohlstand erst spät oder gar nicht aufbauen. Vieles spricht für langfristige Verflechtungen europäischer und asiatischer Wirtschaftsbeziehungen, denen die Politik sicherlich folgen wird, wenn nicht gar folgen muß. Frage bleibt, ob sich die Regierungssysteme asiatischer Staaten unter den gegebenen Voraussetzungen behaupten werden. Demokratien euroamerikanischer Vorstellungsweise sind die starken Großstaaten Asiens nicht. Bezieht diese Sicht auch Japan und die rasche wirtschaftliche Entwicklung des dem Pazifik zugewandten Teils der Vereinigten Staaten und Kanadas ein – und deren zunehmendes Gewicht innerhalb des nordamerikanischen Subkontinents, so wird man von einer deutlich aufstrebenden starken, den anderen Weltteilen auf absehbare Zeit überlegenen pazifisch-ozeanischen Zone zu sprechen haben. Australien und Neuseeland liegen noch im Schatten, sind jedoch beteiligt.

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Die Staaten Europas vermögen dem auf die Dauer nur wenig entgegenzuhalten. Von den drei starken Potenzen, deren Export ihren Einfluß in der Welt begründete – Menschen, Waren und Kapital – kommt die erste kaum noch in Betracht. Statt Massenauswanderungen wie im 18., 19. und noch im frühen 20. Jahrhundert bleiben nur noch Migration und geregelter Verkehr, wahrscheinlich mit dauernder Veränderung der Wanderungsbilanz zugunsten von Zuwandernden aus dem Osten, Südosten und Süden. Im Welthandel standen in den neunziger Jahren die USA , Deutschland, Japan, Frankreich und Großbritannien an der Spitze aller Länder. Nur Japan und Deutschland erreichten einen großen, Frankreich einen knappen Überschuß des Exports über die Einfuhren. Der größte Anteil der Importe wie Exporte aller genannten Länder, mit Ausnahme Japans, entfiel auf den Handel mit europäisch-nordamerikanischen Partnern, vornehmlich den jeweiligen Nachbarländern und die Vereinigten Staaten. Aber eine Verlagerung im Weltausmaß zeichnet sich zusehends deutlicher ab. Die stärksten Kapitalströme fließen von den Vereinigten Staaten, Japan und einigen europäischen Ländern in alle Weltregionen. Der Zusammenfluß nimmt zu. Aber man kann in dieser Hinsicht keine auf längere Sicht gewährleistete deutlich bestimmbare Position Europas voraussetzen. In ihr geben zwangsläufig die Entwicklungsträger (Industrien, bestimmte Techniken, Verkehrseinrichtungen) den Ausschlag, was auch die Statistiken beherrscht, da sich hieraus die größten Größen bilden, während regionale Rückständigkeiten im Schatten der dominierenden Entwicklungen mehr oder minder entschieden ausgeklammert werden und auch in der Statistik eine Art Stiefkinddasein führen. Historisch bleibt dann die Frage für jede dieser unterentwickelten Regionen, wann und unter welchen Voraussetzungen die Disparation der Entwicklungen einsetzte und warum und unter welchen Umständen und mit welchen Ergebnissen sie sich fortsetzte. So könnte man zu einer Notstandsforschung kommen.33 Aber man muß deutlicher re-

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flektieren als bisher und auch erkennen, daß die Außenhandelbeziehungen einer Volkswirtschaft die gesamte Systematik verändern, sobald sie nicht mehr nur als Funktionen, sondern zunehmend als Konditionen für binnenwirtschaftliche Entwicklungen unabweisbar in Erscheinung treten. Auch in politisch-strategischer Hinsicht trat die begrenzte Effizienz der Außenpolitik einiger Staaten nachgerade dramatisch in Erscheinung. Größere Krisen häufen sich. Ob in Zaire, Angola, Somalia, Ruanda, Burundi – diese Aufzählung ist keineswegs vollständig – oder innerhalb Europas, auf Zypern oder im zerfallenden Jugoslawien: Keine konnte bislang von europäischen Staaten entspannt oder gelöst werden. Auch die ZypernFrage erscheint nicht entspannt, nur vorübergehend lediglich in einem dürftigen Kompromiß eingefroren, der latent bedroht ist. Von den innerstaatlichen Konflikten ethnozentrischer Art oder doch mit starker ethnischer Einfärbung in Spanien, in Rußland ist an dieser Stelle nicht zu reden. Die Probleme Israels sind längst zu einem Weltproblem geworden und befinden sich in einer Art anspruchsvoller Konkurrenz mit anderen weltpolitischen Problemen. Schon die Balkankrisen im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hätten der Welt vor Augen führen können, daß kleine und kleinste Länder, gar kleine Gruppen von Irregulären weltweit wirkende Brandherde und Konflikte auszulösen vermögen. Ohne entschiedene Gegenwirkungen stellt ein weiteres Umsichgreifen der Konflikte innerhalb der seit Beginn des 18. Jahrhunderts kritischen Hauptkonfliktszone in Südosteuropa eine dauernde Gefahr dar. Ohne Präsenz der Diplomatie wie der Waffen Amerikas34 hätte sich bislang kein auskömmlicher Zustand erreichen lassen. Die innerpolitische und auch wahlgeschichtliche Szenerie in den Vereinigten Staaten schlägt in außenpolitischen Entscheidungen mindestens ebenso häufig durch wie in den großen europäischen Staaten. Dennoch bleibt die Außenpolitik Amerikas dank der militärischen Macht, die hinter ihr steht, von entscheidendem Gewicht für die annähernde Sicherung

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eines globalen status quo, der sich anders gar nicht halten ließe. Weltorganisationen, voran die UNO haben sich längst als unentbehrliche Verhandlungsforen erwiesen und sind auch als Administrationen mittlerer Leistungsfähigkeit kraft überstaatlicher Ermächtigungen in konfliktfreien Bereichen tätig. Doch die Begrenztheit ihrer politischen Entscheidungskraft, sofern sie nicht von der größten Großmacht zur eigenen Sache erklärt wird, ist seit den Konflikten von 1956, vor allem der Suez-Krise, evident geworden. Die wechselnden Klagen über amerikanischen Isolationismus und dann wieder über amerikanische Interessen- und Machtpolitik, seit einiger Zeit nachgerade eine Lieblingsbeschäftigung vieler Intellektueller, Historiker und Politiker,35 durch den fatalen Vietnam-Krieg angeregt, waren – vor dem Bush-Tief 2003 – fast verstummt. Je stärker größere Gefahren empfunden wurden, desto bereitwilliger reagierten die Menschen in den Staaten Europas auf Hilfen und auf Schutz aus Amerika. Keine europäische, aber auch keine außereuropäische Macht kann es ihr gleichtun. Angesichts dieser in knapper Zeichnung umrissenen globalen Konfiguration fehlt es an Zukunftsvisionen, gar an Erörterungen hierüber. Philosophische Dialoge befassen sich mit anderen Themen und Problemen. Kaum noch offen erscheint allerdings die Entscheidung zugunsten der politischen Beziehungen der Europäer zu den Vereinigten Staaten in globalen Fragen, wenn nicht gar für einen dauernden Schutz. Militärisch könnte Europa allein außerhalb dieser ultima ratio gar nicht mehr agieren, solange nicht die letzten Differenzen zwischen Ost und West eliminiert sein werden. Und wo liegt heute schon eine Grenze zwischen West und Ost? In Frage steht, inwieweit fortschreitende wirtschaftliche Annäherung nach weltpolitischer Orientierung verlangt. Eine französische Vision geht vom Fortfall des amerikanischen Schutzschirms aus, um sodann die Frage zu beantworten, was danach geschehen müsse, in betonter Höflichkeit formuliert: „Nach 50 Jahren des liberalsten Protektorats, das die Welt erlebt hat, schlägt die Stunde, in der die Europäer

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ihr Geschick [wieder] in die eigenen Hände nehmen müssen“.36 Sie müssen, so die Folgerung, darauf sehen, daß die Beziehungen zu Rußland sich konstruktiv gestalten und es als einen „erstrangigen Partner, strategischen Verbündeten“ betrachten. Mit seiner vermittelnden Hilfe soll dann ein Gleichgewicht der Beziehungen Europas zur islamischen und weiteren asiatischen Welt gefunden werden. Europa dürfte jedoch nicht zu einem „petit cap de l’Asie“ werden, wie es Paul Valéry ausdrückte, sondern zum guten Kopf Asiens, dies bleiben, wie es seit alten Zeiten war. Dieser gedachten Verbindung Paris-Moskau wird sich wohl auch Deutschland einfügen. Das erscheint einstweilen eine Rechnung mit mehreren Unwägbarkeiten, bezeichnet aber Sichtweise und Handlungstendenz, die nicht preisgegeben werden dürfen. Zu ergänzen bleibt freilich die dauernde Notwendigkeit einer stabilen Verbindung mit Nordamerika und ein womöglich gemeinsames euroamerikanisches Interesse an einer politischen und kulturellen Annäherung der großen ostasiatischen Staaten, sobald dies im Bereich des Möglichen erscheint. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten wie die der Staaten Europas hat es auch nach dem Niedergang der alten Sowjetunion keineswegs mit einer befriedeten Welt zu tun. Ihre Probleme sind zum Teil etwas anderer Art, aber keineswegs leichter lösbar geworden. Vielmehr bemühen sich die Staaten unter Vorantritt der vielseitig interessierten und mächtigeren USA um die Erprobung neuer Beziehungen sowohl zu dem nach wie vor einflußreichen China als auch zu dem islamischen, schiitischen Iran, dem Irak, der ebenso wie etwa Libyen und Birma von einer Militärdiktatur beherrscht wurde, was den Blick auf den experimentierenden Charakter der Außenpolitik, aber auch auf unterschiedliche Einflüsse wirtschaftlicher und innerpolitischer Art lenkt. So scheint ein Feld für den Einsatz wechselnder Instrumente eröffnet, auf dem zwischen Annäherungen und Einbindung in größere Systemzusammenhänge einerseits und strikter Isolation anderseits verschiedenartige Orientierungen für möglich gehalten werden.

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Im Grunde haben sich die Vereinigten Staaten dem praktischen Ergebnis nach bislang gemäß der jeweiligen wirtschaftlichen wie politischen Größenordnung des Objekts entschieden. Sie sind im Hinblick auf Kuba wie auf den Irak und Iran hart geblieben, entwickeln aber verschiedene Formen der Beziehungen zu China, auch Nordkorea.37 Nicht nur wirtschaftliche Engagements sondern auch die geopolitischen Momente sprechen hierbei mit, was die Summe der wechselseitigen Beziehungen der genannten Staaten zu ihren Nachbarn wie deren Verbindung zu den Vereinigten Staaten meint. Dies beschwört freilich immer wieder sowohl konkurrierende als auch konfligierende Beziehungen zu einzelnen europäischen Staaten herauf, die aber auch in dieser Hinsicht weit davon entfernt sind, zu einer einheitlichen Haltung oder gar Konzeption zu gelangen. Man kann sagen, daß das Völkerrecht gegen Ende des 20. Jahrhunderts nachgerade revolutionär verändert wurde. Da in der Jugoslawien-Frage ein Beschluß des UNO -Sicherheitsrates wegen eines russischen und chinesischen Vetos nicht erreichbar war, erhielt 1999 die NATO die Ermächtigung zur Intervention auf dem Balkan. Doch im Kosovo-Krieg traten hintergründige Konflikte der europäischen Seite mit der strategisch und technisch weit überlegenen amerikanischen Kriegführung deutlich in Erscheinung.38 Eine noch kompliziertere Lage entstand 2003 nach dem Ende des Feldzuges der USA und Großbritanniens im Irak.39 Frankreich, Rußland und Deutschland reklamierten ein neues UNO -Mandat. Mit der Beteiligung polnischer und spanischer Truppen an der Besetzung kamen europäische Mächte zum Zuge, dem sich auch die Ukraine und weitere künftige NATO -Beitrittsländer in Ost- und Südeuropa anschließen wollen. Da sich Frankreich – wie auch Rußland – und Deutschland dem versagten, entstand ein Riß quer durch die NATO , aber auch in der Außenpolitik der Europäischen Union. Von einer „Achse Paris-Berlin“ wurde gesprochen, aber auch wieder von einer „Globalverantwortung“ der NATO , auf die sich die Außenminister Anfang Juni 2003 in Madrid einigen konnten. Diese „Globalverantwortung“ eröffnet aber noch wei-

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tere Perspektiven. „Die Interessen der postkolonialen Einflußpolitik Frankreichs und Belgiens, die von der Nutzung der reichen Bodenschätze vom Kongo unter stabilen Bedingungen mit politischer Kooperation zum Vorteil einer ‚strategischen Präsenz Europas in Afrika‘, wie die Pariser Parole lautet, bestimmt werden, stehen dabei an der Spitze der Agenda“ der französischen Außenpolitik.40 Das alles beruht auf steter mehrschichtiger Information über Zustand, Bewegungen und Tendenzen in jedem dieser Staaten, auf Informationen, die auf vielen, auch verdeckten Wegen gewonnen und ausgewertet werden. Der Öffentlichkeit liegen sie bei weitem nicht alle vor Augen. Sie hätte hierfür wohl auch gar nicht das angemessene Interesse und Vorwissen. Ihr bleibt daher häufig auch das Verhältnis zwischen Ereignissen und Hintergründen selbst bei uneingeschränkter Tätigkeit eifrig agierender Medien teilweise oder gar gänzlich verborgen. Die hierdurch bewirkte Meinungsbildung in den Öffentlichkeiten erscheint mithin weitgehend ein sich verselbständigendes Geschehen, das sowohl Faktor als auch Instrument werden kann. Wäre sie das erste ohne Vorbehalt, müßte man von Mediokratie sprechen. Schließlich ist ein starkes, im Ernstfall mit größter zerstörender Wirkung einsetzbares Potential zum globalen Politikum hoher und höchster Rangordnung geworden. Der lange Schatten des zweiten Weltkriegs hat die dauernde Präsenz von Atomwaffen hinterlassen, die außer den alliierten Weltmächten des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit, die kurz nacheinander in Besitz dieser zerstörenden Waffe gelangten, weitere Atommächte, atomwaffenfähige oder diesem Zustand nahe „Schwellenländer“ auf den Plan brachten. Ihre Begrenzung hat wahrscheinlich faktisch entscheidend zur Erhaltung weltweiter Friedensvorstellungen beigetragen. Doch schon die Ankündigung, erst recht die Vorbereitung oder gar Ausführung von Testexplosionen gehört mittlerweile zur Demonstration von Machtpositionen, die mit neuen Ansprüchen in Erinnerung gerufen werden, mögen auch die vertragsrechtlichen Verbote den

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Kreis der sich auf diese Weise präsentierenden Staaten begrenzen. Bislang scheint einiges gelungen. Die Büchse der Pandora hat sich nur zum Teil geöffnet. Dem in vielen Bereichen vor aller Augen liegenden raschen Fortschreiten, das schon früh im letzten Jahrhundert aus zunehmender technischer Beschleunigung erklärt worden ist,41 stehen in weiten Zonen der Erde partitive Schwerkräfte der Beharrung auf vielen Lebensgebieten gegenüber – in dem unbewußten, nachgerade natürlich anmutenden Festhalten an gewohnten, eingeübten und als Vorzug erachteten Verhaltensweisen und Verfahren. Globalisierung erfordert indes stetiges Reformieren.42 Wie aber reagieren die Menschen, deren Zahl ständig wächst und deren Aktionen und Reaktionen immer unwägbarer erscheinen? Worte verlieren sich, Reden verhallen. Ein origineller Kopf schrieb vor Jahren: „Sobald Nationen ‚erzogen‘ werden sollen und ihre großen Besitztümer ihnen in Kultformen präsent gehalten werden, beginnt die Langeweile zu grassieren – und mit ihr die Pflicht, sie zu ertragen. Das Muß der Unerträglichkeit verbindet sich immer wieder mit der uralten rituellen Vermutung, daß Heilig-Übergroße verrate sich als eben das Unerträgliche. Zugleich damit: Es aushalten zu können, bestätigt dem, der es übersteht, seine Auszeichnung in der Aura des Heiligtums“.43 Nicht auszudenken, falls man dies akzeptiert, sind Folgen der rituellen Mahnung und des steten Gedenkens an Niederungspunkte nationaler Geschichte. Aber auch Langeweile dieses Nationalismus-Negativs wiese nur ins Ausweglose. Doch ein neues Faktum drängt in den Vordergrund, das neue Zurüstungen erfordert. In der sunnitisch-wahhabitischen Richtung des Islam läßt sich eine neue radikale Strömung erkennen, die sich auch hinter dem summarischen Siegel al-Kaida verbirgt und mit allen Mitteln eine islamische globale Ordnung anstrebt. Ihre Methoden nennt man „Terrorismus“ – Kriegführung bis zum äußersten ohne erklärten Krieg, „heiliger Krieg“, Dschihad der Dschihadisten, ein neuer Totalitarismus,44 gegen den angemessene Gegenkräfte bislang noch ausgeblieben sind.

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Wir brechen hier ab mit den weisen Worten eines der bedeutendsten Politiker Deutschlands im 20. Jahrhundert: „Wenn wir jedoch die Europäische Union verkümmern oder gar scheitern ließen, … dann bliebe der noble Anfang nicht viel mehr als ein interessantes Thema für spätere Historiker. Für uns selbst aber, für die Bürger Europas, und für unsere Nachkommen würde ein solcher Verfall eine Tragödie nach sich ziehen, nämlich den endgültigen Verlust der Selbstbestimmung. Wichtiger als alle Verträge und Paragraphen sind Einsicht und Prinzipientreue, Gesinnung, Führung und Beispiel“.45

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IX Ein Rückblick Die Menschen wachsen in ihre Umwelt hinein. Sie finden sich in ihr wie in einem Gehäuse zurecht, das selber wächst und seine Gestalt verändert, und setzen sie in stufenweise geordneten Kommunitäten – in Wohnung, Familie, ständigen oder regelmäßigen Alltagsbegegnungen, Gruppen, Vereinen, Gemeinwesen, überlokalen Organisationen, Verbänden, Land und Staat – wie dauernde Ordnungsmomente voraus, in denen das Leben abläuft. Dies ist ein historisches Faktum. Doch das Gesamte der historischen Entwicklung entzieht sich der wirklichen Erfahrung. Sie wird in einzelnen Begebenheiten erlebt, allenfalls in Verbindung mit erlangtem Wissen zur Kenntnis genommen. In der Sicht des Historikers sind indessen die Wendungen, Veränderungen oder Störungen im vermeintlichen Ablauf das eigentlich Wesentliche der Geschichte. Er versucht, diese zu beschreiben und Ursachen zu ergründen. Handel über Jahrtausende alte Handelsstraßen, Gewerbe und wirtschaftliche Entwicklungen in schließlich sich ständig beschleunigender Folge, was Karl Lamprecht schon erkannte, ermöglichen das Dasein, das die Europäer und die überseeischen Europäiden gewohnt sind. Europa ist geworden an den Straßen dieses Handels und der Gewerbe und Industrie, die er beflügelte, und es ist geworden kraft der bleibenden Wirkung seiner großen Literatur von Homer über Herodot, Platon, Aristoteles zu Cicero und Augustin über die Grenzen zwischen den Sprachen hinweg – schließlich dank der umfassenden Kraft des Christentums, das Gedanken dieser Literatur vermittelt, aufgenommen und weitergebildet hat, in den Werken und Schulen der Neuplatoniker, dann des Boethius, Johannes Scotus Eriugena, Anselm von Canterbury, Albertus Magnus, Thomas von

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Aquin, Duns Scotus, William Ockham und Nikolaus von Kues bis Erasmus und Luther, schließlich der Dramatik Shakespeares. Das 17. und das 18. Jahrhundert brachten neue Blüte mit Descartes, Pascal, auch Leibniz, Lessing, Lichtenberg und den bedeutendsten Trägern und Vermittlern europäischer Universalbildung, Diderot und d’Alembert bis Adam Smith und Kant, Goethe und Schiller, das 19. nach Alexander und Wilhelm von Humboldt die großen Reflektoren und Kritiker, Hegel, Marx, Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, Burckhardt. Nach Max Weber hat sich die Tradition europäischen Denkens abgeflacht, schon im 19. eine neue, aus Aufklärung und Romantik hervorgegangene Literatur der Nationen ausgebildet, von der unter dem Einfluß des technischen, politischen wie des ideologischen Pragmatismus reale Gestaltung mit noch unabsehbaren Folgen ausgegangen ist. Kulturen tendieren immer wieder – in großen Perioden – zu synkretistischen Entwicklungen aus Altem, Vorhergegangenem. Auch dies dient der Erhaltung, Festigung und Bekräftigung hochgehaltener Gewohnheiten durch Riten, Ordnungen und Kräfte. Gewöhnt sein und Gewohnheiten haben heißt, im Tageslauf wie in kultischen Handlungen Regeln folgen, die als gesichert gelten und stets beibehalten werden. Gewohnheiten sichern Ruhepunkte, die auch Gemeinschaft stärken. Dem dient die stete Vergegenwärtigung des als wesentlich Erachteten in Sitte, Brauchtum, Festen und Riten. Diesem wiederum dient die Rückkehr zu den Quellen des Herkommens aus früher Zeit durch gestaltenreiche Kulte. Die Volksidee begründete sich zunächst auf Gottes Wahl und Entscheidung, wie es unübertroffen die Dichtung John Miltons im 17. Jahrhundert darzustellen versuchte. Das Volk wurde aus der wachsenden Gemeinschaft der Großfamilie, des Stammes geboren. Politik, so sie auf bleibende Zustände aus ist, muß eingewöhnt, aber ebenso auf kleinere oder größere Sachzusammenhänge, wie wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks im Deutschen sagen, aber auch personhaft faßbar sein. Sonst führt sie in Verfall oder Revolution. In der Geschichte ist das erste insgesamt häufiger, das

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letzte seltener gewesen. Doch eine Umkehr dieser Aussage für die jüngere Zeit und die nächste Zukunft erscheint nicht ausgeschlossen. Die Menschen verharren im Gewohnten. Aber sie wollen doch immer auch Abwechslung, Wechsel, Erhebung über den Alltag in seiner dauernden Gleichförmigkeit; sie möchten Neues erleben. Das läßt sie Feste begehen und immer wieder über die Stränge schlagen, Unterhaltung und, wenn es hoch kommt, auch Erhebung suchen. Aus Spiel kann Ernst werden oder auch leichter Sinn erstehen, der sich auf alle nur denkbaren Arten gut zu tun unterfängt. Wiederholungen des seltenen Besonderen stellen sich dann wie von selbst ein. Das ist im Sozialverhalten der Menschen nicht anders als im Sexualverhalten. Zu allen Zeiten unter allen Kulturen bilden sich trotz auffallender Differenzierungen im Grunde auf Dauer wenige Grundformen aus, die von Zeit zu Zeit wieder durchbrochen oder heimlich oder offen in Frage gestellt werden. Man kann Zügellosigkeit hervorheben1; doch Regelungen bleiben Ausgang, Hintergrund und Sinnbestimmung. Gefühle sind im Spiel und immer an Gemeinschaftsbildung beteiligt. Man darf wohl sagen, daß aus Gewohnheiten verschiedener Menschen in steten überschaubaren Begegnungen ebenso gesellschaftliche Institutionen hervorgehen2 wie aus der Wahrnehmung ständiger Interessen und Lebensweisen. Das unbestimmte Neue kann bewußt oder unbewußt Angst verursachen, die Stimmungen des Menschen niederdrücken,3 gar ein Kollektiv beherrschen. Daß die jüngere, schier grenzenlose Entfaltung moderner Massenmedien zur Stärkung von Gefühlen wie von Empfindlichkeiten beitragen, kann eine Allerweltsweisheit genannt werden. Werbung wie politische Propaganda bedienen sich dieses Mittels. Von allem gibt es indessen aber immer wieder Ausnahmen. Allerdings bleibt es schwierig, genau zu erkennen und zu beurteilen, welche Kräfte Menschen zu einem Ziele bringen und an welche „Bewegungen oder Handlungen … der Mensch sich angleicht oder auf die er antwortet“. Vielleicht scheint es eine

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weise Erklärung, daß es Perioden gibt, „in der die ‚Individualisten‘ dazu bereit sind, ja sogar sich danach drängen, sich einer Person oder Personengruppe oder einem Prozeß unterzuordnen. Diese zur Unterordnung Bereiten lassen somit Gestalten oder Prozesse ihrer Umgebung so auf sich wirken, daß sie von diesen zu Bewegungen und Handlungen angetrieben werden …“.4 Man kann dies wahrscheinlich auch noch anders und von einem anderen Standort aus in einer anderen Perspektive formulieren und die jeweiligen historischen Medien berücksichtigen, die im Spiele sind. Die Menschen tun und denken, erdenken und erfinden, finden und suchen unaufhörlich unendlich viel. Doch was währt, Bestand hat, sich behauptet und Folgen zeitigt oder in Vergessenheit gerät und womöglich aus der Vergessenheit später einmal wieder hervorgeholt oder gar neu entdeckt wird, erneut wieder zum Vorschein kommt und erneut Folgen hat, bleibt ungewiß, unsicher, unvorhersagbar. Alles Menschsein tendiert wie alles Leben zur Überproduktion. Sinnfindung erscheint nur nachträglich möglich. Das erklärt und rechtfertigt Geschichte. Es drängt die Verstandeskraft, eine Logik zu entdecken, die unstrittig ist. Doch auch dies bleibt Versuch mit unsicherem Ergebnis. Es kommt letztlich darauf an, Anfang und Ende miteinander zu verbinden. Beide liegen im Ungewissen. Doch kann das Denken all dies vermitteln. So vermag es zu klären, wenn auch nicht zu erklären. Das verweist auf ein Wort, das es wieder in helles Licht setzt: Cogito ergo sum. Doch bleibt die „Lesbarkeit der Welt“ begrenzt, wie gesagt worden ist. „Es war eine Konsequenz, nicht ein Einhalt des biblischen Schöpfungsbegriffs, daß der Befehl Gottes zum Werden der Welt die Unbefragbarkeit eines Befehls nach Gründen hatte. Was es jedoch bedeutete, die Welt sei das absolute Dekret des absoluten Willens, das trat erst allmählich und unter Anstrengungen der Formulierung zutage. Nicht zuletzt deshalb, weil das ursprüngliche Interesse im Christentum mehr auf den Untergang der Welt als auf ihre Entstehung gerichtet war, wie man am Desinteresse des ganzen Neuen Testaments an der bi-

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blischen Kreation ablesen kann. Mit dem unvorhergesehenen Fortbestand aber wurde wichtig, was es mit dieser Welt auf sich hatte und was aus ihrer unverhofften Solidität zu folgern sei“.5 Die Erkenntnis der Außenwelt etwa durch den Physiker ist „immer nur eine gewisse mehr oder weniger unsichere Botschaft oder, wie es Helmholtz einmal ausgedrückt hat, ein Zeichen, das die reale Welt ihm übermittelt und aus dem er dann Schlüsse zu ziehen versucht, ähnlich einem Sprachforscher, welcher eine Urkunde zu enträtseln hat, die aus einer ihm gänzlich unbekannten Kultur stammt“.6 Doch alle Metaphorik „setzt das Verhältnis einer Person in ihrem möglichen Ausdrucksverhalten zu anderen Personen voraus, den Weltgrund also als extrovers und expressiv, beide Seiten als geeinigt oder zu vereinigen in ihrem Bedürfnis nach Kenntnis voneinander, Verkehr miteinander“.7 Das Problem bezieht die Kommunikation, das Verhalten der Menschen mit ein. Doch die Menschen haften mit allen Fasern ihres Seins am Gewohnten, Erlernten, Erfaßten, Herkömmlichen, das sie gesichert wähnen und als dauernd annehmen. Aber sie verlangen nach Unterbrechung, Wechsel und häufiger Abwechslung, Ablösung aus dem Alltag mit seinem ebenmäßigen Verlauf und als Einzelne in Gemeinschaft nach Anspruch, Anregung, Erhebung wie Unterhaltung. Nirgends in Europa erscheint die Verbindung von Kampf- und Siegesritualen in Jahrhunderte alten Volksfesten und Tänzen stärker und eindrucksvoller erhalten als im südlichen Spanien etwa zwischen Valencia und Sevilla. Römische wie vorrömische, maurische wie christliche, kirchliche Elemente erscheinen zu unauflösbarer Einheit verschmolzen. Feste waren schließlich von erheblicher allgemeiner politischer Bedeutung während der Ratifikationsperiode der Unionsverfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika 1787–1789.8 Diesem Vorbild folgten die Marsfeld-Feiern im revolutionären Paris am 14. Juli 1790 und wieder 1792. Feste – den einzelnen erhebende, in Gemeinschaft einbindende begeisternde Feste – bedeuten gesteigertes Menschsein, das ganz und gar Unalltägliche, Ungewöhnliche,

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Besondere. Sie konzentrieren sich an numinosen Orten oder überhöhen über jedes Maß hinaus bestimmte Orte der Erinnerung. Phänomene und psychische Effizienz verweisen ins Transrationale. Doch im letzten trägt auch das Bewußtmachen oder Bewußtwerden der Geschichte hierzu bei. Es kann vertiefen wie erheben, kalmieren wie erregen. Vermessen wäre es, eine eng wirkende, aus bestimmter Fragestellung entwickelte Methodik hier schon als Geschichte anzusehen. Die schweifende Phantasie erbaut neue Reiche, führt eine besondere Existenz, gestaltet sie aus neben der Realität, aber doch in kunstvoller Darstellung ausgewählter Momente oder Elemente. Wie die Hinwendung zu den Göttern so lenkt die Kunst und Technik medial gestalteter Dramatik die Menschen. Ob „Ablenkung“ oder „Richtweisung“ – ganz gleich, die Menschen folgen ihr. Die Leistungen der Künstler und Techniker in ihren besten Erzeugnissen sind nicht geringer zu erachten als antike Tragödien und Komödien. Doch heute herrscht eine profunde Diversität. Wiederholt ist versucht worden, sie in eine übergreifende Einheit zu bannen. Aus den Götterbildern und aus den Dramen der Griechen traten menschliche Gestalten, die der Frauen zuerst, in die Bilderwelt farbiger Personen, die die Malerei über Jahrhunderte vielfach nachempfand, in Gärten und Landschaften, paradiesischen Umgebungen und schließlich in düsteren Schluchten urbaner Gebilde in nicht endender Vielfalt darstellte. Die Malerei wurde zur ersten der Künste, die sich seit Gotik und früher Renaissance auf zahlreichen Stufen entwickelte. Gestalt und Farbe bestimmten die Kunst menschlichen Ausdrucksvermögens. Die Dichtung färbte sich ein. Dramatik wie Lyrik entwickelten sich formenreich und ausdrucksstark – als ob sie einen Blick ins Paradies würfen. Dies, das Paradies, kehrt auch unter diesem Namen gegenständlich in Erscheinung. Und das „verlorene Paradies“ öffnet den Sinnen wie Gedanken neue Weiten, wie John Milton in dem an Anregungen wie Erregungen reichen England des 17. Jahrhunderts gezeigt hat. Die ganze erkennbare Wirklichkeit sollte schließlich darge-

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stellt, wenn auch immer künstlerisch stilisiert werden. Wenn es ein „philosophie anatomique“ gab, die eine Organisation aller Lebewesen erkennen wollte, dann sollte es auch leistungsmächtigen Schriftstellern gelingen, eine Anatomie der Gesellschaft in beobachteten und hingebungsvoll beschriebenen Personen und Ereignissen darzustellen. Das war die große Stunde des bürgerlichen Romans von Laurence Sternes „Tristram Shandy“ (1760–67) bis zu den großen französischen Autoren Balzac, Stendhal, schließlich Zola, denen in Deutschland Goethe, Fontane, Thomas und Heinrich Mann, in Rußland der vielseitige Puschkin, Dostojewski und Tolstoi, im Norden Hamsun an die Seite traten, um nur einige Namen eines geistes- und literaturgeschichtlichen „langen“ 19. Jahrhunderts zu nennen. Kunst beruht nicht nur auf Empfindungen, die sich auf höchst individuelle Weise auszudrücken versucht; sie steigert sie auch. Dies zeigt nach der Dichtung vor allem die Entwicklung der Musikkultur im 19. Jahrhundert und noch im 20. Und der ausführende Künstler, Musiker, Sänger, steigerte weiterhin, wie schließlich die Sängerin Maria Callas die gefühlvollen Texte in der an Stimmungsvariationen reichen Opernmusik Verdis oder Puccinis mit ergreifender Kraft zum Ausdruck brachte, gar triumphieren ließ – „gli spasmi del dolore“, wie La Traviata sang. Vielleicht bietet die Musikkultur zwischen 1800 und 1960 die besten Beispiele für unsere Version. Was zur Wahrnehmung gelangt, wenn auch zunächst nur momentan, aber dann durch technische Mittel festgehalten und auf Dauer gepreßt wird, bezeugt eine sich fortlaufend steigernde filigrane Vielfalt menschlichen Ausdrucks- wie Empfindungsvermögens. Das Publikum nimmt auf unbestimmte Weise Anteil. Was den einzelnen in Stimmungen versetzt, beeinflußt, gar bildet oder nur erregt, bleibt ungewiß. Die Manifestationen des Zeitalters des Nationalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurden durch Gleichzeitigkeit und fortwährendes Ineinanderwirken vorangetrieben. Den von Rousseau und Herder ausgehenden Anstoß hat schon vor und nach dem ersten Weltkrieg ein französischer Autor um-

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schrieben: Ernest Seillière, der trotz seiner groß aufgelegten, zum Teil in mehrere Sprachen übersetzten mehr als 40 Werke heute fast vergessen ist und der gar nicht über Nationalismus handelte, sondern über die „Psychologie des Imperialismus“, wie er sein Thema nannte, im Grunde über romantische Mystik, wie er sie auffaßte, „mysticisme romantique“, seit Rousseau, dem „Messias der neuen Religion“ und ihrer „ramification sociale“, Fourier, Proudhon, Karl Marx, Ferdinand Lassalle, „sa forme raciale chez Gobineau, Renan, Houston Stewart Chamberlain“ und schließlich neben einer „direction estétique et passionnelle“, die er bei Goethe, Stendhal, Schopenhauer, Tolstoi, Nietzsche, William James und einigen anderen beobachtete.9 Auch diese Angabe eines Beginns, wenn auch nicht einer universellen, weltweiten Strömung zielte auf die Mitte des 18. Jahrhunderts oder kurz davor und auf Rousseau. Ob treffend oder nicht, durch Montesquieus „Geist der Gesetze“ ist die Teilung der Gewalt des Staates in das europäische Denken eingesenkt worden. Dies hatte weitreichende Auswirkungen in der Geschichte der Verfassungen des modernen Staates. Die begriffliche Distribution von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion gehört zu den Prinzipien der jüngeren Staatengeschichte. Aber die Staaten sind im wesentlichen Habitus allesamt als Nationalstaat gedacht und entwickeln sich immer noch als Nationalstaaten. Globale Verhältnisse setzen allerdings die Teilung der Gewalten zusehends außer Kraft. Beispiele lassen sich fast tagtäglich registrieren und stimmen nachdenklich. Der Palästinenserführer Arafat fährt nach Peking und beschwert sich über die Politik und Regierung Israels. Damit bringt er China vielleicht gegen Nordamerika auf. Doch das ist nicht nur die Außenpolitik einer Exekutive. Die Parlamente – und Regierungen – finden sich vor vollendeten Tatsachen und können nur noch reagieren. Dies ist nur ein Beispiel von vielen. Die Globalisierung hat die Staatengrenzen weitgehend abgeschliffen oder entwertet. Aber auch die historischen Staatenorganisationen verlieren ständig an Bedeutung. Frage bleibt, was sie überhaupt noch zu leisten vermögen. Die Antwort hierauf hängt wohl von

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den Fakten ab, die sich im Gefolge der globalen Entwicklung ergeben werden.10 Die großen sichtbaren Organisationen selbst erscheinen bislang eher schwach als stark. Allenfalls Parteiungen, Bündnisse innerhalb der Weltordnung haben einige Durchsetzungskraft bewiesen. Was die Zukunft bringen wird, bleibt offen. Seit langem sind indes zwei wesentliche fortschreitende Veränderungen zu verzeichnen: einmal die gewaltigen Fortschritte in vielen technischen Bereichen, alsdann die an Rapidität zunehmende Vermehrung der Erdbevölkerung, die allerdings ohne den erstgenannten Fortschritt gar nicht denkbar gewesen wäre, wie diese anderseits auch nicht ohne den zweiten. Beide bedingen einander. Unter den historisch eindeutig kaum oder nur schwer bestimmbaren Unterschieden ethnischer Art, von Traditionen und Gewöhnungen bleiben greifbare Kontraste mit offenkundig anhaltender Wirkung: der Einfluß der See – Seefahrer und Hochseefischer, Überseehandel und von ihm ausgehender Handel auf Landwegen, sowie Bevölkerungskonzentrationen in wachsenden Städten nach Lösung von Grund und Boden und Lockerung der Agrarstruktur – damit verbunden die Entwicklung der Gewerbe und in einer wachsenden städtischen Bevölkerung, am Ende dieses Jahrhunderts auch in Riesenstädten mit weit mehr als 10 Millionen Einwohnern, soweit Volkszählungen überhaupt noch möglich sind und durchgeführt werden (etwa Kalkutta, Peking, Tokio, Istanbul, Kairo, auch schon Los Angeles). Es ist schlechterdings nicht möglich, eine große Gruppe von Menschen, die in angewöhnter Indifferenz miteinander in Beziehung steht, für längere Zeit in einheitlichen Auffassungen und Neigungen zu binden. Frage bleibt, ob man ihnen nicht durch zweckbewußte Dispositionen auf kürzere oder gar längere Sicht Gewohnheiten beibringen, also anerziehen kann. Auch die totalitären Systeme bewegten sich, freilich unausgesprochen und wahrscheinlich ohne entsprechendes Bewußtsein, auf dem Boden dieser Fragestellung. Die europäischen Mächte haben die Welt erkundet und ihren

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Zwecken zu unterwerfen versucht. Doch auch alte Kulturen wurden zur Erneuerung und Entwicklung gebracht, etwa in Italien, in Israel; aber auch andernorts ist noch nicht aller Tage Abend. Daneben bestehen unentwickelte Zonen in alten Formen weiter. Die Spielarten mehren sich. Der Globus ist erschlossen; doch viele Reiche bestehen nebeneinander. Des Thukydides Wirkung war bedeutend und anhaltend sowohl in römischer Zeit als auch in der Neuzeit. Ins Englische übersetzte ihn Thomas Hobbes, ehe er eine zeitgeschichtliche Erörterung des englischen Bürgerkriegs in Dialogform verfaßte, die erst nach seinem Tod erschien.11 „Homo hominis lupus“, hat Hobbes seine Erfahrungen, Einsichten und Ansichten in einem einzigen, ungemein kühnen Ausdruck zusammenzufassen versucht. Was ist „das Böse“ im Menschenleben? Hannah Arendt hat in ihrem Totalitarismus-Buch das Böse nach kantischem Denken als Zerstörung der Moralgesetze und als Widerpart rechtlicher Kategorien und menschlicher Urteilskraft verstanden. In dem Buch „Eichmann in Jerusalem“ und danach äußerte sie, daß nur das Gute in der Tiefe wurzele und radikal sein könne, während das Böse keine Tiefe, keine Dämonie, keine Verwurzelung besäße, sondern pilzartig wuchere, nur extrem sein könne. Es erwachse aus dem Nicht-Nachdenken. Ein Atavismus aus vorgeistiger, antihumaner Zeit also? Es gibt doch auch rationale Bösartigkeit und Stufen oder Grade menschlicher Rücksichtslosigkeit. Verknüpfungen, Verbindungen bilden sich aber auf verschiedenen Stufen. Eine scheinbare „Banalität“ des Bösen mag es wohl gelegentlich geben. Hiervon unabhängig ist die Entdeckung, im Grunde eine schreckliche Entdeckung, daß der Staat, die einstweilen größte artifizielle Leistung der Menschen, böse sein oder böse werden kann, sobald Bösartigkeit regiert und sich an der Macht zu halten weiß. Das bedeutet, daß der Staat Menschen, womöglich gar viele bösartig werden läßt oder machen kann, gar Grausamkeiten zuläßt oder fördert. Grenzen der Demokratie werden überall dort sichtbar und fühlbar, wo sie die Integrationskraft einbüßt, so daß aus ihr ein

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Zwangssystem erwächst oder die offene Diktatur an ihre Stelle tritt oder sie zur bloßen Herrschaft der Dummheit, zur Bewahrung des formalen Majoritätsprinzips bei subversiver Tendenz der Maßstäbe herabsinkt, was Gesellschaft wie Staat zugrunderichten kann. Nach den Erfahrungen im 20. Jahrhundert bleibt die Erkenntnis, daß in Diktaturen das drohende Gespenst eines Individuen verachtenden und vernichtenden Totalitarismus umgeht. Hannah Arendt hat dies als globale Tendenz beschrieben, die sich in den Massen der klassenlos gewordenen Gesellschaft aus Gelegenheitsbündnissen von „Mob und Elite“ nährt.12 „Wir werden zu entdecken versuchen, … was die Staaten erhält oder verdirbt …,“ formulierte Aristoteles die große Aufgabe in der Nikomachischen Ethik.13 Ich wüßte nicht, was unsere Zeit dieser Aufgabe enthöbe. Aber Aristoteles sagt auch: „Wer immer untersuchen will, welches die beste Form des Staates ist, muß feststellen, welches die beste Form des Lebens ist“.14 Diese Aufgabe führt in die Anthropologie. Auf Verständnis und Entwicklung von Kommunikation und Organisation, auf Gesittung und Würde15 kommt es an. Dies ist Kultur, freilich „ein Thema für den Verstand, zu stark für die Phantasie“, um es mit John Donne zu sagen. Von der griechischen Polis leitet sich ein Doppelbegriff her, der die tradierte Gemeinschaft und gleichermaßen die verfaßte aktive Ordnung als Subjekt gegenüber anderen vergleichbaren Subjekten erfaßt, polis und politeia: die Politik.16 Das entstammt einer archaischen, aber überaus folgenreichen Anschauungsweise, deren dualistische Spaltung und fortgesetzte Problematisierung dem Begriff schweres Gewicht geben. Wesen und Möglichkeit von Gemeinschaft, die politisch genannt werden darf, stellen sich in der Weite der Geschichte nicht weniger vergangenheits- und überlieferungsverhaftet und dennoch in allmählichem Wandel befindlich dar als die Formen der Verfassung, Regierung und Herrschaft. All dies ist Geschichte, aus der nichts herausfällt oder hinaustritt. Vor allen Fragen nach einer Zukunft erheben sich immer erst die nach dem Was und Wie des Gewesenen und Gewordenen. Zwischen

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beiden liegt das, was wir Gegenwart nennen und von unbestimmter Größe ist. Recht und Verfassung sowie ihre Organe – denotierte wie in praxi noch entstehende – sind stets Erzeugnisse der historischen Gemeinschaft, selbstredend auch in jenen Teilen, die sich gar nicht in irgendeiner Weise der Gemeinschaft, Staat, Land, Verwaltung etwa zuwenden sondern dem Individuum, die seine Freiheiten und Rechte betreffen, es schützen und seine Entfaltung gewährleisten. Ganz gleich, ob im Denken der Juristen eine Vertrags- oder eine Konfliktstheorie17 zugrunde gelegt wird, des Konstruktes einer gesellschaftlichen Konvention bedarf es allemal, um eine Brücke von der juristischen Figur des Individuums zur Gemeinschaft zu schlagen – oder ihrer Organisation, dem Staat, der Kirche, der Kommune, den Parteien, Verwaltungsinstanzen, Interessengruppen, ständischen oder quasiständischen Vereinigungen, Vereinen, Familienverbänden und andern Zusammenschlüssen. Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig, deutet aber doch die Vielzahl der gesellschaftlichen Bindungen an, die den Einzelnen erfassen oder doch erfassen können. Ein hierarchischer Bau, der den Einzelnen übergeordneten Instanzen unterwirft, bleibt in der differenzierten Gesellschaft der Moderne – sogar in sich entwickelnden Gesellschaften außerhalb Europas und Amerikas – Fragment oder doch Ausnahme, bestimmt jedoch keinesfalls die Regel. Aber man kann gemeinschaftsstiftende oder -stützende Institutionen von solchen unterscheiden, die den Rechten und dem Schutz des Individuums dienen; und es mag auch eine Hierarchie der Werte nach der einen oder anderen Seite hin geben. Der Kreis der Betrachtung läßt sich noch weiter ziehen. Auf der einen Seite existiert und formiert sich Gemeinschaft, enge und engste Verbindung von Menschen von Anbeginn oder dauernde und bleibende Annäherung zueinander in Verwandtschaft, Freundschaft, Liebe, Harmonie, Kommunikation. Dies erleichtert das Leben oder ermöglicht es erst. Das Empfinden der Fremdheit führt aus diesem Beziehungskontext hinaus oder stört ihn. Latente oder virulente Neigungen zu abwehrenden

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Reaktionen bestimmen gleichsam einen Gegenpol. Das läßt sich seit alters her in der Geschichte der Völker wahrnehmen und reicht bis in die bedrängendsten Erscheinungen des modernen Nationalismus oder was hierzu denotiert wird. Im Märchenreich und in der kindlichen Erlebniswelt gibt es das, was im Deutschen als „Gruseln“ bezeichnet wird. Es drückt den Schauer vor dem Unbekannten aus, das sich dem Einordnungsversuch versagt. Ähnliches gilt für das Grauen früher Völker vor unbeherrschbarer Wildheit, die in Märchen und Mythen dargestellt, gleichsam aufgefangen wird.18 Die Reaktionen beschreiben eine ganze Skala von Äußerungen, die von akzentuierter Gleichgültigkeit bis Angst und Haß reichen; dieser steigert sich seit je, nicht erst im 20. Jahrhundert immer wieder bis zu brutalem Vernichtungswillen. Kultur und Zivilisation vermögen zu sublimieren, im günstigsten Falle atavistische Neigungen gänzlich zu unterbinden und auf die Grundempfindung auskömmlicher Toleranz hin zu neutralisieren. Natürlich kommt auch ein Umschlagen der Fremdheit, gar der Feindschaft in Freundschaft vor oder ihre Umwandlung zu fortschreitender Annäherung. Dies alles beweist, daß die Menschen nur in Kommunikation und in Gemeinschaft existieren. Auch das einsame Leben von Daniel Defoes Robinson Crusoe in dem berühmtesten Roman der Aufklärung gelangt schließlich im Gespräch und im Bildungsbemühen mit dem Eingeborenen Freitag zur Reifung, Einsicht und Vollendung. Diese Weisheit überzeugt. Die Entfaltung des Individuums – jeder Individualismus – bedeutet Leben, ermöglicht mithin Entwicklung, die Gemeinschaft aber erst Dasein auf Dauer. Entscheidend an der Entwicklung einer Geschichtswissenschaft ist der Gewinn der Fähigkeit zum Wiedererkennen und zur Selektion von Themen aus komplizierten Zusammenhängen einer schier grenzenlosen Weite, was etwas anderes ist als das Bilden von Analogien oder auch das Vergleichen nach Merkmalen, die sich leicht und häufig finden lassen. Auf der Suche nach Orientierung und nach neuen Informationen ma-

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chen sich Erinnerung und wissenschaftliches Gedächtnis fortgesetzt neue Begriffe von der Welt. Dies gilt auch im Hinblick auf Beschreibung und Präzisierung der komplexen Erscheinungen, die wir Nation beziehungsweise Nationalismus nennen. Das letzte kann Nationsbildung, aber auch expansive, gar aggressive Festigung, Sicherung, auch Ausbreitung der mit der Kategorie „Nation“ bezeichneten, bereits existenten Gemeinschaft bedeuten. Die Unterschiede, die gemeint und nachzuweisen sind, erscheinen deutlich, die Übergänge in der realen Geschichte hingegen schwimmend und mitunter mehrdeutig. Die Nation engsten und ältesten Sinnes ist weithin in Auflösung begriffen oder weicht religiösem Fundamentalismus.19 In Ost- und auch Ostmitteleuropa erscheint sie in neuen Formierungen, was in alte und neue nationalistische Gegensätze führen kann. Wie lange dies anhält, wissen wir nicht. Offenkundig ist aber auch ein Wandel des Staates in seinen Realitäten, den der Begriff kaum ahnen läßt und der weit über das hinausgeht, was Verfassungen besagen oder anzeigen. Das geographisch begrenzte Monopol der Macht, als das man den Staat begreift, bedeutet häufig noch viel, mitunter aber auch nur wenig. Vermag sich dieses Monopol nur bedingt oder kaum noch zu behaupten, sind starke, womöglich überlegene Konkurrenten im Spiel. Zudem hat sich die Zahl der Staaten auf der Erde, die auf ihre Unabhängigkeit und auf völkerrechtliche Handlungsfähigkeit bedacht sind und ein vielfältiges Netz von Beziehungen geschaffen haben, stetig vergrößert, schließlich vervielfacht. Das gegenwärtige Zeitalter wird neuerdings im Lichte von „Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung“ von Nationen und Nationalitäten betrachtet, die „oft jahrzehnte- und jahrhundertelang“ in größeren Staaten zusammenlebten, die nunmehr auseinanderbrechen.20 Gewiß ist auch heute noch der Nationalismus „eine politische Kraft, welche die Geschichte Europas und der Welt … vielleicht stärker bestimmt hat als die Ideen der Freiheit und parlamentarischen Demokratie …“.21 Doch es wäre ein Fehlschluß, die vielfach mit neuen Konflikten

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verbundene Aufnahme des Begriffes der Nation, die Forderung nach Selbstbestimmung und den Anspruch auf nationalstaatliche Souveränität ganz in den Linien einer eingefahrenen mehrhundertjährigen europäischen Tradition zu sehen. Es geht häufig auch hierbei nur um Aufstiegsprobleme anspruchsbeladener Personen und Gruppen, die sich vordem in politischen Parteien, wo diese eine Tradition entwickeln konnten, oder in den Kaderorganisationen eines Klassenkampfes oder in militärischen Rängen oder militanten Banden in totalitären Formationen durchsetzten. Sie ziehen die engeren, noch existenten Gemeinschaften einzelner Ethnien mit sich, die souveräne Handlungsfähigkeit erlangen wollen. Nation erwächst aus dem historischen Herkommen. Die jeweilige Analyse der Zusammenhänge bleibt infolgedessen ständiges Erfordernis. Gewiß funktioniert etwas, das man in der älteren Geschichte „Patriotismus“ genannt hat. Die erfahrene vorhandene, also konkrete Gemeinschaft besitzt Vorrang im Verdichtungs- wie im Expansionsprozeß mit jeweils entsprechender Programmatik. Exaltationen mit drastischen Folgen, Zusammenbruch, verlorener Krieg usw. schaffen Auswege in eine zuvor noch nicht erreichte Auflockerung der Gesellschaft, in kultivierten Individualismus, intelligente Demokratie und in eine kompliziertere Staatsorganisation. Aber auch diese bedarf letztlich der Tragfähigkeit in breiter Gemeinschaft; sonst bilden sich eigenartige, extrakonstitutionelle oder „nongovernmental“ Organisationen, Sekten, gleichsam politisch autonome Organisationen, deren Grundlage ein starkes, auf Isolation und Idealisierung zielendes konstituierendes Gemeinschaftsgefühl ist. Eine Skala ließe sich denken, die ansetzt bei dem bloßen Territorialverband unterschiedlicher Stämme und Völker verschiedenartiger Kulturentwicklung und vorübergehend – gar nicht lebenslänglich – Ansässiger fremder Volkszugehörigkeit, wofür innerhalb der ehemals kolonialen Zone das Beispiel Namibias steht, dessen innerer Zusammenhalt, so es einen gibt, lediglich durch Verkehrsverbund und Wirtschaftsaustausch über verschiedenartige Produktionsstufen, in gewissem Umfang durch

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moderne Technik und neuerdings durch eine einheitliche Rechtsordnung gewährleistet ist. Die Skala reichte auf der anderen Seite etwa bis zu der im Glauben wie im Wirtschaftsprozeß fest gefügten, in Sprache, Kult sowie weiteren Überlieferungen teils mythischer Art oder mit mythischem Hintergrund homogen gebildeten, besser noch: gebliebenen Gemeinschaft, die Anspruch macht, innerhalb fester Grenzen Volk wie Staat in einem zu sein, etwa Bhutan, das – lange Zeit ohne eigene Außenpolitik – Existenz und Unabhängigkeit des einstigen Drachenreiches über Jahrhunderte beharrlich behaupten konnte. Institutionen und Rechtsordnung ergeben sich aus überlieferten Sitten und invariablen Anschauungen, unabhängig von Art und Umfang schriftlicher Niederlegung. Man sieht, daß sich hier ein weites Feld für Ethnologen und Soziologen auftut. Die auch manche Sozialgeschichte verpflichtende Vorstellung von einem alles übergreifenden Prozeß der Zivilisation in Gestalt permanenter Wandlung, Modernisierung genannt, wie ihn – wenn nicht zuerst so doch am wirkungsvollsten – Norbert Elias aufgezeigt hat,22 stößt auf Gegenpositionen in der Darstellung und Erforschung der Mythenwelt durch Lévi-Strauss, die in allen Veränderungen und Wandlungen das Dauernde zum Ausdruck bringt und als kulturstiftend annimmt. Auch Historiker in der Ägyptologie und Orientalistik sind diesem Wege schon gefolgt, sprechen von Mythomotorik und Hypolepse der Kultur,23 schöpferisch in modernen Ausdrücken, die indessen in einen weiten Hintergrund verweisen, vor dem alles Politische fast grenzenlos zu schrumpfen scheint. Das bedeutet nun nicht, daß diese Ansichten und Einsichten „richtiger“ oder „wahrer“ sind als antithetische. Aber es bleibt bemerkenswert, die Tatsache abwägenswert, ob sogenannte „primitive“ Erfahrungsäußerungen und Überlieferungen weiter von einer wirklichen Wahrheit entfernt sind als etwa die in den europäischen Völkern geläufigen. Staatliche Ordnung ist in der bisherigen Geschichte das verläßlichste Kunstwerk, das aus der Existenz historischer Gemeinschaften hervorgegangen ist. Allerdings bleibt dieses Urteil in

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hohem Grade relativ. Die Staatenwelt, ja das Kaleidoskop der Staaten hat sich in der Geschichte vergrößert und nimmt offenbar fortgesetzt vielfältige Formen an, die, ihren Eigenarten, Strukturen, Verfassungen und gemeinschaftsbezogenen Fundierungen oder Legitimationen, auch ihrem praktischen Inerscheinungtreten nach immer mehr reale Differenzen aufweisen, sich immer deutlicher voneinander unterscheiden, trotz mancher Vergleichbarkeiten voneinander entfernt. Sie haben viele verschiedenartige und – seit der Entbindung aus vorstaatlichen Gemeinschaftsformen – unterschiedlich dauernde historische Überlieferungen hinter sich, häufig auch hinter sich gelassen, entschwinden lassen. Es erscheint in dieser Zeit weitaus schwieriger als je zuvor, eine Gemeinform des Staates zu bestimmen oder eine allgemeine, gleichartige Genese seiner Konstituierung zu erkennen und zu beschreiben. Das den ganzen Globus erfassende Beobachtungsfeld, das freilich unterschiedlicher Aufmerksamkeit ausgesetzt ist, liefert zahlreiche Stoffe und Anregungen zum Nachdenken, entzieht sich jedoch einstweilen dem am Alltag der europäischen Erfahrungswelt gebildeten Urteilsmodus. Das hat die Europäer, soweit sie überhaupt an auswärtige Verhältnisse, gar an weit auswärtige Verhältnisse – nicht nur an „Beziehungen“ – dachten, in aller Regel kaum belastet oder gar gestört. Aber einige für die „Weltöffentlichkeit“ überraschende Konflikte haben nun doch erwiesen, daß die weiterhin fortschreitende Genese im Prozeß des Werdens und des Zerfallens der Staaten zu nicht vorhergesehenen Krisen auch in den Beziehungen der Weltordnungsmächte führt. Im Grunde folgte diese Belehrung schon aus den Verwirrungen, die der Vietnam-Krieg auslöste; ja, sie hätte ihn verhindern können. Aber der Bürgerkrieg in Somalia, der tschetschenisch-russische Konflikt und schließlich der Krieg in dem auseinandergebrochenen, immer nur unter Diktaturen existierenden Jugoslawien fordern eine Neuorientierung. Die im zweiten Weltkrieg vorbereitete und aus ihm hervorgegangene Weltneuorganisation der Staaten in Gestalt der Vereinten Nationen ist sichtlich an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gedrängt. Die balkanische Krise

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der Jahre 1994/95, der Kosovo-Krieg 1999 und der dritte Golfkrieg 2003, was nicht die letzten weltpolitischen Krisen gewesen sein dürften, vergegenwärtigten jedem, der sehen konnte – und dies ermöglichte der Medienbetrieb einer ersten Stufe des „Cyberspace“ –, das Ausmaß konträrer Wirkungen moderner Aktionen in weltpolitischer Absicht einerseits und militärischer Aktionen mit ethnozentrisch-nationalistischer – „völkischer“ – Begründung anderseits. Wer wollte hier schon ein Ende voraussagen? In der Tat ergibt sich ein tiefreichender Unterschied zwischen dem intakten engen Zusammenhalt, den man herkömmlich Gemeinschaft nennt, community, zadruga, mir usw. – sei er nun historisch tradiert oder erlebnisbedingt oder durch Glauben und Kirche erhalten und gefestigt oder alles dies gemeinsam – auf der einen Seite und dem, was wir Gesellschaft nennen, auf der anderen, dem jeweils in actu vorgefundenen Gesamtbild menschlicher Verbindungen und Tätigkeiten, die sich in einem räumlichen Rahmen, örtlich, regional, landsmannschaftlich oder staatlich bestimmt, abgrenzen lassen. Legitimation von Herrschaft stellt eine Seite der Verbindung von Staat – oder politischer Ordnung, die Polis im Großen gedacht, – und Gemeinschaft habenden Individuen dar, den „Staatsbürgern“ gemeinem Begriffe nach. Die andere ergibt sich aus dem auf Dauer bedachten Erhalt nicht nur der „Herrschaft“ sondern des Gesamten der politischen Ordnung einer Gesellschaft, die, wie wir gesehen hatten, in der Geschichte fortgesetzt größer und umfangreicher geworden ist, sowohl im Hinblick auf die Größe der geographischen Weltregionen als auch auf die der Menschenzahl. Immer wieder haben sich zwei verschiedene Typen, in zeitlichen Grenzen auch Volkstypen, des aus dieser Problematik resultierenden Bestrebens herausgebildet. Auf der einen Seite erscheint totalitäre Statik als Garantie der Systemerhaltung unter Anwendung vieler, im 20. Jahrhundert vor allem technisch fortentwickelter Zwangsmittel unter Gewalt bis zur planmäßigen Massenvernichtung, um wirkliche, potentielle und sogar imaginäre Widerstände auszuschalten. Das ist im Fall der systemati-

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sierten und technisierten Judenvernichtung durch die nationalsozialistische Diktatur im zweiten Weltkrieg zu einem zeitweilig herausragenden Thema der europäischen Geschichte geworden. Die Armenierverfolgung in der Türkei während des ersten Weltkriegs und die Kulakenverfolgung in der Sowjetunion während der dreißiger Jahre wiesen schon in diese Richtung. Vorgänge nach dem Kriege, dann auf dem Balkan, im Nahen Osten oder in Afrika zeigen, daß die Kette der Beispiele nicht an ein Ende gelangt ist. Auf der anderen Seite steht diesem Typus die Vorstellung einer liberalen Ordnung gegenüber, in der die Zirkulation gesellschaftlicher Kräfte Bewegungen und Aufstiegsmöglichkeiten schaffen, oder anders ausgedrückt, ein stetiger reibungsarmer Wechsel der Eliten vor sich geht und eine durch Konsens und liberale Rechte gesicherte individualisierte Freiheitsauffassung herrscht. Letztlich beruhen Ordnung und geordnete Bewegungen von Gemeinschaften, Gesellschaft und Staat auf der überwiegenden Durchsetzungsfähigkeit moderater oder moderat erscheinender Gesinnungen, auf Dauer und Sicherheit – nach außen wie nach innen – und dem Erfolg besonders leistungsfähiger und vorausschauender einzelner, die sich eines breiten, absichernden Konsenses gewiß sein können. Diese Feststellung begreift sowohl soziologische bzw. sozialgeschichtliche als auch geistige, man mag sagen: ideologische Sachverhalte ein. Die alltäglichen persönlichen Tugenden des Unternehmers, im weiteren Sinne Gewerbetreibenden oder Produktion Fördernden, Politikers, Intellektuellen, Journalisten, Verbandssprechers, Beamten, Managers, die man einem weiten Begriff von „Elite“ zuordnen kann, genügen für die täglichen Leistungen in gewohnten Bahnen, die überwiegend, wenn auch keineswegs ausschließlich ihre Erfolge einer Art Marktgesetzlichkeit entnehmen, wo Angebot und Nachfrage entscheiden. Doch die mögliche und allmähliche Veränderung der wahrgenommenen wie auch der kaum schon wahrnehmbaren Wandlungen erfordert andere Größen.

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Die Existenz einer freien Gesellschaft beruht letztlich auf einer ausreichenden Anzahl frei und vorausschauend entscheidender, umsichtig handelnder und über angemessenen Einfluß verfügender Persönlichkeiten. Man könnte dies den Typus des homo politicus nennen. Dies gilt selbstredend auch für die Wirtschaft und die Bedeutung des Unternehmertums. Alle können am politischen Leben Anteil nehmen; viele üben Tätigkeiten mit Erfolgsaussichten aus, die in irgendeiner Form allgemeinen Nutzen einschließen. Doch wenige erweisen sich imstande, die großen Fragen der Zeit wahrzunehmen und ihnen gerecht zu werden. Die größte Besorgnis einer Gesellschaft müßte demzufolge dem Bemühen gelten, Voraussetzungen und Möglichkeiten zu schaffen, die Gruppe dieser Optimaten der Fähigkeiten des Geistes wie des Willens zu erhalten, zu stärken und ständig zu ergänzen. Das ist etwas anderes als die Pflege historischer Größe. Wir nähern uns mit dieser Einsicht der Vorstellung vom platonischen Ideal des Staates, das aber Weiterungen keineswegs ausschließt. Ernest Renan fand die Antwort: „Der Mensch ist weder der Sklave seiner Rasse noch seiner Sprache, seiner Religion, des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten. Eine große Ansammlung von Menschen, gesunden Geistes und warmen Herzens, erzeugt ein moralisches Bewußtsein, welches sich eine Nation nennt. In dem Maße, wie dieses moralische Bewußtsein seine Kraft beweist durch die Opfer, die der Verzicht des einzelnen zugunsten der Gemeinschaft fordert, ist die Nation legitim, hat sie ein Recht zu existieren. Wenn sich Zweifel über ihre Grenzen erheben, dann soll die betreffende Bevölkerung gefragt werden“.24 Doch hieraus erwuchs das Problem, wie sich Staat und Nation zueinander verhalten, welche Begriffe in welchem Verständnis regulierend und legitimierend bestimmen. Carl Schmitts zeitweilig einflußreiche Lehre ging von der allein „maßgebenden Einheit“ im politischen Charakter des Staates aus und zielte auf Gegensätze und Kampf souveräner Staaten, auf die unüberbietbare Bestimmung von Freund und Feind, „das jus belli, d. h. ihre reale Möglichkeit im gegebenen

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Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen“.25 Diese Theorie mag noch zum Verständnis der Kämpfe und Kriege von Entwicklungsländern beitragen. Es wäre allerdings verfehlt, sie lediglich in der deutschen Geschichte verorten zu wollen. Doch als radikalste Ausprägung nationalstaatlicher Vorstellungen ist sie im Untergang begriffen. Übernationale Unionen, konstituierende internationale Verträge, gar überstaatliche Verfassungen zeichnen sich immer deutlicher ab.26 Gefährdungen wie Formen der Sicherung erscheinen bislang allerdings noch häufiger diskutiert als Fortentwicklungen und Zukunftsperspektiven. Regelmäßig, alle vier Jahre wieder führen in dem länger als einem halben Jahrhundert mächtigsten Staat der Welt, den Vereinigten Staaten, die Vorbereitungen und der Ablauf der Wahlen zum höchsten Staatsamt lebendige Formen einer anschaulichen engen Verknüpfung von Regierung und Bevölkerung vor Augen. Das durch permanente Festlichkeiten, populäre Vergnügungen und professionelle Werbung charakterisierte Szenarium der Vorwahlen und Wahlen zur Präsidentschaft weist deutliche Merkmale eines Volk und obersten Staatsmann vereinigenden Prozesses auf. Nicht nur um das zahlenmäßige Ergebnis wird gerungen, das dann freilich den höchsten Triumph bringt. Der Ablauf des Ganzen gleicht einer stufen- und phasenhaften Hervorhebung der erwählten Persönlichkeit, verleiht eine auch emotional begründete Weihe innerhalb einer sonst nüchternen Umwelt, in der die größte Zahl entscheidet. Großartig inszenierte besondere Amtshandlungen, Proklamationen und Ankündigungen des Präsidenten führen gleichsam diesen Prozeß wieder in die Erinnerung zurück, suchen den Triumph fortzuführen, ihm über die Vierjahresphase hinweg Dauer zu verleihen. Präsident und Bevölkerung erscheinen auf lebensvolle Weise vereinigt. Auch wer darüber spotten mag, fügt sich der Grundregel. An Skeptikern fehlt es wohl nie. Aber die Regel ist seit längerem existent. Das muß bedacht werden, wenn eine auf Summierung und Zusammenfassung ausgehende Darstellung zu geben ist.

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Doch es läßt sich nicht übersehen, daß seit alters transzendentale Bezüge immer wieder eine große, mitunter eine entscheidende Rolle in politischen Konstruktionen spielen. Man kann in rationalistischen historischen Analysen versuchen, sie aufzulösen, ohne einen Rest zu lassen. In jüngerer Zeit ist auch nachgewiesen worden, daß der Aufstieg von Heiligen in der Zeit der Spaltung östlichen und westlichen Christentums im späten Altertum und frühen Mittelalter identisch ist mit der Entstehung persönlicher Einfluß- und Machtkreise, die bedeutsame lokale Funktionen für neu sich festigende Gemeinschaften erfüllten.27 Auch die Frage stellt sich, ob nicht gar einzelne Machthaber in der jüngeren Geschichte in ihrem vermessenen Tun, das den Nachlebenden wahnwitzig erscheinen muß, sich von einer unbeirrbaren Überzeugung leiten ließen, die sie für sich selbst nicht anders als in subjektiver transzendentaler Bezugnahme gewinnen oder festhalten konnten. Wir können dies immer nur mit gegebenen Mitteln klären; denn selbstredend zerfallen auch die offenen Bekundungen in der rationalen Analyse in lediglich zweckorientierte Nichtigkeiten. Daß auch hierin Gefahren liegen, ist vor einiger Zeit hervorgehoben, auf die „totalitäre“ Bedrohung der „freien Gesellschaft“ durch Ersatzreligionen hingewiesen worden, letztlich auf „eine Rückbewegung hin zur antiken Ungeschiedenheit von Polis und Religion, Kult und Politik“.28 Die globale Formenvielfalt von politischen Ordnungen wie Organisationen und Staaten hat sich außerordentlich erweitert und erweitert sich fortgesetzt in immer kürzer werdenden Zeiträumen. Die Genese ist mehrstufig, gar vielstufig, aber das Beharren auf alten Stufen nicht ausgeschlossen. Weltbürgertum, weltbürgerliche Haltung wird wohl immer eine hohe gedankliche Leistung bleiben und Gedankenkraft voraussetzen. Das Denken und institutionelle Sichern von Weltzusammenhängen ist längst erforderlich und auf dem Wege. Doch gruppen- oder gemeinschaftsbildend in bemerkenswertem und historisch relevantem Umfang konnte hiervon im 20. Jahrhundert nichts fruchtbar werden. Ein Bruch durchzieht die heutige Welt zwi-

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schen der Orientierung an übergreifenden, globalen Zusammenhängen und der Suche anderer nach dem festen Halt in überschaubaren und „mit der Muttermilch“ vertraut gewordenen Gemeinschaften. Aus diesem Bruch quillt eine bunte Schar von Globalisierungsgegnern, deren Wege sich schwer einschätzen lassen. In ihrer entschiedenen Ausprägung meint Gemeinschaft, wir können auch von steter enger Kommunikation sprechen, eine stetige Spannung, die Individuen aneinander bindet. Diese Spannung übertrifft im Konfliktsfalle rationale Motive und auch primäre Interessen, sie schließt in Permanenz dissentierende Haltungen aus. Sie wird durch mentale und tiefer wurzelnde Neigungen begründet. Doch in der Sicht der Geschichte gab und gibt es stets divergierende Kräfte,29 auch solche, die verschiedenartige, gar kontrastierende oder antagonistische Gemeinschaften bestimmen. Unausweichlich scheint sich jedoch regelmäßig – in ganz und gar unregelmäßigen Folgen allerdings – eine Lockerung oder gar Lösung dieser Spannung bemerkbar zu machen, regelmäßig wohl doch eben dann oder bald danach, wenn ein größerer politischer Raum ausgefüllt, in jedwedem Sinne, den das Wort haben kann, erobert wird und wenn die Zahl der erfaßten Individuen erheblich zunimmt. Die Gemeinschaft kann nicht beliebig, schon gar nicht grenzenlos wachsen. Die politische Geschichte – in dieser Hinsicht auch ganz Sozialgeschichte – ist reich an Beispielen, die Auflösungserscheinungen zugunsten eines stärkeren Individualismus vorbeugen oder ihm dort, wo er schon zu Tage tritt, entgegenwirken. Das scheint wohl immer mit der Erhaltung einer bestimmten überkommenen Ordnung verknüpft, die auch eine Herrschaftsordnung ist, was Herrschaft einer Gemeinschaft, sozialen Schicht oder großen Gruppe, mitunter einer Mehrheit bedeutet. Hierfür finden sich immer Gründe, können Ideen, Weltanschauungen oder Lehren entwickelt werden, „Ideologien“, wie Napoleon sagte, auch in dem umfassenden Sinne, den Marx und Engels meinten. Doch hierzu gibt es ebenso oft Oppositionen,

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die sich auf Individualrechte und Freiheiten berufen und liberale Lösungen zugunsten eines Fortschreitens zu neuen, unerfahrenen Zielen einfordern oder auch nur die Lösung von Bindungen anstreben. Die Vielfalt der Entwicklungen, der Übergänge wie der erhobenen Postulate bietet ein weites, den Beobachter der Geschichte faszinierendes Panorama. Aber auch das Ineinanderwirken gesellschaftlich bewahrender, sich behauptender, auf Zusammenhalt zielender und dennoch auf Entfaltung individueller Interessen bedachter Kräfte läßt sich beobachten, kommt in längeren Perioden der Geschichte häufig vor. Die verschiedenen Formen und Abwandlungen aus dem Wortfeld integer und integratio im Lateinischen und Mittellateinischen bezeugen ein zu sprachlichem Ausdruck gekommenes altes Allgemeinverständnis, das diese Richtung weist. In jüngster Zeit wird nachgerade landläufig von einer „europäischen Integration“ gesprochen, womit allerdings eher eine Annäherung zu dem Zweck eines Zusammenschlusses mehrerer Staaten Europas gemeint ist. Frage bleibt, ob es gelingen wird, engere Gemeinschaften innerhalb der alten historischen Staaten auf den größeren Staatenverbund zu übertragen oder, alternativ hierzu, andere, neue und weitere Gesellschaften zu bilden. Aber auch der als besondere deutsche Errungenschaft erachtete Sozialstaat30 ist seinem Kern und seinen Grenzen nach ein Nationalstaat. Alles was er im wesentlichen zu leisten vermag, beruht auf der Versicherungsidee Condorcets, der Philosophie und Mathematik der späten Aufklärung für eine sozialpolitische Programmatik zu nutzen verstand, und auf der Voraussetzung, daß ein bestimmtes Volk von berechenbarer Größe für die Zukunft seiner Bürger sorgt und sorgen kann. Die Idee einer europäischen Vereinigung wurde zunächst und lange Zeit in dem Aspekt erörtert und zu Vereinbarungen gebracht, daß eine Annäherung – vielleicht Vereinigungen – großer wirtschaftlicher Interessen sowie eine stete Belebung in allen Kategorien möglichen Austauschs über Grenzen hinweg erzielt werde, so daß innereuropäische Grenzen fortgesetzt an Bedeutung verlören.

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Auch die relative Stärkung politischer, wirtschaftlicher und keineswegs militärischer Potenz innerhalb wie außerhalb Europas besaß erhebliches Gewicht in diesem seit Jahrzehnten stetig verfolgten Programm. Aber mehrere Komplexe, die sich aus unvorhergesehenen Entwicklungen ergaben, wirkten komplizierend und verunsichern die Bevölkerungen der beteiligten Staaten. Aber auch Hemmungen und Schwierigkeiten im Zusammenwachsen der aus den einstigen Ostblock jäh entlassenen „neuen“ deutschen Länder mit der alten Bundesrepublik erweisen sich eben zu gleicher Zeit von unvorhergesehener Größe und Belastung. Die wirtschaftlichen Folgen lassen sich kaum schon abschließend beurteilen. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit mag man die Annahme begründen, daß die Schwierigkeiten der ersten Jahre in einer Reihe weiterer Jahre ausgestanden und überwunden sein können. Aber aus dem Zusammentreffen prekärer Situationen verschiedenartiger Ursachen auf verschiedenen Ebenen können sich Zerreißproben ergeben, wenn Pläne wie Voraussicht sich den eintretenden Notlagen nicht angemessen erweisen sollten. Die Schwierigkeit, den Sozialstaat mit allen seinen Standards zu garantieren und zugleich zu europäisieren, ohne seine Lasten zu vermehren, aber auch nicht eine rapide zunehmende Anziehungskraft Europas auf eine weltweite Migration in einer sich vermehrenden Weltbevölkerung herbeizuführen, ist noch nicht einmal spurenhaft in der öffentlichen Diskussion aufgetaucht, obgleich sie zu den unwägbaren Folgen im heutigen Europa gehört. Ob eine rasche Erweiterung der Europäischen Union die Gefahren vermindern oder vergrößern wird, vermag wohl niemand vorauszusagen. Als unter den erkennbaren Umständen optimaler Weg erschiene doch wohl die stetige, aber maßvolle Förderung innereuropäischer Zusammenhänge und Zusammenschlüsse mit jeweils provisorischer Ziel- und Terminsetzung in verschiedenen Planungsbereichen von Wirtschaft und Politik, die der noch vorhandenen Realität der Nationalstaaten kein jähes Ende setzt.

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Als Differenzierung innerhalb stets neu ansetzender Integration deutete der englische Philosoph Herbert Spencer den Prozeß der Menschheitsgeschichte, dessen Sinn in einer fortschreitenden Anpassung an die Umgebung, die Umwelt liegt. So gehe die Entwicklung letztlich „from freedom to bondage“31, von der Freiheit zur Gebundenheit – auf jeweils höherer Stufe. Von derartigen Lehren ist im Deutschland des 20. Jahrhunderts nur wenig wahrgenommen worden. Auch nach dem zweiten Weltkrieg haben jene, die den Marx-Kult nach leninistisch-stalinistischer Manier nicht mitmachten, Kultur in Deutschland mit Goethe und Thomas Mann gleichgesetzt. Das war verständlich und vieler Ehren wert, ließ sich aber auf lange Sicht kaum durchhalten. Gewiß war „die geistige Situation der Zeit“32 noch weit schwieriger als der wirtschaftliche Wiederaufbau des im zweiten Weltkriege zertrümmerten Deutschlands. Dieser muß nach wie vor als erstaunliche Leistung – mit Hilfe anderer allerdings – gelten, die auch die Relativität einer militärisch erreichten Totale vor Augen führt. Wenn das Ende des ersten Weltkriegs in dieser Hinsicht noch nicht eindeutig erschien, so gab es nun ein deutlicheres Zeichen. Doch in all dem die Lage Deutschlands zu bestimmen, erscheint nicht eben einfach. Seit der Industrialisierung sind breite, stetig wachsende städtische Unterschichten entstanden, aus denen heraus von Zeit zu Zeit eigene politische Ziele entwickelt wurden, die schon in der Französischen Revolution in Erscheinung traten und deren Ablauf beeinflußten.33 Ideologische Tendenzen, religiöse und individuelle Präformationen und Traditionen einerseits und ökonomisch-soziale Sichtweisen wirken ineinander und durcheinander. Im Grunde verweist schon der Ausdruck „sozial“ auf eine Problemlage, die nicht kategorisch zu lösen ist. Die Begründung läßt sich hören, daß die Gesellschaft genügend reich sein müsse, um einen liberalen Staat zu garantieren. Gemeint war Reichtum durch „Überschußprofite aus dem kolonialen Imperialismus“. Das gilt für jene Staaten, die am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Aufteilung des Globus abgeschlossen schien, am besten abgeschnitten hatten, England und

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Frankreich, schließlich auch die Vereinigten Staaten. Sie existierten unter den liberalsten Regimes auch dank eines „ideologisch neutralisierten Proletariats“.34 Die übrige Welt stand unter der Herrschaft alter oder neu heraufgekommener Autoritäten, tradierter Dynastien oder Diktaturen. Man braucht Max Weber gar nicht zu überschätzen, um einzugestehen, daß ihm die Kommunikation von mitunter nebenher geäußerten Einsichten mit langer Wirkkraft gelungen ist, die weit mehr als nur vorübergehende Perspektiven eines in actu befundenen Weltprozesses festzuhalten geeignet erscheinen, die Dynamik der Weltveränderung spüren lassen. Sein Wort von der „Entzauberung der Welt“35 als einem „Fortschritt“ – von Max Weber in Anführungszeichen gesetzt –, „dem die Wissenschaft als Glied und Triebkraft mitangehört“, hat nachgerade Schule gemacht und manche Köpfe in seinen Bann gezogen. „Ungeheuer ist da nun der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart“.36 Das war keine übertreibende Äußerung. Mit dem Rückgriff auf Platons Höhlengleichnis, aber nun die Sonne mit der Wissenschaft gleichgesetzt, wurde die Wissenschaft weit über den Wissenschaftsbetrieb hinaus gedacht, als eine hohe Realität genommen. Auch über die Tragweite hegte Weber keine Zweifel. Er erkannte Wissenschaft als „die spezifisch gottfremde Macht“. „Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen: dies oder dem Sinn nach Gleiches ist eine der Grundparolen, die man aus allem Empfinden unserer religiös gestimmten oder nach religiösem Erlebnis strebenden Jugend heraushört“.37 Doch der „Weg zur Befreiung vom Intellektualismus bringt wohl das Gegenteil“ eben von dem, was als Ziel vorgestellt wird, wenn man die auf Wissenschaft gegründete „Technik der Beherrschung des Lebens als Weg zum Glück gefeiert hat“.38 Das war nichts weniger als eine verarbeitende Anerkennung Nietzsches. Sie schließt den inneren Kreis des Gedankens, der einst mit Platons Höhlengleichnis begann. Einzelne Menschen wie Gemeinschaften größerer Ordnung

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bewegen und entwickeln sich in je verschiedenen Geschwindigkeiten mit gar nicht oder doch kaum bekannten Zielen. Erst in der Neuzeit der Geschichte hat sich diese Einsicht in Teilerkenntnissen, auch in Erkenntnisschüben allmählich durchzusetzen begonnen. Doch weithin noch fordern alte Weltvorstellungen tradierte Rechte ein: eine religiös begründete, von Kirchen und auch vorkirchlichen und außerkirchlichen Institutionen gestützte, verallgemeinerte Welt- und Sinndeutung wie Lebenshaltung, zumindest in den nach Herkommen präzisierten und logisch geordneten Grundsätzen, Glaubenssätzen, die in wiederkehrenden Ritualen und in Symbolen gleichsam illustriert, bekräftigt, lebendig und deutungsfähig gehalten werden. Menschliche Natur wird hierdurch weithin, wenn auch nicht restlos wie durch ein Gewand verdeckt. Auf längere Sicht ging es schon immer darum, eine Balance zwischen polemischen und harmonischen Neigungen von Menschen herzustellen. Prozesse der Machtbildung und -anwendungen sind stets im Spiel; aber ihre Darstellung erschöpft bei weitem nicht die Vorgänge in allen Perspektiven, die sich darbieten können. Jedwede kulturell wie auch politisch dauernde Stabilität ist längst dahingegangen. Spätestens seit der großen Krise des 17. Jahrhunderts liegt die evidente stete Wandlung jedermann, der sehen will, vor Augen, stehen auch großräumige Ordnungen auf dem Spiel wie schon in der Alten Welt. Wechselnde Erlebnis- und Daseinshorizonte in immer komplexer sich gestaltenden Gesellschaften führten zur Lockerung und Auflösung alternativloser Sinndeutungen, die Weite der sich eröffnenden Möglichkeiten zur fortschreitenden Diskussion philosophischer Entwürfe, Situationsbestimmungen, Theorien und Programme. Setzt deren Verwirklichung kategoriales Wollen und Machtansprüche, gar Übermacht – über jedwede andere Macht – voraus, ohne Alternativen zu dulden, dann drängt dies zu einer Petrifizierung des Entwicklungsstandes oder gar eines Rückgriffs auf Vergangenheiten, bis die gefestigte Kruste in verheerendem Zerbersten aufbricht. Hervorragende Einzelne können immer nur für kurze Frist

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Ein Rückblick

und in Grenzen bestimmen, führen oder herrschen. Die Politik aber benötigt immer wieder eine Erhebung der Seelen, um Gemeinschaft wachsen zu lassen. Wer einen Blick auf die Medienlandschaft wirft, auf vielfältige Unterhaltung und Reisen und schließlich den organisierten Sport mitsamt den Wettkämpfen, die sogar unter den Tagesneuigkeiten in den Medien mit Vorrang behandelt werden, wird sowohl die Kommerzialisierung und Gesetze des Marktes erkennen als auch die Erheiterung und Erhebung der Gemüter. Wir belassen es bei diesem Beispiel. Abgeschlossen im Oktober 2003.

Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert

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Anmerkungen Einleitung: Vom 20. ins 21. Jahrhundert 1 Eine neuerliche Hinwendung zu Burckhardts griechischer Geschichte sei nachdrücklich vermerkt: Stefan Bauer, Polisbild und Demokratieverständnis in Jacob Burckhardts „Griechischer Kulturgeschichte“, Basel/München 2001. 2 Hierzu Zeugnisse verschiedener Denkrichtungen: Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1983, auch deutsch: Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995; Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1789, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1992; Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1999; Gerhard Schulz, Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, Stuttgart/München 2001, bes. Kap. VI , X , XII ; ein halbes Jahrhundert Weltgeschichte Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow, 1941–1991, München 1996; zu Deutschland ders., Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpolitik von Friedrich dem Großen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München 2000; auch David Kaiser, Kriege in Europa. Machtpolitik von Philipp II . bis Hitler, Hamburg 1992, bes. S 353–365. Die ältere Literatur im bibliographischen Anhang zu John Breuilly, Nationalismus und moderner Staat. Deutschland und Europa, Köln 1999. Gesonderte Betrachtung gebührt Ernst Nolte, Historische Existenz. Zwischen Anfang und Ende der Geschichte?, München 1998. 3 Henry Adams, The Education of Henry Adams. An Autobiography, Boston/New York 1918, deutsche Übers. Die Erziehung des Henry Adams, von ihm selbst erzählt, Zürich 1953, 4 Adams, a.a.O., S. 781. 5 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, I. Bd., Berlin 1911, bes. Kap. III u. IV. 6 Pierre Bertaux, Mutation der Menschheit. Diagnosen und Prognosen, Frankfurt a.M./Hamburg 1963, S. 59 ff. Die demographischen Forschungen der letzten Jahrzehnte haben nur wenige Korrekturen an den Zahlen ergeben, keine an wesentlichen Aussagen. 7 Die ersten Angaben Carlo M. Cipolla, Economic History of World Population, 4. Aufl. Harmondsworth 1967; die letzten: The International Bank

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Anmerkungen for Reconstruction and Development/World Bank (Hg.), The World Bank Atlas 1996, Washington, D.C. 1995; eingehende Erörterung der demographischen Entwicklung Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, 2. Aufl. Frankfurt a. M 1993, S. 37–67: „Die demographischen Expansion“. Wolfram Fischer, Expansion, Integration, Globalisierung. Studien zur Geschichte der Weltwirtschaft, hg. v. Paul Erker u. Heinrich Volkmann, Göttingen 1998, S. 209. Herwig Birg, Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2001. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 440. Herwig Birg, Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren, München 1996, meint: „Die größte Gefahr für die Umwelt und die Natur ist nicht ihre rationale, ökonomische Nutzung, sondern ihre Romantisierung und die gutgemeinte, aber sinnlose Naturtümelei. Um dies zu erkennen, muß man sich bewußt machen, daß der Begriff der Natur nicht etwas ist, was einfach aus der Natur übernommen werden kann, sondern durch einen Akt der Kultur geschaffen werden muß“. (S. 135) Anregende Überlegungen Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, S. 129–161. Bertaux, Mutation, S. 63. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1874], in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. I, München o. J., S. 227 f. Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie I, Frankfurt a. M. 1963, S. 200.

I Die dreißiger Jahre. Der Weg in neue Kriege 1 Zum letzten britischen Memorandum „On Disarmament“ vom Januar 1934 Documents on British Foreign Policy 1919–1939, Second Series, vol. VI , Nos. 206, 297, 304, 305, 355; Documents Diplomatiques Françaises, première série, vol. VI , No. 16; Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP ), Serie C, Bd. II , 2, Dok. 271, 273; Akten der Reichskanzlei, Regierung Hitler 1933–1938, Teil I, Bd. 2, Nr. 305, 307, 322. 2 26. Januar 1934, G. F. de Martens, Nouveau recueil général des traités, hg. Heinrich Triepel, 3, Bd. XXVIII , S. 643. Vgl. Charles Bloch, Das Dritte Reich und die Welt. Die deutsche Außenpolitik 1933–1945, Paderborn u. a. 1993, bes. S. 90 ff. 3 Roland Ray, Annäherung an Frankreich im Dienste Hitlers? Otto Abetz und die deutsche Frankreichpolitik 1930–1942, München 2000, S. 110 ff.

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4 Ältere Monographie Dieter Ross, Hitler und Dollfuß. Die deutsche Österreich-Politik 1933–1934, Hamburg 1966, 3. Kap.; zum Folgenden auch Bloch, Das Dritte Reich. 5 Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 445; zu den Machtkämpfen Robert Conquest, Der Große Terror. Die Sowjetunion 1934–1938, München 1992. 6 Karl-Heinz Ruffmann, Sowjetrußland. Struktur und Entfaltung einer Weltmacht, 10. Aufl. München 1984, S. 64 f.; fragmentarische Biographie Leo Trotzky, Stalin, Berlin o. J.; Dimitri Wolkogonow, Stalin – Triumph und Tragödie. Ein politisches Portrait, Düsseldorf/Wien 1993, S. 290ff.; Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München/Zürich 1998, bes. S 206–230. 7 Lewis B. Namier, Diplomatisches Vorspiel 1938–1939, Berlin 1949, S. 11. Vgl. auch Aufsätze und Einleitung in: Gerhard Schulz (Hg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1985. 8 Über Berlin im „Machtergreifungsprozeß“ Christian Striefler, Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 305–385. 9 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Studien zur Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Köln 1974, nach der amerikanischen Ausgabe: The Dual State. The Contribution to the Theory of Dictatorship, ND New York 1969. 10 RGBl I, 1934, S. 75. 11 Reichsinnenminister Frick in der letzten Sitzung des Reichsrats am 30. Januar 1934, der das Gesetz ebenfalls „einstimmig und ohne Aussprache“ annahm. Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 26 vom 31. Januar 1934 (2. Beilage). Hierzu Peter Hubert, Uniformierter Reichstag. Die Geschichte der Pseudo-Volksvertretung 1933–1945, Düsseldorf 1992. 12 Verhandlungsniederschrift über die Tagung des Reichsjustizministers mit den Landesjustizverwaltungen in Dresden am 12. Februar 1934; Bundesarchiv (BA ), P 135/4365, fol. 37. Grundlegend Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989, Teil I; zuvor Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, 2. Auflage Köln, Opladen 1962, S. 597 ff. (3. unveränd. Aufl. Frankfurt a.M. u. a. 1974). 13 Hierzu Gerhard Schulz, Der Begriff des Totalitarismus und der Nationalsozialismus, in: Soziale Welt, 12 (1961), S. 112–128; ders., Faschismus –

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Anmerkungen Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922–1972, Frankfurt a.M. u. a., 1974, bes. S. 154 ff., 198 f. Undatierte Aufzeichnung „Durchführung des Neuaufbaus des Reiches“, 4 Seiten mit handschriftl. Korrekturen, wahrscheinlich vom Frühjahr 1934, Hauptarchiv Berlin-Dahlem (HAB ), Rep. 77, Pfundtner 605. Erlaß an die Reichsstatthalter vom 19. Februar 1934; HAB , Rep. 77, Pfundtner 54. Erlaß über die Landespolizei vom 9. März 1934; BA , P 135/2056, fol. 249. Aktenvermerk Pfundtner vom 13. März 1934; HAB , Rep. 77, Pfundtner 54. Hans Buchheim, Die organisatorische Entwicklung der politischen Polizei in Deutschland in den Jahren 1933 und 1934, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1958, S. 294–307; ders., Die SS in der Verfassung des Dritten Reiches, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 3 (1955), S. 127 ff.; Hans-Joachim Neufeld, Jürgen Huck, Georg Tessin, Zur Geschichte der Ordnungspolizei, Koblenz 1957; Friedrich Wilhelm, Die Polizei im NS Staat. Geschichte ihrer Organisation im Überblick, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1999. Die Verknüpfung von SS und Politischer Polizei beschränkte sich nicht auf die Besetzung einzelner Leitungsämter. Die Beamtenstellen wurden vermehrt und meist mit SS -Leuten aufgefüllt, auf diese Weise ausgewählte Teile der SS etatisiert. Wortlaut mehrerer gleichlautender Mitteilungen des Inspekteurs der Geheimen Staatspolizei (GeStapo) an den peußischen Innenminister vom 31. Mai 1934; Abschriften HAB , Rep. 90/951. Erlaß an die Reichsstatthalter vom 12. Februar 1934; HAB , Rep. 77, Pfundtner 650. RGBl (Reichsgesetzblatt) I 1934, S. 1190. Kurt Julius Riegner, Werdendes Staatsrecht, in: Centralvereinszeitung, Organ des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 22. Nov. 1934. Hierzu auch Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat. Ausführungsverordnung des preußischen Justizministers vom 24. u. 27. Juli 1933; Justiz-Ministerial-Blatt 1933, S. 235, S. 249. Roland Freisler, „Die Zentralstaatsanwaltschaft“, für die Verbreitung durch den „Zeitungsdienst“ geschriebener Aufsatz vom 25. Juli 1933, u. a. in: Der Deutsche, Nr. 239, 12. Oktober 1933. Eidesstattliche Erklärung, Internationaler Militärgerichtshof (IMT) 3, Vert.Dok.-B. Joël 1, Dok. Joël 4, Joël 5. Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS -Staat, Paderborn u. a. 2002; Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998, bes. S. 160–170. Zur Lage in Ostpreußen die Monographie von Dieter Hertz-Eichenrode, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930, Köln/Opladen 1969.

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28 Der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen bezifferte den Umfang des Ernteausfallschadens mit 50 Mill. RM , der Landwirtschaftsverband Ostpreußen sogar mit 68 Mill. RM . Bericht des Oberpräsidenten an Reichskommissar Bracht vom 24. Januar 1933, HAB , Rep. 90/1079. 29 Schriftwechsel Meinberg – v. Rohr, 30. Mai bis 21. Juni 1933, HAB , Rep. 90/877. Meinberg sprach von einer „Bauernrevolution“ und nannte den nationalsozialistischen Staat ein „Bauernreich“. Vgl. Stephanie Merkenich, Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und agrarischer Lobbyismus 1918–1933, Düsseldorf 1998, 5. Kap. Zum Folgenden Gerhard Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, S. 574 ff. 30 So der Versuch v. Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie; zu wirtschaftspolitischen Vorstellungen Eckart Teichert, Autarkie und Großraumwirtschaft, in: Deutschland 1930–1939. Außenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen Wirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg, München 1984, Resümee S. 261–272. 31 Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Tübingen 1969, S. 30 f., Neuausg. Stuttgart 1983; nach Hugh R. TrevorRoper, Hitlers Kriegsziele, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 8 (1960), S. 133. 32 „Reichsführerschule der SS “; vgl. Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS , München 1978, S. 143. 33 Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Karl Haushofer. Leben und Werk, 2 Bde., Boppard 1979; Dan Diner, Grundbuch des Planeten? Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 32 (1984), S. 1–28. 34 Angemerkt sei, daß die geopolitische Richtung früher als in Deutschland in der Absicht, normative Ergebnisse zu erlangen, von dem englischen Geographen Sir Halford John Mackinder (1861–1947) vertreten wurde, der 1903–1908 an der Spitze der London School of Economics stand. In den Vereinigten Staaten hatte sich eine vergleichbare Entwicklung von „geopolitics and geostrategy“ noch früher angebahnt, was in Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts durch die mehrfach nachgedruckten Schriften des Admirals Alfred Thayer Mahan zur Geostrategie der Seemächte in der Geschichte Aufmerksamkeit fand. Auch die Rolle des ungarischen Kommunisten Alexander Radó bleibt zu erwähnen, der während der dreißiger Jahre von der Schweiz aus eine publizistisch einflußreiche politische Kartographie herausbrachte, die in der Sowjetunion wie in Mittel- und Westeuropa Beachtung fand, eine breitenwirksame „Geopublizistik“ zu anschaulicher Unterrichtung auch geographisch Ahnungsloser über politische Vorgänge. 35 Während des zweiten Weltkriegs erschien Karl H. Dietzel, Oskar Schmieder, Heinrich Schmitthenner (Hg.), Lebensraumfragen europäischer Völker, 2 Bde., Leipzig [1941]. 36 RGBl II 1934, S. 118. 37 G. F. de Martens, Nouveau recueil général des traités, 3, XXX , S. 647.

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Anmerkungen

38 Martens, 3, XXXI , S. 3. Eingehend Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1995, S. 600 ff., mit weiterer Literatur. 39 Mit Hinweisen auf weitere Literatur hierzu Herman Graml, Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München 1990, S. 88 ff.; Manfred Funke, Sanktionen und Kanonen. Hitler, Mussolini und der internationale Abessinienkonflikt 1934–1936, Düsseldorf 1970, S. 146–154. 40 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 1998. 41 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, 2 Bde., Frankfurt a. M. u. a. 1977, Berlin 1985; Beiträge im ersten Heft v. „Kirchliche Zeitgeschichte“, I, 1988. 42 Ältere umfassende Darstellung Hugh Thomas, The Spanish Civil War, 3. Aufl. Harmondsworth u. a. 1977. Augenzeugenbericht Franz Borkenau, Kampfplatz Spanien. Politische und soziale Konflikte im Spanischen Bürgerkrieg, Darmstadt 1988. 43 Vgl. Jens Petersen, Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin – Rom 1933–1936, Tübingen 1973. 44 Martens, Nouveau rec. gén, 3, XXXIII , S. 376. 45 Hitler übergab ein Exemplar seiner Denkschrift 1944 Albert Speer. Über ihn gelangte der Text im Nürnberger Prozeß zu den Verteidigungsunterlagen für Hjalmar Schacht (Exhibit 48); Text und eingehende Behandlung Wolfgang Treue, Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 3 (1955), S. 184–203. 46 Thilo Vogelsang, Neue Dokumente zur Geschichte der Reichswehr, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 2 (1954), S. 434 f. Hitler bekannte seine Vorhaben in dieser Runde unverblümt: in Deutschland die „völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen Zustände“ herbeizuführen, „straffste autoritäre Staatsführung“ zur Aufrüstung und zum „Kampf “ gegen Versailles, schließlich „Eroberung neuen Lebensraumes im Osten und dessen rücksichtslose“ Germanisierung. Carl Dircks, Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der Wehrmacht, Berlin 1999, S. 232–236. Quellenkritische Erwägungen zu verschiedenen Überlieferungen und einem neuen Zeugnis Andreas Wirsching, „Man kann nur Boden germanisieren“. Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 49 (2001), S. 516–550. 47 Vgl. Marlis Steinert, Hitler, München 1994, S. 192–200. 48 Ältere Literatur ausgewertet v. Waldemar Erfurth, Die Geschichte des Deutschen Generalstabes 1918–1945. Studien und Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Hamburg 2001, bes. 4. Kap., II ; Bracher, Sauer, Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, bes. Wolfgang Sauer, Die Mobilmachung der Gewalt, 2. Aufl., S. 685–966; Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933–1940, 2. Aufl. Stuttgart 1988; ders., Armee und Drittes Reich

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1933–1939, 2. Aufl. Paderborn 1989; Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt a.M. 2002. Georges Castellan, Le réarmement clandestin du Reich 1930–1935, Paris 1954; Gerhard Meinck, Hitler und die deutsche Aufrüstung 1933–1937, Wiesbaden 1957. Zuletzt, mit vielen Einzelheiten Ian Kershaw, Hitler. 1936 bis 1945, Stuttgart 2000; knapp und anregend Hans-Peter Schwarz, Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, Berlin 1998, S. 293–325; Jäckel, Hitlers Weltanschauung; zuerst Konrad Heiden, Adolf Hitler, 2 Bde., Zürich 1936; Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a.M. u. a. 1973; ders., Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches, Berlin 2002; Alan Bullock, Hitler. Biographie 1889–1945, ND München 2000; Marlis Steinert, Hitler; Werner Maser, Adolf Hitler. Legende, Mythos, Wirklichkeit, 13. Aufl. Esslingen 1993; zur Diskussion über die Historiographie John Lukacs, Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung, München 1997; umfassende, sich vornehmlich auf die jüngere Literatur stützende Darstellung Michael Burleigh, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt a.M. 2000, hier bes. S. 109–150, Auswahlbibliographie S. 1041–1055. Jüngere Darstellung der außenpolitischen Zusammenhänge, auch zum Folgenden Hildebrand, Das vergangene Reich, bes. S. 636–666. Zur Rekonstruktion der Vorgänge wie auch zum Folgenden Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler, S. 243–377. Eine Besprechung Hitlers mit Reichsaußenminister Frh. von Neurath, Blomberg, Göring, Fritsch und Admiral Raeder hielt der Wehrmachtsadjutant wenige Tage später in einer Niederschrift fest. IMT, XXV , S. 402 ff.; ADAP, D, I, 19; Friedrich Hoßbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler 1934–1938, Wolfenbüttel/Hannover 1949, S. 207–217; Walter Bussmann, Zur Entstehung und Überlieferung der Hoßbach-Niederschrift, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 16 (1968), S. 373–384; Erfurth, Geschichte des Deutschen Generalstabes, S. 184 f.; kritisch, gegen die Beteiligten gerichtet, Karl-Heinz Janßen, Fritz Tobias, Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch-Krise 1939, München 1994. Meinung eines englischen Militärhistorikers: John Keegan, Die Maske des Feldherrn. Alexander der Große, Wellington, Grant, Hitler, Weinheim/ Berlin 1997, S. 376. Wolfgang Foerster, Generaloberst Ludwig Beck. Sein Kampf gegen den Krieg, München 1953, S. 94 ff.; distanzierte Beurteilung von Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler, S. 249 ff., 301 ff., 334ff., 651–654, 713–726 (Nachwort); ders., General Ludwig Beck. Studien und Dokumente zur militärischen und politischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933–1938, Boppard 1980, S. 489–501, 289–311; hierzu Peter Hoffmann, Generaloberst Ludwig Becks militärpolitisches Denken, in: Hist. Zeitschr., 234 (1982), S. 101–121; Erfurth, Ge-

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Anmerkungen schichte des Deutschen Generalstabes, S. 193–200; über die Verbindung Schachts zu Beck John Weitz, Hitlers Bankier – Hjalmar Schacht, München/Wien 1998, S. 309 ff. Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte, Bd. I, München 2000, S. 552 f.; ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegungen in der Weimarer Republik 1924–1930, 2. Aufl. Berlin 1987, S. 387 ff. Karl Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur der politischen Kampfverbände zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1966, S. 233 ff. a.a.O., S. 141. Jäckel, Hitlers Weltanschauung, S. 11, 158; ders., Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, 2. Aufl. Stuttgart 1988. Zu Vorgängen und Hintergründen Robert Conquest, Der große Terror. Sowjetunion 1934–1938, München 1992, S. 211–247; Walther Laqueur, Stalin. Abrechnung im Zeitalter von Glasnost, München 1990, S. 119–127. Gottfried Niedhart, Appeasement: Die britische Antwort auf die Krise des Weltreichs und des internationalen Systems vor dem zweiten Weltkrieg, in: Hist. Zeitschr., 226 (1978), S. 67–88; bes. mit Blick auf die englischdeutschen Beziehungen ders. (Hg.), Kriegsbeginn 1939. Entfesselung oder Ausbruch des Zweiten Weltkriegs?, Darmstadt 1976, bes. S. 22 ff., 302– 332; Gustav Schmidt, England in der Krise. Grundzüge und Grundlagen der britischen Appeasement-Politik (1930–1937), Opladen 1981; aus der weiteren Literatur Martin Gilbert, Britain and Germany between the Wars, London 1964; Jon Jacobson, Locarno-Diplomacy. Germany and the West 1925–1929, Princeton, Mass. 1972; zu den kritischen Stimmen Neville Thompson, The Anti-Appeasers. Conservative Opposition to Appeasement in the 1930s, Oxford 1971. Niedhart, Appeasement, S. 70. Gottfried-Karl Kindermann, Der Ferne Osten in der Weltpolitik des industriellen Zeitalters, München 1970, S. 303 ff.; ders., Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840 bis 2000, Stuttgart/München 2001, bes. S. 182–189.; geraffte Schilderung der Ereignisse und Zusammenhänge von Tilemann Grimm, Geschichtszusammenhänge im Ostasien der dreißiger Jahre, in: Gerhard Schulz (Hg.), Die Große Krise der dreißiger Jahre. Vom Niedergang der Weltwirtschaft zum Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1981, S. 214–232; Derek H. Aldcroft, The Interwar Economy. Britain 1919–1939, London 1973. Bernd-Jürgen Wendt, Economic Appeasement. Handel und Finanzen in der britischen Deutschland-Politik 1933 – 1939, Düsseldorf 1971; ders., Die englische Politik des ‚Appeasement‘ in den dreißiger Jahren und ihre Beurteilung in der Geschichtswissenschaft, in: Schulz (Hg.), Große Krise, S. 233–260.

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62 Vgl. Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, 3. Aufl. München 1978, S. 37–77. 63 Niedhart, Appeasement, S. 81. 64 So Sir Robert Vansittart nach einer Aufzeichnung von Harold Nicolson, Motto von Julian Campbell Doherty, Das Ende des Appeasement, Berlin 1973, S. 7. Hierzu auch Gaines Post, Dilemmas of Appeasement. British Deterrence and Defense 1934–1937, Ithaca, N.Y. 1993. 65 Richard Lamb, Der verfehlte Frieden. Englands Außenpolitik 1935–1945, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 76–80. 66 Hildebrand, Das vergangene Reich, S. 632 f. 67 Eine auf die Sprachenpolitik der tschechoslowakischen Regierung konzentrierte Untersuchung erkennt die inneren Widersprüche dieses Staates; Jaroslav Kucˇera, Minderheit im Nationalstaat. Die Sprachenfrage in den tschechisch-deutschen Beziehungen 1918–1938, 2. Aufl. München 1999; zum Folgenden aus der Fülle der Literatur Manfred Funke (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1977, über die Tschechoslowakei dort Detlef Brandes. 68 Vollständiger Text Gert Bucheit, Der deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966, S. 147–152; Auszüge bei Harold C. Deutsch, The Conspiracy against Hitler in the Twilight War, London 1968, S. 30; Müller, Beck, S. 544. 69 Klaus-Jürgen Müller, Beck, S. 552; ders., Heer und Hitler, S. 147–152. 70 Schilderung Montgomery Hyde, Neville Chamberlain. Der glücklose Staatsmann, München 1982, S. 172–184. 71 Text Martens, Nouveau rec. gén., 3, XXXVI , S. 24–30; Boris Celovsky, Das Münchener Abkommen 1938, Stuttgart 1958; zum wirtschaftspolitischen Hintergrund Alice Teichova, An Economic Background to Munich. International Business and Tchekoslowakia, 1918–1938, Cambridge 1974; dies., Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wirtschaft und Politik in Mittel- und Südosteuropa in der Zwischenkriegszeit, München 1988. 72 Vgl. auch Rudolf Jaworski, Vorposten oder Minderheit? Der sudetendeutsche Volkstumskampf in den Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der CˇSR , Stuttgart 1977, S. 160–173. 73 Wortlaut Hyde, a.a.O., S. 183 f.; auch zum Folgenden Berndt-Jürgen Wendt, München 1938. England zwischen Hitler und Preußen, Frankfurt a. M. 1965; ders., Großdeutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes, München 1987; Manfred Funke (Hg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Leonidas E. Hill (Hg.), Die Weizsäcker-Papiere, Frankfurt a.M. u. a. 1974; Gerhard Hirschfeld, Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führerstaat“. Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981; Stefan Scheil, Logik der Mächte. Europas Problem mit der Globalisierung der Politik. Überlegungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1999, bes. S. 53 ff.

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Anmerkungen

74 Zu Ereignissen und Hintergründen Hans-Jürgen Döscher, „Reichskristallnacht“. Die November Pogrome 1938, Augsburg 1998. 75 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 289ff.; Hans-Jürgen Döscher, „Reichskristallnacht“. Die November Pogrome 1938, zuletzt Augsburg 1998. 76 In der SS -Zeitung „Das Schwarze Korps“ kündete schon ein Artikel am 24. November das endgültige „Ende des Judentums in Deutschland“ und seine „restlose Vernichtung“ an. Friedländer, a.a.O., S. 336. 77 Hierzu Herbert Sirois, Zwischen Illusion und Krieg. Deutschland und die USA 1933–1941, Paderborn u. a. 2000, S. 116 f. 78 a.a.O., S. 128 ff., 170 ff. 79 Carl Jakob Burckhardt, Meine Danziger Mission 1937–1939, München 1962. Der konkurrierende Hafen Gdingen (Gdynia) war erfolgreich als polnisches Seehandelszentrum ausgebaut worden und hatte Danzig überflügelt. Gotthold Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick, 3. Aufl. Darmstadt 1980, S. 480 ff. Über die innerpolitischen Verhältnisse unter der „Regierung der Obristen“ in Polen Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 113–118. 80 Józeph Lipski, Diplomat in Berlin 1933–1939, New York/London 1968; Jean Comte Szembek, Journal 1933–1939, Paris 1952; Rhode, a.a.O., S. 499; Hans Roos, Geschichte der polnischen Nation 1918–1985. Von der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, 4. Aufl. Stuttgart u. a. 1986. 81 Zu den Verhandlungen ADAP, D, V, S. 232 f., 581 f. 82 Zeitgenössisches Zeugnis von Grigore Gafencu, The Last Days of Europe, London 1938; Andreas Hillgruber, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu. Die deutsch-rumänischen Beziehungen 1938–1944, 2. Aufl. Wiesbaden 1965. 83 Zur Beurteilung Ian Colvin, The Chamberlain Cabinet, London 1971; Lamb, Der verfehlte Frieden, passim; Hyde, Neville Chamberlain. 84 ADAP, D, 6, Nr. 433. 85 Wortlaut des Telegramms Hitlers an Stalin vom 21. August (Datum des Eintreffens in Moskau). Valentin M. Bereschkow, Ich war Stalins Dolmetscher. Hinter den Kulissen der politischen Weltbühne, München 1991, S. 277 f.; Telegrammaustausch und weitere Dokumente bei Werner Maser, Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, München 1994, S. 36 ff. 86 Generalstabschef Halder hielt kritisch fest: „Ziel: Vernichtung Polens = Beseitigung einer lebendigen Kraft. Es handelt sich nicht um eine bestimmte Linie …, sondern um Vernichtung des Feindes …“ Generaloberst Halder, Kriegstagebuch, Bd. I, bearb. v. Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1962, S. 25; vgl. Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersu-

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chung, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 16 (1968), S. 120–149; Christian Hartmann, Halder, Generalstabschef Hitlers 1938–1942, Paderborn u. a. 1991, S. 132 ff. 87 Aus der Fülle der Literatur seien hervorgehoben das frühe umfassende Werk Wiliam L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Vorwort v. Golo Mann, Köln o. J.; Hildebrand, Das vergangene Reich, S. 694ff.; ders., Deutsche Außenpolitik 1933–1945. Kalkül oder Dogma?, 5. Aufl. Stuttgart u. a. 1990; Oswald Hauser (Hg.), Weltpolitik 1933–1939, Göttingen 1973; Andreas Hillgruber, Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, 2. Aufl. Düsseldorf 1971; Gerhard L. Weinberg, The Foreign Policy of Hitler’s Germany, Bd. II : Starting World War II , 1937–1939, London/Chicago 1980; Gordon A. Craig, Felix Gilbert (Hg.), The Diplomats 1919–1939, 2 Bde., New York 1965; mehrere Beiträge in: Wolfgang Michalka (Hg.), Nationalsozialistische Außenpolitik, Darmstadt 1978; Hermann Graml, Europa zwischen den Kriegen, 5. Aufl. 1982; ders., Europas Weg in den Krieg; umstritten die Vorgeschichte von Alan J. P. Taylor, The Origins of the Second World War, 5. Aufl. London 1963; Diskussion Gottfried Niedhart (Hg.), Kriegsbeginn 1939; Walter Hofer, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die Internationalen Beziehungen im Sommer 1939, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1964; Julian C. Doherty, Ende des Appeasement. 88 Parliamentary Debates, 5th Series, Vol. 352, House of Commons, Official Report 1938–39, London 1939, S. 566.

II Vom europäischen zum globalen Krieg 1 Vgl. Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg, 10. Aufl. München 1995; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, bisher 7 Bde., Stuttgart 1979–2001; Manfred Rauh, Geschichte des Zweiten Weltkriegs, bes. II . und III . Teil, Berlin 1995/98; Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1995, S. 618–846; Andreas Hillgruber, Der Zweite Weltkrieg 1939–1945. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, 5. Aufl. Stuttgart u. a. 1989; Klaus Hildebrand, Jürgen Schmädecke, Klaus Zernack (Hg.), 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs und das internationale System, Berlin/New York 1990; ältere Kontroversen Gottfried Niedhart (Hg.), Kriegsbeginn 1939. Entfesselung oder Ausbruch des Zweiten Weltkriegs? Darmstadt 1976.; Berenice A. Carroll, Design for Total War. Arms and Economics in the Third Reich, Den Haag/Paris 1968; mit verschiedenen Schwerpunkten Basil H. Liddell Hart, Geschichte des Zweiten Weltkrieges, 6. deutsche Aufl. Wiesbaden 1985; John Lukacs, Die Entmachtung Europas. Der letzte europäische

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Anmerkungen Krieg 1939–1941, Stuttgart 1971; Peter Calvacoressi, Guy Wint, Causes and Courses of the Second World War, Harmondsworth 1974; Gerhard L. Weinberg, A World at Arms. A Global History of World War II , Cambridge, Mass./New York 1994; Raymond Cartier, Der Zweite Weltkrieg, 7. Aufl. München/Zürich 1985; Hellmuth Günther Dahms, Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Tübingen 1965; Wolfgang Michalka (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen – Grundzüge – Forschungsbilanz, 2. Aufl. München 1990; konzentrierte Darstellung zur militärischen Seite Hanson W. Baldwin, Große Schlachten des 2. Weltkriegs, dt. Ausg. 4. Aufl. Wiesbaden 2002; im Lichte der deutschen Vernichtungspolitik Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die „Endlösung“, Reinbek 1989. Peter W. Ludlow, The Unwinding of Appeasement, in: Lothar Kettenacker (Hg.), Das „Andere Deutschland“ im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive, Stuttgart 1977, S. 18; Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen/Zürich 1989, S. 20 ff.; Wolfgang J. Mommsen, Lothar Kettenacker (Hg.), The Fascist Challenge and the Policy of Appeasement, London 1983. „Pour ce peuple pacifique, c’est déjà une défaite morale.“ Jean-Baptiste Duroselle, L’abîme 1939–1945, Paris 1982, S. 13. a.a.O., S. 30. Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938–1940, hg. v. Helmut Krausnick u. Harold S. Deutsch, Stuttgart 1970, bes. S. 232ff., 406 f., 426f., 438ff., 534ff.; Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart 1961, S. 41. An einem bedeutsamen Fall läßt sich diese Verschärfung exemplarisch verfolgen. In einer „Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten in den eingegliederten Ostgebieten“ vom 12. September 1939 wurde „unerlaubter Waffenbesitz“ mit der Todesstrafe bedroht. Vor den Heeresgerichten kamen jedoch alsbald Fälle zur Verhandlung, die das Oberkommando des Heeres veranlaßten, eine vom Reichsinnenminister bereits vorgesehene regulierende Verordnung zur Bekämpfung von Gewalttaten anzumahnen, die es erlauben sollte, „in minderschweren Fällen“ des unerlaubten Waffenbesitzes von der Todesstrafe abzusehen. (Schreiben des Oberkommandos der Wehrmacht an den Reichsinnenminister, 20. Februar 1940, Bundesarchiv Koblenz – BA – R 43 II /647). Der Reichsinnenminister kam dem durch einen Entwurf für den Ministerrat für die Reichsverteidigung nach. Doch die weiteren Wege komplizierten sich, da Göring eine noch weitergehende Minderung der Strafen für angebracht hielt. Eine Gegenposition markierte Himmler, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, mit der Begründung: „Normale Verhältnisse, vergleichbar denen des Altreichs, sind bisher nicht erreicht und dürfen auch für die nähere Zu-

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kunft noch nicht erwartet werden. Der starke, an vielen Orten zahlenmäßig weit überwiegende polnische und jüdische Bevölkerungsanteil, vor allem aber die von den polnischen Machthabern in Freiheit gesetzten, sich in den weiten Räumen des Ostens versteckt haltenden … Banden“ bildeten einen ständigen Unruheherd (4. Mai 1940). Bormann teilte alsdann Hitlers Auffassung mit: „Erst wenn die Gauleiter die neuen Gebiete dem Altreich angegliedert hätten, könne man an die Einführung des Reichsrechts denken. Er habe betont, daß er von den Gauleitern nach 10 Jahren nur eine Meldung verlange, nämlich, daß ihr Gebiet deutsch und zwar rein deutsch sei.“ (20. November 1940, R 43 II /1549). Im Fortgang wurden dann dem Reichsstatthalter besondere Zuständigkeiten zugewiesen. Als Strafen kamen Einweisung in Konzentrationslager oder Tod durch Erhängen in Betracht. Aus der Veteranenliteratur, bisher der einzig zugänglichen Quelle, Gordon C. Wells, The Newfoundland Regiment (1939–1946). War – „On The Home Front“, Trinity Bay [1996]. Dönitz auf einer Tagung der Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer in Posen am 6. Oktober 1943, BA , NS 6/132. So Hitler in einer Ansprache in Danzig am 19. September 1939; vgl. Brian Johnson, Streng geheim. Wissenschaft und Technik im Zweiten Weltkrieg, Augsburg o. J. (engl. London 1978). Ob es wirklich 42 Attentate auf Hitler gab, erscheint nicht zuverlässig gesichert; aber es waren viele. Vgl. Will Berthold, Die 42 Attentate auf Adolf Hitler, Wien 1997. Bei allen Vorbehalten, die auch der Herausgeber zum Ausdruck bringt, vermitteln die Tisch- und Teegespräche viele Einblicke: Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, hg. u. kommentiert v. Werner Jochmann, ND München 2000; frühe beachtliche Charakterisierung von Hugh R. Trevor-Roper, Hitler’s Table Talk 1941–1944. With an introductory essay, London 1953. Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Erster Band, 2. Buch, Bern/ München 1953, S. 331–337; John Lukacs, Fünf Tage in London. England und Deutschland im Mai 1940, Berlin 2000, S. 119, 159 f.; kurz und knapp Christian Graf von Krockow, Churchill, Hamburg 2000, S. 123 f. Zuletzt Rainer F. Schmidt, Rudolf Heß „Botengang eines Toren“? Der Flug nach Großbritannien vom 10. Mai 1941, Düsseldorf 1997. Hierzu: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Ulrich von Hassell, Aufzeichnungen vom Andern Deutschland, nach der Handschrift revidierte u. erweiterte Ausgabe, hg. v. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1988, S. 228 f.; Klemens von Klemperer, Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938–1945, Berlin 1994; Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 4. Aufl. München/Zürich 1985; ders., Claus

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Anmerkungen Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder, 2. Aufl. Stuttgart 1992, S. 350–371. Aus russischer Sicht Valentin Falin, Zweite Front. Die Interessenkonflikte der Anti-Hitler-Koalition, München 1995, bes. S. 160–169. „The Art of Guerilla Warfare and Sabotage“ v. Colin McVean Gubbins, dtsche. Übers. des Originals Gerhard Schulz, Zur englischen Planung des Partisanenkrieges am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 30 (1982), S. 322–358; immer noch einzige Behandlung in der deutschen Literatur Schulz (Hg.), Geheimdienste und Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1982, hier bes. S. 35–55. James R. M. Butler, Grand Strategy, Bd. II , London 1957, S. 260 f. Michael R. B. Foot, SOE in France. An Account of the Work of the British Special Operations Executive in France 1940–1944, 3. Aufl. London 1976, S. 8; ders., Was SOE Any Good?, In: Journal of Contemporary History, 16 (1981), S. 170; ders., Resistance. An Analysis of European Resistance to Nazism 1940–1945, London 1976; neben zahlreichen Spezialuntersuchungen David Stafford, Britain and European Resistance 1940–1945, Oxford 1980; Brian Bond, British Military Policy between the Two World Wars, Oxford 1980. Foot, SOE ., S. 179; Henri Michel, Les mouvements clandestins en Europe (1938–1945), Paris 1961; Gerhard Schulz, Nationalpatriotismus und Widerstand, Vjhe. f. Zeitgesch., 32 (1984), S. 331–372; ders. (Hg.), Geheimdienste und Widerstandsbewegungen; ders. (Hg.), Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20. Jahrhundert, Göttingen 1985; Jürgen Heideking, Christof Mauch (Hg.), USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, Tübingen/Basel 1993; dies., American Intelligence and the German Resistance to Hitler. A Documentary History, Boulder, Col./Oxford 1996; Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier amerikanischer Geheimdienste 1941 bis 1945, Stuttgart 1999. Bernd Bonwetch, Sowjetische Partisanen 1941–1944. Legende und Wirklichkeit des „Allgemeinen Volkskrieges“, in: Schulz (Hg.), Partisanen, S. 93 ff. John A. Armstrong (Hg.), Soviet Partisans in World War II , Madison, Wis. 1964, S. 656 f.; vgl. auch Erich Hesse, Der sowjetrussische Partisanenkrieg 1941 bis 1944 im Spiegel der deutschen Kampfanweisungen und Befehle, Göttingen 1969. Zur Propaganda Willi A. Boelcke, Kriegspropaganda 1939–1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966; Günther Moltmann, Goebbels’ Rede zum totalen Krieg am 18. Febr. 1943, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 12 (1964), S. 13–43. „Neujahrsgruß“ des Reichspropagandaministers zum 1. Januar 1943; Willi A: Boelcke (Hg.), „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Die geheimen GoebbelsKonferenzen 1939–1943, München 1969, S. 414.

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23 David Kahn, Seizing the Enigma. The race to break the German U-boatcodes 1939–1943, Boston 1991, S. 214 ff.; zuletzt Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart/München 2000, S. 70 f., S. 196; F. H. Hinsley u. a., British Intelligence in the Second World War. Its Influence on Strategy and Operations, 3 Bde. in vier Teilen, London 1979/88; Hinsley, Alan Stripp (Hg.), The Codebreakers, Oxford 1992; aus der weiteren Literatur Frederick W. Winterbotham, Aktion Ultra, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1976; Brian Johnson, The Secret War, London 1978; Streiflichter bei Janusz Piekalkiewicz, Spione, Agenten, Soldaten. Geheime Kommandos im Zweiten Weltkrieg, 5. Aufl. München 1994. 24 Bradley F. Smith, Anglo-Soviet Intelligence and the Cold War, in: Richard J. Aldrich (Hg.), British Intelligence Strategy and the Cold War, London 1992, S. 55 f. 25 Vgl. Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987, S. 326–331. Zur deutschen Wirtschaft im zweiten Weltkrieg Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982. 26 Beigefügt „streng vertrauliche“ Berichte aus Rumänien an die Parteiführung der NSDAP, Frühjahr 1941, BA , NS 22/1033. 27 Berichte Ende 1940 bis April 1941, BA , NS 22/1034. 28 Zur sowjetischen und – über die Komintern – kommunistischen Bekämpfung polnischen Widerstands auch gegen die deutsche Besetzung Maciej Techniczek, Einige Aspekte der Widerstandsbewegung in Polen und der Tschechoslowakei 1939 – 1941, in: Jb. d. Instituts f. Deutsche Geschichte, Tel Aviv, 1972, I, S. 215–231. Zu den kontrovers beurteilten gegeneinander gerichteten deutschen und russischen Angriffsabsichten Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941–1945. Planung, Ausführung und Dokumentation, 5. Aufl. München 1999; Heinz Magenheimer, Militärstrategie Deutschlands 1940–1945. Führungsentschlüsse, Hintergründe, Alternativen, 3. Aufl. München 2002; Werner Maser, Der Wortbruch. Hitler, Stalin und der Zweite Weltkrieg, München 1994, S. 296ff.; Erich F. Sommer, Das Memorandum. Wie der Sowjetunion der Krieg erklärt wurde, Frankfurt a.M./Berlin 1991; Ingeborg Fleischhauer, Diplomatischer Widerstand gegen „Unternehmen Barbarossa“. Die Friedensbemühungen der deutschen Botschaft Moskau 1939–1941, Frankfurt a.M. 1991, S. 191 ff.; illustrierter Überblick Laurence Rees, Hitlers Krieg im Osten, München 2000; Gabriel Gorodetsky, Grand Delusion. Stalin and the German Invasion of Russia, New Haven/London 1999; Bernd Bonwetch, Der „Große Vaterländische Krieg“: Vom deutschen Einfall bis zum sowjetischen Sieg, in: Handb. d. Geschichte Rußlands, Bd. III , S. 909–1008;

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Anmerkungen John Erickson, Stalin’s War with Germany, 2 Bde., London 1975/1983; Alexander Werth, Rußland im Krieg 1941–1945, München 1965; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niederlage des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 596ff; ausführlich Dimitri Wolkogonow, Stalin, Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Düsseldorf/Wien 1993, S. 496 ff., 531–553.; zur Diskussion Wolfgang Strauss, Unternehmen Barbarossa und der russische Historikerstreit, 2. Aufl. München 1999; einige Beobachtungen von Wacław Długoborski, Hitler-Stalin-Pakt als „lebendige Vergangenheit“, in: Klaus Hildebrand u. a., 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg, S. 161–170. Erinnerungen einer Schlüsselfigur des sowjetischen Geheimdienstes Pawel Antoljewitsch Sudoplatow, Anatolij Sudoplatow, Der Handlanger der Macht. Enthüllungen eines KGB -Generals, Düsseldorf u. a. 1994. Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkung in zwei Weltkriegen, München 1970, S. 320. Vollständige Ausgabe Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, 3. Aufl. Berlin 2002. John Keegan, Die Maske des Feldherrn. Alexander der Große, Wellington, Grant, Hitler, Weinheim/Berlin 1997, S. 373; Gabriel Kolko, Das Jahrhundert der Kriege, Frankfurt a.M. 1999, S. 182 ff. Theo Sommer, Deutschland und Japan zwischen den Mächten 1935– 1940. Vom Antikominternpakt zum Dreimächtepakt, Tübingen 1962, S. 329 ff., 337 ff., 377 ff.; auch R. C. J. Butow, Tojo and the Coming of the War, ND Stanford, Cal. 1969, S. 148 ff.; Michael Libal, Japans Weg in den Krieg. Die Außenpolitik der Kabinette Konoye 1940/41, Düsseldorf 1971, S. 36 ff.; ausführlich Peter Herde, Pearl Harbor, 7. Dezember 1941. Der Ausbruch des Krieges zwischen Japan und den Vereinigten Staaten und die Ausweitung des europäischen Krieges zum Zweiten Weltkrieg, Darmstadt 1980; zuletzt Bernd Martin, Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg 1940–1945. Vom Angriff auf Pearl Harbor bis zur deutschen Kapitulation, Hamburg 2001. Hierzu Bernd Wegner, Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum „Unternehmen Barbarossa“, München/Zürich 1991; Gerhard Förster, Heinz Helmert, Helmut Schnittner, Der Zweite Weltkrieg. Militärhistorischer Abriß, 5. Aufl. Berlin 1989, S. 110 ff.; Hildermeier, Sowjetunion, S. 602; Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941–1945. Planung, Ausführung und Dokumentation, München 1999, S. 50 ff. Hoffmann, a.a.O., S. 125; Andreas Hillgruber, Der Zenit des Zweiten Weltkrieges. Juli 1941, Wiesbaden 1977, S. 5, hebt die „weit über das militärische Geschehen hinausgehende Bedeutung der Schlacht um Smolensk“ hervor; Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges, bes. S. 30ff., 96–135, sieht die entscheidende Wende seit Stalingrad und Kursk (1943); materialreich Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, 17. Aufl. Stuttgart 2001.

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34 Hillgruber, a.a.O., S. 8 ff.; ders., Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, Frankfurt a.M. 1965, S. 516. 35 Walther Hubatsch (Hg.), Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939– 1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, Frankfurt a. M. 1962, S. 129–134; ausführlich zum Charakter der Weisungen S. 11 ff. 36 Hubatsch, Hitlers Weisungen; Ernst Schramm (Hg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht/Wehrmachtsführungsstab, Bd. I (1940/41), zusammengestellt v. Hans-Adolf Jacobsen, Frankfurt a. M. 1965, S. 136 ff. 37 Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges, S. 272–281; nach Overy, S. 425, übertraf die sowjetische Waffenproduktion die deutsche seit 1939 bei weitem. Vgl. zu diesem Komplex auch Walter Post, Unternehmen Barbarossa. Deutsche und sowjetische Angriffspläne 1940/41, 4. Aufl. Hamburg u. a. 2001, bes. S. 320 ff. 38 RGBl 1940 II , S. 280. 39 Resümierender Geheimdienstbericht über Kriegslage und ländliche Guerrilla in den Provinzen Hopei und Shansi, Office of Strategic Services (OSS ), Research and Analysis Branch (R&A), No. 910, 18. Juni 1943, Washington, National Archives (NA ), Intelligence Reports. Die Stärke der chinesischen Kräfte in den genannten Provinzen wird mit 620000 Milizleuten und mehr als 3,8 Mio Angehörigen der Guerrilla-Selbstverteidigung angegeben. Bei den japanischen Offensiven in Hopei 1942 wurden etwa 100 000 Mann eingesetzt. 40 Zit. Peter M. Kuhfus, Die Anfänge der Volkskriegsdoktrin in China, in: Gerhard Schulz (Hg.), Partisanen und Volkskrieg, S. 69; aus der weiteren Literatur Chalmers Johnson, Autopsy on People’s War, Berkeley, Cal. 1973; vergleichend Jonathan B. Adelman, The Revolutionary Armies. The Historical Development of the Soviet and the Chinese People’s Liberation Armies, Westport/London 1980. 41 Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9. Aufl. München 1995, S. 211 ff., auch zum Folgenden; Dorothy Borg, The United States and the Far Eastern Crisis of 1933–1938. From the Mandshurian Incident through the Initial Stage of the Undeclared Sino-Japanese War, Cambridge, Mass. 1964, S. 369 ff.; Detlef Junker, Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse der Außenpolitik der USA 1933–1941, Stuttgart 1975; ders., Nationalstaat und Weltmacht. Die globale Bestimmung des nationalen Interesses der USA durch die Internationalisten 1938–1945, in: Oswald Hauser (Hg.), Weltpolitik II : 1939–1945, Göttingen 1975, S. 17–36. 42 Hillgruber, Zenit, S. 26 f.; dort weitere Literatur; William L. Langer, S. E. Gleason, The Undeclared War 1940/41, New York/London 1953. 43 Joseph E. Persico, Roosevelt’s Secret War. FDR and World War II Espionage, New York 2001, bes. S. 137–156; zur verwickelten Geschichte der Ver-

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Anmerkungen wendung geheimen Informationsmaterials, seiner Auswertungen und politischen Einschätzungen in Washington auch Bernd Martin, Deutschland und Japan, S. 26ff.; Libal, Japans Weg, S. 175; Herde, Pearl Harbor, S. 169ff.; Hinweise auf weitere Literatur Gerhard Schulz (Hg.), Geheimdienste und Widerstandsbewegungen im Zweiten Weltkrieg, Göttingen 1982. Ausführlich hierzu Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg. Dritter Band: Die Große Allianz, Bern u. a. 1953, Kap. IV. Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen/Zürich 1989, S. 108. Angermann, Die Vereinigten Staaten, S. 232 ff.; Borg, Far Eastern Crisis; dies., Shumpei Okamoto (Hg.), Pearl Harbor as History. Japanese-American Relations 1931–1941, New York 1973; Roberta Wohlstetter, Pearl Harbor. Signale und Entscheidung, Erlenbach u. a. 1966; Herde, Pearl Harbor; Herbert Feis, The Road to Pearl Harbor. The Coming of the War between the United States and Japan, Princeton, N.J. 1950; neuestens Andrew Wiest, Gregory Louis Mattson, Krieg im Pazifik. Von Pearl Habor bis Hiroshima, Wien 2002. Zum Folgenden Johannes Hürter, Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42, in: Vjhe f. Zeitgesch., 49 (2001), S. 377–440; auch Hasso G. Stachow, Tragödie an der Newa. Der Kampf um Leningrad 1941–1944. Ein Augenzeugenbericht, 3. Aufl. München 2001. Zit. Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette (Hg.), „Unternehmen Barbarossa“. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Berichte, Analysen, Dokumente, Paderborn 1984, S. 333. Generaloberst Halder, Kriegstagebuch, berarb. v. Hans-Adolf Jacobsen, Bd. 3, Stuttgart 1964, S. 209. Ueberschär, Wette, a.a.O., S. 394 ff. a.a. O., S. 399. Halder, Kriegstagebuch, Bd. 2, S. 335 ff. IMT, Bd. 36, S. 135–157. Ueberschär, Wette, a.a. O., S. 422. Albert Speer, Erinnerungen, 7. Aufl. Berlin 1970, S. 252 f. Antony Beevor, Stalingrad, Niedernhausen/Ts. 2002; Jürgen Förster (Hg.), Stalingrad. Ereignis, Wirkung, Symbol, 2. Aufl., München 1993; Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a.M. 1992; etwas anders Paul Carell, Verbrannte Erde. Schlacht zwischen Wolga und Weichsel, ND Augsburg 1999, S. 11: „Der deutsche Eroberungsfeldzug endet in Stalingrad – die deutsche Niederlage beginnt bei Kursk“. Übersicht mit biographischen Illustrationen Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben und Tod. Vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994.

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S. 288 eine Karte der jüdischen Partisaneneinheiten, die Schwerpunkte in Weißrußland, der nordwestlichen Ukraine und in Polen östlich der Linie Krakau-Warschau-Kowno erkennen läßt; auch S. 428ff. Ein Bild der Widerstandstätigkeit osteuropäischer Juden in Paris, das sich so in der Literatur nicht findet, vermittelte eine dokumentarische Fernsehsendung des Senders Arte mit Aussagen mehrerer Zeitzeugen: „Des ‚terroristes‘ en retraite“, 2001. Eine neuere deutsche Arbeit benennt „die herausragende Rolle, welche die ausländischen Juden in Widerstand gegen die deutsche Besatzung spielten,“ meint aber, daß „das antisemitisch geprägte Stereotyp eines ‚jüdisch-bolschewistischen Terrorismus‘“ unabhängig von der faktischen Beteiligung von Juden an der französischen Résistance gebildet worden sei. Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 1940–1944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000, S. 35. Anfänge einer französischen Widerstandsbewegung regten sich 1941 in einer geheimen Pariser Organisation junger, aus Osteuropa emigrierter Juden. Im Mai 1942 wurde auch im Berliner Lustgarten ein bedeutungsloser Brandanschlag verübt. Zu den verhafteten Tatverdächtigen gehörten mehrere Juden, was zu einer Vergeltungsaktion führte, in deren Verlauf schließlich 250 Juden im Konzentrationslager Sachsenhausen erschossen und ihre Angehörigen verschleppt wurden. Vgl. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, bearb. v. Peter Witte u. a., Hamburg 1999, S. 437, Anm. 86. Das weite Feld der faschistischen Kollaboration – besonders wirkungsvoll in Frankreich – kann hier nur gestreift werden. Vgl. Franz W. Seidler, Die Kollaboration 1939 – 1945, München/Berlin 1995; Walter Laqueur, Faschismus. Gestern – heute – morgen, Berlin 1997; umsichtig und ertragreich behandeltes bedeutendes Beispiel Reinhold Brender, Kollaboration in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Marcel Déat und das Rassemblement national populaire, München 1992. 58 Kettenacker, Krieg, S. 125 f. 59 Nach Eberhard Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966, u. Jean-Baptiste Duroselle, L’abîme 1939–1945; vor allem Elmar Krautkrämer, General Giraud und Admiral Darlan in der Vorgeschichte der alliierten Landung in Nordafrika, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 30 (1982), S. 206–254; ders., Admiral Darlan, de Gaulle und das royalistische Komplott in Algier, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 32 (1984), S. 529–581. 60 Der Täter, der gefaßt, im Schnellverfahren abgeurteilt und hingerichtet wurde, war ein Anhänger de Gaulles und gehörte zur SOE . Robin Edmonds, Die Großen Drei. Churchill, Roosevelt und Stalin in Frieden und Krieg, Berlin 1992, S. 296; Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998, S. 231 f.; vgl. auch Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd.4: Schicksalswende, II , Bern 1951, S. 228ff., 249–269; Krautkrämer, Admiral Darlan, S. 575 ff.

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Anmerkungen

61 Auch „Konferenzdiplomatie“, Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, S. 249 f.; dort weitere Literatur. Hervorgehoben seien Herbert Feis, Churchill, Roosevelt, Stalin. The War they Waged and the Peace they Sought, Princeton, N.Y. 1957; Gaddis Smith, American Diplomacy during the Second War, 1939–1945, New York 1965; neuerdings Steven Casey, Cautious Crusade. Franklin D. Roosevelt, American public opinion, and the war against Nazi Germany, New York 2001, bes. S. 109–120. 62 Auch über Attentate wurde berichtet. Zusammenfassender Überblick „The Underground-Movement in Germany“, 27. September 1943, OSS , R&A, No. 992, NA . Ein früherer, kürzerer Bericht unter ähnlicher Überschrift wurde dienstlich im April 1943 weitergegeben. Gekürzte und mit Anmerkungen versehene Publikation Anthony Cave Brown (Hg.), The Secret War Report of the OSS , New York 1976. 63 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. II : Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 106. Beachtung verdienen die Lageberichte des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof an den Reichsminister der Justiz, bes. 4. April 1940, 30. Juli 1941, 2. Februar 1942, 19. Februar 1944, denen eine eigene Auswertung gebührte. BA , R 22/3390. 64 Zu diesem Komplex Jürgen Heideking, Christof Mauch (Hg.), USA und deutscher Widerstand; dies., American Intelligence and the German Resistance to Hitler; Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Gründliche Behandlung amerikanischer Geheiminformationen Petra MarquardtBigman, Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942–1949, München 1995; weitere Literatur: Barry M. Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategic Services 1942–1945, Cambridge, Mass./ London 1989; Alfons Söllner (Hg.), Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1986; Joseph E. Persico, Piercing the Reich. The Penetration of Nazi Germany by Secret Agents during World War II , New York 1979. Versuch, ein schwieriges Beispiel zu behandeln, Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000. 65 Richard Breitman, Der Architekt der „Endlösung“. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn u. a. 1996, S. 219, erwähnt den „Blutsonntag“ in Bromberg (3. September) und die Greueltaten an Volksdeutschen dort wie auch anderswo. Die „organisierte Tötung polnischer Zivilisten durch SS - und Polizeitruppen“ forderte dann weit mehr Opfer. Anschauliche Darstellung aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen Helga Hirsch, Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944–1950, Reinbek 1999, S. 45–57 (zu Bromberg); zu den „polnischen Septembermorden“ Hans Lemberg, K. Erik Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München/Berlin 2001, S. 53 ff. Eine Äquivalenz der

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Handlung, auch der Vernichtung im Kriege läßt sich freilich nie voraussetzen. Die unmittelbaren Erlebnisse erzeugten andere Eindrücke, als es in der Welt der Nachlebenden mit dem Maßstab ihrer Erfahrungen in einer im wesentlichen gesicherten Rechtsorientierung geboten erscheint. Ob übertrieben oder nicht: Die etwas verspätet nach Bromberg vordringenden Soldaten waren betroffen von dem Anblick der kurz zuvor Getöteten. Aber sobald sich Publikationen und Propaganda einschalteten und die wirkungsstärksten Motive nutzten, konnte es wohl kaum ein Halten geben in der Eskalation der Gewalt gegen machtlose Unterlegene. Wie in ganz anderem Zusammenhang festgestellt worden ist, steht der „Schreck über die Tragödie … in nur geringem Zusammenhang mit der Zahl“ der Opfer. (John S. Lewis, Bomben aus dem All. Die kosmische Bedrohung, Basel 1997, S. 282) Aber er vermag unter der Voraussetzung ständiger Erneuerung und Propagierung fortzeugend böse Taten hervorzubringen. 66 Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 61, mit Literatur- und Quellenhinweisen (in englischer und polnischer Sprache). 67 Zit. Bogdan Musial, „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen“. Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941, Berlin/München 2000, S. 80. Richard Breitman, Staatsgeheimnisse. Die Verbrechen der Nazis – von den Alliierten toleriert, München 1999, S. 199: „Daß die Juden nicht als gleichrangige Staatsbürger angesehen wurden, hatte in Polen eine lange Tradition“. 68 Breitman legt Wert auf die Schilderungen eines (nichtjüdischen) Verbindungsmannes der innerpolnischen Widerstandsbewegung zur Exilregierung in London unter dem Namen Jan Karski (Staatsgeheimnisse, S. 16, 197–204, 245f., 267), dem es in Washington mit Hilfe des Rabbiners Wise gelang, im Juli 1943 Roosevelt zu sprechen. Breitman resümiert: „Mit Hilfe Jan Karskis hatte das Finanzministerium 1943 in Washington einen Kurswechsel erzwungen“. (a.a.O., S. 314) Unter diesen Umständen erschienen die anfänglich zögernden oder zweifelnden Stellungnahmen in London und Washington in jenem zweifelhaftem Licht, das die Titelei dieses Buches von Breitman andeutet. Er berücksichtigt nicht, daß Karski vorher schon über die starke antijüdische Stimmung unter Polen berichtet hatte, so 1940: „Letztlich haben die Juden in ihrer Masse eine Situation geschaffen, in der sie von den Polen als Handlanger der Bolschewiken angesehen werden. Und die Polen – das läßt sich mit Bestimmtheit sagen – warten nur auf den Augenblick, in dem sie mit den Juden abrechnen können … die überwältigende Mehrheit (vor allem der Jugend) wartet ungeduldig auf die Gelegenheit, es ihnen mit Blut heimzuzahlen“. Musial, „Konterrevolutionäre Elemente …“, S. 72. Man darf wohl davon ausgehen, daß diese Schilderung Karskis vom Frühjahr 1940 in London und Washington in Erinnerung war. – Nach Beginn des deutschen Rußland-

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Anmerkungen feldzugs formierte sich unter dem Patronat des sowjetischen Informationasbüros ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee ( JAK ), das – in steter Verbindung mit Organisationen in den USA – eine umfangreiche Propaganda für die Rote Armee und Aufklärung über nationalsozialistische Verbrechen gegen Juden betrieb. Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug, bes. S. 357 ff.; hierzu neuerdings auch Uwe Mai, „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS -Staat, Paderborn u. a. 2002, Dritter Teil. Erfahrungsberichte des dem Chef der Bandenkampfverbände unterstehenden Polizeibataillons 22 verzeichnen Zwangsevakuierungen polnischer Bauern in dem Deutschland einverleibten Regierungsbezirk Litzmannstadt, um die Ansiedlung von Wolhynien-Deutschen in die Wege zu leiten: im Mai 1940 in insgesamt 57 Dörfern 4430 Evakuierte, davon 21 „festgenommen“, im Juli in 11 Dörfern 532 und im August 1940 in 11 Dörfern 1266 Evakuierte. Über das Schicksal der Evakuierten verlautet nichts. BA , R 20/51. Unter den Versuchen, Himmler zu charakterisieren, gebührt dem seines Masseurs Kersten Beachtung: „Für sein gesamtes Denken war eine ganz bestimmte Vorstellung vom Menschen maßgeblich … Es war der germanische Mensch, über dessen Tun und Handeln Himmler bestimmte … Ansichten besaß, die er in Richtlinien und Leitsätzen zur unumstößlichen Norm zunächst für seine SS erhob und wonach er künftig das ganze deutsche Volk ausrichten wollte“. Felix Kersten, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform, Hamburg 1952, S. 390 f. Berichte BA , NS 6/795. Wacław Długoborski, Die deutsche Besatzungspolitik und die Veränderung der sozialen Struktur Polens 1939–1945, in: ders. (Hg.), Zweiter Weltkrieg und sozialer Wandel, Göttingen 1981, S. 303–363. Unter dem Patronat des sowjetischen Informationsbüros formierten zahlreiche jüdische Prominente ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee ( JAK ), das in Verbindung mit Organisationen in den USA Propaganda für die Rote Armee und Aufklärung über nationalsozialistische Verbrechen an Juden betrieb. Vgl. Samson Madievski, Die Tragödie der loyalen sowjetischen Juden, in: Neue Zürcher Zeitung, 3./4. Aug. 2002, S. 53.f. Ausdruck v. Eugen Kogon, Der SS -Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946. Führererlaß vom 17. Juli 1941, BA , R 43 II /138a. Die Erforschung der Judenverfolgung und -vernichtung kam erst einige Zeit nach dem Kriege voran und erreichte während der letzten Jahrzehnte ihren heutigen Horizont, was freilich unsichere oder fehlgehende Urteile nicht gänzlich ausschließt. Als Stationen sind hervorzuheben Martin Broszat (Hg.), Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, Stuttgart 1958; Uwe Dietrich Adam, Judenpoli-

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tik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972 (2. Aufl. 1979); nach der weltweiten Aufführung des Films „Holocaust“: Christopher R. Browning, Fateful Months. Essays on the Emergence of the Final Solution, New York/London 1985; Martin Gilbert, The Holocaust. A History of the Jews of Europe during the Second World War, New York 1985; Omer Bartov, The Eastern Front, 1941–1945. German Troops and the Barbarazitation of Warfare, Oxford 1985 (deutsch 1995); Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1990; Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991; Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991; nach Beginn der neuen Balkankrise: Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1995; Richard Breitman, Architect of Genocide. Himmler and the Final Solution, New York 1991 (deutsch Paderborn u. a. 1996); ders., Staatsgeheimnisse. Dennoch bleiben ungesicherte Sphären der Kenntnis. Hinweise Winkler, Der lange Weg nach Westen, II : Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, S. 72–96; für Weißrußland Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941–1944, Düsseldorf 1998. – Eine längst fällige Darstellung: Joël Kotek, Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung, Berlin/München 2001. Breitman, Architekt, S. 202. Aly, a.a.O., S. 29. In einem Bericht von Blaskowitz an Brauchitsch, den Oberbefehlshaber des Heeres, Ende November 1939, fehlte es nicht an deutlichen Worten über „Greuelhandlungen der Sicherheitspolizei“ und die „fast ausschließlich als Exekutionskommandos arbeitenden Einsatzgruppen … Die Polizei hat bisher noch keine sichtbaren Aufgaben der Ordnung geleistet, sondern nur Schrecken in der Bevölkerung verbreitet“. Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers, S. 426. a.a.O., S. 223–236. Lange übersehen: Bryan Mark Rigg, Hitlers jüdische Soldaten, Paderborn u. a. 2003. Vgl. Harold C. Deutsch, The Conspiracy against Hitler in the twilight war, London 1968, S. 185 ff., 281 ff. Heinrich Himmler, Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson, Frankfurt a. M. u. a. 1974, S. 123 f. Zum Hintergrund medienwirksamer Darstellungen Guido Knopp, Die SS . Eine Warnung der Geschichte, München 2002. a.a.O., S. 132. a.a.O., S. 133 f.; vgl. auch Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939–1945, Stuttgart 1961.

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Anmerkungen

85 Himmler, Geheimreden, S. 139. 86 Aus dem Tagebuch von Herzl zit. Rudolf Kallner, Herzl und Rathenau. Wege jüdischer Existenz an der Wende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, S. 9. 87 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, Teil 1, 2. 88 David Ben Gurion, Wir und die Nachbarn. Gespräche mit arabischen Führern, Tübingen 1968, S. 10. Vgl. Angelika Timm, Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung, 3. Aufl. Bonn 1998, Vorgeschichte; dort auch weitere Literatur. 89 Alex Carmel, Die Siedlung der württembergischen Templer in Palästina 1868–1918. Ihre lokalpolitischen und internationalen Probleme, 2. Aufl. Stuttgart 1997. 90 Über innere Gegensätze im deutschen Judentum und die Bedeutung der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland Bernhard Trefz, Jugendbewegung und Juden in Deutschland. Eine historische Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des Deutsch-Jüdischen Wanderbundes „Kameraden“, Frankfurt a.M. 1999. 91 Tagebuchnotiz, zit. Hans Jansen, Der Madagaskar-Plan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar, Vorwort v. Simon Wiesenthal, München 1997, S. 205. 92 Ausführlich hierzu und zum Folgenden a.a.O., I. u. II . Teil. 93 Hierzu Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 4. Aufl. München 1998; Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland, Hamburg 1986. 94 Jansen, a.a.O., S. 43. 95 a a.O., S. 48 f. 96 Zur Literatur a.a.O., S. 52 ff. 97 Ausführlich a.a.O., S. 60–72; erwähnt v. Ian Kershaw, Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000, S. 431. 98 Christopher Browning, The Final Solution and the German Foreign Office, New York/London, S. 35. 99 Diese grundlegende Feststellung Götz Aly, „Endlösung“, S. 9. 100 Im Sommer 1940 hielt offenbar auch Heydrich noch am Madagaskar-Projekt fest. „Eine biologische Vernichtung wäre aber des deutschen Volkes als einer Kulturnation unwürdig“. Zit. a.a.O., S. 11. 101 a.a.O., S. 29 f. 102 a.a.O., S. 33. 103 Vgl. die bahnbrechenden Arbeiten Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, Düsseldorf 1972; Christopher Browning, The Path To Genocide. Essays On Launching The Final Solution, Cambridge, Mass. 1992; zur Goldhagen-Debatte Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, erw. Aufl. Berlin 1999, S. 292–308.

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104 Eingehende Schilderungen Richard Breitman, Architekt, S. 227–234. 105 a.a.O., S. 225. Die zunehmende Unsicherheit Hitlers in diesem Zusammenhang: Philippe Burrin, Hitler und die Juden. Die Entscheidung für den Völkermord, Frankfurt a.M. 1993, bes. S. 160–171; vgl. auch JeanClaude Pressac, Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes, 2. Aufl. Augsburg 1995. 106 Hierzu Browning, The Path To Genocide, zum Folgenden bes. S. 169–183; zuvor, danach etwas revidiert, ders., in: Peter Hayes (Hg.), Lessons and Legacies: The Meaning of the Holocaust in a Changing World, Evanston, Ill. 1991, S. 196–209. 107 Das Beispiel des Reservepolizeibataillons 101 aus Hamburg im Bezirk Lublin schildert Browning, Path, S. 172 ff.: 210 ehemalige Angehörige dieses Bataillons wurden in den sechziger und siebziger Jahren verhört. Gemeinsam mit zwei anderen Bataillonen war es in Lublin stationiert. Am 12. Juli 1942 traf ein Zug mit 1800 Juden in Józefów ein. 300 kamen nach Lublin. 1500 Frauen, Kinder und ältere Leute wurden erschossen. Der Kommandeur hatte die Offiziere vorher instruiert. Ein Reserveleutnant weigerte sich und bekam daraufhin das Kommando nach Lublin. Die Aufgabe wurde vom Kommandeur den Mannschaften erläutert, wobei er die Tötung von Zivilisten durch Bombenangriffe in der Heimat erwähnte. Begründet wurde die Erschießungsaktion damit, daß Juden in Józefów Partisanen unterstützt hätten. Wer an der Aktion nicht teilnehmen wollte, sollte vortreten. Dies taten einige. Der Major schien offenbar betroffen und erschüttert; aber er führte den Befehl aus. Überliefert sind die Worte: „Wenn sich diese Judensache einmal auf Erden rächt, dann gnade uns Deutschen“. 108 Mathias Beer, Die Entwicklung der Gaswagen beim Mord an den Juden, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 35 (1987), S. 407, 413. Die wenig Aufschluß gewährenden Stichworte in: Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/1942, bearb. u. kommentiert v. Peter Wille u. a., Hamburg 1999, ergeben hierzu keinen Hinweis, auch nicht die umfangreichen Kommentierungen durch die Bearbeiter mit Hilfe anderer Quellen. Man bleibt auf ältere Darstellungen verwiesen, vor allem Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 548. Vollständig auf Band erhalten gebliebene Geheimrede Himmlers vor Generälen der Waffen- SS im Posener Schloß am 4. Oktober 1943, wurde im vollen Wortlaut im Fernsehen (ZDF ) am 4. November 2001 gesendet. 109 Vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. 110 Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 14. Aufl. 1995, S. 399ff.; Breitman, Architekt, S. 312; vorher Leon Poliakov, Josef Wulf, Das Dritte Reich und

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Anmerkungen die Juden. Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955, S. 46 f. Auch ein gründlich die Zahlen der Opfer genauestens ermittelnder Forscher wie Breitman vermag nur ansatzweise zu differenzieren, wenn es um Schuldfragen geht: „Es gilt jedoch zu unterscheiden zwischen den treibenden Kräften, dem großen Kreis der an der ‚Endlösung‘ unmittelbar Beteiligten und der Gesellschaft insgesamt, die im großen und ganzen das Programm nicht ablehnte – selbst als man vom Massenmord an den Juden erfuhr oder gerüchteweise davon hörte“. (Breitman, Architekt, S. 326) Als ob der „Massenmord an den Juden“ Gesprächsstoff gewesen sei und es Meinungsäußerungen hierzu gegeben habe. Daß die unmittelbar Beteiligten unter Eid zur Verschwiegenheit verpflichtet wurden, bleibt in diesem Zusammenhang unerörtert. Die auf den Einsatz einer starken Panzerwaffe und Luftwaffe setzende Blitzkriegsstrategie hat sich 1943 sowohl im Osten als auch im Süden verausgabt. Überblick Adrian Gilbert, Blitzkriege 1939–1943. Von der Invasion in Polen bis El Alamein, Wien 2001; vgl. auch Heinz Magenheimer, Militärstrategie Deutschlands 1940–45. Führungsentschlüsse, Hintergründe, Alternativen, 3. Aufl. München 2002, S. 118 ff., 189 ff. Hierzu Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik; Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung; Dittmar Dahlmann, Gerhard Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation, Essen 1999. Zu der häufig zitierten Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 Ulrich Herbert (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939/1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt a.M. 1998; Mark Roseman, Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS -Bürokratie den Holocaust organisierte, München/Berlin 2002; Breitman, Architekt, S. 302–320; über Kenntnis und Beteiligung der Führungsclique zuletzt Richard Overy, Verhöre. Die NS -Elite in den Händen der Allierten 1945, 2. Aufl. München 2002. Joachim Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg; Bernd Bonwetch, Sowjetische Partisanen 1941–1944, in: Schulz (Hg.), Partisanen und Volkskrieg, S. 92–124; Raymond Cartier, Der Zweite Weltkrieg, München 1967, 1. Bd., S. 350 f. Cartier, a.a.O., 2. Bd., S. 804; Vergleich und Statistik der Menschenopfer auf beiden Seiten Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin, Göttingen 2000, S. 98–131; vgl. ders. (Hg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000. Hierzu neben der genannten Literatur Percy Ernst Schramm (Hg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht/Wehrmachtsführungsstab, Bd. I, S. 1028 f.; Andreas Hillgruber, Der Zweite Weltkrieg. Kriegsziele und Strategie der großen Mächte, 5. Aufl. Stuttgart u. a. 1989, S. 70 ff.,182; Helmut Krausnick, Judenverfolgung, in: Martin Broszat,

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Hans Buchheim, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick (Hg.), Anatomie des SS -Staates, Freiburg i. B. 1965, Bd. II , S. 360 ff.; Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg, S. 206 ff.; Eberhard Jäckel, Jürgen Rohwer (Hg.), Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1985. Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine unversalhistorische Deutung, München 1999, S. 230. Als unermüdlicher antijüdischer Kollaborateur und Führer eines arabischen Nationalismus war Mohammed Amin el-Husseini, Mufti von Jerusalem, im Orient, in Berlin und Rom tätig. Vgl. Fritz Grobba, Männer und Mächte im Orient. 25 Jahre diplomatischer Tätigkeit im Orient, Göttingen u. a. 1967; Klaus Gensicker, Der Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, und die Nationalsozialisten, Frankfurt a.M. 1988; Franz W. Seidler, Die Kollaboration 1939–1945, München/Berlin 1995, bes. S. 263–268 Außer der genannten Literatur hierzu Gerald Fleming, Hitler und die Endlösung, Frankfurt a.M./Berlin 1987; Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991; Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt a.M. 1992; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993. Der Nacht- und Nebel-Erlaß vom 7. Dezember 1941 füllte die Konzentrationslager. Bei Kriegsbeginn zählten sie etwa 20000 Insassen, gegen Kriegsende nahezu 600000, die Vernichtungslager im Osten nicht inbegriffen. Nach der Übernahme des Oberbefehls durch Hitler im Dezember 1941 wurde allmählich, nach Verabschiedung des Generalstabschefs Halder im September 1942 noch rascher der Widerstand der Heeresführung abgebaut. Ein Zeugnis der Unmenschlichkeit war der Befehl zur Räumung des ständig aufgefüllten Warschauer Ghettos Ende 1942, der nach Widerstand so ausgeführt wurde, daß im April und Mai 1943 fast alle Einwohner den Tod fanden. Späte Versuche, Hitler für eine die Ostvölker gewinnende Politik einzunehmen, schlugen fehl. Vgl. Heinz Magenheimer, Militärstrategie Deutschlands, S. 224 ff. Horst Boog, Strategischer Luftkrieg in Europa und Reichsluftverteidigung 1943 bis 1944, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 7, München 2001, S. 4; jüngste Schilderung vernichtender Wirkungen in Deutschland Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, München/Berlin 2002. „Bilanz der V-Waffen-Offensive“ Boog, a.a.O., S. 411 ff. Zwar waren die Verluste der Zivilbevölkerung in England und später in Belgien hoch; aber die Zielungenauigkeit der Geschosse beeinträchtigte die militärischen Ergebnisse erheblich. Zur Technik Wilhelm Hellmold, Die V 1. Eine Dokumentation, Augsburg 1999; zur Propaganda Heinz Dieter Hölsken, Die V-Waffen. Entstehung – Propaganda – Kriegseinsatz, Stuttgart 1984.

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Anmerkungen

121 In Südostasien entstanden komplizierte und schließlich sich wandelnde Beziehungen, die zeitweilig zu einem Einvernehmen zwischen Japanern und der französischen Kolonialverwaltung führten. 122 David M. Glantz, Harold S. Orenstein (Hg.), The Battle for Kursk 1943, London u. a. 1999. Zum konfusen Verhalten Hitlers Carell, Verbrannte Erde, bes. S. 75 f. 123 Vgl. Duncan Anderson, Das Ende des Dritten Reiches 1944–1945. Von der Landung in der Normandie bis zum Fall von Berlin, Wien 2002; ders., Die Ostfront 1941 bis 1945. Babarossa, Stalingrad, Kursk und Berlin, Wien 2002; Karl Bahn, Berlin 1945. Die letzte Schlacht des Dritten Reichs, Klagenfurt 2002. 124 Der oben erwähnte Bericht OSS , R&A Branch, 27. September 1943, vermittelt den Eindruck weit verbreiteter Untergrundorganisationen unter Deckmänteln bis hin zu den sogenannten „SA -Freunden“. 125 Man erkannte die „Angst, was die Konsequenzen von Niederlage und Zerstörung des Regimes sein werden. Dieser Angst kann nur durch eine intelligente politischer Kriegführung begegnet werden. Sie kann vielleicht durch das Angebot einer Alternative zum Chaos, zum Bürgerkrieg oder sogar zur nationalen Ausrottung, die im Falle der Niederlage viele erwarten, den partiellen Widerstand zu einem totalen machen.“ Ebda. (hier übers.) 126 Biographie Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder; Wolfgang Venohr, Stauffenberg, Symbol des Widerstands. Eine politische Biographie, 3. Aufl. München 2000; auch des Bruders Rolle, eines Völkerrechtlers, ist zu bedenken; vgl. Alexander Meyer, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg (1905–1944). Völkerrecht im Widerstand, Berlin 2001. 127 In einer zwischen Widersprüchen, Mutmaßungen und Bewertungen einer sogenannten „Qualität des Erneuerungswillens der Widerstandskämpfer“ schwankenden deutschen Historiographie zum innerdeutschen Widerstand bleibt der erste Versuch von Hans Rothfels denkwürdig, Die deutsche Opposition gegen Hitler, neue Ausg. mit einer Einführung v. Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Zürich 1995 (zuerst: The German Opposition to Hitler, Hinsdale, Ill. 1948); knappe, aber umfassende Darstellung Terence Prittie, Deutsche gegen Hitler. Eine Darstellung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus während der Herrschaft Hitlers, Tübingen 1964. Wichtig Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 4. Aufl. München/Zürich 1985; Zeugnis eines Beteiligten, Die Hassell-Tagebücher 1938–1944, revid. Ausg.; Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994; amerikanisches Zeugnis Allen Welsh Dulles, Germany’s Underground, New York 1947; Ernst von Harnack, Jahre des Widerstands 1932–1945, hg. v. Gustav-Adolf von Harnack, Pfullingen 1989; Ru-

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dolf Lill, Heinrich Oberreuter (Hg.), 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf/Wien 1984; Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967; Julius Leber, Ein Mann geht seinen Weg. Schriften, Reden und Briefe, Berlin/Frankfurt a.M. 1952; biographische Darstellung Gerhard Ritter, Karl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 3. Aufl. Stuttgart 1956; mit vielen Mutmaßungen Klemens von Klemperer, Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938–1945, Berlin 1994. Zur älteren Literatur Gerhard Schulz, Über Entscheidungen und Formen des politischen Widerstandes in Deutschland, in: Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe f. Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerhard A. Ritter u. Gilbert Ziebura, Berlin 1963, bes. S. 83–114; ders., Nationalpatriotismus und Widerstand. Ein Problem der europäischen Krise und des Zweiten Weltkriegs – nach vier Jahrzehnten Widerstandsgeschichte, in: Vhje. f. Zeitgesch., 32 (1984), S. 331–372. Zeugnis eines häufig genannten Zirkels Klaus Scholder (Hg.), Die Mittwochs-Gesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932–1944, Berlin 1982. Erwähnt sei Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), „Spiegelbild einer Verschwörung“. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD -Berichterstattung, geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, 2 Bde., Stuttgart 1984. Sie bezeugen „Verzerrungen, Boshaftigkeiten, Ignoranz und falsche Akzente“ und vermitteln ein Bild, das „wohl kaum – oder höchstens in Ausnahmefällen – den Realitäten entsprochen hat, sondern den Intentionen der Verfolger“. (I, S. XXI ) Der Tenor dürfte Hitler in der Überzeugung von der „Unfähigkeit“ und „Treulosigkeit“ der Verschwörer (John Lukacs, Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung, München 1997, S. 233) bestärkt haben. Auch die offizielle Propaganda folgte dieser Richtung. Neuerdings sind diese Berichte Kaltenbrunners an Bormann für bare Münze genommen und einer eigenen Darstellung nebst Charakterzeichnungen zugrunde gelegt worden. Theodore S. Hamerow, Die Attentäter. Der 20. Juli – von der Kollaboration zum Widerstand, München 1999. 128 Albrecht Haushofer, Moabiter Sonette, Berlin 1946, ND 1976, 3. Aufl. 1987. 1948 erschien eine Teilausgabe der ursprünglich 80 Sonette in der Schweiz, in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren folgten Übersetzungen ins Französische, Russische, Spanische, Italienische, Norwegische und Englische. Danach, im Zeitalter der Holocaust-Deutungen gerieten sie ebenso in Vergessenheit wie die Dramen Haushofers, „Scipio“ (1934), „Zola“ (1938), „Augustus“ (Berlin 1939). Aus der Literatur Rainer Hildebrandt, Wir sind die Letzten. Aus dem Leben des Widerstandkämpfers Albrecht Haushofer und seiner Freunde, Neuwied/Berlin o. J. [1949]; zuletzt Ernst Haider, Amelie Ihering, Carl Friedrich von Weizsäcker, Albrecht Haushofer und seine Freunde, Ebenhausen 2002.

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Anmerkungen

129 Richard Lamb, Der verfehlte Frieden. Englands Außenpolitik 1935–1945, Frankfurt a.M. 1989, S. 315. 130 Eingehend Lothar Kettenacker, Krieg, S. 423–434. Lord Halifax, der britische Botschafter in Washington, versuchte, Differenzen zu überbrücken. Er wies seine Regierung auf die in Amerika 1944 bevorstehenden Wahlen hin und darauf, „daß die Stimmen der Juden in den Vereinigten Staaten eine große Rolle spielen“. Breitman, Staatsgeheimnisse, S. 275. 131 Breitman, a.a.O., S. 26–290; Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, S. 279 f. 132 Hierzu Anton Joachimsthaler, Hitlers Ende. Legenden und Dokumente, Augsburg 1998. Vgl. Joachim Fest, Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches, Berlin 2002, bes. S. 147 ff.; Joachim Schultz-Naumann, Die letzten dreißig Tage. Das Kriegstagebuch des OKW April bis Mai 1945, 2. Aufl. München /Raststatt 1983, S. 62–69. 133 Erwähnt seien auch die älteren Versuche von Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, ND Zürich 1946; Wiliam L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, mit Vorwort v. Golo Mann, Köln o. J.; Alan Bullock, Hitler. Eine Studie über Tyrannei, ND Düsseldorf 1967; ders., Hitler und Stalin. Parallele Leben. Berlin 1991; Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Berlin 1973; Jean Toland, Adolf Hitler, 2 Bde., Bergisch Gladbach 1972; Arno Plack, Hitlers langer Schatten, 2. Aufl. München 2001; von einem Psychologen Manfred Koch-Hillebrecht, Homo Hitler. Psychogramm des deutschen Diktators, München 1999. 134 Man braucht Hitlers gelegentliche Anwandlungen, sich auf „die Vorsehung“ zu berufen, nicht gleich zum Schlüssel eines Verständnisses der Persönlichkeit zu stilisieren. Sie wiesen in einen Freiraum mystifizierender Phantasie. Vgl. Winfried Hover, Schrecken und Heil. Aspekte politischer Zeiterfahrung bei Romano Guardini, in: Hans Maier (Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 171 f. Weit ausholender Versuch Wolfgang Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewußtseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jb. d. Historischen Kollegs 2001, S. 47–75. 135 Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, S. 101–126. 136 Carl Amery, Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts, München 1998, S. 187. 137 Bedenkenswert Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, Vorwort v. Brigitte Hamann, 2. Aufl. Esslingen/München 1998. 138 Hitler, Mein Kampf, 31. Aufl. München 1933, S. 147. Vgl. auch Werner Maser, Adolf Hitlers Mein Kampf. Geschichte, Auszüge, Kommentare, 9. Aufl. Esslingen 2001, bes. S. 96 ff. Aufschlüsse über Hitler und die Polykratie seines Führerstaates Albert Speer, „Alles, was ich weiß“. Aus un-

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bekannten Geheimdienstprotokollen vom Sommer 1945, hg. v. Ulrich Schlie, München 1999. Mentale wie psychologische Aufschlüsse können die tagebuchartigen Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier von Mitschreibenden vermitteln, die Hitler selbst bestimmt hatte. Er gab sich im engsten Kreise überaus gesprächig bis in die Nacht hinein; er monologisierte und tat sich kund. An seiner Belesenheit, seinem guten Gedächtnis und steter Gedankenarbeit kann es ebenso wenig Zweifel geben wie an der überaus häufig polemischen Zuspitzung seiner Denkweise. Vgl. vor allem die letzte dieser Veröffentlichungen: Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet v. Heinrich Heim, hg. u. kommentiert v. Werner Jochmann, Hamburg 1980, ND München 2000. 139 Anschaulich geschildert in der Krise während des Kaukasusfeldzuges im September 1942 von Jochmann, a.a.O., S. 9; knapp und klar Walter Laqueur, Faschismus. Gestern – heute – morgen, S. 47 ff. Man muß auch die heftige Rivalität unter den engeren Vertrauten Hitlers im Auge behalten, die sich durch Bekräftigung der Ansichten Hitlers zu behaupten versuchten. Hinweise in nicht unparteiischen Erinnerungen v. Reinhard Spitzy, So haben wir das Reich verspielt. Bekenntnisse eines Illegalen, 5. Aufl. München 2000, bes. S. 275 ff., Zeugnisse über Reichsaußenminister von Ribbentrop S. 509–513. 140 Zu Sorel und Deutschland Michael Freund, Georges Sorel. Der revolutionäre Konservativismus, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1972 (1. Aufl. 1933); Hans Barth, Masse und Mythos. Die ideologische Krise an der Wende zum 20. Jahrhundert und die Theorie der Gewalt: Georges Sorel, Hamburg 1959; Helmut Berding, Rationalismus und Mythos. Geschichtsauffassung und politische Theorie bei Georges Sorel, München/Wien 1969; Jean-Paul Sartre, Matérialisme et Révolution, in: Les Temps Modernes, 9 (Juni) u. 10 (Juli), 1946. Vgl. James D. Wilkinson, The Intellectual Resistance in Europe, Cambridge, Mass. 1981, S. 86; Jack J. Roth, The Cult of Violence. Sorel and the Sorelians, Berkeley, Cal. 1980, S. 276; aus der Literatur zu Frankreich Zeev Sternhell, Ni droite, ni gauche. L’idéologie fascisme en France, 2. Aufl. Brüssel 1987; Reinhold Brender, Kollaboration in Frankreich, Einleitung; zur Erörterung der älteren Literatur Gerhard Schulz, Faschismus – Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922–1972, Frankfurt a.M. u. a. 1974. 141 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit, 1. Aufl. München 1930. Zu Rosenberg Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn u. a. 1998, S. 101 ff. Allgemein formuliert in der phänotypologischen Darstellung Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 469: „Die Rolle des Führers ist nicht rational begründet,

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Anmerkungen sondern beruht auf einem Mythos … Auch die Rolle des Volkes wird durch einen Mythos definiert, im deutschen Fall durch den der Rasse. Auch hier kommt es weniger auf die Realität als auf den Glauben an …“. Rudolf Semmler, Goebbels – the man next to Hitler, hg. v. Donald McLachlan, London 1947, S. 57. Der von dem mit geheimdienstlichen Tätigkeiten vertrauten Herausgeber vermutete Verlust der Tagebücher von Goebbels hat sich später als Irrtum herausgestellt. Doch dies mindert nicht den Wert einiger Aufzeichnungen Semmlers. In der Diskussion Ian Kershaw, Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980; ders., Popular Opinion and Political Dissent in the Third Reich. Bavaria 1933–1945, Oxford 1983; ders., Hitlers Macht. Das Profil der NS -Herrschaft, München 1992, bes. S. 239ff.; zuletzt ders., Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000; kontroverse Ansichten in dem zweisprachigen Sammelband von Gerhard Hirschfeld, Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, Beiträge v. Klaus Hildebrand u. Hans Mommsen. Grundlegend Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989. Rebentisch, a.a.O., S. 39–43. Carin Kesselmeier, Der Leitartikler Goebbels in NS -Organen „Der Angriff “ und „Das Reich“, Münster 1967; Karl-Dietrich Abel, Presselenkung im NS -Staat. Eine Studie zur Geschichte der Publizistik in der nationalsozialistischen Zeit, Berlin 1968. Martin Moll, Steuerungsinstrumente im „Ämterchaos“? Die Tagungen der Reichs- und Gauleiter der NSDAP, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 49 (2001), S. 215–273. Overy, Wurzeln des Sieges, S. 134–174. Speer, Erinnerungen, S. 325 ff.; vgl. Gregor Janssen, Das Ministerium Speer, S. 166 f. Zu Speer auch Richard Overy, Verhöre. Die NS -Elite in den Händen der Allierten 1945, München 2002, S. 125–136. Zu den hier nicht verfolgten Tendenzen in der Wirtschaftsorganisation des totalitären Staates Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsverhältnis von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982, bes. S. 111 ff., 255–275. Vollständiger Vortrag der Rede nach einem erhaltenen Tonträger als Fernsehsendung „Das Himmlerprojekt“. Protokoll einer Besprechung des Führers mit General Reinicke, Bormann, Generalfeldmarschal Keitel und anderen am 7. Januar 1944 in der Wolfsschanze, BA , NS 6/162. Der Bezug zum „Bund deutscher Offiziere“ ist unübersehbar. General von Seydlitz wird namentlich genannt. Hubatsch, Hitlers Weisungen, S. 303. Zuletzt Catherine Schiemann, Der Geheimdienst beendet den Krieg. „Operation Sunrise“ und die deutsche Kapitulation in Italien, in: Jürgen

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Heideking, Christof Mauch (Hg.), Geheimdienstkrieg gegen Deutschland. Subversion, Propaganda und politische Planungen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg, S. 142–165; vgl. Joseph E. Persico, Roosevelt’s Secret War, S. 420–429. Text französisch Claude Albert Colliard, Droit international et Histoire diplomatique. Documents choisis, 2e éd., Paris 1950, S. 630 f.; EuropaArchiv 1946, S. 212 f.; Amtsblatt des Kontrollrates für Deutschland, Erg.-H. 1, S. 6; Ernst Rudolf Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. II , Tübingen 1949, S. 157. Bericht mit Illustrationen und Dokumenten zur Abfolge der Kapitulationsakte Joachim Schultz-Naumann, Die letzten dreißig Tage, bes. S. 135–156. Zum Ablauf Notizen v. Karl Koller, Der letzte Monat, 14. April bis 27. Mai 1945. Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen Chefs des Generalstabs der deutschen Luftwaffe, Esslingen/ München 1985, bes. S. 132–154. Amtsblatt des Kontrollrates, Erg.-H. 1, S. 7 ff.; Huber, a.a.O., S. 158–169. Foreign Relations of the Unites States. Diplomatic Papers: The Conference of Berlin, 1945, vol. II , Washington 1960, bes. S. 1477–1498. Overy, Wurzeln des Sieges, S. 167 f. Gabriele Metzler, Internationale Wissenschaft und nationale Kultur. Deutsche Physiker in der internationalen community 1900–1960, Göttingen 2000, S. 202–209; vgl. auch Richard Rhodes, The Making of the Atomic Bomb, New York 1986. Vgl. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2001; Heinz Nawratil, Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, 10. Aufl. München 2001; Stefan Aust u. a. (Hg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart/München 2002; K. Erik Franzen, Hans Lemberg, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, München/Berlin 2001. Ulrich Herbert, Axel Schildt (Hg.), Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948, Essen 1998, S. 9. Vgl. Nawratil, a.a.O., bes. S. 43–67; Klaus Rainer Röhl, Verbotene Trauer. Die vergessenen Opfer, München 2002, bes. S. 175–212; Peter Glotz, Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, Frankfurt a.M./Berlin 2003. Auf polnischer Seite Bernadetta Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949, Übers. aus dem Polnischen, München 2003; von der tschechischen Seite Karel Jech (Hg.), Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940–1945, zweisprachige Ausgabe Brünn 2003; vor allem Niklas Perzi, Die Benesˇ-Dekrete. Eine europäische Tragödie, St. Pölten u. a. 2003.

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Anmerkungen

III Große Allianz und Teilung der Welt 1 Resümierend Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart/München 2000, S. 407–417. 2 Aus der Literatur die offizielle britische Darstellung S. Woodburn Kirby u. a., The War Against Japan, 3 Bde., London 1957–1961; Roberta Wohlstetter, Pearl Harbor: Warning and Decision. A capable analysis of the Pearl Harbor hearings conducted by a joint committee of the 79th Congress, Stanford, Cal. 1962. 3 Zeugnisse in: Hitlers politisches Testament. Die Bormann-Diktate vom Februar und April 1945, mit einem Essay v. Hugh R. Trevor-Roper, Hamburg 1981; Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, 2. Aufl. Berlin 1995; ders., Hitlers’ Table Talk 1941–1944. With introductery essay on the Mind of Adolf Hitler, London 1953; Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, aufgezeichnet von Heinrich Heim, hg. u. kommentiert v. Werner Jochmann, München 2000. 4 Albert Speer, Erinnerungen, 7. Aufl. Frankfurt a.M./Berlin 1970, S. 446. Ähnliche Äußerungen des resignierenden Hitler sind auch an anderen Stellen überliefert. Zu Speer Ulrich Schlie (Hg.), Albert Speer, „Alles was ich weiß.“ Aus unbekannten Geheimdienstprotokollen 1945, München 1999. 5 Sir Robert Gilbert Vansittart, Black Record. Germans Past and Present, London 1941; hierzu Hermann Fromm, Deutschland in der öffentlichen Kriegszieldiskussion Großbritanniens 1939–1945, Frankfurt a. M. 1982, S. 71 ff., 77 ff.; zum Folgenden umfassend Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen/Zürich 1989, S. 38 f. 6 Vansittart, The Roots of the Trouble, London 1941, S. 11. 7 Harley Notter, Postwar Foreign Policy Preparation 1939–1945, ND Westport, Conn. 1975; Dokumente zur Deutschlandpolitik, I, 2: 11. August bis 31. Dezember 1942. Amerikanische Deutschlandpolitik, bearb. v. MarieLuise Goldbach, Frankfurt a.M. 1986. Auch im OSS rieten Denkschriften von einer Aufteilung Deutschlands ab; aber es gab gewichtige Gegenstimmen. Zum Umkreis Jürgen Heideking, Christof Mauch (Hg.), American Intelligence and the German Resistance. Documentary History, Boulder, Col./Oxford 1996, S. 47, 49; Heideking, Mauch (Hg.), Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich der amerikanischen Geheimdienste 1941– 1945, Stuttgart 1999, S. 132 f. 8 Aus der Literatur hierzu Tony Sharp, The Wartime Alliance and the Zonal Divison of Germany, Oxford 1975; Gerhard Schulz, „Dismemberment of Germany“. Kriegsziele und Koalitionsstrategie 1939–1945, in: Hist. Zeitschr., 244 (1987), S. 29–92; kurze Fassung in: Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa.

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Festschrift f. Karl Dietrich Bracher, hg. v. Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen, Hans-Helmuth Knütter, Hans-Peter Schwarz, Düsseldorf 1987, S. 287–315. Vgl. W. Averell Harriman, Elie Abel, In geheimer Mission. Als Sonderbeauftragter Roosevelts bei Churchill und Stalin 1941–1945, Stuttgart-Degerloch 1979, S. 6–225, 308–330; Andrej Gromyko, Erinnerungen, Düsseldorf u. a., S. 117–137; ergänzend Dimitrij Wolkogonow, Stalin. Triumph und Tragödie, Düsseldorf/Wien 1993, bes. S. 661 ff.; Robin Edmonds, Die Großen Drei. Churchill, Roosevelt, Stalin in Frieden und Krieg, Berlin 1992, S. 332–339, 389–400. Knapp und aufschlußreich Gromyko, Erinnerungen, S. 124–135; Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt, München 1998, S. 142. Henry Luce, vgl. Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987, S. 360 f. Victor Rothwell, Britain and the Cold War 1941–1947, London 1982, S. 24 f; Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe, Bd. 1: 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941. Britische Deutschlandpolitik, bearb. v. Rainer A. Blasius, Frankfurt a.M. 1984, S. 221 ff. Über Parteien und die Regierung General Sikorskis in Paris, danach in London Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 77 ff. Dokumente, S. 360ff.; Rothwell, Britain, S. 182 f., 105 f. Proposals to counter the German „New Order“, abgedruckt in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Bd. XXV : Activities 1940–1944. Shaping the postwar world, the Clearing Union, hg. v. Donald E. Moggridge, London/New York 1980, S. 7–16; auch Blasius (Hg.), Dokumente, S. 241–246, XL ff; Moggridge, John Maynard Keynes, München 1977, S. 113 ff.; Kettenacker, Krieg, S. 95 ff. Tagebucheintragung Hugh Daltons am 26. August 1941 über Churchills Ausführungen in einer Ministerratssitzung; Blasius, Dokumente, S. 450. David Reynolds, The Creation of the Anglo-American Alliance 1937– 1941. A Study in Competitive Co-operation, London 1981, S. 262. Jede der erklärten Freiheiten wird mit der Formel beschlossen: „everywhere in the world“. Harley Notter, Postwar Foreign Policy Preparation, S. 42 f.; zur amerikanischen Deutschlandpolitik Sharp, The Wartime Alliance. Auf die Vorgeschichte ist zuletzt Michael Hochgeschwender eingegangen, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998, bes. S. 70–77. a.a.O., S. 50. So „… daß die praktische Verwirklichung der … genannten Prinzipien unbedingt auf Umstände, Bedürfnisse und historische Besonderheiten des jeweiligen Landes abgestimmt“ sein müsse. Alexander Fischer, Sowjetische

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Anmerkungen Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941–45, Stuttgart 1975, S. 174; weitere Hinweise dort Anm. 24. Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941– 1945, Berlin 1961, S. 41 f.; Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bd. 3, II , Bern 1954, S. 177 f. Am Tage zuvor hatte Stalin eine sehr zuversichtliche Ansprache an die Rote Armee aus Anlaß der Parade auf dem Roten Platz gehalten, in der er an die großen Namen einer nationalen Vergangenheit erinnerte, darunter Suworow und Kutusow, aber mit keinem Wort andeutete, daß auch andere Völker sich mit Deutschland im Krieg befanden. Voller Wortlaut bei Andrew Rothstein (Hg.), Soviet Foreign Policy during the Patriotic War, Bd. I, London o. J., S. 33 f. Walter Lippmann, The Cold War, New York 1947. Über die Schwankungen von Meinungen und Presseäußerungen über die Sowjetunion Ralph B. Levering, American Opinion and Russian Alliance, 1939–1945, Chapel Hill, N.C. 1976; Ergebnisse von Meinungsumfragen ebda., S. 45, 61, 117. Rothstein, Soviet Foreign Policy, I, S. 34 ff. Dietrich Geyer, Deutschland als Problem der sowjetischen Europapolitik am Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Josef Foschepoth (Hg.), Kalter Krieg und Deutsche Frage. Deutschland im Widerstreit der Mächte 1945–1952, Göttingen /Zürich 1985, S. 60. Churchill, Zweiter Weltkrieg, Bd. 3, II , S. 181. Vgl. Churchill and Roosevelt: The Complete Correspondence, hg. v. Warren F. Kimball, Bd. I: Alliance Emerging, Princeton, NJ 1984, S. 236–264. Indirekte Botschaften, die Churchill erhielt, scheinen ihn stark beeindruckt zu haben. So der Leibarzt Lord Moran, Winston Churchill. The Struggle for Survival 1940–1965. Taken from the Diaries of Lord Moran, London 1966, S. 6. Das Weiße Haus habe sich in das „G.H.Q. for all the wars of the world“ verwandelt, wie Senator Vandenberg seinem Tagebuch anvertraute. Warren F. Kimball, The Most Unsordid Act. Lend – Lease, 1939–1941, Baltimore 1969, S. 233 f. Herbert Sirois, Zwischen Illusion und Krieg. Deutschland und die USA 1933–1941, Paderborn u. a. 2000, S. 229, spricht sogar „Vom de facto-Krieg …“ vor der deutschen Kriegserklärung; für die englische Seite Kettenacker, Krieg, S. 108 ff. Berichte Edens vom 5. Januar 1942, abgedruckt Graham Ross, The Foreign Office and the Kremlin. British Documents on Anglo-Soviet Relations, 1941–1945, Cambridge 1984, S. 82–87; Rothwell, Britain, S. 88f.; Anthony Eden, The Earl of Avon, The Reckoning, London 1965, S. 289–295; Sir Llewellyn Woodward, British Foreign Policy in the Second World War, Bd. II , London 1971, S. 221–236; Kettenacker, a.a.O., S. 117ff.; George F. Kennan, Sowjetische Außenpolitik unter Lenin und Stalin, Stuttgart 1961, S. 469. Zum Folgenden auch Fischer, Deutschlandpolitik, S: 28ff. Der sowjetische Botschafter in London, der Eden nach Moskau begleitet hatte. Iwan M. Maiskij, Memoiren eines sowjetischen Botschafters, Berlin 1967, S. 700.

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27 Memorandum vom 5. Februar 1942, Ross, Foreign Office, S. 87 ff., sowie weitere Stellungnahmen. 28 Churchill, Zweiter Weltkrieg, Bd. 3, II , 367 f.; Oliver Harvey, The War Diaries of Oliver Harvey. hg. v. John Harvey, London 1978, S. 85 f., 5. u. 8. Januar 1942; über die wiederholte Ablehnung Roosevelts, von den Grundsätzen der Atlantik-Charta abzuweichen schon Günter Moltmann, Die frühe amerikanische Deutschlandplanung im Zweiten Weltkrieg, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 5 (1957), S. 241 ff.; Robert Beitzell, The Uneasy Alliance. America, Britain, and Russia, 1941–1943, New York 1972, S. 9. 29 Cordell Hull, Memoirs, New York 1948, Bd. II , S. 1631; zum Folgenden Notter, Preparation; das Schreiben von Hull an Roosevelt über Aufgaben und beabsichtigte Zusammensetzung des Advisory Committee on PostWar Foreign Policy vom 22. Dezember 1941 dort S. 63 ff. An der Spitze der Liste stehen die Namen Cordell Hull, Sumner Welles, Norman H. Davis, Myron C. Taylor und Dean Acheson. Taylor stand 1931 bis 1938 an der Spitze der U.S. Steel Corporation. 1938 leitete er die Konferenz zur Flüchtlingsfrage in Evian; 1938–1950 war er Vertreter der Vereinigten Staaten beim Vatikan im Range eines Botschafters. 30 Hull, Memoirs, II , S. 1183 ff., auch zum Folgenden. Kenntnis deutscher Vernichtungsaktionen gegen Juden ist im Council of Foreign Relations am 6. Juli 1942 sowie durch eine Erklärung der Vereinten Nationen am 17. Dezember 1942 bezeugt; Dokumente zur Deutschlandpolitik, I. Reihe, Bd. 2: 11. August bis 31. Dezember 1942. Amerikanische Deutschlandpolitik, bearb. v. Marie-Luise Goldbach, S. 335 ff., 732, 735. 31 Hellmut G. Haasis, Tod in Prag. Das Attentat auf Reinhard Heydrich, Reinbek 2002; Miroslav Ivanov, Das Attentat auf Heydrich, Augsburg 2000, nennt die „Heydrichiade“ „eine der größten Widerstandstaten während des Zweiten Weltkrieges“. 32 Hull, Memoirs, II , S. 1289 ff.; Notter, Preparation, S. 198. 33 Gladwyn Jebb, Memoirs of Lord Gladwyn, London 1972, S. 111 ff. Über Jebb auch Foot, SOE , S. 19, 22 f., 29ff., 51. Eine spätere Charakterisierung Jebbs und seiner Diplomatie v. Christopher Goldsmith, In the Know? Sir Gladwyn Jebb: Ambassador to France, in: Saul Kelly, Anthony Gorst (Hg.), Whitehall an the Suez Crisis, London 2000, S. 79–97. 34 Über Webster Jebb, Memoirs, S. 120, 128, 149, 158; Alexander Cadogan, The Diaries of Sir Alexander Cadogan, 1938–1945. hg. v. David Dilks, London 1971, S. 621, passim; Rothwell, Britain, S. 55 f.; Notter, Preparation, S. 303, 307, 330 ff., 442f. 35 Detlev Junker, Der unteilbare Weltmarkt. Das ökonomische Interesse in der Außenpolitik der USA 1933–1941, Stuttgart 1975, bes. S. 238ff.; Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II : Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, S. 376 ff. 36 Jebb, Memoirs, S. 113 ff.; Ross, Foreign Office, S. 31.

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Anmerkungen

37 Cadogan, Diaries, S. 488, 3. November; Harvey, War Diaries, S. 168, 11. Oktober, S. 170, 19. Oktober; beide nennen China. Die Beziehungen zu den Freifranzosen de Gaulles und zu diesem selbst waren gespannt, Churchill und Eden nach einer Unterredung mit dem General am 30. September äußerst aufgebracht. Eden „said afterwards that he had never seen anything like it in the way of rudeness since Ribbentrop“. Nur mühsam konnten diese Spannungen gemildert werden. Harvey, S. 163 f., 167, 169 ff.; Cadogan, S. 497, 484. Zur gleichen Zeit bemühte sich China unter Tschiang-Kai-shek – mit amerikanischer Unterstützung – um Anerkennung seiner Stellung in Ostasien und um Aufhebung der sogenannten „ungleichen Verträge“ des 19. Jahrhunderts, was es im Januar 1943 erreichte. Ebd., S. 482 ff. 38 a.a.O., S. 488; Jebb, Memoirs, S. 117, knapp und klar: „China really did not count.“ Vgl. Gerhard Schulz, China als vierte Großmacht? in: China. Dimensionen der Geschichte. Festschr. f. Tilemann Grimm, Tübingen 1990, S. 277–306. 39 Kontrovers Hull, Memoirs, II , S. 1197 ff.; Robert E. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, Hamburg 1950, S. 528 ff.; Kimball (Hg.), Churchill and Roosevelt, Correspondence, II , S. 3 ff., 7 ff., 21 f., 27–31, 67–71. 40 Jebb, Memoirs, S. 118 f., 123 ff. 41 So der Titel der auf deutsche Entscheidungen konzentrierten Darstellung zur Nationalhistoriographie, Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, zuletzt Bd. II : Vom „Dritten Reich“ zur Wiedervereinigung, München 2000. 42 Churchill and Roosevelt, Correspondence, II , S. 73 f., 85f., 119. 43 Rothwell, Britain, S. 102 f., 111, weitere Verweise dort S. 484. 44 Zuletzt Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler; Heideking, Mauch (Hg.), USA und deutscher Widerstand; Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942–1949, München 1995, S. 104–113, hebt das Interesse an einem linken „Arbeiteruntergrund“ hervor, da „die Opposition in politisch rechten Kreisen … doch nur auf einen Saatsstreich“ ziele. Im Sommer 1943 schienen „nicht die Beseitigung Hitlers und einiger NS -Größen als entscheidendes Kriterium für Erfolg oder Mißerfolg dieses Widerstands, sondern die Ersetzung des totalitären NS -Regimes durch eine demokratische Alternative“. (S. 105 f.) 45 Die Beurteilungen der Gespräche und Beobachtungen gehen weit auseinander. Unmutsäußerungen Edens und seine Kritik verschwommener Vorstellungen Roosevelts bei Harvey, War Diaries, S: 227 ff.; anders Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 578–591. Am 13. März vermerkte Harvey Bemerkungen Edens: „Here all is confusion and woolliness. President jealous of Hull, Winant and Welles at cross purposes. It is not possible here, imagine, to discuss our problems with Roosevelt, Hull and Welles altogether. Each has to be addressed separately and it is doubtful if

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one will tell the other what he has said.“ War Diaries, S. 229. Differenzen innerhalb der amerikanischen Administration bei John Gimbel, Administrative Konflikte in der amerikanischen Deutschlandpolitik, in: Foschepoth (Hg.), Kalter Krieg, S. 111–128. Jebb, Memoirs, S. 131 ff. Zum Folgenden Sharp, Wartime Alliance, bes. S. 36–50; Josef Foschepoth, Großbritannien, die Sowjetunion und die Westverschiebung Polens, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 36 (1984), S. 61–91; Lothar Kettenacker, Großbritannien und die künftige Kontrolle Deutschlands, in: Foschepoth, Rolf Steininger (Hg.), Die britische Besatzungspolitik in Deutschland 1945–1949, Paderborn u. a. 1985, S. 27–46. Sharp, Wartime Alliance, S. 56 ff., 79 ff.; vgl. Hull, Memoirs, II , S. 1277–1291. Foreign Relations of the United States (FRUS ): The Conference at Cairo and Teheran 1943, S. 482–486 (sogenannte „Bohlen-Minutes“). Etwas abweichend, aber im Tenor ähnlich („to Churchill’s apparent chagrin“) W. Averell Harriman, Elie Abel, Special Envoy to Churchill and Stalin 1941–1946, New York 1975, S. 265 f., deutsch: In geheimer Mission, S. 209; Bericht über den Verlauf der gesamten Konferenz Sherwood, Roosevelt und Hopkins, S. 632–652. FRUS , Teheran, S. 529–533. a.a.O., S. 597–604. Über Erörterungen einer künftigen Verfassung Deutschlands im Foreign Office – mit Verweis auf die napoleonische Zeit – Lothar Kettenacker, Krieg, S. 176 ff. Weniger bestimmt in der Aufzeichnung Bohlens. Unter den englischen Teilnehmern überwog von Anbeginn eine pessimistische Einschätzung der Konferenz, zunächst auch bei Churchill selbst. Das Wort von General Brooke, „the Conference is over when it has only just begun. Stalin has got the President in his pocket“, wird mehrfach bezeugt. So Cadogan, Diaries, S. 582; dort auch noch andere scharfe Urteile; Moran, Churchill, S. 133, 132 f., über Roosevelt: „Harry [Hopkins] tells me the President is convinced, that even if he cannot convert Stalin into a good democrat, he will be able to come to a working agreement with him.“ Dem Abschnitt gab Lord Moran die Überschrift „How Stalin found an ally“. Eden, The Reckoning, S. 424 f.; FRUS , Teheran, S. 352ff.; Keith Sainsbury, The turning point. Roosevelt, Stalin, Churchill, Tschiang-Kai-Shek, 1943. The Moscow, Kairo, and Teheran Conferences, Oxford/New York 1985, S. 118 ff., 212 f. Sharp, Wartime Alliance, S. 90–101. So der Titel d. dt. Übers. v. John Morton Blum, Deutschland ein Ackerland? Morgenthau und die amerikanische Kriegspolitik 1941–1945, Düs-

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Anmerkungen

seldorf 1968; Kettenacker, Krieg, S. 423–434. US Department of State, A Decade of American Foreign Policy. Basic Documents 1941–1949, Washington, D.C. 1985, S. 269 ff. Zum Schicksal des Morgenthau-Plans Warren F. Kimball, Swords or Ploughshares? The Morgenthau Plan for Defeated Nazi-Germany, 1943–1946, Philadelphia 1976; Otto Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik gegenüber Deutschland 1941–1945, Frankfurt a.M. 1980, S. 85–114; Bernd Greiner, Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans, Hamburg 1995; Wilfried Mausbach, Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944–1947, Düsseldorf 1996; neuestens in der Einleitung Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, Bd. I: 1945–1968, Stuttgart/München 2001, S. 26. Ein erstes zusammenfassendes Memorandum der R&A Branch für das Department of State „Jewish Survivors in PostWar Europe“ wurde nach Kriegsende, am 31. Dezember 1945, erstattet. Es gibt die Verringerung der jüdischen Bevölkerung in den von Deutschen besetzten Gebieten Europas mit „fast 4500 000“ an; davon konnten etwa 350 000 emigrieren. Das Memorandum behandelt das weitere Schicksal der überwiegend zu den „displaced persons“ zählenden überlebenden Juden. Der Antisemitismus in Deutschland sei zerstört, aber er habe starke antisemitische Tendenzen auch in anderen Ländern, besonders in Polen, sogar in den Niederlanden hinterlassen, so daß die Rückkehr der Juden in ihre Heimat auf große Schwierigkeiten stoße. „In den letzten 50 Jahren waren Polen und das zaristische Rußland als Brutstätten des Antisemitismus bekannt … Doch erst als die Nazis den Antisemitismus als politische Waffe einsetzten, wurde aus einem häßlichen Vorurteil eine furchtbar zerstörerische Kraft, die das Leben von Millionen und die demokratischen Einrichtungen aller Nationen beeinträchtigte.“ (Übers.) OSS /State Department – Intelligence and Research Reports, V, bearb. v. Paul Kesaris, National Archives, Research and Analysis (NA , R&A), 3442. 57 J. L. Chase, The Development of the Morgenthau-Plan through the Quebec Conference, in: Journal of Politics, 16 (1954), 2, S. 324ff.; Steven Casey, Cautious Crusade. Franklin D. Roosevelt, American public opinion, and the war against Nazi Germany, New York 2001, S. 174–180. Zu den Gegnern des Plans zählte der einflußreiche Soziologe Talcott Parsons, der in Heidelberg studiert hatte. Er setzte sich für Re-education ein. Biographie Uta Gerhardt, Talcott Parsons. An Intellectual Biography, Cambridge 2002. 58 Richard Lamb, Der verfehlte Frieden. Englands Außenpolitik 1935–1945, Frankfurt a.M./Berlin 1989, S. 311–322; Albert Speer, Erinnerungen, S. 440. 59 Walter Lippmann, U.S. War Aims, Boston 1944, ND New York 1976, S. 117 ff.

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60 Rothwell, Britain, S. 118 ff.; PHPS -Memorandum vom 6. Juni 1944, Auszüge Ross, Foreign Office, S. 166 ff. 61 Clark Kerr über die sowjetische Politik, 31. August 1944; Ross, a.a.O., S. 173 ff. Um eine gründliche Analyse der seit 1943 in den großen westlichen Demokratien verbreiteten prosowjetischen „euphoria“ bemüht sich Roy Douglas, From War to Cold War, 1942–1948, London 1981. 62 PHPS -Memo vom 6. Juni 1944. Im amerikanischen Geheimdienst OSS registrierte man, daß die französische Résistance seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im wesentlichen durch Kommunisten verstärkt und dadurch zu einem neuen Wirkungsgrad gelangt war. Der Zulauf zu den Kollaborateuren um Doriot und Déat konnte durch diese Neuorientierung der Kommunisten und ihre Hinwendung zur Gewicht erlangenden Résistance beendet werden. Der Führer des Freien Frankreich, de Gaulle, sah sich veranlaßt, auch die kommunistisch geführten Widerstandsorganisationen in vollem Umfang anzuerkennen, was auf der anderen Seite die Anerkennung der französischen Widerstandsbewegung in Gänze durch die Sowjetunion im September 1942 zur Folge hatte. ( NA , Report 491, M 1221, undatiert, wahrscheinlich 1943) R&A Branch der OSS vertrat die ausführlich begründete Auffassung, daß der „Gaullismus“ zwar patriotisch, national orientiert, außenpolitisch jedoch prorussisch eingestellt sei, nicht aufgrund einer Gemeinsamkeit aus politischen und wirtschaftlichen Beweggründen, sondern aufgrund der Sorge vor der Übermacht eines angloamerikanischen Bündnisses ( NA , R&A, OSS Report 1262, 17. September 1943, M 1221). Allerdings veränderte sich dieses Bild seit Ende 1943 mit der stetigen Verstärkung der französischen Widerstandsbewegung und ihrer im Untergrund organisierten Geheimarmee, in der nunmehr Kräfte aus allen großen alten politischen Richtungen und Parteien wie den Gewerkschaften zusammenfanden, so daß sie ein wenig einheitliches Bild bot, wenn auch einem einheitlichen Kommando unterstellt blieb, das die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte am Tage der Invasion sicherstellte. In dieser Wandlung spielte die Erwartung stärkerer amerikanischer und britischer Unterstützung eine entscheidende Rolle, die durch Verbesserung der Infrastruktur und der engeren Verknüpfung der geheimen Verbände miteinander vorbereitet wurde. (Bericht über die Änderung im militärischen Widerstand Frankreichs vom 27. Mai 1944, NA , R&A, OSS Report 2172, M 1221) Doch konnte das Ansehen des Generals de Gaulle in linken Kreisen erhalten bleiben und außenpolitisch in Moskau genutzt werden. Zur ersten Anerkennung de Gaulles von sowjetischer Seite Bericht des amerikanischen Geschäftsträgers Thompson aus Moskau am 15. März 1942, FRUS 1942, III , S. 419. 63 Robert Murphy, Diplomat unter Kriegern. Zwei Jahrzehnte Weltpolitik in besonderer Mission, 2. Aufl. Berlin 1966, S. 343 f.

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Anmerkungen

64 David Reynolds, Roosevelt, Churchill, and the Wartime Anglo-American Alliance, 1939–1945: Towards a New Synthesis, in: William R. Louis, The „Special Relationship“: Anglo-American Relations since 1945, Oxford 1986, S. 17–24, kritisch gegenüber Churchills Darstellung. Von den Churchill-Biographien seien genannt Richard Lamb, Churchill as war leader, right or wrong? London 1991; Martin Gilbert, Churchill. A life, London 1992. 65 JCS , 185. Sitzung auf Malta, ARGONAUT, 1. Febr. 1945, Punkt 6, Bericht über die Besprechung der Combined Chiefs of Staff, NA . 66 JCS , 186. Sitzung, 2. Februar. Die Zahl der Partisanenverbände wird mit über 400000 wohl zu hoch angegeben worden sein; auch CCS , 768, 1. 67 JCS , 186. Sitzung, 8. 68 JCS , 188. Sitzung, 5. Februar 1945 im Livadia-Palast, Krim. 69 William D. Leahy, I Was There, New York 1950, S. 317–22; der Zusatz „another war“ im Original der Leahy Papers, Michael S. Sherry, Preparing for the Next War. American Plans for postwar Defense 1941–1945, New Haven/London 1977, S. 173. 70 Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 6. Bd.: Triumph und Tragödie, II , Bern 1954, S. 262 f.; Harriman, Abel, In geheimer Mission, S. 372; Das Wort von „einem dritten Weltkrieg“ findet sich in einem Telegramm Churchills an Außenminister Eden vom 11. Mai; a.a.O., S. 264. 71 a.a.O., S. 158. 72 J. W. Stalin, Rede auf der Wählerversammlung des Stalin-Wahlkreises in Moskau am 9. Februar 1946, Wien [1946], S. 3. Stalins Rede als „eine Erklärung des Dritten Weltkrieges“ zu bewerten, wie es dem Präsidenten der Supreme Court in Washington unterlaufen sein soll, läßt sich kaum begreifen. Daniel Yergin, Der zerbrochene Frieden. Der Ursprung des Kalten Krieges und die Teilung Europas, Frankfurt a.M. 1979, S. 164. 73 Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998. Zum Nachfolgenden die gründliche Untersuchung v. Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland. 74 Übers., NA , Intelligence Report No. 2993, OSS , R & A Branch, 31. 3. 1945. 75 Ein russisch-israelisches Forscherteam überreichte im April 2000 dem russischen Außenminister eine Aktenedition in russischer Sprache, deren Veröffentlichung von den Außenministerien und Staatsarchiven Israels und Rußlands 1993 vereinbart worden war. Sie dokumentiert das israelisch-sowjetische Zusammenwirken bis zum Ende der „heroischen Zeit“, 1949. FAZ , 28. Febr. 2001, S. N6. Nach 1948 begann eine Judenverfolgung in der Sowjetunion. Hinweise bei Alexander Borschtschagowski, Orden für einen Mord. Die Judenverfolgung unter Stalin, ND Berlin 2000. 76 Hierzu und zum Folgenden die These von Sherry, Preparing for the Next War, S. 162 ff.

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77 So das Zit. des Historikers der Luftwaffenplanung: „… unable to grasp the difference between national defense and prevention of all aggression …“ Sherry, Preparing, S. 165. 78 Ausführlich Harriman, Abel, Mission, S. 266–274; Sherry, Preparing, S. 169 f.; Angermann, Die Vereinigten Staaten, S. 272 f. 79 Wilfried Loth, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1945, München 1980, S. 95 (9. Aufl. 2000). 80 Milovan Djilas, Gespräche mit Stalin, Frankfurt a.M. 1962, S. 162. Zur innerpolitischen Situation Wladislaw Subok, Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise, Hildesheim 1997, S. 63 ff.; Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 671 ff. 81 Vgl. Fischer, Deutschlandpolitik, S. 125 ff.; die einleitenden Bemerkungen v. Martin McCauley, Politik unter sowjetischer Besatzung, in: Foschepoth, Kalter Krieg, S. 291 f.; Nübel, Die amerikanische Reparationspolitik, bes. S. 119–126, 158–173. 82 Zit. Paul Boyer, Promises to Keep. The United States since World War II , Lexington, Mass. 1995, S. 37. Auch die Sowjetisierung Osteuropas hatte Roosevelt schon erkannt, wie aus einem später entdeckten Memorandum des Präsidenten an den Secretary of State vom 29. September 1944 hervorgeht. Axel Frohn, Neutralisierung als Alternative zur Westintegration. Die Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika 1945 – 1949, Frankfurt a.M. 1985, S. 18, Anm. 2. Zur Entwicklung eines kommunistischen, prosowjetischen Untergrundes in Polen seit Jahresende 1941 Norman Davies, Im Herzen Europas, S. 84 ff. 83 Sitzung der JCS mit den Chefs der Civilian War Agencies am 27. Februar 1945, Protokoll NA , JCS / II , 0956. Neuerdings Frank Schumacher, Kalter Krieg und Propaganda. Die USA , der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, 1945–1955, Trier 2000. 84 Charles de Gaulle, Lettres, Notes et Carnets Mai 1945 – Juin 1951, Paris 1984, S. 96 f. (Übers. G. S.). 85 Renata Fritsch-Bournazel, Frankreich und die „deutsche Frage“ 1945– 1949, in: Die Deutschlandfrage und die Anfänge des Ost-West-Konfliktes 1945–1949, Berlin 1984, S. 88 f.; Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik. Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949, 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 182 ff.; vgl. auch Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998, S. 339 ff. 86 Aktennotiz von Konrad Adenauer vom 9. Oktober 1945 über ein Interview mit Vertretern des „News Chronicle“ und der „Associated Press“ am 5. Oktober 1945 in Rhöndorf, zuletzt zitiert in: Konrad Adenauer, Briefe 1945–1947, bearb. v. Hans-Peter Mensing, Berlin 1983, S. 123 f. Nach Rudolf Morsey, Konrad Adenauer und der Weg zur Bundesrepublik Deutsch-

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Anmerkungen land 1946–1949, in: Konrad Adenauer und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. dems., Stuttgart/Zürich 1979, S. 109, richtete Adenauer zwei Tage nach seiner Entlassung als Oberbürgermeister eine Anfrage an die Militärregierung der Nordhrein-Provinz, „ob ihm mit dem Verbot der politischen Betätigung auch untersagt sei, Gespräche mit englischen, amerikanischen und französischen Journalisten und Politikern zu führen, die seine Meinung ‚über verschiedene Fragen, insbesondere auch die zukünftige Gestaltung Deutschlands‘ wissen wollten“. Auch „Konferenzdiplomatie“, Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9. Aufl. München 1995, S. 249 f; dort weitere Literatur. Hervorzuheben sind Herbert Feis, Churchill, Roosevelt, Stalin. The War They Waged and the Peace They Sought, Princeton, N.J. 1957; Gaddis Smith, American Diplomacy during the Second World War, 1941–1945, New York 1965. Food and Agriculture Organization (FAO ). UNRRA , United Nations Relief and Rehabilitation Administration. Edward R. Stettinius, Andrej Gromyko, Sir Alexander Cadogan, Wellington Koo. Edmonds, Die Großen Drei, S. 394 ff.; Gromyko, Erinnerungen, S. 130 ff.; zum Folgenden die Quellenedition Knipping, von Mangold, Rittberger, Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer, Bd. I/1 u. I/2: Hans von Mangold, Volker Rittberger (Hg.), Vereinte Nationen, Bern/ München 1995. Europa-Archiv 1947, S. 637 f. Shmuel Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987, S. 241 ff. Hierzu neuerdings die hinterlassenen Aufzeichnungen v. Theodor Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, Teile III u. IV. Hinweise Karin Hartewig, Militarismus und Antifaschismus, in: Michael Th. Greven, Oliver von Wrochem (Hg.), Der Krieg in der Nachkriegszeit. Der Zweite Weltkrieg in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik, Opladen 2000. Eingehende Behandlung des Komplexes Norman M. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949, Berlin 1997; auch Stefan Donth, Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1945–1952. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED , Köln u. a. 2000; Pawel Nikolaewitsch Knyschewski, Moskaus Beute. Wie Vermögen, Kulturgüter und Intelligenz nach 1945 aus Deutschland geraubt wurden, München/Landsberg am Lech 1995. Vgl. Ursula Hübler, Meine Vertreibung aus Prag. Erinnerungen an den Prager Aufstand 1945 und seine Folgen, hg. v. Juliane Wetzel, München 1991; Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, be-

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arb. v. Theodor Schieder, in Verbindung mit Werner Conze, Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow, Hans Rothfels, Bde. 1, 1–3, 4, 1 u.2, ND München 1984; einige Berichte mit deutlichem Zeitkolorit bei Andreas Hartmann, Sabine Künsting, Grenzgeschichten. Berichte aus dem deutschen Niemandsland, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1990; Hans Lemberg, K. Erik Franzen, Die Vertriebenen, München/Berlin 2001; Heinz Nawratil, Schwarzbuch der Vertreibung 1945–1948. Das letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit, 10. Aufl. München 2001; Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, München 2001. Eine historische Erforschung auf deutscher Seite setzte verhältnismäßig früh ein; doch Veröffentlichungen wurden zurückgehalten oder eingeschränkt, so daß eine sensationell aufgemachte, journalistische Publikation außerhalb Deutschlands sich dieser Thematik annahm, nach heftigen früheren Spekulationen James Bacque, Verschwiegene Schuld. Die alliierte Besatzungspolitik in Deutschland nach 1945, Berlin/Frankfurt a.M. 1995. Planmäßigkeit unterstellt Johannes Hoffmann, Stalins Vernichtungskrieg 1941–1945, bes. S. 240 ff.; ausführlich die Einleitung von Wolfgang Benz, Angelika Schardt, Kriegsgefangenschaft. Berichte über das Leben in Gefangenenlagern der Alliierten, München 1991; zu Polen Helga Hirsch, Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944–1950, Reinbek b. Hamburg 1999; anderseits die anteilnehmende Schilderung polnischen Schicksals Norman Davis, Im Herzen Europas, bes. 85–99. a.a.O., S. 8. Vgl. Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941–1991, Darmstadt 1996, 2. Kap.; sozialgeschichtliche Untersuchungen von Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988; rechtsgeschichtlich minutiöse Darstellung der amerikanischen Praxis Dieter Waibel, Von der wohlwollenden Despotie zur Herrschaft des Rechts. Entwicklungsstufen der amerikanischen Besatzung Deutschlands 1944–1949, Tübingen 1996. Zur Nachkriegsentwicklung in Deutschland Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945–1949, Stuttgart 1983; Adolf M. Birke, Nation ohne Haus. Deutschland 1945–1961, Berlin 1989; Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik; Ludolf Herbst (Hg.), Westdeutschland 1945– 1955. Unterwerfung – Kontrolle – Integration, München 1986; für die Anfänge auch Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945–1958, Baden-Baden 2000, S. 26 ff.; bedenkenswert Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, bes. S. 448–483. Der Prozeß vor dem Internationalen Militärtribunal endete am 30. September und 1. Oktober 1946 mit zwölf Todesurteilen (darunter Göring,

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Anmerkungen der Selbstmord beging, Frick, Ribbentrop, Rosenberg, Keitel, Jodl), zwei lebenslangen und fünf befristeten Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. In zwölf Nachfolgeprozessen vor einem amerikanischen Militärgerichtshof ergingen Urteile von Mai 1947 bis April 1949. Weitere Kriegsverbrecherprozesse wurden vor einem britischen Militärgerichtshof und in anderen Staaten durchgeführt. Vgl. Murphy, Diplomat, S. 347. So weit ging keine der anderen Besatzungsmächte. Dabei wurde unterstellt, daß alle Grundbesitzer den Nationalsozialismus unterstützt hätten. Rainer Karlsch, Jochen Laufer (Hg.), Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944–1949. Hintergünde, Ziele und Wirkungen, Berlin 2002. – „Abgesehen von Arbeitsleistungen, die von den Besatzungsbehörden requiriert wurden, führten die Russen Massendeportationen von Zivilisten deutscher Abstammung aus allen befreiten und besiegten Ländern in die USSR durch.“ Übers. nach dem Bericht des OSS , R & A Branch, 2893, 28. Juli 1945, NA . Von insgesamt 41,26 Millionen Einwohnern der amerikanischen und britischen Besatzungszone 1946 waren über 19 Prozent, 7,88 Millionen, Vertriebene und Flüchtlinge aus dem Osten. Werner Abelshauser u.a., Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1975, S. 102. Angermann, Die Vereinigten Staaten, S. 283; John L. Snell, Wartime Origins of the East-West Dilemma over Germany, New Orleans 1959; Bruce Kucklick, American Policy and the Divison of Germany. The Clash with Russia over Reparations, Ithaca, N.Y. 1972; für die deutsche Seite auch Abelshauser, a.a.O. Department of State, Germany 1947–1949. The Story in Documents, Publ. No. 3556, Washington, D.C. 1950, S. 49. Zu den Verhältnissen im französisch besetzten Südwürttemberg Theodor Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000. Für die Anfänge Hans Georg Wieck, Die Entstehung der CDU und die Wiedergründung des Zentrums im Jahre 1945, Düsseldorf 1953; ders., Christliche und Freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg 1945/1946, Düsseldorf 1958; in manchem Bezug heute ergänzungsbedürftig Max Gustav Lange, Gerhard Schulz, Klaus Schütz u. a., Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, Stuttgart/Düsseldorf 1955; Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, München 1998, S. 65–76, 261–64. Programm vom 14. Juli 1945 mit den Namen Wilhelm Pieck, Walther Ulbricht, Franz Dahlem, Anton Ackermann, Otto Winzer, Erich W. Gniffke,

III Große Allianz und Teilung der Welt

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Otto Grotewohl, Gustav Dahrendorf, Helmuth Lehmann, Otto Meier, Andreas Hermes, Walther Schreiber, Jakob Kaiser, Theodor Steltzer, Ernst Lemmer, Waldemar Koch, Eugen Schiffer, Wilhelm Külz, Artur Lieutenant. Die Programme der politischen Parteien im neuen Deutschland, zusammengestellt v. Dr. Karl Mahler, Berlin 1945. Dahrendorf, der aus einem Konzentrationslager fliehen konnte, hatte die letzten Kriegstage in der Umgebung von Berlin überlebt und stand in Verbindung mit einem anderen Flüchtling, dem ehemaligen Oberst Heinz vom „Regiment Brandenburg“, der enge Beziehungen zu Admiral Canaris, General Oster, auch zu Goerdeler besaß. Dies gilt auch für Dahrendorf, der auf einer der Personallisten Goerdelers als kommissarischer Bürgermeister von Hamburg vorgesehen war. Dahrendorf trat in Hamburg in Verbindung zu dem älteren Stiefbruder von Heinz, Hermann Schilling. Dieser war bis 1933 Leiter der Frankfurter Filiale der Commerzbank, wurde als „Staatsfinanzrat“ Chef der Preußischen Staatsbank und schließlich Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitglied der wichtigsten preußischen Staatsunternehmen, darunter Preußag, Preußen-Elektra, Hibernia-Bergbau usw.; auch dem Beirat des Volkswagenwerks gehörte er an. Mit den Konzernspitzen zog er von Berlin nach Hamburg um, wo er auch einer der beiden persönlich haftenden Gesellschafter des Bankhauses Brinckmann, Wirtz & Co. wurde, der einstigen Warburg-Bank, die in enger Verbindung zu den in die USA emigrierten und teilweise später wieder zurückehrenden Erben stand. Danach trat Schilling in weitere Konzernleitungen ein, u. a. in den Vorstand der Veba. Neben seinem Kollegen Brinckmann verfügte er – ähnlich wie der mit Adenauer befreundete Pferdmenges und noch vor Hermann Abs von der Deutschen Bank – über die meisten Vorstands- und Aufsichtsratsmandate in Deutschland. Während das Kontrollratsgesetz vom 5. Februar 1947 das Land Preußen staatsrechtlich beseitigte, trug Schilling „ganz entscheidend dazu bei“, daß die staatlichen Vermögenswerte und Unternehmen zusammengehalten und „unversehrt in das Eigentum der Bundesrepublik überführt wurden“ (nach Art. 134 Grundgesetz). Vgl. Kurt Pritzkoleit, Bosse, Banken, Börsen, Wien u. a. 1954, S. 309. Schilling sah sich auch zur Förderung wichtiger Nachkriegszeitungen veranlaßt, etwa „Die Zeit“. Einige Hinweise bei Ralf Dahrendorf, Liberal und unabhängig. Gerd Bucerius und seine Zeit, München 2000, S. 106 f. Memorandum für Botschafter Murphy, 13. Feb. 1945, OMGUS , RG 260, 1 OF 3 (BA ). Geheimes Memorandum, 23. März 1945, OMGUS , RG 260, 1 OF 3. Geheime Planungsdirektive No. 22, 5. April 1945, OMGUS , a.a.O., hier übersetzt. Übersicht über einige OMGUS -Akten Dieter Rossmeissl (Hg.), Demokratie von außen. Amerikanische Militärregierung in Nürnberg 1945–1949, München 1988.

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Anmerkungen

116 James Bamford, NSA . Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt, München 2001, S. 15. 117 a.a.O. S. 23. 118 Zum Folgenden Gottfried-Karl Kindermann, Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik, München 1994; Hoo Nam Seelmann, Wie es nach 1945 zur Teilung Koreas kam, in: NZZ , 218, 20./21. 9. 2003, S. 47 f. 119 Zur verwickelten Geschichte des sowjetisch-chinesischen Beziehungen in der Korea-Frage – mit kritischer Behandlung der älteren Literatur – Bernd Bonwetsch/Peter M. Kuhfus, Die Sowjetunion, China und der Koreakrieg, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 33 (1985), S. 28–87; dies., Neue Quellen zum Eintritt Chinas in den Koreakrieg, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 34 (1986), S. 269–289.

IV Offene Tür und Kalter Krieg 1 Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt, München 1998, S. 188; umfassende Orientierung in der Absicht eines theoretischen Fazits Sammelband v. Odd Arne Westad, Reviewing the Cold War. Approaches, Interpretations, Theory, London/Portland, Or. 2000. 2 James P. Harrison, Der lange Marsch zur Macht. Die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas von ihrer Gründung bis zum Tode von Mao Tse-tung, Stuttgart/Zürich 1978, S. 475 ff., 498ff., 539ff. 3 W. Averell Harriman, Elie Abel, In geheimer Mission. Als Sonderbeauftragter Roosevelts bei Churchill und Stalin 1941–1946, Stuttgart-Degerloch 1979, S. 410. 4 Vgl. Harrison, Der lange Marsch, S. 570 ff. 5 Zum Nachfolgenden eine umfangreiche Darstellung der „deutschen Frage“ in globaler Sicht: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 1: Roland G. Foerster u. a., Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, München/ Wien 1982, 1. Teil: Norbert Wiggershaus, Von Potsdam zum PlevenPlan. Deutschland in der internationalen Konfrontation 1945–1950, bes. S. 3–44, dort weitere Literaturhinweise; weit zurück- und hinausreichend Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas 1917–1975, Berlin 1976. 6 In vollem Text erstmals veröffentlicht als britisches Weißbuch Cmd. 1614, 24. März 1922. Über die Entstehung des Memorandums und seine Veranlassung William K. Hancock, Smuts. The Sanguine Years, 1870–1919, Cambridge 1962, S. 514; Lord Hankey, The Supreme Control of the Paris Peace Conference, 1919, London 1963, S. 97 f.; Arno J. Mayer; Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918–1919, New York 1967, S. 518 ff.

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7 Robert Murphy, Diplomat among Warriors, New York 1964, S. 298. Zu den Unsicherheiten auf amerikanischer Seite Dieter Waibel, Von der wohlwollenden Despotie zur Herrschaft des Rechts. Entwicklungsstufen der amerikanischen Besatzung Deutschlands 1944–1949, Tübingen 1996, bes. S. 84–98. 8 Marschall Montgomery, Memoiren, München [1958], S. 462. 9 Christoph Buchheim, Die Bundesrepublik und die Überwindung der Dollar-Lücke, in: Ludolf Herbst, Werner Bührer, Hanno Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG . Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 81; ders., Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945–1958, München 1990. 10 Mitteilung an Parkman, 4. Aug. 1946, OMGUS , RG 260, 1 OF 6, Reihe 2, 6, National Archives, Washington (NA ). 11 Lippmann on Soviet Relations, in: New York Herald Tribune, 1. Mai 1947, S. 1, Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Bay. Bevollm. Stuttgart/17. 12 Protokoll vom 20. Oktober 1945, Sammlung Hoegner, Institut für Zeitgeschichte, München, ED 120/113. 13 „Memorandum zum staatsrechtlichen Übergangsstatus in Deutschland bis zur Vereinigung aller Zonen und Schaffung einer Gesamtstaatsverfassung“ (undatiert), Ende Dezember 1947, Bundesarchiv Koblenz (BA ), Z 3, Anh. 4. Zu den Vorgängen die ausführliche Darstellung Petra Weber, Carlo Schmid 1896–1979. Eine Biographie, München 1996, S. 286–399. 14 So Fritz Eberhard (d. i. Hellmut von Rauschenplat), Staatssekretär, SPD Abgeordneter im Landtag von Württemberg-Baden, seit 1948 im Parlamentarischen Rat. Stichworte zu einer Landtagsrede Februar 1947, Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP )/Nachl. Heinrich Theophil Kaufmann, I-071/003, Nr. 18. 15 Die Teilnehmer der ersten Tagung waren neben Ministerpräsident Ehard die Minister Anton Pfeiffer, der den Vorsitz führte, Hundhammer, die Staatssekretäre Ankermüller, Fischer, Sattler, Geiger, Krehle und Schubert aus Bayern, Bayerle, Stoß, Böckler und Simpfendörfer aus WürttembergBaden, Hilpert aus Hessen. ACDCP I-050–001; auch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Nachl. Pfeiffer /44. 16 Vgl. Karl-Ulrich Gelberg, Die föderalistische Politik der bayerischen Ministerpräsidenten 1946–1954, Düsseldorf 1992. Adenauer blieb skeptisch. Hierzu Friedrich P. Kahlenberg, „Unbefriedigende Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern“. Zum Problem des Föderalismus in den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland, in: Peter R. Weilemann, Hans-Jürgen Küsters, Günter Buchstab (Hg.), Macht und Zeitkritik. Festschrift für Hans-Peter Schwarz zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a. 1999, S. 119–128. 17 Ausführliche Texte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Nachl. Pfeiffer/156.

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Anmerkungen

18 Hierzu Manfred Overesch, Einheit oder Teilung? Westdeutsche Entscheidungsträger vor der gesamtdeutschen Frage 1945–1947, in: Josef Foschepoth, Kalter Krieg und Deutsche Frage. Deutschland im Widerstreit der Mächte 1945–1952, Göttingen/Zürich 1985, S. 269–290. 19 Lucius D. Clay, Entscheidung in Deutschland, Frankfurt a.M. 1950, S. 383. 20 Memorandum zum staatsrechtlichen Übergangsstatus in Deutschland bis zur Vereinigung aller Zonen und Schaffung einer Gesamtstaatsverfassung (undatiert), Ende Dez. 1947, Bundesarchiv Koblenz (BA ), Z 3, Anh. 4. 21 Dokumente u. Einleitung: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949, Bd. 4, bearb. v. Christoph Weiß, Hans-Dieter Kreikamp u. Bernd Steger, München/Wien 1983. 22 Harriman, Abel, Mission, S. 422, auch zum Folgenden. 23 Herbert Hoovers heftige Kritik am New Deal seines Nachfolgers Roosevelt, der den wirtschaftlichen Aufschwung im Grunde verzögert habe, erhellt aus seinen wirtschaftstheoretisch unterfütterten Memoiren, 3 Bde., Mainz [1954]. In der „Nachlese“, Bd. 3, S. 462, resümiert Hoover: „Während des Krieges entwickelte sich eine Umkehr im allgemeinen Denken. Zu einer ersten echten Abkehr vom Kollektivismus kam es bei den Kongreßwahlen nach dem Krieg (1946). Im neuen Kongreß setzten die Republikaner mit Hilfe konservativer Demokraten … rund 70 000 Bestimmungen, Erlasse und Verordnungen des New Deal und der Kriegszeit außer Kraft; dadurch wurde die ursprüngliche amerikanische Ordnung zu einem guten Teil wiederhergestellt“. 24 Zur verwickelten Geschichte der Pläne für gesamtdeutsche Verwaltungen Elisabeth Kraus, Ministerien für das ganze Deutschland? Der Alliierte Kontrollrat und die Frage gesamtdeutscher Zentralverwaltung, München 1990. 25 Zum Folgenden Adolf M. Birke, Nation ohne Haus. Deutschland 1945– 1961, Berlin 1989, bes. S. 126 ff.; Theodor Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945–1949 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland), Stuttgart 1983. Einzelne Reflexe: Martin Broszat, Klaus-Dietmar Henke, Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, München 1988. 26 NSC 68: United States Objections and Progress for National Security, mit vollem Wortlaut dieses Dokuments und eingehenden Kommentaren hg. v. Ernest R. May, American Cold War Strategy: Interpreting NSC 68, Boston/New York 1993, Zit. S. 25. 27 Foreign Relations of the United States (FRUS ) 1950, I, S. 241. 28 FRUS 1950, I, S. 138. 29 Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9. Aufl. München 1995, S. 293ff.; dort auch weitere Literatur; hervorzuheben Martin J. Sherwin, A World Destroyed. The Atomic Bomb and the Great Alliance, New York 1975; Martin Geiling, Außenpolitik und Nuklearstrate-

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gie. Eine Analyse des konzeptionellen Wandels der amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion (1945–1963), Köln/Wien 1975. Europa-Archiv 1947, S. 819 ff. X [George F. Kennan], The Sources of Soviet Conduct, in: Foreign Affairs, 25 (1946/47), S. 566–82. Vgl. Jürgen Reiß, George Kennans Politik der Eindämmung, Berlin 1957; Angermann, Die Vereinigten Staaten, S. 298 ff.; ausführliche Zitate bei Ernest R. May (Hg.), American Cold War Strategy, S. 5 ff. Europa-Archiv 1947, S. 936. Hellmuth Auerbach, Die europäische Wende der französischen Deutschlandpolitik 1947/48, in: Herbst, Bührer, Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG , S. 577 ff. Zum Folgenden die weiteren Beiträge in diesem Band; Alan S. Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945–1951, London 1984. Über „die Zusammenbruchsgesellschaft“ Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, 4. Aufl. Bonn/Göttingen 1986. Foreign Relations of the United States (FRUS ) 1947, III , S. 237 ff. und weitere Dokumente. Zu Marshall und Dulles Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945–1958, Baden-Baden 2000, S. 36 f. John Gimbel, The Origins of the Marshall-Plan, Stanford, Cal. 1976; ders., Die Entstehung des Marshall-Plans, in: Othmar N. Haberl, Lutz Niethammer (Hg.), Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt a. M. 1986, S. 25–35; ergänzend Manfred Knapp, Das Deutschlandproblem und die Ursprünge des europäischen Wiederaufbauprogramms, S. 36–46; Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain and the reconstruction of Western Europe, 1947–1952, Cambridge 1987; Gerd Hardach, Der Marshallplan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, München 1994; Jürgen Heideking, Pragmatismus und Kontinentalvisionen: Der Marshall-Plan als Anstoß zur Europäischen Integration, in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift f. Eberhard Kolb, hg. v. Wolfram Pyta u. Ludwig Richter, Berlin 1998, S. 305–327. Knapp, a.a.O., S. 40. Charles S. Maier, Die konzeptionellen Grundlagen des Marshall-Plans, in: Haberl, Niethammer (Hg.), a.a.O., S. 56. In der Fassung der Havana-Charta vom 24. März 1948 Europa-Archiv 1948, S. 1547 ff. Verwaltung für Wirtschaft in Minden, Ernährung u. Landwirtschaft in Stuttgart, Verkehrsverwaltung in Bielefeld, Post- und Fernmeldewesen in Frankfurt, der Finanzrat in Bad Homburg. Birke, Nation, S. 221; zum weiteren Verlauf Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 30 ff.

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Anmerkungen

41 Je 20 gehörten der CDU /CSU und der SPD an, die übrigen den Liberalen, Kommunisten, der Deutschen Partei, der Zentrumspartei und der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung. 42 Hierzu Ludwig Erhard, Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung. Faksimile der Denkschrift von 1943/44, Berlin/Wien 1977, mit Kommentaren von Theodor Eschenburg u. Günter Schmölders. 43 Werner Bührer, Erzwungene oder freiwillige Liberalisierung?, in: Herbst, Bührer, Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG , S. 139. 44 Mit vielen Einzelheiten Carl-Ludwig Holtfrerich, Die Deutsche Bank vom Zweiten Weltkrieg über die Besatzungsherrschaft zur Rekonstruktion 1945–1957, in: Lothar Gall u. a., Die Deutsche Bank 1870–1995, München 1995, bes. S. 463–488. 45 Vgl. Eckhard Wandel, Die Entstehung der Bank deutscher Länder und die deutsche Währungsreform 1948, Frankfurt a.M. 1980. 46 In Hamburg, München, Düsseldorf, Hannover und Stuttgart. 47 Aus der Literatur zuletzt Christoph Buchheim, Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 38 (1988), S. 189–231; Werner Plumpe, Entscheidung für den Strukturbruch: die westdeutsche Währungsreform und ihre Folgen, in: Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990. Ein Handbuch, Bd. I: 1945–1968, Stuttgart/München 2001, S. 457–467. 48 Plumpe, a.a.O., S. 464. 49 Ausführlicher Bericht vom 6. August 1948, NA , OSS /State Department, Intelligence and Research Reports, Post War Europe, OIR (Department of State, Devision of Research for Europe, Office Intelligence), Report No. 4724. 50 Auch Historiker haben hiervon keine Kenntnis genommen. Aufzeichnung über die Besprechung im Victory Guest House am 29. Mai 1949, BA , Z 3/ Anh. 2. Ausführlich dort auch der „Pariser Vorschlag der Westmächte“. 51 OIR , Report No. 4703, 6. August 1948. 52 Vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, 2. Aufl. Stuttgart 1986; Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis; aus der weiteren Literatur zuletzt Hermann. Josef Rupieper, Die USA und die Gründung der Bundesrepublik 1948/1949, in: Junker (Hg.), Die USA und Deutschland, I, S. 143–149. 53 Gerd Hardach, Der Marshallplan, in: Junker (Hg.), Die USA und Deutschland, I, S. 479. 54 Ausführlicher Bericht (45 Seiten) NA , OIR , Report No. 7992, 15. November 1948. Von deutscher Seite sind bislang keine Untersuchungen hierzu bekannt geworden. Streiflichter und Statistiken zum Arbeitsmarkt und zur Versorgung Wolfgang Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945–1949. Problem des Wiederaufbaus in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, München 1987.

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55 Chronik Hans Herzfeld, Berlin. Behauptung von Freiheit und Selbstverwaltung 1946–1948, Berlin 1959. 56 Zur Biographie Fritz Stern, Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, erw. Aufl. Berlin 1999, S. 97–116; Edzard Reuter, Vom Geist der Wirtschaft. Europa zwischen Technokraten und Mythokraten, Stuttgart 1986, S. 104 f. 57 NA , OIR , Report No. 4965, 23. Mai 1949; unabhängig von der politischen Entwicklung hatte sich aufgrund von Handelsabkommen zwischen den Besatzungszonen seit 1946 ein geregelter Warenaustausch und auch ein illegaler Handel entwickelt. Darstellung und Angabe der Volumina OIR , Report No. 4964, 6. Mai 1949. 58 Einzelheiten bei Adolf M. Birke, Nation ohne Haus, bes. S. 194 ff. 59 OIR , Report No. 4776, 2. November 1948 (Übers. G.S.). 60 Bernd Bonwetsch, Gennadij Bordjugov, Stalin und die SBZ . Ein Besuch der SED -Führung in Moskau vom 30. Januar – 7. Februar 1947, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 42 (1994), S. 279–303; zuletzt Wladimir K. Wolkow, Die deutsche Frage aus Stalins Sicht (1947–1952), in: Ztschr. f. Geschichtswiss., 48 (2000), 1, S. 20–49. 61 Hierzu Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive?, München 1998; über weitere Unternehmungen Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974. 62 Hierzu James P. Harrison, Der lange Marsch zur Macht, S. 632ff. 63 Gottfried-Karl Kindermann, Der Aufstieg Koreas in der Weltpolitik; neuerdings ders., Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840–2000, Stuttgart/München 2001, S. 348–358; Zusammenfassung der Literatur und Quellenveröffentlichungen Bernd Bonwetsch, Peter M. Kuhfus, Die Sowjetunion, China und der Koreakrieg, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 33 (1985), S. 28–87; dies., Neue Quellen zum Eintritt Chinas in den Koreakrieg (Juni – Oktober 1950), in: Vjhe. f. Zeigesch. 34 (1986), S. 269–289. 64 Über eine deutsche Initiative, die Ministerpräsidenten der Länder aller Besatzungszonen zusammenzurufen, Wilhard Grünewald, Die Münchener Ministerpräsidentenkonferenz 1947. Anlaß und Scheitern eines gesamtdeutschen Unternehmens, Meisenheim 1971; zum Folgenden Hans-Peter Schwarz, Vom Reich zur Bundesrepublik, 2. Aufl. Stuttgart 1980; Überblick Eckart Conze u. Gabriele Metzler (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Diskussionen, Stuttgart 1999; Anselm DoeringManteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 41 (1993), S. 1–29. 65 Vgl. die zeitgenössischen Darstellungen Hugh Borton u.a., Japan between East and West, New York 1957; Hinweise Shigeru Yoshida, Japan’s Decisive Century, in: Britannica: Book of the Year 1967, Chicago 1967, S. 17–48; zuletzt Kiyoshi Inoue, Geschichte Japans, 2. Aufl. Köln 2002, S. 602ff.

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Anmerkungen

66 Zum Nachfolgenden ein älterer Essay Gerhard Schulz, Entwicklungstendenzen in der Nachkriegsdemokratie, in: Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik. Festschr. f. Theodor Eschenburg, hg. v. Gerhard Lehmbruch, Klaus von Beyme, Iring Fetcher, München 1971, S. 13–54. 67 Alfred Grosser, Die Bundesrepublik Deutschland. Bilanz einer Entwicklung, Tübingen 1967, S. 13. Neuerdings zusammenfassende Darstellung der amerikanischen Deutschland-Politik: Edmund Spevack, Allied Control and German Freedom. American Political and Ideological Influences on the Framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster u. a. 2001, Part Three – Part Six. Die Präambel begründet das Grundgesetz „für eine Übergangszeit“. Das hat vielfältige Kommentierungen durch Verfassungsrechtler nicht ausgeschlossen. Nun „drängt das Grundgesetz die deutsche Politik entschieden in Initiativen [!] zur Stärkung der Vereinten Nationen“. Paul Kirchhoff, in: FAZ , 90, 16. 4. 2003, S. 9. 68 Große Biographie Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg; ders., Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991; vgl. auch die Festgabe der Stadt Köln zum 100. Geburtstag ihres Ehrenbürgers, hg. v. Hugo Stehkämper, Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln, Köln 1976; Rudolf Morsey (Hg.), Konrad Adenauer und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart/Zürich 1979;ders., Die Deutschlandpolitik Adenauers (Rheinisch-Westfälische Akademie d. Wissenschaften, Vorträge), Opladen 1991; Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949–1963, 2. Aufl. Darmstadt 1988; parteigeschichtlich Frank Bösch, Die Adenauer- CDU . Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, Stuttgart/München 2001; zu den Anfängen die Quellenedition v. Udo Wengst, Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949, Düsseldorf 1985; zum Folgenden auch ders., Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984. Zum Zeitkolorit und Persönlichkeitsbild Theodor Heuss – Konrad Adenauer, Unserem Vaterlande zugute. Der Briefwechsel 1948–1963, bearb. v. Hans Peter Mensing, Berlin 1989. 69 Zur Mentalitätsgeschichte Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 70 Chronik und Einzelheiten Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Göttingen 1998. – Erster Versuch, Föderalismus in einem europäischen Vergleich zu erörtern, Franz Knipping (Hg.), Federal Conceptions in EU Member States: Traditions and Perspectives, Baden-Baden 1994; zu Deutschland Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur in Deutschland. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer

IV Offene Tür und Kalter Krieg

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Republik, Bde. I- III , Berlin/New York 1987–1992; aus der ersten Nachkriegszeit Bodo Dennewitz, Der Föderalismus und seine Geschichte, Hamburg 1947; neuerdings Karl Eckart, Helmut Jenkis (Hg.), Föderalismus in Deutschland, Berlin 2001. – Mittlerweile vermögen sich nur noch fünf der 16 Länder aus eigener Kraft zu finanzieren. Dies illustriert die zunehmende Bedeutung des Finanzausgleichs. Vgl. Eberhard Konstanzer, Die Entstehung des Landes Baden-Württemberg, Stuttgart u. a. 1969; Theodor Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933–1999, Berlin 2000, S. 119–151; Petra Weber, Carlo Schmid 1896–1979. Einzelheiten hierzu bei Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941–1991, München 1996, bes. S. 82 ff.; neuerdings Versuch einer Übersicht über verschiedene Forschungen Beate IhmeTuchel, Die DDR , Darmstadt 2002. Dieser Ausdruck ist in Baden-Württemberg während der frühen Besatzungszeit wahrscheinlich von Carlo Schmid geprägt, später von Theodor Heuss auf die Bundesrepublik angewandt worden. Heuss nannte sie in seiner letzten Rede als Bundespräsident „zeitlich und sachlich Durchgangsstadium … Aufgabe und Auftrag, aus der Stellvertretung für eine gesamtdeutsches staatliches Schicksal dessen konkreten Vollzug zu erarbeiten.“ Theodor Heuss, Die großen Reden: Der Staatsmann, Tübingen 1965, S. 306. Ebda. Vgl. auch Petra Weber, Carlo Schmid. Rede am 18. März 1946, Heuss, Aufzeichnungen 1945–1947, Tübingen 1966, S. 89. Ebda. Im übrigen sei verwiesen auf Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik, S. 59 ff. Yeshayahu A. Jelinek, Israel und die Anfänge der Shilumim, in: Ludolf Herbst, Constantin Goschler (Hg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 120 f. Zit. Jesaja 34, 8, Übers. Luthers: „Denn es ist der Tag der Rache des Herrn, und das Jahr der Vergeltung, zu rächen Zion“. Michael Wolffsohn, Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, 3. Aufl. München 1989, S. 68; eingehend hierzu Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart/München 2001, S. 97 ff. So Nahum Goldmann, Das jüdische Paradox. Zionismus und Judentum nach Hitler, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1988, S. 167 (französ. Erstveröffentlichung schon 1976, deutsch 1978). Goldmann nennt es „eine ungewöhnliche Neuerung im internationalem Recht … Denn bis dahin war es üblich, daß ein Land an den Sieger Reparationen zahlte, wenn es einen Krieg verloren hatte. Aber dies geschah von Staat zu Staat und von Regierung zu Regierung. Nun aber sollte eine Nation zum erstenmal Entschädigungen

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Anmerkungen an Privatpersonen oder an einen Staat leisten, der juristisch noch nicht existiert hatte, als die Naziverbrechen begangen wurden“. a.a.O., S. 166. Kritisch Wolffsohn, a.a.O., S. 10; sachlich begründet Goldmann, a.a.O., S. 125 f.: „In diesem Jahrhundert also, einem der brutalsten der Menschheitsgeschichte, ist der Zionismus eines der wenigen Ideale, das von Freiwilligen in die Tat umgesetzt wurde … Davon abgesehen, bin ich nicht sicher, ob der jüdische Staat ohne Auschwitz heute bestehen würde“. Jelinek, Shilumim, S. 122 f. Europa-Archiv 1953, S. 5628. 450 Millionen kamen der „Conference on Jewish Material Claims against Germany“ zu. Chronologische Darstellung mit vielen Einzelheiten Felix E. Shinnar, Bericht eines Beauftragten. Die deutsch-israelischen Beziehungen 1951–1966, mit Vorworten v. David Ben Gurion u. Konrad Adenauer, Tübingen 1967. Aus der weiteren Literatur vor allem die beiden Beiträge von Rudolf Huhn u. Michael Wolffsohn, in: Herbst, Goschler (Hg.), Wiedergutmachung, S. 139–190. Goldmann, a.a.O., S. 168, 184, 172: „Deutschland war in den fünfziger Jahren sehr arm. Doch ich blieb unnachgiebig“. S. 171: „Ohne die deutschen Wiedergutmachungsleistungen, die in den ersten 10 Jahren nach der Gründung Israels einsetzten, besäße der Staat kaum über die Hälfte seiner heutigen Infrastruktur: alle Züge, alle Schiffe, alle Elektrizitätswerke sowie ein Großteil der Industrie sind deutschen Ursprungs … ganz zu schweigen von den individuellen Renten, die an die Überlebenden gezahlt werden. Gegenwärtig erhält Israel immer noch jährlich Hunderte von Millionen Dollar in deutscher Währung … In manchen Jahren überschritten die von Deutschland an Israel bezahlten Summen die vom internationalen Judentum gespendeten Beträge mitunter um das Zwei- bis Dreifache. Heute hat niemand mehr etwas gegen dieses Prinzip einzuwenden; sogar einige Herut-Mitglieder beziehen Wiedergutmachungsgelder“. Als Zeitzeuge sehr knapp Hermann J. Abs, Entscheidungen 1949–1953. Die Entstehung des Londoner Schuldenabkommens, Mainz 1991, S. 123ff.; ausführlicher Goldmann, a.a.O., S. 172–184; zur weiteren Vorgeschichte Shinnar, Bericht eines Beauftragten; Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995, bes. S. 305–315; Yeshayahu A. Jelinek, Die Krise der Shilumim/Wiedergutmachungsverhandlungen im Sommer 1952, in: Vjhe. f. Zeigesch., 38 (1998), S. 113–139; zuletzt zusammenfassend Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahost-Politik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt a.M. 2002; und die Darstellung eines ehemaligen deutschen Botschafters in Israel, Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion, Düsseldorf 2002. – Ein Überleitungsvertrag, der in endgültiger Fassung im März 1955 in Kraft trat, bestimmte, Reparationen würden „durch den Friedesvertrag zwischen Deutschland und seinen ehe-

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maligen Gegnern oder vorher durch diese Frage betreffende Abkommen geregelt“. Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung enstandener Fragen (RGBl 1955, II , S. 181–194). 85 So die Schlagzeile des konzentrierten Überblicks v. Christoph Buchheim, in: FAZ , 219, 20. 09. 2003, S. 13; ausführlich Abs, Entscheidungen.

V Europa und Amerika in einer sich wandelnden Welt 1 Anfangs 16, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Dänemark, Griechenland, Irland, Island, Italien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Türkei, später die Bundesrepublik. Hier wie auch für andere Zusammenhänge sei auf den bislang ausführlichsten Versuch hingewiesen, von den entscheidenden Zentren aus ein nachgerade globales Panorama der Nachkriegsgeschichte deutscher Außenpolitik zu entwickeln: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. I: Von der Kapitulation bis zum Pleven-Plan, v. Roland G. Foerster u. a., München 1982; weiterer Überblick Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941–1991, München 1996. 2 Europa-Archiv 1948, S. 1345, 1565 ff. 3 Vgl. Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, München/Wien 1978; kurze Zusammenfassung Wilfried Loth, Der Weg nach Europa, Göttingen 1990, S. 16 ff., dort S. 142 f. auch weitere Literatur. 4 Knut Borchardt, in: Gustav Stolper, Karl Häuser, K. Borchardt, Deutsche Wirtschaft seit 1870, 2. Aufl. Tübingen 1966, S. 348. 5 So Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945–1958, Baden-Baden 2000, S. 44. 6 Aus der Literatur hierzu Richard T. Griffith, Die Benelux-Staaten und die Schumanplan-Verhandlungen, in: Ludolf Herbst, Werner Bührer, Hanno Sowade (Hg.), Vom Marshallplan zur EWG . Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990, S. 263ff.; die knappe, eingehende und umsichtige Darstellung von Werner Link, Der Marshall-Plan und Deutschland, in: aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/80, 1980, S. 1–18. 7 Armin Heinen, Frankreich, Großbritannien und der Schumanplan …, in: Guido Müller (Hg.), Deutschland und der Westen. Festschr. f. Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 65–75. 8 Hierzu Hans-Jürgen Küsters, Konrad Adenauer und die Idee einer wirtschaftlichen Verflechtung mit Frankreich, in: Andreas Wilkens (Hg.), Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen 1945–1960, Sigmaringen 1997, S. 63–84; und weitere Beiträge in diesem Band v. Raymond Poide-

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Anmerkungen vin, Gérard Bossuat, Christoph Buchheim, Volker Hentschel, Wilfried Loth, Andreas Wilkens, Werner Bührer, Matthias Kipping; Eckhard Wandel, Adenauer und der Schuman-Plan. Protokoll eines Gesprächs zwischen Konrad Adenauer und Hans Schäffer am 3. Juni 1950, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 20 (1972), S. 192–203. Gründlich und anschaulich Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, 2. Aufl. Stuttgart 1986, S. 677 ff., S. 710–774. Hierzu und zum Folgenden in verschiedenen Perspektiven Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? u. die Beiträge v. Ludolf Herbst, Volker Berghahn, Raymond Poidevin, Richard T. Griffith, Klaus Schwabe, Hellmuth Auerbach, Hans-Peter Schwarz, in: Herbst, Bührer, Sowade, Vom Marshallplan zur EWG ; zuletzt Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung 1945 – 2000, Stuttgart/München 2001. Europa-Archiv 1950, S. 3405 f. Neuerdings Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001. Dieser wurde von der Sowjetunion zurückgewiesen, da „die Frage der Grenzen Deutschlands durch das Potsdamer Abkommen gelöst worden ist und da die Deutsche Bundesregierung ihre Jurisdiktion auf dem Gebiet ausübt, das unter ihrer Hoheit steht“. Europa-Archiv 1955, S. 8278 f. Europa-Archiv 1952, S. 4872 ff. Europa-Archiv 1951, S. 3991 ff.; BGBl II 1952, S. 445. Zur Genese ausführlich Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbstbehauptung, S. 29ff.; grundlegend: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1965, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 2: Lutz Köllner, Klaus A. Maier, Wilhelm Meier-Dörnberg u. Hans-Erich Volkmann, Die EVG -Phase, München 1990. Offizielle Veröffentlichung der NATO -Informationsabteilung, NATO Organisation des Nordatlantikvertrages. Tatsachen und Dokumente, Paris 1965, S. 6. Zuletzt hierzu Georges-Henri Soutou, La guerre de Cinquante Ans. Les relations Est – Ouest 1943–1990, Paris 2001, S. 203ff. Nach der frühen Darstellung von Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe, München 1970, bes. S. 98 ff., ebenso gründliche wie ergiebige Behandlung Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952, S. 727–774. Der Korea-Krieg als „Katalysator“ für die Verteidigung Westeuropas: Christian Greiner, Die alliierten militärstrategischen Planungen zur Verteidigung Westeuropas, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 1, S. 287–291; Werner Abelshauser, Wirtschaft und Rüstung in den fünziger Jahren, in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik, Bd. 4, München 1997, bes. S. 3–19.

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19 Ausführlich Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? S. 200–275; vgl. auch Günter Diehl, Zwischen Politik und Presse. Bonner Erinnerungen 1949–1969, Frankfurt a.M. 1994, S. 130–134. Zu den innerpolitischen und außenpolitischen Kontroversen, im Blick auf die Rolle des Bundesjustizministers Dehler Udo Wengst, Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 202 f. 20 Vgl. Wengst, a.a.O., S. 202–222. 21 Europa-Archiv 1952, S. 4832 f.; Eckart Conze u. Gabriele Metzler (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Diskussionen, Stuttgart 1999, S. 96–99. Ausführliche Darstellung – auch Bewertung der StalinNote – Haftendorn, Deutsche Außenpolitik, bes. S. 42–46; Gerhard Wettig, Die Deutschland-Note vom 10. März 1952 nach sowjetischen Akten, in: Heinrich Bodensieck u. a., Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung bis zum Tode Stalins, Berlin 1994, S. 83–111; aus anderer Sicht Michael Lemke, Chance oder Risiko? Die Stalin-Note vom 10. März 1952 im außenpolitischen Konzept der Bundesregierung, in: Zeitschr. f. Geschichtswiss., 39 (1991), S. 116–129; aus der weiteren deutschen Literatur zur Frage Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik, S. 83 ff.; neuerdings Jürgen Zarusky (Hg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002. Zur Situation in Moskau – im Jahr vor Stalins Tod – vor allem Valentin Falin, Politische Erinnerungen, München 1993, bes. S. 307–314; vgl. auch Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991, Berlin 1995, bes. S. 279–289. 22 Vgl. Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd. 3: Hans Ehlert, Christian Greiner, Georg Meyer u. Bruno Thoß, Die NATO -Option, München 1993. 23 Haftendorn, a.a.O., S. 58. 24 Zuletzt hierzu Norbert Wiggershaus, Winfried Heinemann (Hg.), Nationale Außen- und Bündnispolitik der Nato-Mitgliedstaaten, München 2000, S. 311–323, Zusammenfassung Wilfried Loth; vgl. Alastair Buckham, Crisis Management. The New Diplomacy, Boulogne-sur-Seine 1966; Monro MacClusky, North Atlantic Treaty Organization. Guardian of Peace and Security, New York 1966; auch Derek W. Urwin, The Political History of Western Europe since 1945, 5. Aufl. London/New York 1997. 25 Europa-Archiv 1957, S. 9897 ff., 10357 ff. 26 Gottfried-Karl Kindermann, Der Aufstieg Ostasiens in der Weltpolitik 1840–2000, Stuttgart/München 2001, S. 367–376; das erste Kapitel v. Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, 5. Aufl. München 2000, S. 11–40. 27 Ausführlicher Bericht von israelischer Seite David Ben Gurion, Wir und die Nachbarn. Gespräche mit arabischen Führern, Tübingen 1968. Der „Oberrabbiner von Palästina und von Israel“, Herzog, hatte am 15. Februar

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Anmerkungen 1939 in seiner Eröffnungsrede die Rechte der Juden auf „göttliches Versprechen“ zurückgeführt, „beginnend mit Urvater Abraham bis zu den letzten Propheten. Durch die Balfourdeklaration machte sich Großbritannien zum Werkzeug der göttlichen Vorsehung, und das jüdische Volk sah in der Erklärung den Beginn der Heimkehr nach Zion“. Von anderer Seite (Raw Blau) in der gleichen Verhandlung: „Es gebe jetzt Staaten, die zur Hilfe für jene bereit seien, die sich mit Judenmord befassen – will auch die Regierung seiner Majestät zu diesem Kreis zählen? Die Vorsehung habe Großbritannien erwählt, ihr Instrument bei der Rückkehr des jüdischen Volkes in sein angestammtes Land zu sein, bis die volle Erlösung komme. Die Regierung Seiner Majestät habe diesen ihren Auftrag getreulich zu erfüllen“. a.a.O., S. 371 f. Zur Entwicklung der Lage in Palästina Albert Hourani, Die Geschichte der arabischen Völker, Frankfurt a.M. 2000, S. 435 ff.; von jüdischer Seite Shmuel N. Eisenstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987.; zuletzt Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israels, München 2002. Hans von Mangoldt, Volker Rittberger (Hg.), Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer, Bd. I: Das System der Vereinten Nationen, I/1, München 1995, S. 202–249. Der Policy Planning Staff des State Departments konstatierte: „The Middle East is undoubtedly in for a rocky time. In Palestine, we have a situation which is badly fouled up by past mistakes of many people, including ourselves. These probably cannot be settled without great unpleasantness, including violence. The further development of this situation is inevitably going to present favorable opportunities for the Russians to fish in muddy waters. These they will exploit to the limit“. Foreign Relations of the United States (FRUS ) 1947, I, S. 775. Mangoldt, Rittberger, a.a.O., S. 211. „600 000 Seelen“, Michael Brocke, Judentum, in: Peter Antes (Hg.), Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben, München 1996, S. 30; Ben Gurion, Wir und die Nachbarn, S. 427, spricht von 650000 Juden, Anfang 1939 erst 65000 (S. 424). Zit. Ben Gurion. a.a.O., S. 381. Albert Einstein, Mein Weltbild, hg. v. Carl Seelig, 26. Aufl. Berlin 1988, S. 111f; über Einstein und Israel auch Isaiah Berlin, Persönliche Eindrücke, hg. v. Henry Hardy, Berlin 2001., S. 123–138 Brocke, Judentum, S. 32; vgl. Boas Evron, Jewish State or Israeli Nation, Bloomington, Ind. 1995, S. 34; zum Sechstagekrieg neuerdings Michael B. Oren, Six Days of War. June 1967 and the Making of the Modern Middle East, New York 2002. Brocke, a.a.O., S. 34. James G. Leyburn, The Haitian People, 2. Aufl. New Haven, Conn. 1966.

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36 Aus der Literatur in Deutschland Imanuel Geiss, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 1968, resümierend S. 326–332. 37 Zum Folgenden Reinhard Schulze, Geschichte der Islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994; nützlicher und umfassender Versuch Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, 4. Aufl. München 1981, II . Teil; Jan Romein, Das Jahrhundert Asiens. Geschichte des modernen asiatischen Nationalismus, Bern 1958. 38 Albert Hourani, Geschichte der arabischen Völker, Frankfurt a. M. 1992, S. 388 f. 39 Vgl. die Übersichten bei Hourani, auch zum Folgenden, a.a.O., S. 124 ff., 180 ff., 390, 494ff. 40 Ulrike Freitag, Scheich oder Sultan – Stamm oder Staat? Staatsbildung im Hadramaut (Jemen) im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jb. d. Hist. Kollegs 2000, München 2001, S. 177. 41 a.a.O., S. 183. 42 Freitag, a.a.O., S. 187, zit. einen hohen britischen Kolonialbeamten: „… die eigentliche Schwierigkeit war es, den Leuten deutlich zu machen, daß die britische Regierung das, was sie sagte, auch meinte, und daß ihre Entscheidungen keine leeren Drohungen waren, wie sie [die Stämme] es gewohnt waren. Auch wenn durch den Einsatz der Royal Air Force die Probleme keineswegs dauerhaft gelöst wurden …“ 43 Vgl. Joseph Kostiner, The Struggle for South Yemen, London/New York 1984. 44 Mohandas K. Gandhi, Autobiographie, Freiburg i. B. 1960; Dietmar Rothermund, Die politische Willensbildung in Indien 1900–1960, Wiesbaden 1965; ders., Mahatma Gandhi. Der Revolutionär der Gewaltlosigkeit, München 1989; Sigrid Grabner, Mahatma Gandhi, Freiburg u. a. 1994; Joan V. Bondurant, Conquest of Violence. The Gandhian Philosophy of Conflict, 2. Aufl. Berkeley/Los Angeles 1965. 45 Hierzu Jawaharlal Nehru, Entdeckung Indiens, Berlin 1959; Clement Attlee, Empire into Commonwealth, London 1961; Rothermund, Die politische Willensbildung in Indien. 46 Reinhard Schulze, Geschichte der Islamischen Welt, S. 152 f., sieht Bezüge zu islamischen Sozialisten und Kommunisten, aber auch zum Faschismus spanischer und italienischer Prägung. 47 Penderel Moon, Divide and quit, London 1961. 48 Schulze, a.a.O., S. 154 f., auch zum Folgenden. 49 Hierzu Herbert Feith, The Decline of Constitutional Democracy in Indonesia, Ithaca, N.Y. 1962; John Hughes, Indonesian Upheaval, New York 1967. 50 Europa-Archiv 1955, S. 7563 ff. 51 Ansprenger, Auflösung, S. 173 ff.

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Anmerkungen

52 „Bündnisachse Indonesien – Kambodscha – Vietnam – China – Nordkorea“, Kindermann, Aufstieg Ostasiens, S. 511. 53 Stephen H. Longrigg, Oil in the Middle East, 3. Aufl. London 1968; Helmut Mejcher, Die Politik und das Öl im Nahen Osten, Bd. II : Die Teilung der Welt 1938–1950, Stuttgart 1990, bes. S. 307–380. 54 Majid Khadduri, Independent Iraq 1932–1958, London 1960. 55 Scharfe Urteile in der Einleitung, Saul Kelly, Anthony Gorst (Hg.), Whitehall and the Suez-Crisis, London 2000, S. 1. Vgl. Soutou, La guerre de Cinquante Ans, S. 336ff. Nach späteren Verhandlungen leistete Ägypten den Aktionären der enteigneten Suez-Kanal-Gesellschaft Entschädigungen. 56 Europa-Archiv 1956, S. 8775. 57 Gilbert Ziebura, Die V. Republik. Frankreichs neues Regierungssystem, Köln/Opladen 1960, S. 74 ff.; Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998, S. 443–458. 58 Wladislaw Subok, Konstantin Pleschakow, Der Kreml im Kalten Krieg. Von 1945 bis zur Kubakrise, Hildesheim 1997, S. 136; günstige Beurteilungen durch den zeitweiligen Stellvertreter Molotows, Wladimir S. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 306 ff.; aus der Fülle der weiteren Literatur hierzu und zum Folgenden Gerd Koenen, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? 2. Aufl. Berlin 1999; Lars T. Lih, Oleg Naumow, Oleg Chlewnjuk, Stalin. Briefe an Molotow 1925–1936, Berlin 1996; François Fejtö, Histoire de démocraties populaires. L’ère de Staline, Paris 1969; John W. Wheeler-Bennett, Anthony Nicholls, The Semblance of Peace. The Political Settlement after the Second World War, London/ Basingstoke 1972; Soutou, La guerre de Cinquante Ans. 59 Dimitri Wolkogonow, Stalin – Triumph und Tragödie. Ein Politisches Porträt, Düsseldorf/Wien 1993, S. 248ff.; Walter Laqueur, Stalin. Abrechnung im Zeichen von Glasnost, München 1990, S. 47 ff.; kurzer, durch Dokumente illustrierter Überblick mit Vorwort von Horst Schützler, Schauprozesse unter Stalin 1932–1952. Zustandekommen, Hintergründe, Opfer, Berlin 1990.; große Biographie Heinz-Dietrich Löwe, Stalin. Der entfesselte Revolutionär, 2. Bde, Göttingen 2002. 60 Eingehende Untersuchung Gabriel Gorodetsky, Grand Delusion. Stalin and the German Invasion of Russia, New Haven/London 1999, bes. S. 316–323. „It is not surprising that in the execution of the foreign policy Machiavelli rather than Lenin was Stalin’s idol …“. 61 Tschujew, zit. Subok, Pleschakow, Kreml, S. 137; über „sowjetischen Patriotismus“ auch Walter Laqueur, Der Schoß ist fruchtbar noch. Der militante Nationalismus der russischen Rechten, München 1993, S. 13 ff. 62 Vgl. Soutou, La guerre de Cinquante Ans, S. 44 f. 63 Subok, Pleschakow, Kreml, S. 164. 64 Charakterisierungen der handelnden Persönlichkeiten Subok, Pleschakow, a.a.O., bes. 184 ff.

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65 In diesem Sinne Ernst Nolte, Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, 6. Aufl. München 2000. Vgl. die Bemerkung über Kommunismus und Faschismus François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1998, S. 216 f., 648f. 66 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 385. Der Autor meint allerdings: „Ungeachtet der gigantischen Dimensionen, die das Geheimdienst(un)wesen inzwischen angenommen hat, … war und ist seine außenpolitische Bedeutung … erstaunlich gering. Wenn es nicht schon vorhanden wäre, müßte man es sicher nicht erfinden.“ (S. 387) Es entspricht dem Begriff jedes Geheimdienstes, daß er in der Regel unerkannt bleibt oder für bedeutungslos gehalten wird, seine Tätigkeiten wie Aufgaben sich jeglicher Aufmerksamkeit entziehen. Demgegenüber darf aber die durch Erfahrungen begründete Feststellung angeführt werden: „Zwar läßt sich diese Blindheit führender Historiker teilweise dadurch erklären, daß die Archive der Geheimdienste … einer übermäßigen Geheimhaltung unterliegen, doch im Grunde ist sie auf etwas zurückzuführen, was die Psychologen ‚kognitive Dissonanz‘ nennen – die Schwierigkeit, die wir alle haben, wenn wir neue Konzepte erfassen sollen, die nicht in unser bisheriges Weltbild passen. Für viele Historiker, Politikwissenschaftler und Fachleute auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen war die Welt der Geheimdienste ein solches Konzept.“ Christopher Andrew, Wassili Mitrochin, Das Schwarzbuch des KGB . Moskaus Kampf gegen des Westen, Berlin 1999, S. 654. 67 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 123 (3. Aufl. 1963). 68 Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlage der politischen Wissenschaft, München 1950, S. 208. 69 Vgl. etwa Peter Christian Ludz, Ideologiebegriff und marxistische Theorie. Ansätze zu einer immanenten Kritik, Opladen 1976. 70 Hier sei Jean-François Lyotard erwähnt: „Man kann nur dann ein Intellektueller sein, ohne der Ehre verlustig zu gehen, wenn das Unrecht nicht geteilt ist, wenn die Opfer Opfer und die Henker unentschuldbar sind, wenn in der Welt der Namen, die unsere Geschichte ist, wenigstens einige Namen ohne Makel, reinen Ideen gleich, erglänzen … Die Pariser Commune war der ungetrübte (oder fast ungetrübte) Name, in dem es [das Proletariat] sich verkörperte. Diese Autorität ist verblaßt, nicht nur in Folge der wirklichen Verhältnisse in der Sowjetunion, dem – nominellen – Platzhalter des emanzipierten Proletariats, sondern vor allem deshalb, weil die Zeichen, die den Gedanken an ein solches Subjekt rechtfertigen könnten, selten geworden sind“. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, hg. v. Peter Engelmann, Graz/Wien 1985, S. 16 f.

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Anmerkungen

71 Subok, Pleschakow, Kreml, S. 168 ff. 72 Andrew, Mitrochin, Das Schwarzbuch, bes. S. 84 ff., passim. 73 Vgl. Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin, Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich, 5. Aufl. 1998. 74 Angemerkt sei, daß im Schatten des zu Beginn des Jahrhunderts entstehenden Zionismus Herzlscher Prägung nicht nur ein Madagaskar-Plan für einen jüdischen Nationalstaat aufkam. Seit den zwanziger Jahren entstanden innerhalb der Sowjetunion jüdische Siedlungsregionen: das autonome Gebiet Birobidschan in Sibirien an der mandschurischen Grenze, und die Krim, zu der die Pläne bei Kriegsende noch nicht abgeschlossen waren. Hierauf fußte die von Berija und Stalin seit 1947 veranlaßte Kampagne gegen „expansionistische Kreise der amerikanischen Plutokratie jüdischer Herkunft“, die eine neue Version des Antisemitismus entwickelte. Alexander Borschtschagowski, Orden für einen Mord. Die Judenverfolgung unter Stalin, Berlin 2000, S. 121 ff.; Hans Jansen, Der MadagaskarPlan. Die beabsichtigte Deportation der europäischen Juden nach Madagaskar, München 1997. 75 Subok, Pleschakow, Kreml, S. 212 f. Daß außerdem in großem Umfang Sowjetische Aktiengesellschaften (SAGs ) von der Militärverwaltung gebildet wurden, ist schon erwähnt worden. Es hat den Anschein, daß deutsche Verwaltungen – etwa in Thüringen und Sachsen-Anhalt – hiervon erst nachträglich erfuhren. OSS , Intelligence & Research Reports, NA , Reel V, 17, 5. März 1947, nennt als Beispiele Braunkohlengruben Carl Bosch in Pirkau u. Naumburg sowie die Norddeutsche Kugellagerfabrik in BerlinLichtenberg; in der alten Provinz Sachsen wurden alle elektrischen Hochspannungsleitungen von sowjetischer Seite übernommen. Von amerikanischer Seite wurde mit Aufmerksamkeit und mit Besorgnis die Tätigkeit deutscher Gelehrter wie die Gefangenhaltung deutscher Generäle in der Sowjetunion beobachtet. „Dies sei der einzige Punkt, der ihnen (der USA ) Sorge mache; denn die Sowjets seien gerade in der für die Kriegführung wichtigen technischen und chemischen Wissenschaft sowie in der Strategie außerordentlich zurück und völlig unfähig, den neuesten Erkenntnissen der US -Kriegswissenschaft und Kriegswirtschaft Entscheidendes entgegenzusetzen. Dieses Manko könne eben nur durch die … deutsche Hilfe ausgeglichen werden“. So der amerikanische Stabschef General Gruenther nach einer Aufzeichnung von Oberdirektor Pünder über eine längere Unterredung mit Verteidigungsminister Forrestal, Botschafter Murphy, General Clay und Gruenther am 14. November 1948 in Königstein im Taunus; Original Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef/Rhöndorf. Einiges hierzu Christoph Mick, Deutsche Fachleute in der sowjetischen Rüstungsforschung 1945–1958, München 2000.

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76 Subok, Pleschakow, Kreml, S. 222 f. 77 a.a.O., S. 208 f.; Abdurrahman Awtorchanow, Das Rätsel um Stalins Tod, Frankfurt a.M., 1984, S. 224: „Deshalb errichtete Stalin statt des versprochenen ‚Paradieses auf Erden‘ ein ständiges Fegefeuer, in dem die Vergebung von den Sünden sich bis heute nur als ‚postume Rehabilitierung‘ darstellt. Als er auch seine ‚Apostel‘ an das Fegefeuer herangeführt hatte, schleuderten sie ihn selbst hinein“. Samson Madievski, Die Tragödie der loyalen sowjetischen Juden, in: NZZ , 3./4. Aug. 2002, S. 53 f. 78 Die Liste der deutschen Literatur zum Aufstand in Deutschland ist lang. Genannt seien Karl Wilhelm Fricke u. Roger Engelmann, Der „Tag X“ und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953. Reaktionen und Konsequenzen im DDR -Machtapparat, Bremen 2003; Heide Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999. 79 Chruschtschow erinnert sich, hg. v. Strobe Talbott, eingel. v. Edward Crankshaw, Reinbek 1971. Hierzu u. zum Folgenden Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, S. 758 ff. 80 Keith Robins, The Eclipse of a Great Power. Modern Britain 1870–1992, 2. Aufl. Harlow 1994, S. 180 f. 81 Aus der zeitgenössischen Literatur vor allem Milovan Djilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems, 3. Aufl. Wien 1978; George W. Hoffmann, Fred W. Neal, Yugoslavia and the New Communism, New York 1962; John C. Kempel, Tito’s Separate Road: America and Yugoslavia in World Politics, New York 1967. 82 Subok, Pleschakow, Kreml, S. 267 ff. 83 Von „Nikitas Torheit“ sprachen manche Betroffene, a.a.O., S. 274 ff. 84 Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik, S. 137; genau Peter Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, Berlin 2000, S. 171, 505 ff. Die Gesamtbevölkerung der DDR betrug etwa 18 Millionen. 85 Subok, Pleschakow, a.a.O., S. 277; vgl. Soutou, La guerre de Cinquante Ans, S. 367 ff.; Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 177 ff.; Rolf Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. 86 Zum Folgenden Schöllgen, Weltpolitik, S. 125 ff.; Hans Herzfeld, Berlin in der Weltpolitik 1945–1970, Berlin/New York 1973, S. 417 ff. 87 So in einem Zeitungsartikel am 30. Dezember 1956: „Nachdem in Deutschland zwei Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen entstehen, ist es notwendig, zunächst eine Annäherung der beiden deutschen Staaten herbeizuführen, später eine Zwischenlösung in Form der Konföderation oder Föderation zu finden, bis es möglich ist, die Wiedervereinigung und wirklich demokratische Wahlen zur Nationalversammlung zu erreichen“. Zit. Schöllgen, a.a.O., S. 138. Das entsprach allerdings nur dem Sinne der

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Anmerkungen Stalin-Note vom 10. März 1952 und der Belehrung, die Stalin am 7. April den deutschen SED -Führern gab: „Man muß die Propagierung der Einheit Deutschlands die ganze Zeit fortsetzen. Das hat für die Erziehung des Volkes in Westdeutschland große Bedeutung. Jetzt habt ihr diese Waffe in den Händen, man muß sie die ganze Zeit in den Händen behalten. Wir werden auch weiterhin Vorschläge zur Frage der Einheit Deutschlands machen, um die Amerikaner zu enttarnen“. Wladimir W. Wolkow, Die deutsche Frage aus Stalins Sicht, in: Zeitschr. f. Geschichtswiss., 48 (2000), I, S. 17. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 316 ff.; Rolf Steininger, Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958–1963, München 2001. a.a.O., S. 322. Hierzu wie zum Folgenden Subok, Pleschakow, Kreml, S. 288ff. Ausführlich über diese Vorgänge James Bamford, NSA . Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt, München 2001, S. 51–68. Abgeschlossen am 8. September zwischen den USA , Großbritannien, Frankreich, Australien, Neuseeland, den Philippinen, Thailand und Pakistan. Europa-Archiv 1954, S. 6948 ff. Kindermann, Aufstieg Ostasiens, S. 396 ff.; Subok, Pleschakow, Kreml, S, 304. Vgl. die knappen Bemerkungen von Andrej Gromyko, Erinnerungen, Düsseldorf u. a. 1989, S. 348 f. Talbott (Hg.), Chruschtschow erinnert sich, S. 470 ff.; vgl. Gromyko, a.a.O., S. 351; Edgar Bauer, Die unberechenbare Weltmacht. China nach Deng Xiaoping, Frankfurt a.M. 1995, S. 48; neue Biographie Jonathan Spence, Mao, München 2003. Zum Folgenden Kindermann, Aufstieg Ostasiens, S. 475–484. Zit. Subok, Pleschakow, Kreml, S. 318. Ebda. Gordon H. Chang, Friends and Enemies. The United States, China and the Soviet Union, 1948–1972, Stanford, Cal. 1990, S. 192. „Nicht ein einziger offizieller Vertreter wagte es, dagegen zu stimmen, so stark war die Ausstrahlungskraft dieser Initiative der Sowjetunion, die die Weltöffentlichkeit unterstützte,“ meinte der stellvertretende russische Außenminister. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 323. Genauer Walter Schümperli, Die Vereinten Nationen und die Dekolonisation, Bern 1970, S. 67–82. Subok, Pleschakow, a.a.O., S. 295. a.a.O., S. 293. Zum Versuch einer „weißen“ Gegenrevolution des Schahs Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 314 ff. John F. Kennedy, The Strategy of Peace, hg. v. Allan Nevins, New York 1960, S. 38 ff.

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105 Harold Macmillan, Erinnerungen, Frankfurt a.M./Berlin 1972. 106 John Dumbrell, A Special Relationship. Anglo-American Relations in the Cold War and After, New York 2001; vgl. Saul Kelly, Anthony Gorst (Hg.), Whitehall and the Suez Crisis, zum Folgenden bes. S. 64 ff., 93f. 107 Vertrag am 20. November 1959 von Großbritannien, Österreich, Dänemark, Norwegen, Portugal, Schweden und der Schweiz paraphiert, am 3. Mai 1960 in Kraft getreten. 108 Kommuniqué im Europa-Archiv 1963, S. D 30 ff. 109 Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow, S. 138; H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, II , S. 194f.; Michael Salewski, Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000, S. 1076.; Rolf Steininger, Der Mauerbau. 110 Nach kontroversen Behandlungen in der Literatur Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung, Darmstadt 1988, S. 105; Detlef Felken, Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953–1959, Bonn/Berlin 1993; Eckart Conze, Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik 1958 – 1963, München 1995, S. 44 ff. 111 Europa-Archiv 1958, S. 11313 f. 112 Hierzu Conze, a.a.O., S. 48 ff. 113 Hierzu und zum Folgenden auch Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik, S. 98 ff. 114 a.a.O., bes. S. 74 ff.; Manfred Steinkühler, Der deutsch-französische Vertrag von 1963. Entstehung, diplomatische Anwendung und politische Bedeutung in den Jahren 1958–1969, Berlin 2002. Aus der Literatur über Adenauer Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 2: Der Staatsmann 1952–1967, S. 385–401, 439–467. 115 Conze, a.a.O., S. 68 ff. 116 a.a.O., S. 77 ff.; Pierre Maillard, De Gaulle und Deutschland. Der unvollendete Traum, Bonn/Berlin 1991. 117 „Am 21. Februar 1962 konnte der USA -Oberstleutnant John Herschel Glenn dreimal die Erde in einer Entfernung zwischen 160 und 240 km umkreisen, und während der fünf Stunden des Fluges wurde jede einzelne Phase über den Rundfunk an die Hörer in der ganzen Welt übertragen“. Alfred Gerigk, Deutschland und das Weltgeschehen im Jahre 1961, Konstanz 1962, S. 9. 118 Zit. a.a.O., S. 7. 119 Richard Löwenthal, in: Der Monat, August 1961, wieder abgedruckt: Löwenthal, Weltpolitische Betrachtungen, Göttingen 1983, S. 30 f. 120 Zur verwirrenden Geschichte der Vorbereitungen auf amerikanischer Seite Gregory F. Treverton, Top Secret! Geheime Operationen und ihre politischen Auswirkungen, Stuttgart 1988, S. 120–137.

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Anmerkungen

121 Bislang umfassendeste und eingehenste Darstellungen der gesamten Kuba-Krise mitsamt ihren Verzweigungen Subok, Pleschakow, Kreml, S. 331–379, Zit. S. 355; Soutou, La guerre de Cinquante Ans, S. 390 ff. („Les premiers contacts entre les deux K …“, S. 401–420); zudem die Quellenstudien Ernest R. May, Philip D. Zelikow (Hg.), The Kennedy Tapes. Inside the White House During the Cuban Missile Crisis, Harvard 1997; Aleksandr Fursenkow, Timothy Naftali, „One Hell of a Gamble“. The Secret History of the Cuban Missile Crisis, London 1999. Allerdings haben diese gründlichen und kenntnisreichen Darstellungen mitsamt ihrem Quellenmaterial nur wenig Beachtung gefunden. Das gilt auch für die im Oktober 2002 erschienenden Berichte in deutschen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendungen. 122 Im einzelnen James Bamford, NSA , S. 120–130, bes. S. 124 ff. 123 a.a.O., S. 130; aufschlußreicher Bericht über eingetretene Spannungen zwischen Castro und dem viel vorsichtiger operierenden Chruschtschow auf Grund einer Veröffentlichung ihres Briefwechsels Ingo Juchler, Revolutionäre Hybris und Kriegsgefahr. Die Kuba-Krise von 1962, in: Vjhe. f. Zeitgesch. 41 (1993), S. 79–100. 124 Bamford, a.a.O., S. 199. 125 a.a.O., S. 126ff.; Albrecht Hagemann, Fidel Castro, München 2002, S. 131f. 126 Zweifel an der gelegentlich geäußerten Annahme, daß Castro zu den Drahtziehern zählte, Bamford, a.a.O., S. 138–143. 127 Vgl. Martin van Crefeld, Die Zukunft des Krieges, München 1998.

VI Auflösung der weltpolitischen Blöcke 1 Robert D. Johnson, Washington 20. Januar 1961. Der amerikanische Traum, München 1999, S. 188; vgl. die Biographie Thomas C. Reeves, John F. Kennedy. Die Entzauberung eines Mythos, Hamburg 1992; knappe, aber klare Beurteilung von „Fünf Unglücksraben: Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Carter“, in: Hans-Peter Schwarz, Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten, München 2001, S. 599 f.; beste deutschsprachige Darstellung Erich Angermann, Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9. Aufl. München 1995, bes. 375 ff., 388f.; Christian Hacke, Zur Weltmacht verdammt. Die amerikanische Außenpolitik von Kennedy bis Clinton, München/Berlin 1997, bes. S. 49–69; aus der weiteren Literatur Louise Fitz Simons, The Kennedy Doctrine, New York 1972, bes. S. 197 ff.; Peter Collier, David Horowitz, Die Kennedys. Ein amerikanisches Drama, Berlin 1985; Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam, Frankfurt a.M. 1992, bes. S. 352–374; Artikel der Encyclopaedia Americana, auch zum Folgenden.

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2 Marc Frey, Geschichte des Vietnamkriegs. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, 5. Aufl. München 2000, S. 70. 3 James Bamford, NSA . Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt, München 2001, S. 293 ff.; Neil Sheehan (Hg.), Die PentagonPapiere. Die geheime Geschichte des Vietnamkrieges, München/Zürich 1971, bes. 254–263. 4 Bernhard Dahm, Roderich Ptak (Hg.), Südostasienhandbuch. Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, München 1999, S. 335ff.; Richard Löwenthal, Weltpolitische Betrachtungen, S. 109–129; Sheehan (Hg.), Die Pentagon-Papiere; knapp, reich illustriert Jeremy Isaacs, Taylor Downing, Der Kalte Krieg, München/Zürich 1999, bes. S. 212–229; Tuchman, Torheit der Regierenden, S. 388–475; militärgeschichtliche Darstellung in vietnamesischer Sicht des „great patriotic war“: Victory in Vietnam. The Official History of the People’s Army of Vietnam 1954–1975, übers. v. Merle L. Pribbenow, Lawrence, Kansas 2002. 5 Joachim Arenth, Johnson, Vietnam und der Westen. Transatlantische Belastungen 1963–1969, München 1994, S. 269 ff. 6 Zuletzt Quiang Zhai, China and the Vietnam Wars 1950–1975, Chapel Hill/London 2000, summierendes Vorwort v. John Lewis Gaddis. 7 Geerad J. DeGroot, A Noble Cause? America and the Vietnam War, Harlow 2000, S. 183. 8 Ausführlich Quiang Zhai, a. o., S. 193. 9 Minutiöse Schilderungen in voluminöser Darstellung Henry A. Kissinger, Memoiren 1968–1973, München 1979. – über die nachfolgende „Umerziehung“ der Bevölkerung Indochinas Martin Pabst, Roter Terror. Verbrechen gegen die Menschlichkeit von Lenin bis Pol Pot, Graz/Stuttgart 2002, S. 217–237. 10 Karl E. Schorske, Begegnungen mit Herbert Marcuse, in: Keine Kritische Theorie ohne Amerika, hg. v. Detlev Claussen u. a., Frankfurt a.M. 1999, S. 87, Anm. 11 Bamford, NSA , S. 425, 437. Beschränkungen brachte erst der Foreign Intelligence Surveillance Act 1977, auf den auch die Errichtung eines geheimen Foreign Intelligence Surveillance Court zurückgeht. 12 Rohdri Jeffreys-Johns, Peace Now! American Society and the Ending of Vietnam War, New Haven/London 1999, S. 81–92. 13 Isaacs, Downing, Der Kalte Krieg, S. 273 f. 14 Peter Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 328. 15 Bestätigung durch den ehemaligen Bundesinnenminister Ernst Benda, in: FAZ , 31. Januar 2001, S. 49. 16 Was immer das heißen mochte. Vergessene Zeugnisse bei Julia Kölsch, Politik und Gedächtnis. Zur Soziologie funktionaler Kultivierung von Erinnerung, Wiesbaden 2000; auf Deutschland beschränkt und zum Teil auf

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Anmerkungen Berlin konzentriert Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke, Zürich 1999. Hierzu Richard Löwenthal, Weltpolitische Betrachtungen. a.a.O., S. 97. a.a.O., S. 117. Vgl. Soutou, La guerre de Cinquante Ans. Les relations West – Ouest 1943–1990, Paris 2001, S. 496 f. Dietrich Beyrau, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985, Göttingen 1993, S. 146. George Mink, Jean-Charles Schurek, La Grande Conversion: le destin des communistes en Europe de l’Est, Paris 2000. Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 2000, S. 12–27, 341–417. Der noch weitergehende SALT II wurde von Präsident Carter und Breschnew 1979 in Wien unterzeichnet, nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 vom Kongreß nicht ratifiziert. Aber durch Notenaustausch blieb die Vereinbarung auf beiden Seiten in Geltung bis 1985. Theodore C. Sorensen, Kennedy, München 1995, S. 716. Vor allem Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth, New York 1960. Alle Zitate Henry A. Kissinger, Jahre der Erneuerung. Erinnerungen, München 1999, S. 11 f. Kissinger, a.a.O., S. 7. Derek W. Urwin, A Political History of Western Europe since 1945, 5th ed. London/New York 1997, S. 122, „economic boom“; zur Ruhrkrise Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise 1958–1969, Göttingen 2001. So etwa Joseph Isensee, Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus, in: Jörg-Dieter Gauger, Justin Stagl (Hg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 225. Theodor Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, 4. Aufl. Stuttgart 1960, S. 6, 50. Hans-Peter Schwarz, Von Heuss bis Herzog, in: Eberhard Jäckel, Horst Möller, Hermann Rudolph (Hg.), Von Heuss bis Herzog. Die Bundespräsidenten im politischen System der Bundesrepublik, Stuttgart 1999, S. 41; vgl. auch Rudolf Morsey, Die Debatte um das Staatsoberhaupt 1945– 1949, dort S. 45–58; Erhard H. M. Lange, Die Diskussion um die Stellung des Staatsoberhauptes 1945–1949, mit besonderer Berücksichtigung der Erörterungen im Parlamentarischen Rat, in: Vjhe f. Zeitgesch., 26 (1978), S. 601–651. Eine besondere Auswahl auf Bundesebene nach politischen Schwerpunkten, auf Grundlage veröffentlichter Quellen Marie-Luise Recker (Hg.), Politische Reden 1945–1990, Frankfurt a.M. 1999. Bezeichnendes Zeugnis ist auch der vom Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse in einem Interview mit einer illustrierten Progammzeitschrift

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für das Fernsehen bekundete Eindruck von der „schwindenden Bedeutung des Parlaments“: „Im Fernsehen siegt die beste Formulierung, nicht die beste Lösung“. (Hörzu) Ein bemerkenswerter Versuch von Sigmund Neumann, Die deutschen Parteien: Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, hat keine Fortsetzung gefunden. Für die frühen Jahre Max Gustav Lange, Gerhard Schulz, Klaus Schütz u. a., Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, Stuttgart/Düsseldorf 1955; aus späterer Sicht knapper Rückblick Gerhard A. Ritter, Über Deutschland. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, München 1998; materialreich Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, Dritter Teil, 9. „Auch das gut ausgebildete Bürgertum kann eher die Struktur einer Sonate beurteilen als den Zusammenhang zwischen Sparen und Investieren“. Heiner Flassbeck u. Albrecht Müller, Ein babylonisches Mißverständnis. Der Gleichklang der öffentlichen Meinung blockiert die Wirtschaftspolitik, in: FAZ , 23. 2. 2002, S. 13. Aus der Literatur zuletzt Hans-Otto Kleinmann, Geschichte der CDU 1945–1982, Stuttgart 1993. Peter Lösche, Franz Walter, Die SPD : Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992. Vgl. Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1969, S. 73 f., 148 ff., 158 f. Hans-Helmut Kuhnke, Betrachtungen zum Wandel des Selbstverständnisses des Staates, in: Mitteilungen der List Gesellschaft, Fasc. 6 (1967/1968), 12, S. 269. Es läßt sich nicht verkennen, daß nach und nach Veränderungen in der föderativen Struktur der Bundesrepublik eingetreten sind. Schon 1962 wurde mit guten Gründen festgestellt: „Der deutsche Bundesstaat der Gegenwart ist, wenn auch nicht ohne Einschränkungen so doch im Prinzip, unitarischer Bundesstaat“. Konrad Hesse, Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 14. Das größte Gewicht im Vorgang der Unitarisierung liegt einerseits beim Bundesrat, dessen Bedeutung und Macht erheblich zugenommen hat, anderseits in der Selbstkoordinierung der Länder und in den Händen extrakonstitutionell geschaffener Zentralinstanzen. Vgl. Norbert Berthold Stefan Drews, Eric Thode, Die föderale Ordnung in Deutschland – Motor oder Bremse des wirtschaftlichen Wachstums? In: Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Nr. 42, Würzburg 2001; Karl Eckart, Helmut Jenkis (Hg.), Föderalismus in Deutschland, Berlin 2001. Carlo Schmid, Soziale Autonomie und Staat, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 2 (1951), S. 121.

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Anmerkungen

44 Rupert Breitling, Die Verbände in der westdeutschen Politik, in: Die Neue Gesellschaft, 1 (1954), S. 11–28; ders., Die Verbände in der Bundesrepublik, Meisenheim 1955; Theodor Eschenburg, Herrschaft der Verbände, Stuttgart 1955. 45 Interessanter Versuch Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Opladen/Wiesbaden 1998. 46 Neuere Meinung: „Die Finanzierung der Parteien sollte allein über Mitgliedsbeiträge erfolgen, … die Mitgliederzahlen wären etwa zu verdoppeln. Folglich müßten die Parteien dann um Mitglieder werben, was sie derzeit überhaupt nicht tun, sie werben im Wahlkampfzeiten nur um ‚Stimmen‘. … Mitglieder erwarten Vorteile, sie zahlen Beiträge. Mitglieder wollen auch zwischen den Wahlterminen betreut und informiert werden, …“ Die Zeit, Nr. 15, 5. April 2001, S. 22. Es hat bislang in der deutschen Geschichte nur wenige Beispiele der bezeichneten Art gegeben. 47 So Alexander Heard, The Costs of Democracy, Chapel Hill, N.C. 1966; Arnold J. Heidenheimer, Frank C. Langdon, Business Associations and the Financing of Political Parties, Den Haag 1968. 48 „Dieses allgemeine Odium wird im Falle der Verwendung von Auslandsgeldern für innenpolitische Zwecke durch nationalistische Ressentiments verstärkt“. Rupert Breitling, Auslandsgelder in der Innenpolitik, in: Gerhard Lehmbruch, Klaus von Beyme, Iring Fetscher (Hg.), Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik. Für Theodor Eschenburg, München 1971, S. 472 f. 49 Peter Lösche, Franz Walter, Die SPD : Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei, S. 227–238. 50 Vgl. Christoph Nonn, Die Ruhrbergbaukrise. Entindustrialisierung und Politik 1958–1969, Göttingen 2001. 51 Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 158; hierzu Gerhard Schulz, Entwicklungstendenzen in der Nachkriegsdemokratie, in: Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, S. 40 ff. 52 Vgl. Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin u. a. 1953, S. 23; auch Statistisches Jb. f. d. Bundesrepublik Deutschland 1968, S. 37. 53 Franz Bühler, Verfassungsrevision und Generationenproblem, Freiburg/ Schweiz 1949, S. 27. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang ein Brief, den Thomas Jefferson am 6. September 1789 an James Madison richtete, dort die Bemerkung: „The question whether one generation of men has a right to bind another, seems never to have been started either on this or our side of the water … it is a question of such consequences as not only merit decision, but place also, among the fundamental principles of every government“. Paul Leicester Ford (Hg.), The Writings of Thomas Jefferson, New York 1892–99, Bd. V, S. 120; zum Teil deutsch übers. Adolf Rein

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(Hg.), Die drei großen Amerikaner. Hamilton, Jefferson, Washington. Auszüge aus ihren Werken (Klassiker der Politik), Berlin 1923, S. 141ff. Jeffreys-Johnes, Peace Now!, S. 63 ff. Ausführlich hierzu Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 323–340. Vgl. Erwin K. Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, 2. Aufl. Köln 1967; Beobachtungen von der Gegenseite Günther Diehl, Zwischen Politik und Presse. Bonner Erinnerungen 1949–1969, Frankfurt a.M. 1994, S. 471–481; Christiane Landgrebe, Jörg Plath (Hg.), ’68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon, Berlin 1998; neueste Versuche Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000; Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 bis 1977, Köln 2001; Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA , München 2001. Jürgen Peiffer, Vergangenheit, gebrochener Spiegel. Erinnerungen, Tübingen 2000, S. 210. Vgl. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen, Berlin 1999. Hjalmar Schacht, 1933. Wie eine Demokratie stirbt, Düsseldorf/Wien 1968, S. 179. Die Namen Ernst Jünger und Martin Heidegger erreichten zeitweilig ähnlichen Rang als geistige Väter wie Herbert Marcuse und andere. „Vielleicht wird man sowohl Benn wie Brecht, sowohl Heidegger wie Adorno eines Tages wieder mit Gewinn lesen,“ meinte ein Beobachter. Raimar Lenz, Der neue Glaube, in: Die Zeit, 1969, 16, S. 24. Resümierend Philipp Gassert, Gegen Ost und West: Antiamerikanismus in der Bundesrepublik, in: Junker (Hg.), Die USA und Deutschland, Stuttgart/München 2001, I, S. 944–954; ders., Mit Amerika gegen Amerika: Antiamerikanismus in Westdeutschland, a.a.O., II , S. 750–760; Claus Leggewie, 1968 – ein transatlantisches Ereignis und seine Folgen, a.a.O., S. 632–643; vgl. auch Dan Diner, Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a.M. 1993. Bezeichnend: „Während der TET-Offensive [des Vietcong] und des deutschen ‚Vietnam-Kongresses‘ (17. und 18. Februar 1968 in Berlin) nannte Rudi Dutschke West-Berlin einen ‚vorgeschobenen Posten des Imperialismus‘ und rief zum Widerstand und zum ‚langen Marsch durch die Institutionen‘ auf. Daß sein Aufruf ‚Der Kampf der Vietcong oder der NIR in Peru sind unsere Kämpfe‘ auf heftigste Proteste … traf, versteht sich“. Arenth, Johnson, Vietnam und der Westen, S. 206 u. 279. Norbert Elias in der Paulskirche bei der Entgegennahme des erstmals verliehenen Theodor W. Adorno-Preises am 2. Oktober 1977, zit. in der Chronik v. Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Bd. 1, Hamburg 1998, S. 564.

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Anmerkungen

62 Exemplarisch Begleiterscheinung wie Folgen der Ruhrkrise; vgl. Nonn, Die Ruhrbergbaukrise, S. 336–384. 63 Gedankenvoll Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, zuerst München 1964, mit abwägender Einleitung v. Hans Mommsen 1986, 7. Aufl. 1997; Jochen von Lang, Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982; Avner W. Less (Hg.), Schuldig: das Urteil gegen Adolf Eichmann, Frankfurt a.M. 1987. 64 Aus der Literatur über die Ermittlung der Zahl jüdischer Opfer vor allem Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–1945, 3. Aufl. Berlin 1966 (engl. zuerst 1953); Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982; Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991; die „Schätzungen“ sind teilweise sehr genau, nicht immer genau die Ortsangaben und die Todesursachen; vgl. z. B. Angaben über Chelm, Chełmno, Cholm, Kulmhof, vier Namen für zwei verschiedene Orte. Hierzu gab es allerdings schon im Eichman-Prozeß ungeklärt gebliebene Differenzen. Über Vernichtungslager Eugen Kogon, Der SS -Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993. 65 Benz, Dimension, S. 15 ff.; wichtige Gesamtdarstellung Uwe Dietrich Adam, Judenpolitik im Dritten Reich, 2. Aufl. Düsseldorf 1979. Hier kann nicht auf die nach dem Eichmann-Prozeß entstandene Literatur über den jüdischen Widerstand gegen Nationalsozialismus und deutsche Truppen eingegangen werden. Umfassender Versuch Arno Lustiger (Hg.), Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994; vorher die auf Deutschland bezogene Darstellung von Arnold Paucker, Der jüdische Abwehrkampf gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik, 2. Aufl. Hamburg 1969. Angemerkt sei, daß unter häufig zu Exaltationen neigenden Kundmachungen ein „hoher Funktionär“ der Anti-Defamation League äußerte, „daß vielleicht eine Million … Juden im Widerstand gegen den Nazi-Eroberer getötet wurden, als sie gegen Hitlers unerbittlichen Vormarsch kämpften …“. Zit. Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, München 2003, S. 186. 66 Vgl. Novick, a.a.O., S. 172 ff. 67 a.a.O., S. 179. 68 Fürwahr ein Ereignis der deutschen Geschichte, Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 440.

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69 Diese Ausdrücke in einer Kapitelüberschrift, Michael Wolffsohn, Ewige Schuld?, S. 65; denkwürdige Behandlung Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek 1995. 70 Yehuda Bauer, in: Der Spiegel, 22/2001, S. 160. 71 So als Doppelbegriff „Drittes Reich und Holocaust“ oder „Nationalsozialismus und Holocaust“ oder „Holocaust und Nationalsozialismus“ in dem Artikel eines Rechtsphilosophen, der durch eine politische Novelle, Roman genannt, bekannt wurde, Bernhard Schlink, Auf dem Eis, in: Der Spiegel, 19/2001, S. 82–86. 72 Hierzu sei nur auf den bisher kaum ausreichend erklärten Erfolg des Buches v. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996, in Deutschland verwiesen – nach der Darstellung von Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt a.M. 1992 (auch New York 1992), und nach Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen, Hamburg 1993. 73 Robert von Rimscha, Die flexible Gesellschaft. Amerika als Modell für das 21. Jahrhundert, München 2000, S. 285 f. 74 Zur Gedenkkultur in Deutschland Julia Kölsch, Politik und Gedächtnis. Zur Soziologie funktionaler Kultivierung von Erinnerung, Wiesbaden 2000. 75 Ein Beispiel Peter Masters, Kommando der Verfolgten. Siebenundachtzig Elitesoldaten im Kampf gegen Hitler, München 1999. 76 Niels Hansen, Aus dem Schatten der Katastrophe. Die deutsch-israelischen Beziehungen in der Ära Konrad Adenauer und David Ben Gurion, Düsseldorf 2002, bes. S. 479–502, 618–637. 77 a.a.O., S. 480. 78 Sogar in Deutschland wurde von radikaler israelischer Seite ein Anschlag auf Konrad Adenauer verübt. Vgl. Henning Sietz, Attentat auf Adenauer. Die geheime Geschichte eines politischen Anschlags, Berlin 2003. 79 Ausführlich Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001, S. 134 f.; zu den israelisch-deutschen Verhandlungen Felix E. Shinnar, Bericht eines Beauftragten. Die deutsch-israelischen Beziehungen 1951–1966, Tübingen 1967, bes. S. 143–171. 80 Wortlaut Shinnar, a.a.O., S. 156. 81 Kilian, Hallstein-Doktrin, S. 135. 82 Diplomatische Beziehungen zur DDR nahmen Irak, Sudan, Jemen und Ägypten 1969 auf. Kilian, a.a.O., S. 144. Vgl. auch Markus A. Weingardt, Deutsche Israel- und Nahost-Politik. Die Geschichte einer Gratwanderung seit 1949, Frankfurt a.M. 2002, S. 157–179. 83 Einen Rückblick enthält der Tagungsband: Israel und die Bundesrepublik Deutschland. Wissenschaftssymposium am 11. Mai 1995 zur Ausstellung

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Anmerkungen aus Anlaß des 30. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1996, u. a. mit Beiträgen der ersten Botschafter Asher Ben-Nathan und Rolf Friedemann Pauls, einst mit dem Ritterkreuz ausgezeichneter Stabsoffizier und früher Verbindungsmann vom Kanzleramt zu General Speidel. Von Michael Wolffsohn werden die Leistungen der Bundesrepublik an Israel und die Diaspora der Juden 1953 bis 1995 mit 130 Milliarden DM beziffert. Seit 1990, so Wolffsohn, erhielten die neuen Bundesländer in jedem Jahr „mehr als diese Summe“. (S. 27) Dabei bleibt die erhebliche Kaufkraftminderung der DM innerhalb von 42 Jahren gänzlich außer Acht. Dies mag als Ergänzung angesehen werden zu dem anregenden gedankenreichen Essay von Hans-Peter Schwarz, Die Fünfziger Jahre als Epochenzäsur, in: Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag v. Gerhard Schulz, hg. v. Jürgen Heideking, Gerhard Hufnagel, Franz Knipping, Berlin/New York 1989, S. 473–496. Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941–1991, Darmstadt 1996, S. 181 f. Es gab seit 1958 16 Begegnungen dieser Art, in denen ein Vertrauensverhältnis zwischen beiden Staatsmännern entstand, aus dem der deutschfranzösische Vertrag von 1963 hervorging. Schon nach der ersten Begegnung ergab sich eine besondere persönliche Beziehung. „Jeder von ihnen war großartiger und schlichter, als sich ihn der andere vorgestellt hatte“. François de Seydoux, Botschafter in Deutschland. Meine zweite Mission 1969 bis 1970, Frankfurt a.M. 1978, S. 8. Vgl. Per Fischer, Der diplomatische Prozeß der Entstehung des deutsch-französischen Vertrages von 1963, in: Vjhe. f. Zeigesch., 41 (1993), S. 101–116, mit Hinweisen auf weitere Literatur zu diesem Thema. Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998, S. 509–539; Hans-Peter Schwarz, Eine Entente Elémentaire. Das deutsch-französische Verhältnis im 25. Jahr des Elysée-Vertrages, Bonn 1988; hierzu Eckart Conze, Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik 1958–1963, München 1995, bes. S. 264 ff. Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 – Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970. Gesprächsaufzeichnung vom Vortragenden Legationsrat Kusterer, „streng geheim“, Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963, Bd. II : 1. Juni bis 30. September, München 1994, S. 698. Europa-Archiv 1966, S. D 414–428. Vgl. Alfred Grosser, Deutschlandbilanz. Geschichte Deutschlands seit 1945, München 1970, S. 223 f. Mario von Baratta, Jan Ulrich Clauss, Internationale Organisationen. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 1991, S. 414.

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91 4. Juli 1963, Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963, II , S. 695. 92 Henry A. Kissinger, Memoiren 1968–1973, München 1979, S. 108. 93 Memorandum vom 18. 9. 1969, unveröffentlicht, zit. Gottfried Niedhart, Der alte Freund und der neue Partner: Die Bundesrepublik, in: Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland, II , S. 48. 94 Notenaustausch zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik, EuropaArchiv 1968, S. D 363–374. 95 Peter Schunck, Charles de Gaulle, S. 592–609. 96 Europa-Archiv 1970, S. D 396–402. Aus sowjetischer Sicht Andrej Gromyko, Erinnerungen, Internationale Ausg. Düsseldorf u.a. 1989, S. 278–284; Valentin Falin, Politische Erinnerungen, München 1993, S. 80–125. In einem Brief an Außenminister Gromyko bekräftigte Bundespräsident Scheel das Fortbestehen des Zieles, „auf einen Zustand des Friedens hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“. 97 Eckart Conze, Gabriele Metzler (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Daten und Diskussionen, Stuttgart 1999, S. 161. Zu diesen Vorgängen neuerdings: Dokumente zur Deutschlandpolitik, IV. Reihe Bd. I, bearb. v. Daniel Hofmann. 98 Vgl. Heinrich Potthoff, Bonn und Ost-Berlin 1969–1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Bonn 1997; auch Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 195–219 u. passim. 99 Ausführlich, auch über hintergründige Vorgänge berichtet Werner Kilian, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Berlin 2001, bes. S. 348 ff. 100 Graf Kielmannsegg, Nach der Katastrophe, S. 520. Neben Wehner ist nach dem Rücktritt Brandts der Bundeskanzler Helmut Schmidt wie schon vordem in unmittelbare Verbindung zu Honecker getreten. Zum gesamten Komplex Kielmannsegg, a.a.O., bes. S. 529ff.; Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, sowie die Erinnerungen der Beteiligten, Willy Brandt, Erinnerungen, Neuausg. Berlin 1994; Helmut Schmidt, Menschen und Mächte, Berlin 1984; ders., Die Deutschen und ihre Nachbarn, Berlin 1990; ders., Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996; Rainer Barzel, Die Tür bleibt offen. Ostverträge, Mißtrauensvotum, Kanzlerschaft, Bonn 1998. 101 Zit. nach Winkler Der lange Weg nach Westen, II , S. 311, was wohl als Schlüsselstelle zum Verständnis des Titels angesehen werden darf. Hierzu Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie, Berlin/München 2002; Peter Merseburger, Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart/München 2002; Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 7: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1969–1974, Bonn 2001.

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Anmerkungen

102 Vgl. Winkler, a.a. O., S. 315 ff.; Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik, S. 288 ff. 103 Vgl. Wladimir Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939–1991, Berlin 1995, S. 138, 365. 104 Ausführlich Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917– 1991. Entstehung und Untergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, bes. S. 1019–1041. 105 Hierzu und zum Folgenden Helga Haftendorn, Deutsche Außenpolitik zwischen Selbstbeschränkung und Selbsbehauptung, 1945–2000, Stuttgart/München 2001, S. 222 ff. 106 a.a.O., S. 239. 107 Kissinger, Jahre der Erneuerung, S. 484. 108 Haftendorn, a.a.O., S. 245 ff., wo gedrängt und knapp und doch gründlich informiert wird. 109 Vgl. Harold James, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997. 110 Haftendorn, a.a.O.; S. 253. 111 Horst-Udo Niedenhoff, Mitbestimmung in der Bundesrepublik, 10. Aufl. Köln 1995. Jahrzehnte später resümierte eine Untersuchung: „Parallel zu den rückläufigen Mitgliederzahlen ist in der Bevölkerung die Überzeugung gesunken, daß eine Mitgliedschaft sinnvoll ist … Die Gewerkschaften gelten heute mehr als Sachwalter eigener Interessen denn als Anwalt der Masse der Bevölkerung“. FAZ , 90, 16. 4. 2003, S. 5. 112 J. W. Stalin, Rede auf der Wählerversammlung des Stalin-Wahlkreises in Moskau am 9. Februar 1946, Wien o. J., S. 6. 113 Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, S. 878 ff. 114 Zahlen zur Industrieentwicklung 1965–1980 a.a.O., S. 884. 115 Hierzu Georges-Henri Soutou, La guerre de Cinquante Ans, S. 441 ff. 116 a.a.O., S. 451. 117 Gregor Schöllgen, Geschichte der Weltpolitik, S. 391. 118 Christian Hacke, Zur Weltmacht verdammt, S. 301–304. 119 Michail S. Gorbatschow, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 577 ff. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, urteilt S. 1020: „Er überragte alle Mitbewerber, nicht nur an intellektueller Beweglichkeit und rhetorischem Talent, sondern auch an taktisch-strategischem Geschick und administrativer Durchsetzungsfähigkeit. Offenbar beherrschte er die Kunst, die eigenen Ziele dem jeweils Erreichbaren anzugleichen und Apparate wie Personen in die gewünschte Richtung zu bewegen, mit traumhafter Sicherheit. Anders ist sein kometenhafter Aufstieg aus kleinen Verhältnissen kaum zu erklären“. 120 Michail S. Gorbatschow, Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit, Berlin 1993, S. 9. 121 Andrej Gromyko, Erinnerungen, S. 466 f.

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122 Gorbatschow, a.a.O., S. 18; ergänzend ders., Mein Manifest für die Erde. Jetzt handeln für Frieden, globale Gerechtigkeit und eine ökologische Zukunft, Frankfurt a.M. 2003, bes. S. 21 ff. 123 Mit kritischen Bezügen zur russischen Geistesgeschichte Dietrich Geyer, Perestrojka und „russische Seele“. Moralphilosophische Aspekte der sowjetischen Reformbewegung, in: Jürgen Heideking, Gerhard Hufnagel, Franz Knipping (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte, S. 305–318; Michael Libal, Reformpolitik und Systemkonkurrenz. Gorbatschows Haltung zum Westen. Ein Versuch, dorts. S. 794–815. 124 Schöllgen, a.a.O., S. 393. 125 Hierzu: „Das Neue Denken auf dem Prüfstand: die irakische Aggression“, Gorbatschow, Erinnerungen, S. 767 ff.; Einzelheiten James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen, Berlin 1996. 126 Schöllgen, a.a.O., S. 393 f. 127 James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten, S. 84; vgl. hierzu Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, Teil IV u. V. 128 Baker, a.a.O., S. 90. Aus deutscher Sicht Michael Ploetz, Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor. Von der Nachrüstung zum Mauerfall, Berlin/München 2000, bes. S. 351 ff. 129 Zu Wortbedeutung und politischen Folgen ausführlich Hildermeier, a.a.O., S. 1025 ff. 130 a.a.O. S. 1038. 131 Robert L. Hutchings, Als der Kalte Krieg zu Ende war. Ein Bericht aus dem Inneren der Macht, Berlin 1999, S. 77. Der Verf. Leitete 1989–1992 die Abtlg. f. europ. Angelegenheiten im Nat. Sicherheitsrat d. USA . 132 a.a.O., S. 79. 133 Eine Chronologie im Anhang zu Hans Modrow, Die Perestroika. Wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen und Analyse eines Jahrzehntes, das die Welt veränderte, 3. Aufl. Berlin 1989, S. 204–28. 134 So Ralf Georg Reuth, Andreas Bönte, Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam, München/Zürich 1993, S. 159; vgl. Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996; auch Tilo Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002, bes. Kap. 9 u. 10. 135 Angela Stent, Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Rußland im neuen Europa, Berlin/München 2000, S. 80. 136 Historischer Überblick Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 2001, S. 314 ff.; zum Folgenden Michael Thumann, Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe, Stuttgart/München 2002. 137 Kappeler, a.a.O. 138 Hildermeier, a.a.O., S. 1055–1059.

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Anmerkungen

139 Übersicht Roland Götz, Uwe Halbach, Politisches Lexikon GUS , 3. Aufl. München 1996. 140 Wortlaut der Ansprache in: Michail S. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 13 ff. 141 Semjonow, a.a.O., S. 385. Zurückhaltend Valentin Falin, Politische Erinnerungen, München 1993, S. 432: „Auf dem Gipfel seiner Omnipotenz beklagte Gorbatschow, daß er 1985 nur vage gewußt hatte, wie jammervoll die Kondition des Landes war. Die mangelhaften Kenntnisse sollen ihn daran gehindert haben, die unermeßlichen Schwierigkeiten richtig zu pakken.“ Lob v. Andrej Gromyko, Erinnerungen, bes. S. 471 ff. 142 Chronik von Miterlebenden Gerd Ruge u. a., Der Putsch. Vier Tage, die die Welt veränderten. Reportagen aus dem ARD -Studio Moskau, Frankfurt a.M. 1991. 143 Vladimir K. Jegorow, Ein Stern verblaßt. Reflexion einer dramatischen Epoche. Sowjetunion 1917–1991, Berlin 1991, S. 274. Gorbatschow spricht neuerdings von „Boris Jelzins Verrat“ (Mein Manifest, S. 29). 144 Vgl. Boris Jelzin, Mitternachtstagebuch. Meine Jahre im Kreml, Berlin/ München 2000. 145 Alexander Rahr, Wladimir Putin. Präsident Rußlands – Partner Deutschlands, 3. Aufl. München 2000. 146 Hierzu und zum Folgenden die Aufsätze v. Horst Teltschik und Werner Süß in: Süß (Hg.), Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002. 147 Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf u. a. 3. Aufl. 1993, S. 1063 f. 148 Baker, Drei Jahre, S. 158. Man findet einen konzentrierten Überblick auf knappem Raum Andreas Rödder, „Durchbruch im Kaukasus“? Die deutsche Wiedervereinigung und die Zeitgeschichtsschreibung, in: Jb. des Historischen Kollegs, 2002, bes. S. 113–129. 149 Meinhard Miedel, Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, Berlin/München 2002, S. 248. Daß unter einigen deutschen Politologen Kritik am Vereinigungsprozeß den Ton angibt, bezeugen Wolfgang Dümcke, Fritz Vilmar (Hg.), Kolonialisierung der DDR . Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, 3. Aufl. Münster 1996; anders Werner Süß (Hg.), Deutschland in den neunziger Jahren. Politik und Gesellschaft zwischen Wiedervereinigung und Globalisierung, Opladen 2002. 150 Jürgen Peters in einem Interview, FAZ , 198, 27. 08. 2003, S. 13. 151 Eingehend Ronald D. Asmus, Opening Nato’s Door. How the Alliance remade iself for a new era, New York 2002.

VII Regionale Konflikte und Kriege

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VII Regionale Konflikte und Kriege 1 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen – The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/ Wien 1996, S. 182. Es soll nicht übersehen werden, daß im Islam hohe Autoritäten entschieden für Gerechtigkeit und Menschenwürde eintreten. Hierzu auch die Literatur unten, Anm. 53. 2 Vgl. Dan Smith, Der Fischer Atlas: Kriege und Konflikte, Frankfurt a.M. 1997, S. 13 f. 3 Jeanne Guillemin, Anthrax. The Investigation of a Deadly Outbreak, Berkeley, Cal. 1999. 4 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, hinterlassenes Werk, 3. Aufl. München 2002, S. 27, 44. Er übersehe, meint ein moderner Autor, „die Tatsache, daß die weitaus größte Zahl der Kombattanten meist weder weiß noch wissen will, welcher Politik sie als Instrument dienen.“ Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998, S. 13. 5 Martin van Creveld, a.a.O., Kap. VII .; Das Fazit des Autors legt weitere Überlegungen nahe. 6 Diese Feststellung stimmt wörtlich mit einem Teil der Beschreibung überein, die auf Vergangenes bezogen ist und „faschistische Potentiale“ im Deutschland der zwanziger Jahre beschreibt. Geoff Eley, Wilhelminismus – Nationalismus – Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991, S. 215; zit. Wendung in Anlehnung an Stanley G. Payne, Fascism. Comparison and Definition, Madison, Wis. 1980, S. 6ff. 7 Dan Smith, Der Fischer Atlas Kriege und Konflikte, Frankfurt a.M. 1997, S. 14. 8 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen, S. 144. 9 Gilles Kepel, Revenge of God: The Resurgence of Islam, Christianty, Judaism in the Modern World, University Park 1994, S. 2. 10 Jüngerer resümierender Überblick Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1997 (amerik. Ausg. 1987). Aus der Literatur zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von wegweisender Bedeutung Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 1968; zuvor ders., Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie, München/Berlin 1964. 11 Historische Perspektiven: Martin Kirsch, Anna G. Kosfeld, Pierangelo Schiera (Hg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002. 12 Valentin Falin, Konflikte im Kreml. Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, 2. Aufl. München 1997, S. 9. 13 Klaus von Beyme, Die Parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 1970, S. 492.

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Anmerkungen

14 Von weittragender Bedeutung Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, deutsch: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955; Alfons Söllner, Ralf Walkenhaus, Karin Wieland (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; einige ausgewählte Aufsätze aus dem Zeitraum von 1937 bis 1995 in: Eckard Jesse (Hg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Baden-Baden 1996; zur älteren Literatur Gerhard Schulz, Faschismus – Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922–1972, Frankfurt a.M. u. a. 1974. 15 Zuerst Erich Voegelin, Die politischen Religionen, zuletzt München 1993; ähnlich Raymond Arons Ausdruck „religion politique“. Vgl. Hans Maier, Einleitung zu Teil B des von ihm hg. Bandes: Totalitarismus und politische Religionen. Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1996, S. 242. 16 Vgl. Ernst Nolte. Die drei Versionen der Totalitarismustheorie, in: Achim Siegel (Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Weimar 1998, S. 124; Reflexion und Diskussion des Begriffs Alfons Söllner u. a., Totalitarismus. 17 Jacob L. Talmon, The History of Totalitarian Democracy, 3 Bde.,London 1952/1960/1980. Universalhistorische sozialökonomische Interpretationen der „Orientalischen Despotie“ von Karl A. Wittfogel, Oriental Despotism. A Comparitive Study in Total Power, New Haven, Conn., 1957, (dtsch. 1962); anthropologische historische Deutung, Norman Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in der modernen totalitären Bewegung, Bern 1961. 18 Alfons Paquet, zit. bei Nolte, a.a.O., S. 106. 19 Karl-Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, München 1987, S. 14. Es sollte in Erinnerung bleiben, daß auch in den USA nach dem Kriege Senator Joseph Raymond McCarthy an der Spitze eines Ausschusses für Regierungsangelegenheiten fast ein Jahrzehnt hindurch einen regelrechten Feldzug gegen Regierungs- und Verwaltungsangehörige führte, die im Verdacht prokommunistischer Einstellung in der Vergangenheit standen. Vgl. vom Phaidon Verlag hg., Aberglaube, Angst und Terror. Völkermord und Volksverhetzung in der Weltgeschichte, Kettwig 2000, S. 268 – 272. 20 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 1981, S. 29 (zuerst franz. 1961). „Die Befreiung muß sich auf alle Bereiche der Persönlichkeit erstrecken. Der Überfall und der Zusammenstoß, die Folter und das Niedermetzeln der Brüder läßt den Siegeswillen Wurzeln schlagen, erneuert das Unbewußte und speist die Vorstellungskraft“. a.a.O., S. 259. 21 Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, zuletzt in: Weber, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden. 1914–1918, hg. v. Wolfgang J. Mommsen, Tübingen 1988, bes. S. 273. 22 So 1934 der Landwirtschaftsminister und spätere Vizepräsident der Administration Roosevelt, Henry A. Wallace, hier zit. nach Arthur Feiler

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(1879–1942), The Totalitarian State, übers. Feiler, Der totalitäre Staat, in: Jesse (Hg.), Totalitarismus, S. 65. Peter Waldmann, Guerrillabewegungen in Lateinamerika: Das Beispiel des Sendero Luminoso, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, Paderborn 1989, S. 186; James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant: Rebellion and Subsistence in Southeast Asia, New Haven 1976. Gerhard Schulz, Zum historischen Wandel von Revolutionsbegriff und Revolutionsverständnis, in: Langewiesche (Hg.), Revolution und Krieg, S. 189–209. Karl Dietrich Bracher, Das Janusgesicht der modernen Revolutionen, in: Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, hg. von Jürgen Heideking, Gerhard Hufnagel, Franz Knipping, Berlin/New York 1989, S. 210–227. Ferdinand Seibt, Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit, München 2001, S. 271. Hierzu auch, im Anschluß an Huntington, Francis Fukuyama, Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet, München 2002, S. 313 ff. Fernand Braudel, Schriften zur Geschichte 2: Menschen und Zeitalter, Stuttgart 1993, S. 384. Huntington, Kampf der Kulturen, S. 146 f. Schon vorher: „Die Übervölkerung ist nicht so wichtig wie die Volkszugehörigkeit, und diese wieder ist weniger wichtig als die Politik, die ihrerseits erst hinter der Kultur rangiert, und die Kultur hängt letztlich von ihren religiösen Anschauungen über die Bestimmung des Menschen und von ihren moralischen Begriffen von Gut und Böse ab“. John Lukacs, Konflikte der Weltpolitik nach 1945, München 1970, S. 277. Nachdenkenswert Arno Gruen, Verratene Liebe – Falsche Götter, Stuttgart 2003. Die „Kultivierung des Hasses blieb stets ein zweischneidiges Unterfangen“, resümiert im Blick auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert Peter Gay, Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter, München 1996, S. 654. Hugo Bütler, Mord als Mittel zu politischem Zweck, in: NZZ Fokus: Terrorismus, Zürich 2001, S. 73. Herfried Münkler, Grammatik der Gewalt. Über den Strategiewandel des Terrorismus, in: FAZ , 16. 10. 2002, S. 9. Vergleichungen in der Eigentumsfrage mit erstaunlichen Folgerungen v. Hernando de Soto, Freiheit für das Kapital. Warum der Kapitalismus nicht weltweit funktioniert, Berlin 2002. Zur enzyklopädischen Vielfalt rechtlich begründeter Staatstätigkeiten Dieter Grimm (Hg.), Staatsaufgaben, zuletzt Frankfurt a.M. 1996. Nach südasiatischen Beobachtungen und Erfahrungen Jakob Rösel, Vom ethnischen Antagonismus zum ethnischen Bürgerkrieg. Antagonismus,

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Anmerkungen Erinnerung und Gewalt in ethnischen Konflikten, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen/Wiesbaden 1997, S. 176. Zit. Peter Gay, Kult der Gewalt, S. 7. Hierzu auch Hans Dollinger, Schwarzbuch der Weltgeschichte. 5000 Jahre der Mensch des Menschen Feind, Köln [2002]. Chalmers Johnson, Ein Imperium verfällt. Wann endet das Amerikanische Jahrhundert? München 2000, S. 39 f. Keesing’s Archiv der Gegenwart 1954, S. 4722 B. Hierzu und zum Folgenden Bernhardt Dahm, Roderich Ptak (Hg.), Südostasien-Handbuch. Geschichte, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, München 1999, bes. S. 541–561 (Susanne Feske). Tai-Nam Chi, Das Herrschaftssystem Nordkoreas unter besonderer Berücksichtigung der Wiedervereinigungsproblematik, Frankfurt a.M. u.a. 1994. Hierzu Owen Bennett Jones, Eye of the Storm, New Haven/London 2002. Vgl. Dieter Reinhardt (Hg.), Die Katastrophe, die Not und das Geschäft. Das Beispiel Bangladesh, München 1997. Auf die inneren Gegensätze in Indien mit einer Milliarde Einwohnern, 17 Hauptsprachen und Tausenden von Dialekten kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. Shashi Tharoor, Zwischen Mythos und Moderne, Frankfurt a.M./Leipzig 2000. Vgl. Rainer Krack, Sri Lanka-Handbuch, 3. Aufl. Bielefeld 1996. Klemens Ludwig (Hg.), Osttimor. Der zwanzigjährige Krieg, Reinbek 1996. Margareta Grießler, China. Alles unter dem Himmel. Eine Reise durch 5000 Jahre Kultur und Geschichte, 2. Aufl. Sigmaringen 1996, S. 329. Knappe, anschauliche Darstellung, in: Patricia Buckley Ebrey, China. Eine illustrierte Geschichte, Frankfurt a.M 1996, bes. S. 291 ff. Konrad Seitz, China. Eine Weltmacht kehrt zurück?, Berlin 2002, S. 158. Einzelheiten Thomas Hoppe/Charles Ramble, Tibet, in: Brunhild Staiger, Stefan Friedrich, Hans-Wilm Schütte, Das große China-Lexikon, Darmstadt 2003, S. 760 – 765. Überblick Edgar Bauer, Die unberechenbare Weltmacht. China nach Deng Xiaoping, Berlin/Frankfurt a.M. 1995. Konrad Seitz, Chinas Aufstieg zur größten Volkswirtschaft. Herausforderung und Chance, in: Schwäbische Gesellschaft, Schriftenreihe 43, Stuttgart 2002, S. 65; Vgl. auch den Beitrag v. Urs Morf in: Erhard Hürsch (Hg.), China 1963 bis 1998, München 1999. Erklärtes Ziel der ersten Reformen war nicht die Beseitigung des Sozialismus. Absicht war, „durch eine sektorielle Lockerung der Planwirtschaft die Effizienz des bestehenden Systems zu steigern. Es wurde deshalb die Liberalisierung zunächst auch geographisch eng umrissen auf die sogenannten wirtschaftlichen Sonderzonen beschränkt“. NZZ , 38, 15./16. 2. 2003, S. 14. Zu den früh schon einsetzenden Lieferungen an China Hinweise Rolf Friedemann

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Pauls, Zum Stand der deutsch-chinesischen Beziehungen, in: Chinas Weg in die Weltpolitik, Politische Studien, Sonderheft 1/1975, S. 21 ff. Im einzelnen hierzu Rolf Hanisch, Philippinen, München 1989; Dirk Bronger, Die Philippinen. Raumstrukturen – Entwicklungsprobleme – Regionale Entwicklungsplanung, Hamburg 1989; einschlägiger Artikel in der Encyclopaedia Americana. Ahmed Rashid, Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, S. 61. a.a.O., S. 56. Chronik a.a.O., S. 364 ff. Über die Forderungen islamischer Intellektueller nach „kultureller Sezession der islamischen Welt vom Westen“ und nach einer „islamischen Weltordnung“ Reinhard Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994, bes. S. 348; grundlegend Bernhard Lewis, The Crisis of Islam. Holy War and Unholy Terror, New York 2003; Volker Perthes, Geheime Gärten. Die neue arabische Welt, Berlin 2002; zur Vielfalt des „Islamismus“ etwa seit 1973 Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München/Zürich 2002, Einleitung. Sorgsam bedachte Erörterung des weiteren Hintergrundes Bassam Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, 2. Aufl. München 2001; ders., Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und Islamismus, München/Zürich 1998; ferner Peter Scholl-Latour, Der Fluch des neuen Jahrtausends. Eine Bilanz, 2. Aufl. München 2002, S. 322; mit dem Blick auf Deutschland Udo Ulfkotte, Der Krieg in unseren Städten. Wie radikale Islamisten Deutschland unterwandern, Frankfurt a.M. 2003; Stefan Aust, Cordt Schnibben (Hg.), 11. September. Geschichte eines Terrorangriffes, 4. Aufl. Stuttgart, München, Hamburg 2002; aus der weiteren Literatur Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001, bes. S. 209 ff.; Tariq Ali, Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung. Die Krisenherde unserer Zeit und ihre historischen Wurzeln, Kreuzlingen/München 2002, bes. S. 381 ff.; auch Marcel Pott, Allahs falsche Propheten. Die arabische Welt in der Krise, München 2001. Scholl-Latour, Fluch, S. 324. Vgl. Bob Woodward, Bush at War. Amerika im Krieg, Stuttgart/München, 2. Aufl. 2003; Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg, Reinbek 2003. Scholl-Latour, a.a.O. S. 333. Einfühlsamer Erlebnisbericht Jürgen Todenhöfer, Wer weint schon um Abdul und Tanaya? Die Irrtümer des Kreuzzugs gegen den Terror, 2. Aufl. Freiburg 2003. GEO , 6, Juni 2002, S. 69. Über den islamischen Untergrund in der Sowjetunion neuerdings Ahmed Rashid, Heiliger Krieg am Hindukusch. Der Kampf um Macht und Glauben in Zentralasien, München 2002, bes. S. 54 ff.

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Anmerkungen

59 Nursultan Nazarbaew, First President of Kazakhstan. Without Right and Left, London 1992. 60 Hierzu: Asiens vergessenes Herzland, in: GEO , 1, 2003, S. 30–40. 61 Am 25. April 2002 gab der Kreml bekannt, daß Al-Khattab getötet worden sei. Die Zukunft des Bandenkrieges erscheint ungeklärt. FAZ , 26. 4. 2002, S. 6. Vgl. Peter Scholl-Latour, Der Fluch des neuen Jahrtausends. Eine Bilanz, 2. Aufl. München 2002, S. 259; zu Tschetschenien auch Anatoli Pristo Tawkin, Ich flehe um Hinrichtung. Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten, München 2003, S. 205 ff. 62 Vgl. Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges. 63 So der französische Oberbefehlshaber in Algerien, General Salan, Zit. Anatol Schneider, in: FAZ , 29. 6. 2002, 64 Zur Frankreich-Migration nach Evian Colette Dubois, Jean-Louis Miège (Hg.), L’Europe retrouvée. Les migrations de la décolonisation, Paris 1994, Einleitung. 65 Volker Perthes, Geheime Gärten, S. 333. 66 Ebda. 67 a.a. O., S. 334. 68 Assia Djebar, Weißes Algerien, Zürich 1996, S. 263. 69 Perthes, a.a.O., S. 336 ff.; 70 70 000 bis 1999 nach Ahmed Rashid, Taliban. Afghanistans Gotteskrieger, S. 231. 71 Zum Folgenden rasch orientierend Thomas Koszinowsky, Irak, in: Politisches Lexikon Nahost Nordafrika, hg. v. Udo Steinbach, Rolf Hofmeier u. Mathias Schönborn, 3. Aufl., München 1994, S. 71–83; noch kürzer Peter Wien, in: NZZ , 38, 15./16. 02. 2003, S. 33. 72 Peter Heine, Schauplatz Irak. Hintergründe eines Weltkonflikts, Freiburg i. B. u. a. 2002., 5. Kap. 73 Vgl. Con Coughlin, Saddam Hussein, Portrait eines Diktators. Die Biographie, 2. Aufl. München 2002; knapp, informativ und anschaulich Peter Heine, Schauplatz Irak; eingehend und materialreich Said K. Aburish, Der märchenhafte Aufstieg und Verfall des Hauses Saud. Ist Saudi-Arabien als Partner des Westens noch tragbar? München 1994, bes. S. 252–266. 74 Vgl. Udo Steinbach, Iran, in: Politisches Lexikon Nahost Nordafrika, S. 84–99. 75 „Die Blaupausen für die erste irakische Chemiewaffenfabrik kamen von Pfaulder Corporation in Rochester, New York.“ Als Zeitzeuge berichtet Aburish, Der märchenhafte Aufstieg, S. 255. 76 Vgl. Kenneth Pollack, The Threatening Storm, New York 2002. 77 Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg; hierzu und zum Folgenden ältere Einführung: George E. Kirk, A Short History of Middle East. From the Rise of Islam to Modern Times, London 1966, Kap. VII – X .

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78 Vgl. etwa die einschlägigen Abschnitte in der Encyclopaedia Americana, auch in: Ernst Steinbach, Rolf Hofmeier, Mathias Schönborn (Hg.), Politisches Lexikon Nahost Nordafrika. 79 Vgl. die Erinnerungen der christlichen Palästinenserin Hanan Ashrawi, Ich bin in Palästina geboren, Berlin 1995. 80 Zit. Peter Schunck, Charles de Gaulle. Ein Leben für Frankreichs Größe, Berlin 1998, S. 585. 81 Kriegsverläufe mit Einzelheiten Angelika Timm, Israel. Geschichte des Staates seit seiner Gründung, 3. Aufl. Bonn 1998, S. 146–186. 82 Einen hilfreichen Leitfaden in der umfangreichen Literatur hierzu und zum Folgenden findet man bei Perthes, Geheime Gärten, und Michael Wolffsohn, Wem gehört das heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, Neuausg. München 1997; für die Anfänge Helmut Mejcher (Hg.), Die Palästina-Frage 1917–1948. Historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonfliktes, 2. Aufl. Paderborn u. a. 1993; ders., Der arabische Osten im zwanzigsten Jahrhundert 1914–1985, in: Ulrich Haamann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987, S. 432–501. 83 Ministry of Foreign Affairs Information Division, Jerusalem, Israel von A – Z, Almenhausen, Stuttgart 1968. 84 Vgl. Phillippe Lemarchand, Lamia Radi, Israel und Palästina morgen. Ein geopolitscher Atlas, Braunschweig 1997; Übersicht Thomas M. Krapf, Israel zwischen Krieg und Frieden, Gerlingen 1996; auch Tanya Reinhart, „Operation Dornenfeld“. Der Israel-Palästina-Konflikt: Gerechter Frieden oder endloser Krieg, Bremen 2002; Irit Neidhardt (Hg.), Mit dem Konflikt leben!? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und Palästina, Münster 2003. 85 Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, S. 116. 86 a.a.O. 87 Anschauliche und unterhaltsame Schilderung Gerhard Herm, Der Balkan. Das Pulverfaß Europas, Düsseldorf 1996; zum Folgenden Edgar Hösch, Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, 4. Aufl. München 2002, VIII . 88 Knapper Überblick Mark Mazower, Der Balkan, Berlin 2002, S. 197 ff.; auch das Geschichtswerk v. Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 375, 393. 89 Vgl. Südosteuropa-Handbuch, Bd. I : Jugoslawien, hg. v. Klaus Detlev Grothusen, Göttingen 1975. 90 Die verwickelte und kontrastreiche Geschichte Jugoslawiens im zweiten Weltkrieg militärgeschichtlich von deutscher Seite behandelt, mit deutlicher Erklärung des Aufstiegs der vorher kaum bedeutenden Kommunisten Klaus Schmider, Partisanenkrieg in Jugoslawien 1941–1944, Hamburg u. a. 2002, bes. 399 ff. Zur verwickelten Geschichte der bri-

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Anmerkungen tischen Unterstützung durch Geheimdienste während des Krieges F. H. Hinsley u. a., British Intelligence in the Second World War. Its Influence on Strategy and Operations, London 1984, vol. III , I , bes. S. 149–166 . Hierzu Thomas Kunze, Nicolae Ceaus¸escu. Eine Biographie, 2. Aufl. Berlin 2000, S. 169–186, 211–227 über die Auslandskontakte Ceaus¸escus, u. a. De Gaulle, Pompidou, Richard Nixon. Michael Ignatieff, Reisen in den neuen Nationalismus. Kroatien und Serbien, Ukraine, Deutschland, Quebec, Kurdistan, Nordirak, Nordirland, Leipzig 1994, S. 34. Vgl. Mazower, Der Balkan, S. 220 f.; Walter Kolbow, Heinrich Quaden (Hg.), Krieg und Frieden auf dem Balkan – Makedonien am Scheideweg? Chancen, Herausforderungen und Risiken des Aufbruchs nach Europa, Baden-Baden 2001. Vgl. John Breuilly, Nationalismus und moderner Staat. Deutschland und Europa, Köln 1999, S. 148 ff. a.a.O., S. 151. Einen umfassenden enzyklopädischen Überblick gibt Magarditsch Hatschikjan u. Stefan Troebst, Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, München 1999. Hierzu Wolfgang Libal, Das Ende Jugoslawiens, 2. Aufl. Wien 1993; ders., Die Serben. Blüte, Wahn und Katastrophe, Wien 1996; ders., Mazedonien zwischen den Fronten, Wien 1993; Walter Kolbow, Heinrich Quaden (Hg.), Krieg und Frieden auf dem Balkan. Edgar Hösch, Geschichte der Balkanländer, S. 280. Zu anstehenden und vielfach erörterten Problemen, die hier nicht im einzelnen referiert werden, sei verwiesen auf Angelika Volle, Werner Weidenfeld (Hg.), Der Balkan zwischen Krise und Stabilität, Bielefeld 2002; genannt seien vor allem die Beiträge von Bassam Tibi, Rolf Paasch, Wolfgang Ischinger, Veton Surroi u. Carl Bildt sowie die angefügten Dokumente. Zu den deutsch-jugoslawischen Beziehungen vor der Kosovo-Krise ein deutscher Diplomat, Michael Libal, Limits of Persuation. Germany and the Yugoslav Crisis 1991–1992, Westport, Conn./London 1997. Zoran Zˇivkovic´, in: Der Spiegel 21, 19. 5. 2003, S. 126; vgl. auch Norbert Mappes, Niediek, Balkan-Mafia. Staaten in der Hand des Verbrechens. Eine Gefahr für Europa, Berlin 2003. Hierzu Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, München 1966 (mehrfach neu aufgelegt), S. 138 f.; Immanuel Geis, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt a.M. 1968, S. 16 f. Zum Folgenden auch Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, 3. Aufl. München 1999. Joseph S. Nye, Pan-Africanism and East African Integration, Cambridge, Mass. u. a. 1966, S. 31; Nachdruck: Jomo Kenyatta, Facing Mount Kenya. The Tribal Life of the Gikuyu, London 1959.

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101 Die Opfer werden von einem deutschen Autor mit 167 Weißen, 1819 Loyalisten und 11 503 „echten und vermeintlichen Aufständischen“ beziffert. Martin Pabst, Kenia, München 2001, S. 56 f. 102 Horst Stoeber (Hg.), Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU ). Resolutionen und Erklärungen, Berlin 1983. 103 Pabst, a.a.O., S. 62. 104 a.a.O, S. 175. 105 Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, S. 47 106 a.a.O., S. 78. 107 Hierzu das Nötige a.a.O. 108 GEO , August 2002, S. 114–133. 109 Sogar Paul Kennedy, In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1993, geht bislang hierauf nicht ein. 110 Vgl. Volker Matthies, Äthiopien, Eritrea, Somalia, Djibouti. Das Horn von Afrika, 3. Aufl. München 1997. 111 Beckwith, Fischer, Unbekanntes Afrika, zit. Volker Matthies, a.a.O., S. 17. 112 Hierzu sei auf die konzentrierte Übersicht in der für deutsche Leser unentbehrlichen, ebenso klaren wie knappen Darstellung verwiesen: Franz Ansprenger, Politische Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert, S. 203 ff. 113 Grundsätzliche Bemerkungen Franz Ansprenger, Die SWAPO . Profil einer afrikanischen Befreiungsbewegung, Mainz/München 1984, S. 17 ff. 114 Über die für die weitere Entwicklung nicht unwichtige Unterwanderung durch südafrikanische Spione und Gegenwirkungen der SWAPO Ansprenger, Politische Geschichte, S. 74; Vgl. auch Siegfried Groth, Namibische Passion, Wuppertal 1995. 115 Systematische Übersicht FAZ , 136, 14. Juni 2003, S. 6. 116 Friedemann Büttner, Inge Klostermeier, Ägypten, München 1991, S. 142. Zum Folgenden auch Büttner, Ägypten, in: Steinbach, Hofmeister, Schönborn (Hg.), Politisches Lexikon Nahost Nordafrika, S. 26–47. 117 a.a.O. 118 a.a.O., S. 33 – nicht zuletzt mit sowjetischer Hilfe. 119 So der in Paris lebende erfolgreiche Romancier des Maghreb Ben Jelloun, in: Der Spiegel, 18, 28. 4. 2003, S. 179. 120 Sigrid Faath, Tunesien, in: Steinbach, Hofmeier, Schönborn (Hg.), Nahost Nordafrika, S. 270–281. 121 Hanspeter Mattes, Libyen, in: Nahost Nordafrika, S. 183. 122 Ansprenger, Politisches Geschichte Afrikas, S. 133. 123 Knappe Hinweise Hans-Peter Matties, Sudan, in: Steinbach, Hofmeier, Schönborn (Hg.), Nahost Nordafrika, S 242–258. 124 a.a.O., S. 248. 125 Mario Moessinger, Zweifel an Europa, Stuttgart/Degerloch 1961, S. 176 f. 126 Peter Waldmann, Bürgerkriege, in: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 370.

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Anmerkungen

127 Jared Diamond, Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1998, S. 501. 128 Biographie von Salvador de Madariaga, Bolívar, London 1952 (spanisch 1951, deutsch 1962). 129 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Bern/München, 1969, S. 312 ff. 130 Umfassender Überblick Tulio Halperin Donghi, Geschichte Lateinamerikas. Von der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 1994. 131 Peter Waldmann, Veralltäglichung von Gewalt: Das Beispiel Kolumbien, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt (Sonderheft 37/1997, Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie), S. 145 132 Einzelheiten a.a.O., S. 149 ff. 133 So Peter Waldmann, Guerrillabewegungen in Lateinamerika: Das Beispiel des Sendero Luminoso (Peru), in: Dieter Langewiesche (Hg.), Revolution und Krieg, S. 171–187, auch zum Folgenden. 134 Karlheinz Biermann, Mexiko, München 1993, S. 60. 135 Rudolf Peyer, Mexiko erzählt. Von den Maya und Azteken bis zur Gegenwart, München 1992. 136 Hierzu Albrecht Hagemann, Fidel Castro, München 2002. 137 Fritz René Allemann, Macht und Ohnmacht der Guerrilla, München 1974. 138 Nach einem legendären Indianerführer im Peru des späten 18. Jahrhunderts, Tupac Amaru, der hingerichtet wurde. Die terroristische Organisation in Uruguay formierte sich 1985 als politische Partei. 139 Donghi, Geschichte Lateinamerikas, S. 655 f. 140 Thomas Pampuch, Agustín Echalar A., Bolivien, 3. Aufl. München 1998, S. 73. 141 a.a.O., S. 83, 87. 142 Ebda. 143 Die Politik Chiles in den dreißiger und vierziger Jahren kann hier nur andeutungsweise berücksichtigt werden. Vgl. die Zeugnisse in den Akten des Deutschen Auswärtigen Amtes, etwa Botschafter von Ribbentrop an das Auswärtige Amt über einen Bericht des chilenischen Botschafters in London, 7. Februar 1937, ADAP 1918–1945, Serie C, Bd. VI , 1, S. 402ff.; und hierzu Victor Farías, Die Nazis in Chile, Berlin/Wien 2002, passim. 144 Victor Farías (Hg.), La Izquierda Chilena (1969–1973). Documentos para el estudio de su línea estratégica, Bd. I, Santiago de Chile/Berlin 2000, weitere Bände im Erscheinen begriffen. 145 Hier ist nicht der Ort, die geheimen nordamerikanischen Einflußnahmen auf die politische Entwicklung in Chile im einzelnen darzustellen. Von Kennern verfaßte Literatur erlaubt einige Einblicke. Vgl. Gregory F. Treverton, Top secret! Geheime Operationen und ihre politischen Auswirkungen, Stuttgart 1988, bes. S. 140 ff., 181 ff., 189, 195, 218 ff., 227–232;

VII Regionale Konflikte und Kriege

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Christopher Hitchens, Die Akte Kissinger, Stuttgart/München 2001, S. 94–127. Wie anzumerken ist, hat sich Kissinger selbst hierzu geäußert: „Für fast alle Parteien der europäischen Linken ist Augusto Pinochet die Inkarnation eines Angriffs der Rechten auf die Demokratie, weil er den Staatsstreich gegen einen gewählten Präsidenten anführte. Damals sahen andere – unter ihnen die Führer der demokratischen Parteien Chiles – in Salvador Allende einen radikal marxistischen Ideologen, der mit Hilfe in Kuba ausgebildeter Milizen und kubanischer Waffen eine Diktatur im Stile Castros errichten wollte. Deshalb begrüßten – ja wirklich begrüßten – die Führer von Chiles demokratischen Parteien öffentlich Allendes Sturz. (Sie änderten ihre Haltung erst, nachdem die Junta die autokratische Herrschaft viel länger aufrechterhielt, als sie durch die Ausrufung des Notstands berechtigt war.) Mißbilligung des Allende-Regimes entschuldigt nicht die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die nach seinem Sturz begangen wurden, und entlastet auch nicht die Täter.“ Henry Kissinger, Die Herausforderung Amerikas. Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Berlin 2002, S. 357. Der Spiegel, 53, 30. 12. 02, S. 79. Knappe Übersicht Manfred Wöhlcke, Brasilien, 3. Aufl. München 1991, S. 170. a.a.O., S. 66. Hartmut Sangmeister, Von der Binnenorientierung zur selektiven Weltmarktintegration. Argentiniens Außenwirtschaft im Wandel, in: Klaus Bodemer, Andrea Pagni, Peter Waldmann (Hg.), Argentinien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt a.M. 2002, S. 204 ff. FAZ , 14, 21. 6. 2003, S. 10. Knapp, klar und konzentriert Gisela Cramer, Perón und der Peronismus, in: Wilfried Nippel (Hg.), Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma, München 2000, S. 244–259; Peter Waldmann, Der Peronismus 1943–1955, Hamburg 1974; Donghi, Geschichte Lateinamerikas, S. 441 f. Peter Birle, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Staat: Der schwierige Abschied vom Klassenkampf durch Mittelsmann, in: Klaus Bodemer, Andrea Pagni, Peter Waldmann (Hg.), Argentinien heute, S. 154. Die Literatur kann kaum nachfolgen. Peter Birle, Sandra Carreras (Hg.), Argentinien nach zehn Jahren Menem, Frankfurt a.M. 2002, enthält nichts nach Menem (1989–1999). Waldmann, Guerrillabewegung, a.a.O., S. 171–209. Donghi, Geschichte Lateinamerikas, S. 831.

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Anmerkungen

VIII Europa 1 Hinweise in dem Überblick von Wilfried Noth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 1990, S. 9 ff.; vgl. Richard Graf Coudenhove-Kalergi, Ein Leben für Europa. Meine Lebenserinnerungen, Köln/Berlin 1966. 2 Hierzu eingehend Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II : Zeitalter des Imperialismus und der Weltkriege, Göttingen 1982, S. 463 ff. 3 So Otto Bauer, Gollwitzer, a.a.O., S. 467, Anm. 4 Franz Knipping, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928–1931. Studien zur internationalen Politik in der Anfangsphase der Weltwirtschaftskrise, München 1987, S. 85, vorher Walter Lipgens, Europäische Einigungsidee 1923–1930 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: Hist. Zeitschr., 203 (1966), S. 46–89, 316–363. 5 Knipping, a.a.O., S. 155 ff. 6 Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945, Serie B: 1925–1933, Bd. XV , S. 171. 7 Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Great Britain and the Reconstruction of Western Europe, Cambridge, Mass. 1987, S. 293. 8 So resümiert Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozeß 1945–1958, Baden-Baden 2000, S. 346. 9 Roland Vaubel, Europa-Chauvinismus. Der Hochmut der Institutionen, München 2001, S. 12; dieses schmale, konzentrierte und pointierte Buch auch zum Folgenden. Eingehend und ausführlich die drei Bände Governing the European Economy, ed. by Grahame Thompson, Governing European Diversity, ed. by Montserrat Guibernau, Governing the European Union, ed. by Simon Bromley, The Open University, London u. a. 2001. 10 Vaubel, a.a.O., S. 15. 11 K. R. McNamara, The Currency of Ideas. Monetary Politics in the European Union, Ithaka/London 1998, S. 104–125. 12 Valerio Lintner, The Development of the EU and the European Economy, in: Thompson (ed.), Governing the European Economy, S. 63 ff.; umfassende Darstellung Kenneth Dyson, Kevin Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, Oxford 1999. Vgl. Werner von Simson, Jürgen Schwarze, Europäische Integration und Grundgesetz. Maastricht und die Folgen für das deutsche Verfassungsrecht, Berlin/New York 1992, mit Textauszügen (109 S.). 13 Markus Warasin, Die Osterweiterung der Europäischen Union. Chancen, Risiken, Interessen, Bozen 2000; Spiridon Paraskewopoulos, Die Osterweiterung der Europäischen Union. Chancen und Perspektiven, Berlin 2000.

VIII Europa

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14 FAZ , 184, 11. 08. 2003, S. 12. 15 a.a.O., S. 11. 16 Umfassender Überblick mit einer Chronik des Einigungsprozesses Frank R. Pfetsch, Die Europäische Union. Eine Einführung, 2. Aufl. München 2001; Bengt Beutler u. a., Die Europäische Union. Rechtsordnung und Politik, 4. Aufl. Baden-Baden 1993; rückblickend Joachim Ahrends, Renate Ohr (Hg.), Zehn Jahre Vertrag von Maastricht, Berlin 2003. 17 Dieter Grimm, Die größte Erfindung unserer Zeit, in: FAZ , 137, 16. 6. 2003, S. 35. 18 Christopher Lord, Democracy and Democratization in the European Union, in: Bromley (ed.), Governing the European Union, S. 170. 19 Werner Weidenfeld, Nizza in der Analyse. Strategien für Europa, Gütersloh 2001, S. 8. 20 Michael Rutz, Europa in der Welt des 21. Jahrhunderts, in: Ludger Kühnhardt, Michael Rutz (Hg.), Die Wiederentdeckung Europas. Ein Gang durch Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1999, S. 355. 21 Hierzu Artikelfolge in Der Spiegel, zuerst Thomas Darnstädt, Die enthauptete Republik, 20, 12. 5. 03, S. 38–49; Diskussionsbeiträge Karl Eckart, Helmut Jenkis (Hg.), Föderalismus in Deutschland, Berlin 2001. 22 So schon Christian Graf von Krockow, Der deutsche Niedergang. Ein Ausblick ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 1998; vor allem das umfassende Panorama Arnulf Baring, Scheitert Deutschland? Abschied von unserem Wunschdenken, 2. Aufl. Stuttgart 1997, allerdings mit einer zu engen Betrachtung der Währungsproblematik. 23 Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, 2. Bd.: Geschichte der inneren und äußeren Politik von den siebziger bis neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, Berlin 1913, S. IX , 269 ff. 24 „Der Staat des Grundgesetztes hat 16 Länder mit zusammen rund 140 Ministerien. Die haben im Durchschnitt 40 Referate. Dort wirken also mehr als 5500 Referatsleiter. Ein paar Tausend von denen sitzen irgendwo im Staat des Grundgesetztes in der Ersten Klasse eines ICE -Zuges. Sie sind unterwegs zu Koordinationstreffen von Länderarbeitsgemeinschaften …“ Darnstädt, a.a.O., S. 41. 25 Stendhal, Marie Henri Beyle, Reise in Italien. Rome, Naples et Florence, die französischen Ausgaben v. 1817 und 1827 vereinigende kritische deutsche Übers. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Jena 1911, S. 73. Auch noch die Urteile von Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien, neue Ausgabe Dresden 1925, S. 578. 26 Hierzu Gerhard Schulz, Lange Schatten. Über wirtschaftliche Notlagen und Entwicklungsrückstände in der europäischen Geschichte. Ursachen, Formen und Folgen, in: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift f. Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, hg. v. Jür-

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Anmerkungen gen Kocka, Hans-Jürgen Puhle u. Klaus Tenfelde, München u. a. 1994, S. 517–537. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt a.M. 1959. So das Schlagwort eines Ministers von Nordrheinwestfalen, des späteren Ministerpräsidenten Clement. Vgl. Rudolf Hrbek (Hg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip. Die „Europafähigkeit“ Deutschlands und seiner Länder im Vergleich mit anderen Föderalstaaten, Baden-Baden 2000; Franz Knipping (ed.), Federal Conceptions in EU Member States: Traditions and Perspectives, BadenBaden 1994; Übersicht Lüder Gerken u. a., Eine freiheitliche supranationale Föderation. Zur Aufgabenverteilung in Europa, Baden-Baden 2002. Vgl. Heiner Timmermann (Hg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion, Opladen 2001. Jean François-Poncet, Globale Herausforderungen – Europäische Antworten (Ernst Reuter-Vorlesung im Wissenschaftskolleg in Berlin), Berlin/ New York 1995, S. 20. NZZ , 167, 20./21. 7. 1996, S. 30. Als Beispiel hierfür Gerhard Schulz, Lange Schatten. Hierzu gehören auch die Geheimdienste. Informativ – auch über schwerwiegende Mängel – zuletzt Loch K. Johnson, Bomben, Wanzen und Intrigen. Amerikas Geheimdienste, Düsseldorf 2002. Der Bestseller-Erfolg des Buches von Emmanuel Todd, Weltmacht USA . Ein Nachruf, München 2003, auch in Deutschland belegt dies erneut. Weitere kritische Stimmen: Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US -Politik, Hamburg 2002; James H. Hatfield, Das Bush-Imperium. Wie George W. Bush zum Präsidenten gemacht wurde, 3. Aufl. Bremen 2002; von deutscher Seite Herfried Münkler, Der neue Golfkrieg, Reinbek bei Hamburg 2003. Sorgsam abwägend Bill Emmott, Vision 20/21. Die Weltordnung des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2003; auch Robert Kagan, Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung, Berlin 2003. François-Poncet, a.a.O., S. 19. Vgl. Michael Mann, Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht regieren können, Frankfurt a.M. 2003, bes. S. 251–257. Vgl. Kagan, Macht und Ohnmacht, bes. S. 55 ff. Vgl. Mann, Die ohnmächtige Supermacht, S. 269 ff. Lothar Rühl, Vorwärtsverteidigung und globale Ordnung, in: NZZ , 182, 9./10. 8. 2003, S. 4. Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart, 1. Bd., Berlin 1911, bes. S. 223–227. In Dialogform verdeutlicht v. Will Hutton, Anthony Giddens (Hg.), Die Zukunft des globalen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2001.

IX Ein Rückblick

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43 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a.M. 1987, S. 88. 44 So Bassam Tibi in der Tagespresse. 45 Helmut Schmidt, Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/München 2000, S. 253 f.

IX Ein Rückblick 1 Vgl. Nigel Davies, The Rampant God, New York 1984. 2 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1975. 3 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1956. 4 Ein in der jüngeren deutschen Geschichtsschreibung seltener Fall vielseitiger Betrachtungsweise hat die hier wiedergegebene Formulierung vorgebracht. Sie ergibt sich aus anthropohistorischen Gedankenfolgen, die an dieser Stelle nicht im einzelnen verfolgt werden können. August Nitschke, Die Mutigen in einem System. Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Ein Vergleich der Kulturen, Köln/Weimar/Wien 1991, S. 31, 58. 5 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1981, mit dem Motto aus der Sequenz Dies Irae: „Liber scriptus proferetur/In quo totum continetur./Unde mundus iudicetur“, S. 123 f. 6 Max Planck, Positivismus und reale Außenwelt. Vortrag 1930, in: Wege zur physikalischen Erkenntnis, I, 3. Aufl. Leipzig 1943, S. 174; Blumenberg, a.a.O., S. 373. 7 Blumenberg, a.a.O., S. 122 f. 8 Beste, umfassende Darstellung von Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl. Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787–1791, Berlin/New York 1988, S. 707–779. 9 Niemand konnte bislang diese originellen Gedankengänge und versuchten Beweisführungen über 40 starke Bände verfolgen, deren vollständige Titel hier aufzuführen, die Grenzen der Möglichkeiten einer Anmerkung überschreiten würden. 10 Beiträge hierzu Will Hutton, Anthony Giddens (Hg.), Die Zukunft des globalen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2001. 11 Zunächst Hobbes, The Pelopponesian War by Thukydides, London 1628; dann Hobbes, Behemoth. The History and the Causes of Civil Wars of England, 1640–1660 (Hobbes, The English Works, hg. v. Sir William Molesworth, VI ), London 1840; gesondert hg. v. Ferdinand Tönnies, London 1889; dt. Übers. v. Julius Lips, Leipzig 1927, neuerdings revidiert: Thomas

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Anmerkungen Hobbes, Behemoth oder Das Lange Parlament, hg. v. Herfried Münkler, Frankfurt a.M. 1991. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, in deutscher Übers. unter dem Titel: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955. Karl R. Popper fand dies in Übereinstimmung mit Platon; Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I: Der Zauber Platons, 7. Aufl. Tübingen 1992, S. 264. Aristotelis Opera (Berliner Akademie-Ausgabe), II , ND 1960, Politikon E 8, S. 1310a. Hierzu neuerdings vor allem der erste Teil von Avishai Margalit, Politik der Würde, Über Achtung und Verachtung, übers. aus dem Amerikanischen, Berlin 1997. Vgl. Gerhard Schulz, Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, München 2001. So neuerdings Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Baden-Baden 1996. Hierzu ist an mehrere Werke von Claude Lévi-Strauss zu erinnern, dem die Aufschließung dieser Zusammenhänge zu danken ist. Heftige Polemiken, zur „Verteidigung des Fanatismus“, Peter Kreeft, Ökumenischer Djihad? Religionen im globalen Kulturkampf, Augsburg 2003; Rolf Stolz, Kommt der Islam? Die Fundamentalisten vor den Toren Europas, 2. Aufl. München 2001. So Peter Alter (Hg.), Nationalismus. Dokumente zur Geschichte und Gegenwart eines Phänomens, München 1994, S. 15 (Einleitung). Johan Huizinga, Im Bann der Geschichte. Betrachtungen und Gestaltungen, Basel 1934, S. 131. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. (zuerst 1936), 2. Aufl. Bern 1969 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 78 ff., 102, 167 ff., 280ff. Ernest Renan, Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, Neuausgabe der deutschen Übers. des Vortrags von 1882, Wien/Bozen 1995, S. 58. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1927), wieder abgedruckt in: Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 69. Vgl. Rudolf Weber-Fas, Über die Staatsgewalt. Von Platons Idealstaat bis zur Europäischen Union, München 2000. Peter Brown, Society and the Holy in Late Antiquity, London 1982. So Hans Maier, „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“, in: Vjhe. f. Zeitgesch., 43 (1995), S. 401. Schon Eric Voegelin, Die politischen Religio-

IX Ein Rückblick

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nen, Wien 1938, ND München 1993; vgl. Michael Burleigh, Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt a.M. 2000, Einleitung; Romano Guardini, Der Heilbringer, Zürich 1946; auch Herrmann Heller, Staatslehre, Leiden 1931, 2. Aufl. 1961, S. 209. Hier läßt sich an das wegweisende Werk v. Ferdinand Tönnies anknüpfen, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 4. ND d. 8. Aufl. 1935 Darmstadt 1972 (1. Aufl. 1887). So zuletzt Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989. So der Titel eines späten Werkes v. Herbert Spencer, From Freedom to Bondage. Essays, London 1891; vgl. die Lehre von den Vorurteilen, Spencer, Einleitung in das Studium der Sociologie, autorisierte Übers., hg. v. Heinrich v. Marquardsen, 2. Aufl., 2. Teil, Leipzig 1896. So schon vor 1933 der Titel von Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, 8. ND 1979. Albert Soboul, Les sans-culottes parisiens en l’an II . Histoire politique et sociale des sections de Paris, 2 Juin 1793 – 9 Thermidor an 2, La Rochesur-Yon 1958. So Maurice Agulhon, Der vagabundierende Blick. Für ein Verständnis politischer Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M. 1995, S. 219. Der „in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzte Entzauberungsprozess“; Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 536. a.a.O., S. 537. a.a.O., S. 540. a.a.O., S. 546 f.