Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika [2. neubearb. Aufl. Reprint 2013] 9783110827750, 9783110043648


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German Pages 268 [272] Year 1973

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Table of contents :
Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika Zeittafel
Erster Teil: Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika
1. Kapitel: Die Kolonialzeit
2. Kapitel: Der Unabhängigkeitskrieg
3. Kapitel: Krise und Konsolidierung
Zweiter Teil: Der Weg zur Großmacht
1. Kapitel: Die Besiedlung des Westens
2. Kapitel: Der Bürgerkrieg
3. Kapitel: Kapital und Staatsautorität
4. Kapitel: Die USA und die Bildung des Weltstaatensystems
Dritter Teil: Von der Isolierung zur weltpolitischen Verantwortung
1. Kapitel: Die USA im Ersten Weltkrieg
2. Kapitel: Scheinisolierung und Prosperität
3. Kapitel: Weltwirtschaftskrise und New Deal
4. Kapitel: Die USA im Zweiten Weltkrieg
5. Kapitel: Die Nadikriegszeit
Epilog
Tabellen
Literatur
Die amerikanische Wirtschaft seit der industriellen Revolution
1. Kapitel: Die Phase der frühen Industrialisierung
2. Kapitel: Der Aufstieg der Großindustrie
3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg und die Zwanziger Jahre
4. Kapitel: Große Depression, New Deal und Zweiter Weltkrieg
5. Kapitel: Die neueste Zeit
Literatur
Personenregister
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Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika [2. neubearb. Aufl. Reprint 2013]
 9783110827750, 9783110043648

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Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika von

Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode 2. neubearbeitete Auflage

Mit einem besonderen Beitrag Die amerikanische Wirtschaft seit der industriellen Revolution von

Hans Jaeger

w DE

G_ Sammlung Göschen Band 7005

Walter de Gruyter Berlin · New York · 1973

Dr. phil. Otto Graf zu

Stolberg-Wernigerode

ist em. o. ö. Professor für europäische Gesdiidite an der Universität München

Dr. phil. Hans Jaeger

ist Lehrbeauftragter für Unternehmensgeschidite an der Universität München

ISBN 3 11 004364 5 © Copyright

1973

by W a l t e r

de G r u y t e r

&

J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Alle

Rechte, insbesondere

das

Recht

Co.,

vormals

Reimer,

der

G.

Karl J .

J.

Göschen'sche

Trübner,

Vervielfältigung

und

Veit

Verlagshandlung,

& Comp., 1 Berlin

Verbreitung

sowie

der

s e t z u n g , v o r b e h a l t e n . K e i n T e i l des W e r k e s d a r f in i r g e n d e i n e r F o r m ( d u r c h F o t o k o p i e , film unter

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Inhalt Prof. Dr. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode: Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika Zeittafel Erster Teil: Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika 1. Kapitel: Die Kolonialzeit 2. Kapitel: Der Unabhängigkeitskrieg 3. Kapitel: Krise und Konsolidierung

5 . . .

9 9 27 40

Zweiter Teil: Der Weg zur Großmacht 1. Kapitel: Die Besiedlung des Westens 2. Kapitel: Der Bürgerkrieg 3. Kapitel: Kapital und Staatsautorität 4. Kapitel: Die USA und die Bildung des Weltstaatensystems Dritter Teil: Von der Isolierung zur weltpolitischen Verantwortung 1. Kapitel: Die USA im Ersten Weltkrieg 2. Kapitel: Scheinisolierung und Prosperität 3. Kapitel: Weltwirtschaftskrise und New Deal 4. Kapitel: Die USA im Zweiten Weltkrieg 5. Kapitel: Die Nachkriegszeit Epilog Tabellen Literatur

.

53 53 62 78 88

.

116 116 133 142 151 164 183 189 193

Die amerikanische Wirtschaft seit der industriellen Revolution 1. Kapitel: Die Phase der frühen Industrialisierung . . . 2. Kapitel: Der Aufstieg der Großindustrie 3. Kapitel: Der Erste Weltkrieg und die Zwanziger Jahre . 4. Kapitel: Große Depression, New Deal und Zweiter Weltkrieg 5. Kapitel: Die neueste Zeit Literatur Personenregister

197 197 204 227

Dr. Hans Jaeger:

237 251 261 265

Prof. Dr. Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode

Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika Zeittafel 1607, Begründung der ersten englisdien Kolonie in Virginia. — 1620, 26. Dezember, Landung der „Mayflower" in Plymouth. — 1689—1697, King William's War. — 1702 bis 1713, Queen Anne's War. — 1744—1748, King George's War. — 1754, Konflikt im Ohiotal. — 1756—1763, Siebenjähriger Krieg. — 1763, 10. Februar, Friede von Paris. England erwirbt Kanada. — 1765, Stempelsteuerakte. — 1767, Townshendakte. — 1773, 10. Mai, Teegesetz. — 1774, 5. September bis 26. Oktober, erster Kontinentalkongreß in Philadelphia. — 1775, 19. April, erste Gefedite bei Lexington und Concord. Seit 10. Mai zweiter Kontinentalkongreß. — 1776, 4. Juli, Unabhängigkeitserklärung. — 1778, 6. Februar, Bündnis mit Frankreich. — 1783, Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten im Frieden von Versailles. — 1787, 17. September, amerikanische Verfassung fertiggestellt. — 1789, George Washington erster Präsident. — 1796, 19. September, Washingtons Abschiedsbotschaft. — 1798—1799, Kriegszustand mit Frankreich. — 1803, 30. April, Napoleon verkauft Louisiana an die USA. — 1812—1814, Krieg gegen England. — 1814, 24. Dezember, Friede von Gent. — 1819, 22. Februar, die USA kaufen Westflorida von Spanien. — 1820, Missourikompromiß (Sklavereifrage). — 1823, 2. Dezember, Verkündung der Monroedoktrin. — 1845, 29. Dezember, Texas tritt der Union bei. — 1846, 15. Juni, Großbritannien verzichtet auf das Oregongebiet. — 1846—1848, Krieg gegen Mexiko. — 1848, 2. Februar, Frieden von Guadalupe-Hidalgo. USA erwerben Neumexiko und Kalifornien. — 1850, 19. April, Clayton-Bulwer-Vertrag (zwischenozeanisdier Kanal). — 1854, Kansas-Nebraska-Gesetz: in Kansas Sklaverei zugelassen. — 1854, 31. März, Japan zur Öffnung seiner Häfen gezwungen. —

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1860, 6. November, Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten. — 1860, 24. Dezember, Sezession Südcarolinas. — 1861, Februar—Juni, elf Südstaaten schließen sich zu einer Konföderation zusammen. — 1861—1865, Bürgerkrieg. — 1861, 8. November, Trentzwischenfall. — 1862, Juli, Hilfskreuzer „Alabama" hat England heimlich verlassen. — 1863, 1. Januar, Lincolns Emanzipationserklärung. — 1863, 1.—3. Juli, Schlacht bei Gettysburg. — 1863, 19. November, Lincolns Gettysburger Rede. — 1865, 9. April, Kapitulation Lees. — 1865, 14. April, Ermordung Lincolns. — 1867, 30. März, Vertrag mit Rußland über den Verkauf Alaskas. — 1867—1877, Rekonstruktion der Südstaaten. — 1868, 16. Mai, Anklage gegen den Präsidenten Johnson vom Senat verworfen. — 1889, 2. Oktober bis 1890, 19. April, erste panamerikanische Konferenz. — 1898, 15. Februar, das amerikanische Kriegsschiff „Maine" sinkt im Hafen von Havana. — 1898, 25. April, Kriegszustand mit Spanien. — 1898, 7. Juli, Annexion von Hawaii. — 1898, 10. Dezember, Frieden von Paris. — 1899, 2. Dezember, Teilung der Samoa-Inseln zwischen Deutschland, Großbritannien und den USA. — 1899—1900, Politik der „offenen Tür" in China. — 1900, Boxerkrieg. — 1901, 6. September, Ermordung McKinleys, Theodore Roosevelt wird Präsident. — 1901, 18. November, Hay-Pauncefote-Vertrag über den zwischenozeanischen Kanal. — 1902—1903, Venezuelakonflikt mit Deutschland und Großbritannien. — 1903, 20. Oktober, Grenzstreitigkeiten zwischen Kanada und Alaska durch ein Schiedsgericht beigelegt. — 1904, 6. Dezember, neue Interpretation der Monroedoktrin. — 1905, Friedensvermittlung zwischen Rußland und Japan. — 1906, Algeciraskonferenz (erste Marokkokrise). — 1912, 5. November, Wahl Woodrow Wilsons zum Präsidenten. — 1913—1914, soziale Gesetzgebung. — 1914—1917, militärische Intervention in Mexiko. — 1915, Europamission des Obersten House. — 1915, 7. Mai, Versenkung der „Lusitania". — 1916, Januar—Februar, zweite Europamission von House. — 1916, 24. März, „Sussex" torpediert. — 1916, 7. November, Wilson zum Präsidenten wiedergewählt. — 1916, 18. Dezember, Wilsons Friedensnoten an die Kriegführenden. — 1917, 1. Februar, Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-

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Bootkrieges. — 1917, 2. Februar, Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Deutschen Reich. — 1917, 6. April, Kriegserklärung. — 1917, 3. November, Lansing-Ishii-Abkommen über China. — 1918, 8. Januar, Wilsons 14 Punkte-Programm. — 1918, 5. Oktober, deutsche Waffenstillstandsbitte an Wilson. — 1918, 5. November, Vorfriedensvertrag. — 1918, 13. Dezember, Eintreffen Wilsons in Europa. — 1920, 19. März, Ablehnung des Friedens- und Völkerbundsvertrages durch den amerikanischen Senat. — 1921, Frieden mit Deutschland. — 1921. 12. November, bis 1922, 6. Februar, Flottenkonferenz in Washington. — 1928, 27. August, Kelloggpakt: Ächtung des Krieges. — 1929, 24. Oktober, Aktiensturz an der New Yorker Börse. — 1931, 20. Juni, Hoover verkündet ein Moratorium für alle Schuldenverpfliditungen. — 1932, November, Franklin D. Roosevelt zum Präsidenten gewählt. — Seit März 1933, „New Deal". — 1934—1935, Neutralitätsgesetzgebung. — 1936, 3. November, Wiederwahl Roosevelts zum Präsidenten. — 1937, 5. Oktober, Quarantänerede Roosevelts. — 1939, 3. Oktober, Panamaerklärung der Vereinigten und 20 lateinamerikanischen Staaten. — 1939, 4. November, Aufhebung des Waffenembargos. — 1941, 6. Januar, Roosevelts „Vier Freiheiten". — 1941, 11. März, Leih- und Pachtgesetz. — 1941, 14. August, Atlantikcharta. — 1941, 7. Dezember, japanischer Angriff auf Pearl Harbor. — 1942, 8. November, Landung amerikanischer Truppen in franz. Nordafrika. — 1943, 14. bis 24. Januar, Casablanca-Konferenz. — 1943, 28. November bis 1. Dezember, Konferenz in Teheran. — 1944, 6. Juni, Invasion in Frankreich. — 1944, 21. August bis 7. Oktober, Dumbarton-Oaks-Konferenz. — 1944, 7. November, Roosevelt wird zum vierten Mal zum Präsidenten gewählt. — 1945, 4.—11. Februar, Jalta-Konferenz. — 1945, 12. April, Tod Roosevelts. — 1945, 7./8. Mai, Kapitulation Deutschlands. — 1945, 17. Juli bis 2. August, Potsdam-Konferenz. — 1945, 6. August, Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima. — 1945, 15. August, Kapitulation Japans. — 1947, 12. März, Trumandoktrin: militärische und wirtschaftliche Hilfe für Türkei und Griechenland. — 1947, 5. Juni, Marshallplan. — 1949, 4. April, Nordatlantikpakt. — 1949, Juni, Luftbrücke für Berlin eingerichtet. —

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1950, 25. Juni, Beginn des Koreakrieges. — 1951, 8. Oktober, Frieden von San Francisco. — 1952, November, Eisenhower zum Präsidenten gewählt. — 1953, 27. Juli, Waffenstillstand in Korea. — 1960, Mai, U 2-Zwischenfall, Scheitern der Pariser Gipfelkonferenz. — 1960, November, John F. Kennedy zum Präsidenten gewählt. — 1961, April, Sdiweinebucht-Fiasko. — 1962, Oktober, Kuba-Krise. — 1963, 22. November, Ermordung Kennedys, Lyndon B. Johnson wird Präsident. — 1964, August, Verschärfung des Vietnam-Krieges durdi amerikanische Bombardierung Nordvietnams. — 1968, 13. Mai, Beginn von Friedensgesprächen über Vietnam. — 1969, 20. Juli, Mondlandung des Raumschiffs Apollo XI. — 1969, November, Richard M. Nixon zum Präsidenten gewählt. — 1972, Februar, Chinareise Nixons. — 1972, November, Wiederwahl Nixons — 1973, 23. Januar, Waffenstillstand in Vietnam.

ERSTER TEIL

Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika 1. Kapitel Die Kolonialzeit Die Geschichte der Vereinigten Staaten beginnt nicht erst mit der Entdeckung Amerikas oder gar mit den englischen Siedlungen zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die geographische Lage des ganzen Kontinents, besonders aber die räumlichen und klimatischen Verhältnisse Nordamerikas haben entscheidende Voraussetzungen für die spätere Entwicklung geschaffen. Nicht zuletzt bereiteten die Binnenwanderungen der Urbevölkerung in vorgeschichtlicher Zeit und die Verteilung ihrer Siedlungen über das ganze Land im nicht geringen Maße die spätere Entwicklung vor. Nordamerika bildet fast einen Kontinent, nur durch die schmale Landenge mit Mittelamerika verbunden. Im Osten wird es vom Atlantischen Ozean umgeben, der nach der Besiedlung der amerikanischen Küste zu einem neuen Mittelmeer werden konnte, dessen politische und wirtschaftliche Bedeutung hinter dem europäischen Mittelmeer nicht zurückstand. Im Westen breitet sich die ungeheure Wasserfläche des Stillen Ozeans aus. Amerika übernahm die Vermittlung zwischen Europa und Asien; im Unterschied zu Südamerika konnte Nordamerika seine pazifischen Häfen ganz anders ausnützen, da das Gebirge sich hier nicht bis zu den Küsten erstreckte. Im Süden stellt der Golf von Mexiko eine enge Verbindung mit Westindien, mit Mittel- und Südamerika her. Durch seine breiten Meeresgürtel war Nordamerika gegen Invasionen feindlicher Heere weitgehend geschützt; dies galt nach der Kolonisation auch für den Norden, da das arktische Klima ein kaum zu überwindendes Hindernis für Einfälle von Asien her bildete. So war es auch möglich, daß die Ver-

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Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika

einigten Staaten, da sich keine auch nur annähernd ebenbürtige Macht auf dem amerikanischen Doppelkontinent gebildet hat und die einzige langgestreckte Landgrenze gegen Kanada nicht verteidigt zu werden brauchte, den Bewohnern ein Sicherheitsgefühl für längere Zeit gewähren konnte, über das früher nur ein Inselstaat verfügte. Die Lage an den Weltmeeren bedeutete aber auch, daß die Bedürfnisse des überseeischen Handels die Entwicklung der amerikanischen Gesdiichte weitgehend mitbestimmt haben. Das Klima in dem Teil Nordamerikas, der heute die USA bildet, ist zwar der Größe des Landes entsprechend sehr verschieden; die Landschaften, die zur subtropischen Zone gehören, überwiegen jedoch bei weitem. Der Besiedlung durdi die weiße Rasse waren durch Klima- und Bodenbeschaffenheit daher keine Grenzen gesetzt. Der Anbau von Nutzpflanzen, ja selbst von Mais, ist trotz rauher Winde bis an die Nordgrenze hin möglich. Wenn auch ein Teil des Westens wegen seiner Regenarmut für eine landwirtschaftliche Nutzung ausfällt, ist, im ganzen gesehen, der Wasserreichtum unvergleichlich. Die Fülle der Bodenschätze wurde die natürliche Grundlage für die industrielle Entwicklung. Was hier auf dem Gebiet der USA fehlte, ließ sich leicht aus Kanada beschaffen, ganz abgesehen von den Ausgleichsmöglichkeiten, die Südamerika bot. Für die europäische Kolonisation war es von grundsätzlicher Bedeutung, daß sich nur in Peru, im Aztekenreich und bei den Puebloindianern bereits Zivilisationen mit einer verhältnismäßigen Bevölkerungsdichte vorfanden. In Nordamerika waren die Zustände anders. Nach Schätzungen, die allerdings nur vage sein können, lebten in ganz Nordamerika mit seinen ungefähr 17 Millionen qkm (davon das jetzige Gebiet der USA 7Y2 Millionen qkm) etwa 1 Million Eingeborene, die sich über den ganzen Raum verteilten, so daß weiteste Flächen von Menschenhand noch niemals berührt worden waren. Wenn die dort lebenden Indianerstämme auch aus dem Zustand des Nomadenlebens herausgetreten waren und sich beim Irokesenbund schon Ansätze zu einer echten Gemeinschaftsbildung zeigten, so befand sich doch alles noch in einem Ubergangsstadium. Angesichts der relativen Mensdienleere hätte auch bei einer

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toleranteren Eingeborenenpolitik somit von einer Rassenvermischung nicht die Rede sein können. Dies war der charakteristische Unterschied: das Schwergewicht der spanischen Kolonisation lag in Mittelamerika mit einer verhältnismäßigen Bevölkerungsdichte; die Eingeborenen bildeten den Unterbau der kolonialen Gesellschaft, die Spanier vermischten sich blutsmäßig mit den Indianern und den als Sklaven importierten Negern, so entstand durch Rassenmisdiung ein neuer Menschentypus. In Nordamerika dagegen waren die Siedler mehr oder weniger auf die Arbeit ihrer eigenen Hände angewiesen. Sie nahmen nur verschwindend wenig fremdes Blut auf und traten in einen Kampf auf Leben und Tod mit den kriegerischen Indianerstämmen ein, die sie allmählich ganz aus ihren ursprünglichen Sitzen verdrängten. Diese waren zahlenmäßig zu schwach und noch zu wenig seßhaft, um den Gesamtdiarakter der kolonialen Gesellschaft wesentlich biologisch und kulturell beeinflussen zu können. Das heißt nun allerdings nicht, daß die in diesem Raum lebenden Eingeborenen für die nordamerikanische Kolonialgeschichte ohne Bedeutung gewesen sind. Das Ringen um den Besitz Nordamerikas zwischen den europäischen Mächten wurde in seinem Verlauf davon mitbestimmt, wie weit die Indianer als Verbündete wertvolle Hilfe leisteten oder als überaus gefährliche Feinde angesehen werden mußten. Die „Frontier", die jeweils am weitesten vorgeschobene Siedlungsgrenze, brachte die dort lebenden Menschen in eine nahe Berührung mit den Eingeborenen. Entweder waren diese als Handelspartner nicht zu entbehren, oder sie zwangen die Weißen, in dem Zustand einer ständigen Bedrohung zu leben. Ohne diese jahrhundertelange Auseinandersetzung läßt sich der amerikanische Charakter in seiner eigentümlichen Ausprägung nicht denken. Die Europäer haben sehr viel von den Eingeborenen gelernt, so verschieden diese nach Temperament und Anlage, nach ihrer Kulturstufe, nach ihren Sitten und Gewohnheiten auch gewesen sind. Nur durch den Tauschhandel mit Landesprodukten und Waren konnten die Kolonisten die erste schwere Zeit überstehen. Sie übernahmen von den Indianern den Anbau von Mais und Tabak, sie sahen ihnen ab, wie man sich in

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undurchdringlichen Wäldern am zweckmäßigsten kleiden und bewegen müsse. Die praktischen Erfahrungen der Indianer •wiesen die europäischen Menschen auf die unvergleichlichen Vorzüge des Mokassins und des Kanus hin. So lange die Europäer noch keine besseren Werkzeuge zur Verfügung hatten, wandten sie sogar die von den Eingeborenen geübte eigenartige Methode des Fällens der Baumriesen an. Trotzdem bleibt bestehen: die Geschichte der USA ist vornehmlich die Geschichte der seit dem Beginn der Kolonialepoche eingewanderten Europäer und ihrer Nachfahren. Soweit es auch in diesem Lande ein Rassenproblem gegeben hat, konnte es erst dann entstehen, als die Neger, die von Sklavenhändlern von Afrika herübergebracht worden waren, emanzipiert wurden. In sehr viel geringerem Ausmaße entstanden auch rassische Spannungen zu eingewanderten Asiaten im 19. Jahrhundert, besonders zu Japanern. Durch Heiraten untereinander verloren die weißen Einwanderer nach wenigen Generationen die in ihren Heimatländern hervorstechenden Charakterzüge. Immer blieb es jedoch europäisches Erbe, das in der neuen Welt weiterentwickelt wurde. Die Menschen hatten es zunächst mit einem verhältnismäßig leeren Raum, mit einer ungebrochenen Natur zu tun. Alle Veränderungen, die sich bei ihnen physisch oder psychisch vollzogen, wurden auf das stärkste von der Wechselwirkung der andersgearteten Lebensbedingungen und der Natur beeinflußt. Bei keinem anderen kolonialen Unternehmen der Neuzeit konnten so viele Menschen eine neue Heimat finden, ungezählte Millionen sind insbesondere im 19. Jahrhundert in die USA ausgewandert. Eine so umfassende Besitzergreifung verbot sich in anderen Kolonialräumen schon aus geographischen oder klimatischen Ursachen, oder es bestanden bereits ältere Zivilisationen, so daß die Kolonisatoren nur eine dünne Herrenschicht bildeten. Es ist inzwischen bekannt, daß Nordländer um das Jahr 1000 bereits auf Labrador und Neufundland Fuß faßten und auch die nordamerikanischen Küsten kannten. Jedoch fehlten noch alle Voraussetzungen für dauernde Niederlassungen. Sie waren aber seit dem 15. Jahrhundert gegeben, der europäische Geist war bereit, den Flug ins Unbekannte, ins Abenteuer zu

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wagen. Aufgestaute Energien drängten nadi rastloser Betätigung. Die Kolonialbewegung war bereits im Gange, als Columbus, ohne daß er sich dessen bewußt war, einen neuen Kontinent entdeckte. Wenige Jahrzehnte genügten, um Amerika mit dem europäischen Schicksal unlöslich zu verbinden. Amerika und seine vorgelagerten Inseln waren nur eines von den Betätigungsfeldern für den Ausdehnungsdrang, der für lange Zeit zur Vorherrschaft Europas über die Welt führen sollte. Aber gerade hier waren ungewöhnliche Möglichkeiten zur Entfaltung und Steigerung des individuellen wie kollektiven Selbstbewußtseins vorhanden. Als erste Kolonialmacht ist Spanien audi nach Nordamerika vorgedrungen. Die Portugiesen begnügten sich mit Brasilien, das sie überdies zunächst stark vernachlässigten. Von Mexiko aus kamen die Spanier nach Texas, Florida und Kalifornien. Sie haben kühne Expeditionen tief in den nordamerikanischen Raum hinein unternommen und bereits den Mississippi erreicht. Die Nachwirkungen ihrer farbenfrohen kirchlich-weltlichen Kultur sind auch heute noch in denjenigen Teilen der USA deutlich erkennbar, die die Spanier einmal auf längere Dauer in Besitz genommen hatten; mehr als früher wird jetzt ihre kolonisatorische Leistung gewürdigt. In den USA leben gegenwärtig 3 Millionen spanischsprechende Menschen. Aber an der großen Entscheidung um die Vorherrschaft in Nordamerika waren sie nur in bescheidenem Umfang beteiligt. Als um diese das eigentliche Ringen einsetzte, befand sich die Macht Spaniens bereits im Absinken; unter strenger Staatskontrolle stehend, blieb die Auswanderung zahlenmäßig stets beschränkt. Ihre Kolonisation stützte sich vornehmlich auf die Arbeit der Indianer und Neger, so daß es den Vereinigten Staaten bald nach ihrer Begründung nicht schwer fallen konnte, den zur Selbständigkeit hindrängenden spanischen Kolonien diejenigen dünn besiedelten oder bereits von den USA aus unterwanderten Gebiete zu entreißen, deren Besitz die junge Republik ihrer eigenen Sicherheit wegen anstrebte. Neben den Spaniern sind in der Kolonialgeschichte Nordamerikas die Franzosen, die Engländer, die Niederländer, die Schweden und sehr viel später die Russen beteiligt gewesen.

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Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika

Die Deutschen traten nur als Siedler in Erscheinung; eine eigene Kolonialpolitik konnten sie erst viel später treiben. Die Franzosen waren die ersten. König Franz I. erkannte niemals den Alleinanspruch der Spanier und Portugiesen auf die Erwerbun-1 gen in der überseeischen Welt an. So hatte bereits 1541 Jacques Cartier in der Nähe von Quebec eine Kolonie errichtet, die sich jedoch nicht lange zu behaupten vermochte, da Frankreich in schweren Abwehrkämpfen gegen die Habsburger Übermacht lag. Auch der Versudi Colignys, den französischen Protestanten, den Hugenotten, in Amerika eine gesicherte Zukunft zu verschaffen, scheiterte am Bürgerkrieg in Frankreich sowie an der Rivalität mit den Spaniern. Die von Jean Ribaut in Florida errichtete Kolonie ging wenige Jahre vor der Bartholomäusnacht zugrunde (20. Sept. 1565). Erst seit dem Ende des Jahrhunderts, im Zusammenhang mit Spaniens Niedergang, konnte an eine dauernde Begründung von Kolonien in Nordamerika gedacht werden. Die Verbindung zu Kanada war infolge der an der atlantischen Küste lebhaft entwickelten Fischerei niemals abgerissen; ein beschränkter Pelzhandel mit den englischen Kolonien war bereits im Gange. Unter dem Kardinal Richelieu wurde mit einer planmäßigen Kolonialpolitik begonnen. Samuel Champlain begründete 1604 in Akadien (Neuschottland) Port Royal, in Kanada 1608 Quebec, 1634 Three Rivers, 1641 Montreal. Von hier aus erweiterte sich der französische Besitz ständig. René Robert Cavelier Sieur de La Salle fuhr mit wenigen Begleitern den Mississippi hinunter und nahm ein riesiges Gebiet bis zum Golf von Mexiko für Frankreich in Besitz, das er nach Ludwig XIV. Louisiana nannte (1682). Auch bis zur Hudsonbay drangen die Franzosen vor, sie faßten in Westindien Fuß; die Tabak- und Zuckerplantagen auf Martinique, Guadeloupe und Barthélémy sollten für den Handel der neuenglischen Kolonien große Bedeutung gewinnen. Die französische Regierung hat sich wie die spanische niemals dazu verstanden, die freie Auswanderung zu fördern. Es war eine grundsätzliche Entscheidung, daß die Hugenotten ausgeschlossen blieben; die Bevölkerung Kanadas zählte noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum mehr als 6000 Einwohner. Die Kolonien kamen unter die Aufsicht der

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Krone; ihre Sicherheit wurde auf militärische Stützpunkte längs des St. Lorenzstroms und an den großen Seen begründet. Die männliche Bevölkerung, an ein hartes und gefahrvolles Leben gewöhnt, größtenteils aus ehemaligen Soldaten bestehend, eignete sich vorzüglich zum Kriegsdienst. Neben dem Prestige und den Handelsinteressen hat bei der französischen Kolonisation — hierin ähnlich wie bei den neuenglischen Kolonien — zunächst religiöses Engagement eine sehr wichtige Rolle gespielt, das sich die Missionierung der eingeborenen Bevölkerung zum Ziele setzte. Die Recollets und die Jesuiten haben mit ihrer unerhörten Opferbereitschaft, aber auch mit ihrer Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, den Geist der kolonialen Gesellschaft entscheidend mitgeprägt. Den Hauptgewinn zog Frankreich aus dem Pelzhandel. Der französische „Waldläufer", eine eigenartige Mischung aus Unabhängigkeitsdrang, Kühnheit und Skrupellosigkeit, wurde zum unentbehrlichen Vermittler zwischen den Weißen und Indianern. Die Engländer beteiligten sich bereits das ganze 16. Jahrhundert über an der Fischerei im Nordatlantik, insbesondere an der Suche nach der Nordwestdurdifahrt. Aber erst die Vernichtung der spanischen Armada (1588) erlaubte ihnen, ihre Handelsinitiative unter voller Ausnützung der so günstigen geographischen Lage der britischen Insel zur Geltung zu bringen. Schon die großen Abenteurer und Piraten, Francis Drake, die beiden Halbbrüder Humphrey Gilbert und Walter Raleigh, versuchten im Kleinkrieg gegen Spanien an der atlantischen Küste Fuß zu fassen, die den zahlreichen englischen Fischern schon bekannt war. Doch mißglückten zunächst alle Versuche zu einer Kolonialgründung. Virginia mußte wieder aufgegeben werden (1602). Erst als die Virginia Company ins Leben trat, erfolgte 1607 die endgültige Landung mit der Gründung von Jamestown. Die erste britische Kolonie ist noch eine aristokratische Schöpfung. Merkwürdig an ihr ist, daß sie nach verschiedenen mißglückten Experimenten der Gesellschaft, sie politisch zu gestalten und aus ihr wirtschaftlichen Gewinn zu ziehen, zum Tabakbau überging, dem König direkt unterstellt wurde; jedoch waren nach englischem Vorbild bei der Verwaltung Vertreter der Kolonisten beteiligt.

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Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika

Der neue Geist, der die englische Kolonialpolitik trug, vermochte sich erst im 17. Jahrhundert zu entfalten. Die verhältnismäßig frühe Überwindung der feudalen Sozialstruktur in England erleichterte das Entstehen der großen, aus einer Verbindung von aristokratischen und bürgerlichen Elementen bestehenden Handelsgesellschaften, die dem Staat gegenüber eine große Selbständigkeit behaupteten und in mancher H i n sicht schon nach Art moderner Aktiengesellschaften organisiert •waren. Denn der Handel wurde von ihnen auf gemeinsame Rechnung und gemeinsames Risiko hin betrieben. Audi bestanden in England mannigfache Antriebe f ü r eine Auswanderung in größerem Umfange. Denn eine langandauernde Wirtschaftskrise brachte vielen Mensdien Arbeitslosigkeit, so daß sie zur Besiedlung in den Kolonien zur Verfügung standen. Auch kriminelle Elemente konnten auf diese Weise abgeschoben werden. Dazu kam nun die große Auseinandersetzung zwischen dem Puritanismus und der Staatskirche; die zu einem Kampf um die Macht zwischen Königtum und Parlament führte, so daß es 1642 zum offenen Bürgerkrieg kam. Dies war der Anlaß f ü r nicht wenige, sich eine neue Heimat zu suchen, in der sie ungehindert ihren religiösen und politischen Überzeugungen gemäß leben konnten. Da der englische Mittelstand seit langem gewöhnt war, in der Selbstverwaltung aktiv tätig zu sein, haben sich Gemeingeist wie auch individuelles Freiheitsbewußtsein stärker als auf dem europäischen Kontinent entwickelt. Bei dem Aufbau der englischen Kolonien wurden 3 Grundformen unterschieden. In den Kronkolonien blieb der König der Herr des Landes und ernannte die Beamten; in den Freibriefkolonien bestand ebenfalls königliches Obereigentum; die mit Freibriefen ausgestatteten Kolonien konnten jedoch auf dem ihnen zugesprochenen Gebiet Regierung und Verwaltung weitgehend selbständig regeln, solange sie nicht in Widerspruch zu den englischen Gesetzen gerieten. Die Eigentümerkolonien machten eine Persönlichkeit oder eine Familie zum Besitzer weiter Ländereien. Der König war der oberste Lehnsherr, dem meist eine nominelle Abgabe geleistet werden mußte. Im übrigen konnte der Eigentümer außerordentliche Befugnisse be-

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sitzen, selbständig Verfassung und Verwaltung ordnen, sogar eigene Truppen halten sowie Steuern und Zölle erheben. Bei der Eigentümerkolonie ist noch eine Nachwirkung der mittelalterlichen Feudalität erkennbar. Die Stellung der Eigentümer deckte sidi bis zu einem gewissen Grade mit derjenigen der Pfalzgrafen, die in Altengland zum Schutze der Marken verpflichtet gewesen waren. Aus der Plymouth Company ging 1620 der Rat von Neuengland hervor, der sidi das Verfügungsrecht über ein breites Küstengebiet verschaffte. Eine Gruppe von englischen Puritanern war 1606/07 nach den Niederlanden gegangen, wo sie völlige Religionsfreiheit genoß. Sie faßte den Plan, das Evangelium von Jesus Christus in den entfernten Teilen der Welt zu verbreiten. Mit Unterstützung einflußreicher Persönlichkeiten erhielten die Puritaner von Jakob I. gemeinsam mit anderen Auswanderungslustigen die Erlaubnis zur Ausfahrt. Finanziert wurde das Unternehmen durch die enge Verbindung mit Londoner Kaufleuten. Zunächst waren zwei Schiffe vorgesehen; aber nur die „Mayflower" führte das Unternehmen durch. Sie fuhr am 16. September 1620 ab und landete am 26. Dezember in Plymouth. Von den 102 Passagieren waren nur 30 „Pilgrimväter"; zum Schutz gegen die anderen, wenig zuverlässigen Personen schlossen diese und einige andere noch auf dem Schiff den Mayflower Compact (11. Nov.) mit der gegenseitigen Verpflichtung, sich in einer politischen Gemeinschaft zusammenzuschließen und dafür Gesetze zu entwerfen. Der Vertrag ist charakteristisch für den Willen zur Selbstverantwortung, den das englische Bürgertum als Erbe mitbrachte. Der Mayflower Compact ist daher, wenn auch mit einiger Übertreibung, als Geburtsstunde der amerikanischen Verfassung betrachtet worden. Die kleine Siedlung hatte mit außerordentlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, gab aber ein großes Beispiel für den Mut und die Zähigkeit, mit denen die Puritaner sich behaupteten. Plymouth ging sehr bald in der viel größeren Kolonie Massachusetts auf, die 1630 begründet worden war. Dieses Gebiet gehörte zur Interessensphäre des Rats von Neuengland. Eine Gruppe von Abenteurern sicherte sich jedoch im März 1629 einen Freibrief für die Massachusetts2 Geschichte der Vereinigten Staaten

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bay. Weit mehr als bei Plymouth kam bei dieser Gründung der bewußte Wille zur möglichst weitgehenden Selbständigkeit gegenüber dem Mutterland zum Ausdruck. Da die Lage sich für die Puritaner in England inzwischen sehr verschlechtert hatte, wurde die ganze Kompanie mit ihrer Charter nach Neuengland überführt. Gewissermaßen wanderte ein kleiner Staat aus. In kurzer Zeit kamen nicht weniger als 2000 Puritaner herüber. In rascher Folge sind dann die anderen neuenglischen Kolonien entstanden, teils durch Abwanderung von Massachusetts aus, oder durch Neugründungen. Der Geistliche Roger Williams, der in seinen Anschauungen seiner Zeit weit voraus war und sich an die Intoleranz in Massachusetts nicht gewöhnen konnte, verließ die Kolonie und begründete mit seinen Getreuen im Geiste unbedingter Duldsamkeit gegenüber anderen Religionsgemeinschaften Providence (1636), das sich zur Kolonie von Rhode Island erweiterte. Connecticut wuchs seit 1635 aus verschiedenen kleineren Siedlungen zusammen. Die „Fundamental Orders" von 1639 sind dadurch bemerkenswert, daß sie den Freien eine Mitwirkung an der Regierung garantierten. New Haven, 1637 begründet, ging 1665 in Connecticut auf. John Wheelwright, der aus Massachusetts verbannt wurde, siedelte 1638 als erster in New Hampshire. Maine kam 1668 unter die Jurisdiktion von Massachusetts. New Jersey wurde 1664 eine Eigentümerkolonie und 1702 in eine Kronkolonie umgewandelt. Die neuenglischen Kolonien hatten unter der puritanerfeindlichen Restauration in England zu leiden. 1684 hob Karl II. die Charter von Massachusetts auf; ein Teil Neuenglands wurde vorübergehend unter einem Gouverneur zusammengefaßt. Unter den mittleren Kolonien war Pennsylvania besonders wichtig. Der Eigentümer William Penn gehörte zur Quäkersekte, die zum Unterschied vom Puritanismus nicht nur die Bibel, sondern auch die innere Stimme als Offenbarung anerkannte. Penn erhielt 1681 ein großes Gebiet als Eigentum von Karl II., aus dem die nach ihm benannte Kolonie entstanden ist. Er war eine Persönlichkeit von hohen Idealen. U. a. hat er schon einen Völkerbund zur Sicherung des ewigen Friedens

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erträumt. Er gab seinem Lande mehrere Verfassungen, von denen die letzte die fortschrittlichste im Vergleich zu denen aller anderen Kolonien war, da sie den freien Eigentümern ein weitgehendes Mitbestimmungsredit einräumte und auf Toleranz gegenüber allen Religionsgemeinschaften beruhte. Die Indianer versuchte Penn durch humane Behandlung und durch streng eingehaltene Verträge zu gewinnen. Im übrigen war er als Organisator nicht gerade glücklich. In seiner Kolonie herrschten anfänglich viel Streit und Unordnung, auch hat sich Penn immer nur zeitweilig in Amerika aufgehalten. Weiter südlich entstand die Eigentümerkolonie Maryland (1634). Der Besitzer war George Calvert (Lord Baltimore). Er starb, bevor er die Kolonie in Besitz nehmen konnte; alle Rechte wurden an seinen Sohn Cecil übertragen. Es war der Wunsch von Vater und Sohn, den in England verfolgten Katholiken eine Freistätte zu schaffen, dodi mußte sich dieser zur Toleranz bequemen, da auch viele Protestanten einwanderten. 1663 gab Karl II. einer Gruppe von acht Günstlingen einen Freibrief, der die Carolinas ins Leben rief. Sie bekamen 1669 eine höchst eigenartige Verfassung, an der audi der englisdie Staatsphilosoph John Locke maßgeblich mitgearbeitet hat. Sie war fortsdirittlidi und aristokratisch, nidit ohne einen Einschlag von weltfremder Romantik, allzu künstlich, als daß sie sich lange halten konnte. Infolge der verschiedenen Bevölkerungszusammensetzung trennten sich die Carolinas 1719 in Nord- und Südcarolina; sie wurden Kronkolonien. Am spätesten ist Georgia begründet worden, nämlich erst unter den hannoverischen Königen (1732). 1752 wurde es eine Kronkolonie. Die Niederländer gingen während ihres Unabhändigkeitskampfes gegen Spanien am Ende des 16. Jahrhunderts zur überseeischen Kolonisation über. Der Schwerpunkt ihrer Unternehmungen lag in Indien. 1626 kauften sie den Indianern für einen Spottpreis die Halbinsel Manhattan ab und begründeten Neuamsterdam. Die Kolonie war eine Schöpfung des kaufmännischen Patriziats, ihr Handel war auf das Mutterland angewiesen. Der niederländische Calvinismus kannte nicht die herbe puritanische Strenge; die Bevölkerung von Neuamster2»

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dam war wohl konservativ, aber audi kosmopolitisch; Neuamsterdam, später New York, war ein Tor, das immer europäischen Einflüssen offen stand. Während der Handelskriege zwischen England und Holland wurde Neuamsterdam 1664 vom Herzog von York erobert. Die kleine schwedische Kolonie in der Delawarebucht (begründet 1637) wurde schon 1655 von den Holländern übernommen. Die Methoden, unter denen sich die Landverteilung vollzog, waren verschieden. In Neuengland war die in sich geschlossene „town" vorherrschend, d. h. das Land wurde nach Vermessung von einer Siedlungsgemeinschaft an die einzelnen Farmer verteilt, wobei man von vornherein Grundstücke für kirchliche und schulische Zwecke zurückbehielt. In den mittleren Kolonien war dagegen individuelle Landabgabe das Übliche; aber auch willkürliche Besitzergreifung (das Squattersystem) ließ sich nicht verhindern. Die Agrarverhältnisse in New York beruhten in der holländischen Zeit auf dem Großgrundbesitz; die „Patrone", die weitgehende Rechte hatten, verpachteten das Land; ein Anreiz für eine stärkere Einwanderung war damit nicht gegeben. Erst in der englischen Zeit bildete sich daneben auch mittlerer und kleinerer Besitz. Im Süden begünstigten die Produktionsverhältnisse von Anfang an die Großplantage, die dort rentabel war. Aber auch kleinere Farmer konnten sich daneben anfänglich gut behaupten; ihre allmähliche Zurückdrängung erfolgte erst wegen des Landhungers der extensiv betriebenen Großwirtschaften und infolge der zu teuren Arbeitskraft, da für jene die Kosten für Anschaffung von Sklaven zu hoch waren. Die meisten Kolonisten lebten im 17. und 18. Jahrhundert von der Landwirtschaft, die anfänglich mit primitiven Geräten betrieben werden mußte. In den nördlich gelegenen Kolonien konnte nur durch zähen Fleiß und große Sparsamkeit allmählich ein gewisser Wohlstand erreicht werden. Eine große Anzahl von Einwanderern fand aber von Anfang an in Handel und Gewerbe ihr Auskommen. Nicht nur mit dem Mutterland, sondern vor allem mit Westindien, wo neben den Holländern und Franzosen auch die Engländer die größten Inseln in Beschlag genommen hatten, entwickelte sich ein reger und oftmals illegaler Handel. Seit dem 18. Jahrhundert entstand in

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den nördlichen und mittleren Kolonien audi eine beachtliche Eisen- und Textilindustrie. In der sozialen Zusammensetzung der kolonialen Gesellschaft fehlte fast ganz der Geburtsadel, obwohl er als Geldgeber und Förderer in den Kompanien bedeutenden Einfluß besaß. Die Führung hatte die bürgerliche Mittelklasse. Da in England die gesellschaftlichen Grenzen fließend waren, gab es in dieser indes nicht wenige Persönlichkeiten, die über irgendeinen Titel verfügten oder mit der englischen Aristokratie verwandt waren. Die sogenannten „Kavaliere" des Südens dürfen weder ihrer Zahl noch ihrer Bedeutung nach überschätzt werden. Die Gesellschaft zerfiel in verschiedene Klassen, je nach Ansehen und Vermögen; der Hauptunterschied lag jedoch zwischen den Freien und Unfreien. Bis in das 18. Jahrhundert hinein haben die „verbundenen Knechte" (indenture) die Hauptlast der niederen Arbeiten auch im Süden getragen. Es waren dies Leute, die sich für eine Anzahl von Jahren zur Zwangsarbeit verpflichten mußten, um die Kosten für die Überfahrt zu decken. Von gewissenlosen Spekulanten und Schiffseigentümern schamlos ausgebeutet, wurden sie oft unter menschenunwürdigen Bedingungen nach dem neuen Kontinent befördert. Die Behandlung, die sie durch ihre Herren erfuhren, war sehr verschieden, gelegentlich sogar schlechter als die der Sklaven. Sobald sie jedoch die Freiheit erlangt hatten, konnten sie ohne weiteres in den Stand der freien Eigentümer übergehen. Die Versklavung von Eingeborenen hat sich weder im Norden noch im Süden auf die Dauer bewährt. Erst seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, nachdem das spanische Monopol gebrochen war, wurden von Westindien aus die Negersklaven importiert, die die soziale Struktur in den Pflanzerkolonien des Südens grundlegend veränderten, während sie sich für die Ackerbaukolonien des Nordens nicht eigneten, so daß es hier verhältnismäßig früh keine Sklaven mehr gab. Sehr bald kamen auch aus anderen europäischen Ländern Einwanderer in größerer Zahl, nachdem in England die Wirtschaftskrise aufgehört hatte und der Sieg des Puritanismus unter Oliver Cromwell sogar zu einer Rückwanderung, wenn auch nicht in nennenswertem Umfange, den Anstoß gab. Neben

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den Deutschen kamen katholisdie Iren, Iroschotten, d. h. nach Irland ausgewanderte Sdiotten, die der presbyterianischen Kirdie angehörten, Schweizer und audi Hugenotten nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685). Penn hatte den Deutschen Franz Daniel Pastorius für das Quäkertum und die Auswanderung gewonnen. Sehr viele Deutsche wanderten vom Rheinland und der Pfalz nach Pennsylvania an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert ein, aus dem Wunsch freier religiöser Betätigung, aber auch infolge der durch die Eroberungskriege Ludwigs XIV. verursachten wirtschaftlichen Nöte. Sie hatten am Aufbau Pennsylvanias einen großen Anteil; ihre geschlossenen Siedlungen erregten in der Mitte des 18. Jahrhunderts sogar vorübergehend die Besorgnis, daß diese Kolonie vorwiegend unter deutschen Einfluß geraten könne. Doch ist es eine reine Legende, daß sich die deutsche Sprache zu irgendeiner Zeit als gleichberechtigt oder gar führend hätte durchsetzen können. Das deutsche Element bildete auch in Pennsylvania niemals mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Die Einwanderer nichtenglischer Herkunft haben sich vielfach rasch assimiliert. Neuengland blieb von der Einwanderung aus anderen Ländern fast unberührt. Für die Loslösungsbewegung von England erlangten die späteren Zuwanderet nicht die ausschlaggebende Bedeutung, die man ihnen zugesprochen hat. So verschieden der Ursprung der einzelnen Kolonien gewesen war, so entwickelten sie doch im Lauf der Zeit gemeinsame Züge. Die englische Krone war darauf bedacht, die Eigentümerkolonien nach Möglichkeit wieder zu beseitigen (auch in Westindien gab es von diesen mehrere) oder die Vollmachten der Freibriefkolonien einzuschränken. Andererseits hat sich überall das Repräsentativsystem durchgesetzt. Dem Gouverneur stand ein Rat zur Seite, die Bevölkerung war in den Repräsentativversammlungen vertreten, die in den Kolonien verschiedene Namen führten. Von einer Demokratie im modernen Sinne konnte allerdings noch keine Rede sein, nur freie Eigentümer hatten ein Mitbestimmungsrecht, da nadi englischer Auffassung Freiheit und Verantwortung eng miteinander verbunden waren. Ohne Zweifel war der Kreis der Wahlberechtigten, wenigstens im Norden, breiter als im Mutterland, es fehlte vor allem das

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System der „verrotteten" Wahlflecken, das Wahlrecht war nicht an Grundeigentum gebunden. Die Redite waren unterschiedlich, in manchen Kolonien wurde z . B . der Gouverneur vom Rat, in anderen von der Bürgerversammlung gewählt, in den Kronkolonien allein vom König bestimmt. Erst seit dem 18. Jahrhundert zeichneten sich Vermögensuntersdiiede schärfer ab. Die reidigewordenen Kaufleute im Norden und die großen Pflanzer im Süden übernahmen mit der wirtschaftlichen audi die politische Führung. In den mittleren Kolonien war die Verteilung des Wohlstandes gleichmäßiger. Der Lebensstil blieb trotz der großen und komfortabel eingerichteten Häuser der Reichen, gemessen an späteren Zeiten, immer nodi sehr bescheiden. Im großen und ganzen befanden sidi jedoch die Kolonien bis zum Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges in einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung. Nach ihrer BodenbesdiafFenheit, nach Klima und dem Geist der Einrichtungen bildeten die neuenglisdien Kolonien eine Einheit. Diesen Kolonien vor allem gaben der Puritanismus und religiöse Sekten das eigentümliche Gepräge. Die Presbyterianer mit ihrer straffen Kirdienorganisation förderten Autorität und Ordnung. Der Geist der Independenten, der Freikirchen, die sidi zu Kongregationen zusammenschlössen, wirkte sich besonders günstig in der Selbstverwaltung aus. Die puritanische Religiosität, die eine absolute Unterordnung unter Gottes Willen verlangte und die moralischen Energien zur praktischen Betätigung hinleitete, befand sich zunädist in weitgehender Übereinstimmung mit den harten Erfordernissen der ersten Kolonialzeit. Denn es ging damals um die Begründung und Festigung von Kolonien gegen vielfache Widerstände, die sich aus der Ungunst der Natur, aus dem Kampf mit Indianerstämmen ergaben. Verzicht auf Annehmlichkeiten des Lebens war daher selbstverständlich. Die Ansiedler waren gewohnt, zu jeder Zeit dem Tod ins Auge sehen zu müssen, ihr Leben war ständig durch Krankheiten, Epidemien und durch die Kämpfe mit den Eigeborenen bedroht. Zum Schutz gegen die bald entstehende Indianergefahr schlossen sich die Kolonien Neuenglands zu einer Konföderation zusammen (1643), an der Grenze war für Männer wie für Frauen das Gewehr ebenso

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widitig wie das Ackergerät. Für den überzeugten Puritaner waren die Prüfungen leichter zu ertragen. Er stand unter dem Zwang einer dauernden Bewährung, die ihn zu einem entbehrungsreichen Dasein im Dienste Gottes verpflichtete. Denn was immer ihm an Leid und Sorgen auferlegt wurde, niemals durfte er mit Gottes Gerechtigkeit hadern, er hatte es als dessen Gebot oder als eigenes Verschulden aufzufassen. Von einer noch unter primitiven Verhältnissen lebenden, ganz auf die praktischen Bedürfnisse eingestellten Kolonialgesellschaft war nicht zu erwarten, daß sie dem kulturellen Leben die gleiche Pflege angedeihen ließ, wie es in der Alten Welt üblich war. Was im geistigen oder künstlerischen Bereich geschaffen wurde, zehrte noch von dem mitgebrachten Erbe. Aus dem Baustil, aus Volkskunst und Kunstgewerbe läßt sidi förmlich der damalige Kulturstand der europäischen Länder ablesen, aus denen die Einwanderer stammten. Audi f ü r die höhere Bildung war das englische, bzw. europäische Vorbild maßgebend. Der Puritanismus war f ü r die Pflege der N a t u r wissenschaften nicht ohne Verständnis. An der Harvard-Universität mit ihrem verhältnismäßig hohen Niveau wurde jedodi zunächst nur der theologisdie Nachwuchs ausgebildet; die Geistlichen waren in Neuengland die geistig führende Schicht. Die ästhetische Kultur kam zu kurz. Theater war streng verpönt. Religiöse Erbauungsbücher und historische Werke waren die bevorzugte Lektüre der Gebildeten. Auch in den vom Puritanismus nidit geprägten Kolonien stand das Interesse an der theologischen Diskussion im Vordergrund; die Quäker in Pennsylvania schenkten der Pflege des höheren Schulwesens sogar weniger Aufmerksamkeit als die Puritaner. Im Süden waren es in erster Linie die reichen Pflanzer, die eher Zeit und Muße hatten, sich mit geistigen und künstlerischen Angelegenheiten zu befassen. Von einer eigenständigen Kultur konnte auch hier noch keine Rede sein. In den dreißiger und vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts führte die „Große Erweckung" zur Auflockerung der kirchlichen Orthodoxie. Sie kam der Sehnsucht des Menschen entgegen, in ein persönliches Verhältnis zu Gott zu treten, mehr auf seine Liebe zu vertrauen als sich vor seinem Zorn zu

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fürchten. Viele Puritaner hatten sich nie so ganz mit dem Widerspruch abfinden können, daß Gott die Welt nach einem von Anbeginn an vorbestimmten Plan regierte und daß trotzdem der Mensch die volle Verantwortung für seine eigene Schuld tragen sollte. Die Seelennot, die sich hieraus ergab, trat bei Jonathan Edwards in ergreifender Weise in Erscheinung, der zu den bedeutendsten amerikanischen Theologen des 18. Jahrhunderts gehört. Audi die Aufklärung erfaßte jetzt einen Teil der Gebildeten, -wie in England geriet sie nicht in einen Gegensatz zum christlichen Glauben. Der Ubergang von der überaus pessimistischen Auffassung der Puritaner, daß die menschliche Natur von Grund aus verderbt sei, zum Fortschrittsglauben der Aufklärung war nicht so unvermittelt, wie man glauben sollte. Die Erklärung der Natur als einer mechanischen Bewegung brauchte den Glauben an einen überweltlichen Gott nicht zu erschüttern, der eben diese Bewegung geschaffen hatte und sie in Gang hielt. Gemeinsam blieb dem Puritanismus und der Aufklärung die Willensrichtung zur rationalen Lebensgestaltung, die Zweckgebundenheit des Denkens und Handelns, die moralische und erzieherische Tendenz. Der Pionier, der alles von der Zukunft erwartete, der eine sichtbare Fortentwicklung erlebte, vermochte jedoch nicht an der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens festzuhalten. Im Zeichen der Aufklärung bildete sich in Philadelphia unter Führung von Benjamin Franklin ein geistig regsamer Kreis. Franklin war eine ungemein vielseitige Persönlichkeit als Staatsmann, Erfinder, Denker und Schriftsteller. Das puritanische Erbe war bei ihm schon ganz säkularisiert; seine klugen Lebensregeln, die er seinen Mitbürgern gab, waren von der Überzeugung getragen, daß der Mensch durch unablässige Arbeit an sich selbst sich vervollkommnen, äußerlich und innerlich unabhängig werden und dadurch zum Glück gelangen könne. Zwei Kolonien haben ein sogenanntes „heiliges Experiment" unternommen: Massachusetts und Pennsylvania. Die Puritaner von Massachusetts waren von vornherein entschlossen, das Gemeinschaftsleben nach ihren religiösen und moralischen Grundsätzen zu ordnen. Sie schlossen von jedem Einfluß alle Mitbewohner aus, die in irgendeiner Hinsicht eine andere Linie

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verfolgten, nur die „godly men" sollten das Recht haben, sich in Staat und Kirdie führend zu betätigen. Der Gouverneur John Winthrop und der Prediger John Cotton, willensstarke Naturen, die zur Selbstherrschaft neigten, gingen so weit, daß sie die im Freibrief verbürgten Rechte der Freien einzuschränken versuchten, sie stießen hierbei allerdings auf heftigen Widerstand. Hier hat sich puritanischer Geist zeitweilig bis zur äußersten Konsequenz ausgewirkt, anders Denkende wurden rücksichtslos verfolgt, wie die mutige Anne Hutchinson, die die Gesetzesfrömmigkeit in der Kolonie angriff; für sie war das Vertrauen auf die göttliche Gnade und Liebe das Hauptanliegen. Sie wurde dafür verbannt. Einige Quäker wurden zunächst vertrieben und, als sie wieder zurückkehrten, gehängt, darunter sogar eine Frau (1660). Wie sehr noch diese Puritaner im düsteren Aberglauben ihrer Zeit befangen waren, zeigte 1692 die Hexenpsychose in Salem, die 19 Menschen das Leben kostete. Das erbarmungslose Vorgehen war ein letzter Versuch, die schon wankende theokratisdie Herrschaft zu stützen. Das ernste Bemühen der Puritaner verdient Achtung, uneingeschränkt nach alttestamentarischem Vorbild Gottes Willen zu erfüllen und jeden Tag für die Erlangung des Seelenheils zu Opfern und Entsagung bereit zu sein. Aber es war damit auch eine ständige Vergewaltigung der menschlichen Natur verbunden, die besonders bei der Kindererziehung erschreckend zutage trat, die bewußte Zurückdrängung spontaner Empfindungen, die Übersteigerung des Schuldgefühls, die ganze Generationen seelisch belastet haben. In anderer Weise bemühten sich auch die Quäker in Pennsylvania um die Errichtung des Reiches Gottes auf Erden, nur daß sie im Gegensatz zu den Puritanern das Ziel durch Liebe und Duldsamkeit zu erreichen hofften. Grundsätzlich widerstrebten sie der Anwendung von Gewalt, auch gegenüber ihren Feinden. Der Versuch mußte an den harten Tatsachen scheitern. Die Quäker verlangten nicht nur von ihren Glaubensgenossen, sondern auch von den übrigen Bewohnern Verzichtleistung auf ungezwungene Lebensfreude. Da die günstigen Klima- und Bodenverhältnisse und nicht zuletzt die tolerante Atmosphäre jedoch einem steigenden Wohlstand zugute kamen, so waren

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viele Einwohner um so weniger willens, besonders auch unter den eingewanderten Deutschen, sich diesen strengen Geboten zu fügen. Hinzu kam, daß durch Einwanderer anderer Gesinnung der Einfluß der Quäker Zusehens geschwächt wurde. Die Quäker hatten sich darum bemüht, die Eingeborenen freundlidi zu behandeln und mit ihnen Verträge abzuschließen. Aber es zeigte sich, daß diese Politik der Versöhnung an den harten Tatsachen zerbrach. Immer lauter wurden die Klagen der Grenzer, daß sie durch ihre Regierung nicht genügend gegen die Überfälle der Indianer geschützt würden. Auch die Quäkerregierung ist daher schließlich dazu übergegangen, sehr viel brutaler vorzugehen und sogar ebenfalls Prämien auf Skalpe zu setzen. Trotzdem führte die allgemeine Verbitterung unter den Siedlern dahin, daß bereits kurz vor dem Unabhängigkeitskrieg die Quäkerregierung gestürzt wurde. In Massachusetts und in Pennsylvania handelte es sich um extreme Experimente, aber sie sind deswegen erwähnenswert, weil der starke Einfluß religiöser und damit verbundener moralischer Anschauung auf die Bildung der amerikanischen Demokratie nicht unterschätzt werden darf. 2. Kapitel Der Unabhängigkeitskrieg Von Anfang an war das Verhältnis der Kolonien zum Mutterland nidit frei von Spannungen; ausgeprägtes englisdies Freiheitsbewußtsein entwickelte sich in den Kolonien selbständig fort. Zwischen den königlichen Beamten und den Kolonisten kam es immer häufiger zu ernsten Zusammenstößen. Der englische König und das Parlament waren zu weit entfernt, als daß das redite Verständnis für die eigenartigen Institutionen auch in der Neuen Welt vorhanden sein konnte. Es fehlte vor allem die Tradition, um das Loyalitätsgefühl zum Mutterland auf die Dauer zu erhalten. Zwischen den einzelnen Kolonien bestand noch wenig Zusammengehörigkeitsgefühl; die außerordentlich schlechten Wege und der Mangel an geeigneten Transportmitteln erschwerten den Verkehr untereinander; jede einzelne Kolonie konnte sidi nur nadi ihren besonderen Lebens-

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bedingungen entwickeln. So lange es um die grundsätzliche Entscheidung, um die Vorherrschaft in Nordamerika ging, waren die Kolonisten interessenmäßig eng an das britische Imperium gebunden, sie konnten daher aus einer schon mehr oder minder vorhandenen oppositionellen Einstellung keine letzten Folgerungen ziehen. Als Spanien seine führende Stellung verlor, waren in Nordamerika England und Frankreich die Hauptrivalen. Alle Kriege, die die Briten gegen die französische Hegemonie in Europa geführt haben, wirkten sich auch auf Nordamerika aus, konfessioneller Fanatismus hielt sich dort länger als in Europa. Die Indianerpolitik der Kolonisten war ein trübes Kapitel. Die Franzosen haben sich mehr um die Missionierung der Eingeborenen bemüht als die unter puritanischem Einfluß stehenden englischen Kolonien. Es blieb jedoch bestehen, daß sich beide Seiten um die Rechte und Sitten der Eingeborenen nicht kümmerten. Von einem bewußten Völkermord zu sprechen geht zu weit. Die Indianer in Nordamerika waren, wie bereits erwähnt, an Zahl zu schwach, um sich behaupten zu können. Weit mehr als durch kriegerische Ereignisse sind sie durch die Begegnung mit den Weißen, vor allem durch Alkohol sowie eingeschleppte Bazillen, dezimiert worden. Rücksichtslos haben die Einwanderer alle Gebiete der Eingeborenen f ü r sich beansprucht und sie aus ihren Jagdgründen vertrieben. N u r die Quäker haben zunächst noch mit ihnen eine Art von Kaufverträgen abgeschlossen. Überfälle der Eingeborenen wurden auf das blutigste vergolten; die Engländer und die Franzosen haben die untereinander verfeindeten Indianerstämme für ihre Kriegführung gewissenlos ausgenützt, sie sind so weit gegangen, Prämien auf deren Skalpe auszusetzen, f ü r ihre Höhe wurde zwischen Männern, Frauen und Kindern untersihieden. Die Engländer haben sogar gelegentlich den Versuch unternommen, die Eingeborenen durch verseuchte Tücher mit Krankheiten anzustecken. Die englischen und französischen Interessensphären überschnitten sich in Akadien, Neufundland, an der Hudsonbay und in Louisiana, später kam auch noch das Ohiotal dazu. Die Entscheidung in Nordamerika fiel in dem Kriege, der in Amerika

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zwischen Engländern und Franzosen bereits 1755 begann und seit 1756 in Europa unter der Bezeichnung „Siebenjähriger Krieg*' bekannt geworden ist. Die anfänglichen großen Siege Friedrichs des Großen waren f ü r die Engländer, die sich zunächst in Amerika in einer kritischen Lage befanden, eine willkommene Entlastung. In diesem Kriege wurde auf drei Kontinenten die Entscheidung zwischen England und Frankreich um die Vorherrschaft ausgetragen und das Schicksal Kanadas besiegelt, da die Franzosen, ungenügend vom Mutterland unterstützt, zahlenmäßig zu schwach waren, um den englisdien Truppen und kolonialen Milizen, trotz der hervorragenden Kriegstüchtigkeit der französischen Soldaten, auf die Dauer gewachsen zu sein. Es gelang dem jungen englischen General James Wolfe, durch einen überraschenden nächtlichen Aufstieg auf die Höhe von Abraham die Kapitulation von Quebec herbeizuführen (18. September 1759). Seit 1760 war ganz Kanada erobert. Im Frieden von Paris (10. Februar 1763) mußten die Franzosen Kanada aufgeben, behielten aber ihre westindischen Besitzungen und Fischereirechte in Neufundland. Louisiana verloren sie an Spanien. Seit dem Kriege hatten sich die Beziehungen zwischen den amerikanischen Kolonien und dem Mutterland ständig verschlechtert. Was waren die Gründe? Die Kolonisten hatten das Gefühl der Bedrohung verloren, die von den Franzosen und von den mit diesen verbündeten Indianerstämmen immer wieder ausgegangen war. Es ist deshalb auch als Fehler bezeichnet worden, daß die Engländer anstatt Kanada nicht FranzösischWestindien nahmen, da der illegale Handel, den Neuengland noch während des Krieges mit den Zuckerplantagen betrieb, der englischen Handelspolitik zuwiderlief. Aber auf weite Sicht war Kanada doch bei weitem wichtiger; die Erwerbung entschied die englische Vorherrschaft und den Sieg des Protestantismus in Nordamerika. Die britische Regierung traf nun auch einige Maßnahmen, die die Kolonisten als nicht vereinbar mit ihren Interessen empfanden. Durch die Proklamation vom 7. Oktober 1763 wurde das Niemandsland zwischen den Alleghenies und Kanada von jeder weiteren privaten Besitzergreifung ausgenommen, mit der Absicht, f ü r die Indianer

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hier ein staatlich geschütztes Reservatgebiet zu schaffen. Da die englischen Kolonisten gerade im Begriff waren, ihre Siedlungen über die Alleghenies hinaus auszudehnen, fühlten sie sich unmittelbar betroffen. Durch die Quebecakte vom 20. Mai 1774 wurde Kanada, territorial vergrößert, als eine Art von Militärprovinz organisiert; die englischen Kolonisten nahmen besonderen Anstoß an der bevorzugten Stellung, die den französischen Katholiken in dem Gesetz eingeräumt wurde. Auch waren Reibungsflächen wirtschaftlicher Natur mehr als genug vorhanden. Nach den Anschauungen des merkantilistischen Zeitalters war es den Kolonien nicht erlaubt, einen freien Handel zu treiben und eigene Industrien zu entwickeln, wenn sie denen des Mutterlandes Konkurrenz machen konnten. Dodi waren die zahlreichen auf diesem Gebiet seit der Navigationsakte (1651) getroffenen Maßnahmen nicht so streng durchgeführt worden, wenigstens nicht in Neuengland, als daß hieraus für die Kolonien ein unerträglicher Druck entstehen konnte. Erst als im 18. Jahrhundert die englische Regierung dazu übergegangen war, durch eine Anzahl von Verboten bestimmte Industriezweige in den Kolonien lahmzulegen, bzw. einen direkten Handel mit Westindien zu unterbinden, wurden die Beschränkungen als immer lästiger empfunden. Doch waren im großen und ganzen den Kolonien aus dem merkantilistischen System keine allzu großen Nachteile erwachsen, es überwogen vielmehr die Vorteile, die sich aus der Ausschaltung der holländischen, der spanischen und der französischen Rivalität ergeben hatten. Viel wichtiger war es, daß das Britisdie Imperium eine tiefgehende Wandlung durchmachte. Es war aus einer bloßen Handelsorganisation in den Kämpfen gegen Frankreich eine politische Schicksalsgemeinschaft geworden besonders während des Siebenjährigen Krieges hatte der ältere Pitt sich zum Anwalt des Machtgedankens aufgeworfen. Infolge der großen Verschuldung, die während des Krieges eingetreten war, bestand im Mutterland der begreifliche Wunsch, einen Teil der Lasten auf die amerikanischen Kolonien zu legen. Sie sollten überhaupt mehr als bisher in die gemeinsame Verantwortung hineingezogen werden.

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Infolgedessen bestand kaum noch die Möglichkeit eines dauernden Ausgleichs. Die Kolonien fühlten sich nicht mehr als abhängige Glieder des Imperium, sondern schon als eigenständige Gemeinwesen. Der Freiheitssinn der Bewohner, ihr regionales Denken widerstrebten jeder stärkeren Bindung. Im Gegenteil, die Wünsche zielten auf noch größere Selbständigkeit hin. Es kamen soziale Spannungen hinzu, die sich in England selbst gegen die kleine aristokratische Clique im Parlament auswirkten, die unter dem korrumpierenden Einfluß Georgs III. stand, wie in den Kolonien die dort maßgebende begüterte Klasse vom kleinen Mann bekämpft wurde. Bei den Farmern herrschte große Erbitterung gegen die britischen Kaufleute, die sich durch Landspekulationen bereichert hatten. Der Wille zum völligen Bruch war zunächst nur bei einer kleinen Minderheit vorhanden, aber in den Kolonien verbreitete sich mehr und mehr das Gefühl, daß die Zukunft ihnen Möglichkeiten bot, deren Verwirklichung das Mutterland eher hindern als fördern würde. Sicherlich rissen die schweren Fehler der englischen Regierung die bereits bestehende Kluft in verhängnisvoller Weise immer weiter auf; umsonst haben die großen Whigs, Pitt und Edmund Burke, im englischen Parlament ihre warnende Stimme erhoben und den Widerstand der Kolonien in erster Linie aus dem hochentwickelten englischen Freiheitsbewußtsein zu deuten versucht, das geschont werden müsse. Trotzdem ist der Zweifel erlaubt, ob die Loslösung der Kolonien auf die Dauer zu vermeiden war, ob nicht deren Eigenentwicklung schon zu weit fortgeschritten war, um ein Verbleiben im Britischen Imperium als natürlich erscheinen zu lassen. Der Streit um die Besteuerung ging um das von den Kolonien geprägte Schlagwort: keine Besteuerung ohne Repräsentation. Nach ihrer Auffassung waren sie im britischen Parlament nicht vertreten, während die Engländer den Standpunkt einnahmen, daß eine individuelle Vertretung nicht notwendig sei, da es auch in England nur eine korporative gebe. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten zwischen Tories und Whigs war sich das englische Parlament darin einig, daß es die oberste Souveränität auch über die Kolonien in Anspruch nehmen dürfe, während die Kolonien nur noch die Unterstellung unter die Krone und

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ein ausschließliches Besteuerungsrecht durch ihre eigenen Körperschaften anerkannten. Das von der englischen Regierung erlassene Stempelsteuergesetz (1765) betraf alle Arten von Papieren, besonders audi Beurkundungen, so daß die zahlreichen und einflußreichen Anwälte, die nicht zuletzt von notariellen Beglaubigungen lebten, das Gesetz scharf kritisierten. Die Stimmung wurde durch eine Rede angeheizt, die der geschickte Demagoge Patrick Henry in der virginischen Bürgerversammlung hielt. In ihr kam die berühmt gewordene Wendung vor: „Cäsar hatte seinen Brutus, Karl I. seinen Cromwell und Georg III. . . . (Zwischenruf Verrat) möge aus ihrem Beispiel lernen. Wenn dies Verrat ist, machen Sie möglichst viel daraus" (29. Mai 1765). Von vornherein übernahm Neuengland die geistige Führung des Widerstandes und vor allem Massachusetts, dessen aufsässiger Geist dem Mutterland von jeher Sorge bereitet hatte. Es war folgenreich, daß auch im Süden große Unzufriedenheit herrsdite; die Pflanzer erhoben schwere Vorwürfe gegen die englischen Kaufleute, die aus dem Zwischenhandel unberechtigten Gewinn gezogen hatten. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wurde die Stempelsteuer schon im nächsten Jahr zurückgenommen. Mit großer Mehrheit gab jedoch gleichzeitig das britische Parlament die Erklärung ab, daß es befugt sei, auch den Kolonien Gesetze zu geben. Der neue Kanzler des Schatzamtes, Charles Townshend, versuchte, die Schwierigkeiten zu umgehen, indem er innere und äußere Besteuerung unterschied; er glaubte, daß die letztere für die Kolonien annehmbar sein würde. Es wurden nunmehr Zölle auf die Einfuhr von Glas, Leder, Papier und Tee gelegt (29. Juni 1767). Die Reaktion war jedoch wieder äußerst heftig. „Die Söhne der Freiheit" waren radikal eingestellt, ihr Kampf galt nicht nur der englischen Regierung und ihren Organen, sondern gleichzeitig der begüterten Klasse. Der Führer war Samuel Adams. Die englischen Waren wurden boykottiert, es kam zum ersten blutigen Zusammenstoß, einige Zivilisten wurden getötet, der Zwischenfall ist in die Geschichtsschreibung als „Boston Massacre" eingegangen (5. März 1770). Kurz darauf wurde die Townshendakte dahin eingeschränkt, daß nur der Zoll auf Tee bestehen

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blieb. Die Stimmung schien sich zunächst zu beruhigen, der Boykott wurde praktisch aufgegeben. Erst das Teegesetz vom 10. Mai 1773 hat dann die Revolution ausgelöst. Die Ostindische Gesellschaft stand vor dem Bankrott und erhielt nunmehr das Recht, ihren Tee direkt nach den Kolonien zu verkaufen. An und für sich führte das zur Verbilligung des Tees, aber die zahlreichen Schmuggler wurden hart getroffen, so daß der Aufstand von neuem aufflammte. Die Radikalen erzwangen einen völligen Boykott des von der Gesellschaft eingeführten Tees, und als eine Teeladung in Boston eintraf, warfen 50—60 junge Leute, als Indianer verkleidet, den Tee über Bord; während die zahlreichen Zuschauer sich passiv verhielten (Tea Party, 16. Dezember 1773). Dieses Mal traf die Regierung energische Maßnahmen. Nach der Schließung des Hafens von Boston wurden die Freiheiten der Kolonien eingeschränkt, insbesondere diejenigen von Massachusetts, und Häuser für militärische Zwecke beschlagnahmt. Vom 5. September bis 26. Oktober 1774 tagte der erste Kontinentalkongreß in Philadelphia; zwölf Kolonien waren vertreten. Es wurden sehr scharfe Resolutionen gefaßt, u. a. empfohlen, eine eigene Miliz zu bilden und ökonomische Sanktionen gegen England zu proklamieren. Am 19. April 1775 war es bei Lexington und Concord in der Nähe von Boston zu blutigen Zusammenstößen gekommen. Noch gab es auf dem zweiten Kontinentalkongreß, der am 10. Mai zusammentrat, eine starke Opposition gegen den offenen Bruch. Aber die notwendigen Vorbereitungen wurden getroffen, die vorhandenen Truppen übernommen, verstärkt und Washington zum Oberbefehlshaber ernannt. Es war dies ein sehr geschickter Schachzug von Samuel Adams, um den konservativen Süden zu gewinnen. Auch nach dem Gefecht von Bunker Hill bei Boston (17. Juni) fiel noch nicht gleich die Entscheidung. In diesem Augenblick hat das Erscheinen der Kampfschrift von Thomas Paine „Common Sense" (15. Januar 1776) eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung ausgeübt. Paine, ein englischer Radikaler von fragwürdiger Vergangenheit, der später nach seiner Rückkehr nach England den kläglich Î

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gescheiterten Versuch unternommen hat, auch dort nach dem Beispiel Frankreichs eine Revolution zu entfachen, erinnerte die britischen Kolonisten daran, daß die neue Welt eine Zuflucht f ü r die verfolgten Freunde der bürgerlichen und religiösen Freiheit sei, die England im Begriff stehe preiszugeben. Er gab der vorherrschenden Stimmung Ausdruck, daß das Mutterland niemals die völlig freie Entwicklung seiner Kolonien dulden werde und daß diese in der Lage seien, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Trotz vieler Plattheiten, die die Flugschrift enthielt, kam sie im psychologisch rechten Augenblick. Am 12. Juni 1776 verkündete Virginia die Menschenrechte, die ihrem Sinn nach später in die Unabhängigkeitserklärung übergingen. Der Kongreß bestellte ein Komitee, dem Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, John Adams, Robert Livingston und Roger Sherman angehörten. Der eigentliche Verfasser der Unabhängigkeitserklärung war jedoch Jefferson, die anderen Komiteemitglieder haben nur geringfügige Änderungen angebracht. Das Plenum beanstandete zwei Stellen. Die eine, die die Sklaverei verurteilte, mußte aus Rücksicht auf den Süden fallengelassen, die andere, die eine Anklage gegen das englische Volk enthielt, gleichfalls aufgegeben werden. Aus juristischen wie propagandistischen Gründen sollte der englische König nunmehr als der allein Schuldige dastehen, der vorher des öfteren um Sdiutz gegen das Parlament gebeten worden war. Die Legende, daß die Monarchie grundsätzlich ein Feind der persönlichen Freiheit sei, nahm von hier aus ihren Ursprung und ging in die amerikanischen Schulbücher über. Die Unabhängigkeitserklärung (4. Juli) zerfällt in drei Teile. Im ersten Teil werden die bedrohten unveräußerlichen Menschenrechte auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück zur moralischen Rechtfertigung der Rebellion angeführt. Es ist der Geist der englischen Aufklärung, der hier seinen klassischen Ausdruck findet; mit ähnlichen Gedankengängen hatte schon John Locke die glorreiche Revolution von 1688—1689 gestützt. Im zweiten Teil werden dann die gegen den König erhobenen Vorwürfe einzeln aufgeführt; die Tyrannei des Königtums konnte so wirkungsvoll dem Freiheitswillen der Kolonisten gegenübergestellt werden. Der dritte Abschnitt schließlich enthält die

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eigentliche Unabhängigkeitserklärung. Die von Jefferson gewählten Formulierungen waren so glücklich und allgemein verständlich, sie entsprachen so sehr der herrschenden Zeitstimmung, daß die Unabhängigkeitserklärung nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa einen begeisterten Widerhall fand, ganz besonders in Frankreich am Vorabend der Großen Revolution. Rein äußerlich betrachtet, schien der Kampf der dreizehn Kolonien gegen das britische Mutterland ein Wagnis zu sein. Die Gesamtbevölkerung betrug zwischen 2 und 3 Millionen; die Aufständischen verfügten über keine ausgebildeten Truppen und nur über wenige Offiziere, die im englischen Militärdienst gestanden hatten. Sie besaßen auch keine Kriegsschiffe. Aber die Kolonien hatten einen großen Vorteil für sich: den weiten Raum; der Neuengländer John Adams, der spätere Präsident, hatte Recht mit seiner Ansicht, daß auch infolge der Natur und räumlichen Ausdehnung des Landes die Sache des Volkes unüberwindlich sein werde. Hinzu kam nun, daß die Gesamtstärke der englischen Truppen bei Ausbruch der Revolution nur etwa 16 000 Mann betrug, der Antransport zeitraubend und die Regierung überdies genötigt war, Hilfstruppen aus Deutschland anzuwerben. Die Soldatenverkäufe deutscher Fürsten waren ein trauriges Kapitel der Kleinstaaterei; Schiller hat diese Zustände in „Kabale und Liebe" scharf gegeißelt. Friedrich der Große erlaubte den Durchmarsch der angeworbenen Truppen durch seine Länder nicht. Von diesen Söldnertruppen war nicht zu erwarten, daß sie sich mit großer Begeisterung für die englische Sache schlugen. Ein Teil der „Hessen" ist später im Land geblieben. Die Engländer setzten auch ihre indianischen Verbündeten ein; die von diesen begangenen Grausamkeiten haben noch bis tief in das 19. Jahrhundert hinein in Amerika die Stimmung gegen Großbritannien vergiftet. Die Engländer rechneten mit der wirksamen Unterstützung ihrer zahlreichen Freunde in den Kolonien. Zahlenmäßig dürfen die Loyalisten nicht unterschätzt werden, 60 000 von ihnen sind später ausgewandert; sicherlich besaß England noch Hunderttausende von Anhängern, die sich über das ganze Land verteilten. O f t war es das konservative Besitzbürgertum wie in New York und Penn-

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sylvania, das mit den Engländern sympathisierte, aber audi viele andere, die mit ihren Gefühlen und Interessen an das Mutterland gebunden waren; im Süden waren es gerade kleine Leute, die ihre eigene Oberschicht mehr fürchteten als die königlichen Beamten. Wirklich nützlich konnten sie England nicht werden, da sie in einzelne Gruppen zerfielen; den Patrioten galten sie als Gefahr, sie wurden als Verräter angesehen, man ging gegen sie mit terroristischen Mitteln vor, wobei das sogenannte „Teeren und Federn" üblich war. Wären die Kolonien eine zu allem entschlossene Gemeinschaft gewesen, hätten sie die britisdie Regierung früher zur Einsicht bringen können, daß es sich nicht um eine bloße Rebellion handelte. Dies war jedoch durchaus nicht der Fall. Die Konföderation war nur ein lockerer Bund; eifersüchtig wachte jede Kolonie über ihre Selbständigkeit; Truppen, Kriegsmaterial und Geld waren daher vom Kongreß nur schwer zu beschaffen. Hinzu kam, daß die Opferbereitschaft der Bevölkerung sehr zu wünschen übrig ließ. Die Armee wurde dauernd durch den Ablauf von Dienstverpflichtungen und Desertionen geschwächt. Die Moral der Soldaten war vielfach nicht gut, da ihr entbehrungsreiches Leben in einem schroffen Gegensatz zu dem angenehmen Dasein vieler Zivilisten stand, die sich durch Kriegsgewinne zu bereichern vermochten. Unter diesen Umständen war es ein besonderes Glück, daß ein Mann wie George Washington die Armee führte. Geboren in Bridges Creek, Virginia, 22. Februar 1732, hatte er sich als Führer der virginisdien Milizen an der Grenze und als Offizier im Siebenjährigen Krieg ausgezeichnet. Durch die Erbschaft von Mount Vernon und durdi seine Freundschaft mit Lord Thomas Fairfax war er in die virginisdie Oberschicht hineingewachsen, seine Lebensweise blieb jedoch einfach. Erst als Präsident legte er auf repräsentative Formen Wert. Von Natur aus mit einem starken Temperament ausgestattet, hatte er sich zu einer außerordentlichen Selbstbeherrschung erzogen, so daß er eine natürliche Überlegenheit anderen Menschen gegenüber besaß. Es hat bessere Feldherren gegeben als Washington, besonders bei Angriffsoperationen war er nicht sonderlich glücklich. Aber er hatte die hervorragende Eigenschaft, daß ihn audi schwere Rückschläge niemals beugen

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und aus dem Gleichgewicht zu bringen vermochten. Nicht ohne Ehrgeiz, stellte Washington die Sache über den persönlichen Vorteil, so daß er z.B. auf das Gehalt als General verzichtet hat. Es war nicht leidit, ihm nahe zu kommen, er flößte jedoch unbedingtes Vertrauen wegen der Integrität seines Charakters ein, jedwede Intrige war ihm verhaßt. Washington vertrat bereits die amerikanische Nation der Zukunft, als das Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Mitbürger noch schwach entwickelt war. Seine Aufgabe war so schwierig wie nur möglich. Die eigentlichen militärischen Operationen waren der geringere Teil seiner Sorgen; schwerer wog der zermürbende Kampf gegen Widerstände anderer Art, die Auseinandersetzung mit dem Kongreß, den er unablässig mit seinen Forderungen bedrängen mußte. Bittere Erfahrungen blieben ihm nicht erspart. Er hatte unter gehässigen Angriffen auf seine Person zu leiden; einer seiner besten Generäle, Benedict Arnold, dem er unbedingt vertraut hatte, ging 1780 zum Feinde über. Die ersten Kriegsjahre verliefen daher durchaus nicht sonderlich glücklich für die Kolonien. Wohl sahen sich die Engländer genötigt, Boston zu räumen. Aber ein Vorstoß der Aufständischen gegen Kanada scheiterte vollständig. Am 15. September 1776 landete der englische General William Howe in Long Island, so daß das wichtige New York von den Aufständischen geräumt werden mußte, wo die überwiegend holländische Bevölkerung loyal blieb. Durch einen Erfolg Washingtons bei Trenton am zweiten Weihnachtstag wurde der Druck auf Pennsylvania gemildert, so daß der Kongreß nach Philadelphia zurückkehren konnte. Aber auch 1777 war die Situation zunächst kritisch; die Engländer waren in Maryland gelandet und drangen nach Pennsylvania vor, so daß Philadelphia erneut von ihnen besetzt wurde. Erst im Herbst erzielte der General Arnold einen großen Erfolg. Die Engländer waren unter dem Kommando des Generals John Burgoyne nach der Hudsonbay vorgestoßen und mußten, von der Zufuhr abgeschnitten, am 17. Oktober bei Saratoga kapitulieren. Dieser Sieg brachte letzten Endes das Bündnis mit Frankreich. Zunächst aber hatte Washington einen sehr schweren Winter im Lager von Valley

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Forge (Pennsylvania) zu überstehen. Seine Truppen waren durch Krankheiten, Ablauf zeitlich befristeter Dienstverpfliditungen oder Desertionen stark zusammengeschmolzen. Es fehlte am Notwendigsten, vor allem an Schuhen; die Disziplin war äußerst mangelhaft, es waren keine geeigneten Offiziere vorhanden, die in der Lage gewesen wären, die Grundausbildung zu übernehmen. In dieser ernsten Krise hat ein ehemaliger preußischer Offizier, Friedrich Wilhelm von Steuben, Washington und dem jungen Amerika große Dienste geleistet. Unter Friedrich dem Großen übte er die Funktion eines Generalstabsoffiziers aus; aus unbekannten Gründen entlassen, nahm er verschiedene Stellungen an und wurde schließlich von Frankreich aus, das die Sache der Aufständischen im Geheimen unterstützte, als Freiwilliger nach Amerika gesandt. Sein Rang, seine Verdienste wurden absichtlich von Franklin und der französischen Regierung sehr übertrieben, um ihm einen guten Empfang zu sichern, er wurde von Washington mit Freuden aufgenommen und sofort zum Generalinspekteur ernannt. Trotz der für ihn so ungewohnten Verhältnisse gelang es Steuben erstaunlich rasch, sich durch seinen Gerechtigkeitssinn, seinen kameradschaftlichen Geist und urwüchsigen Humor Vertrauen zu erwerben. In kurzer Zeit förderte er durch Aufstellung einer Musterkompanie Disziplin und Ausbildung; sein Exerzierreglement ist noch für lange Zeit in der amerikanischen Armee maßgebend gewesen. Nach dem Ende des Krieges befand er sich nicht ohne eigenes Verschulde^· ständig in Geldsorgen. Als die falschen Angaben über seine frühere Stellung bekannt wurden, gewährte ihm der Kongreß nicht die Pension in der von ihm geforderten Höhe. Die Steubengesellschaft ehrt noch immer sein Andenken. Das Bündnis mit Frankreich, das am 6. Februar 1778 zustande kam, entschied den Krieg zugunsten der Kolonien. Es kam im richtigen Augenblick zustande, da Geldentwertung und gesunkene Moral kaum noch auf einen durchschlagenden Erfolg hoffen ließen. Kriegsmaterial war schon früher geliefert worden, und französische Offiziere befanden sich bei den Aufständischen, unter ihnen Joseph Marquis de Lafayette, den eine persönliche Freundschaft mit Washington verbinden sollte und

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der seine Begeisterung für das republikanische Amerika nach Frankreich zurückbrachte, wo er in den Revolutionen eine sehr bedeutende, wenn auch nicht immer glückliche Rolle spielen sollte. Das Hauptverdienst am Zustandekommen des Bündnisses gebührt Franklin, der schon 1776 mit anderen als Bevollmächtigter nach Paris geschickt worden war. Er nützte das große Ansehen aus, das er als Hauptvertreter der amerikanischen Aufklärung in der geistigen Welt besaß; seine Beliebtheit in den Pariser Salons hat viel dazu beigetragen, die Beziehungen enger zu gestalten. Ausschlaggebend war jedodi, daß sich Frankreich für die Niederlage im Siebenjährigen Krieg zu rächen wünschte. Es war die Ironie des Schicksals, daß das ancien régime einen Staat aus der Taufe hob, der aus dem Geist der Aufklärung hervorging, die dessen Untergang besiegeln sollte. Englands Lage wurde nun sehr schwierig, da 1779 auch Spanien, etwas später Holland, den Krieg erklärten. Unter der Führung Katharinas II. bildete sich ein Neutralitätsbund des europäischen Nordens und Ostens zum Schutze des Privateigentums auf hoher See (1780). Die vereinigten Flotten Frankreichs und Spaniens beherrschten vorübergehnd den Kanal; Gibraltar wurde bedroht; Aufstände in Irland und Indien schwächten zusätzlich die britische Kampfkraft in Amerika. Trotzdem hat sich der Krieg noch hingesdileppt, da Georg III. und seine Minister nicht nachgeben wollten. Im Süden konnten die Engländer auch noch beträchtliche Erfolge erzielen. Erst die Kapitulation von Yorktown unter dem englischen General Charles Marquis Cornwallis mit 7000 Mann, durch kombinierte Land- und Seeoperationen herbeigeführt, brachte die englischen Machthaber zu der Überzeugung, daß der Krieg verloren sei (19. Oktober 1781). Der Frieden von Versailles wurde erst am 3. September 1783 abgeschlossen. Die Niederlage bedeutete das Ende der Selbstregierung Georgs III.; die Whigs kamen in Führung. Für Großbritannien war die Katastrophe jedoch nicht so groß, wie sie anfänglich zu sein schien, Kanada war behauptet worden. Auch zeigte sich bald, daß die bereits in Indien erreichte Position den Aufbau eines neuen Weltreichs ermöglichte, das sich weit dauerhafter als das erste erweisen sollte.

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3. Kapitel Krise und Konsolidierung Der neue Staat, der aus dem Unabhängigkeitskampf hervorging, befand sich noch für Jahrzehnte in einer ungemein schwierigen inneren und äußeren Lage. Seine staatliche Selbständigkeit bedeutete noch keineswegs, daß auch das nationale Selbstbewußtsein schon stark ausgeprägt war. Auch blieb noch für lange Zeit die wirtschaftliche Abhängigkeit von England bestehen. Ohne das Vorhandensein einer verbindlichen politischen Tradition mußten die gefährlichen Klippen umschifft werden, die sich aus dem großen Ringen zwischen England und Frankreich im Zeitalter der französischen Revolution und Napoleons I. ergaben. Als die Beratungen über die Verfassung begannen, war das Ansehen der Konföderation infolge der völligen Geldentwertung auf einen Nullpunkt gesunken. Die ehemaligen Kolonien vertraten nun audi im Verhältnis zu der zu schaffenden Bundesgewalt die gleichen Grundsätze, die zum Kampf gegen das Britisdie Imperium geführt hatten; sie wünschten weitgehende Autonomie. Hinzu kam der Druck, der von den unteren Volksschichten ausging. Der kleine Mann hätte die in Gang gekommene soziale Revolution gerne weiter getrieben, als dies im Interesse der führenden Klasse lag. Sie war in ihrem Einfluß wohl geschwächt, da viele unter den Begüterten nach Kanada ausgewandert waren und der Grundbesitz der verbleibenden Loyalisten konfisziert wurde. Es gab jedoch eine große Anzahl von Menschen, die in erster Linie den Schutz des Privateigentums wünschten. In manchen Kolonien waren keine wesentlichen Veränderungen eingetreten, in anderen freilich, wie in Pennsylvania, machte sich der demokratische Geist stärker geltend. Jedoch hatten die Gemäßigten in der konstituierenden Versammlung das Heft in der Hand; die Radikalen hatten sich bei der Wahl nicht durchgesetzt. Es war der Unterschied zur französischen Revolution, daß hier von vornherein das Besitzbürgertum die tatsächliche Macht ausübte, während sie von diesem in Frankreich erst nach Rückschlägen erkämpft werden mußte.

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Die Verhältnisse in den unabhängig gewordenen Kolonien waren sehr verschieden, aber im großen und ganzen herrschte doch viel Unruhe und Unzufriedenheit im Lande. Das Wirtschaftsleben lag ganz darnieder, zum großen Teil im Zustand von Anarchie. Der Aufstand gegen das Mutterland war unter der Führung der Mittelklasse erfolgt. Und diese zeigte sich nicht geneigt, die Kontrolle aus den Händen zu geben. Die breiten Schichten aber meldeten nunmehr ihre Ansprüche an, sie wünschten keine Restauration, sondern, daß die Unabhängigkeitserklärung nicht nur dem Buchstaben nach verwirklicht wurde. An vielen Stellen äußerte sich Haß gegen die Herrschenden, gegen die Besitzenden, es kam zu ernsten Unruhen. Erschwerend kam noch hinzu, daß die vom Mutterland befreiten Kolonien gar nicht an die Aufgabe ihrer Selbständigkeit dachten. Sie hatten kein Interesse an einer starken Bundesgewalt. Unter diesen Umständen war es ein Glück, daß für die Verfassungsberatungen, die sich lange hinauszögerten, Männer zur Verfügung standen, die der überaus schwierigen Aufgabe gewachsen waren, die Verantwortungsbewußtsein mit erstaunlicher Kenntnis und Beherrschung der überaus komplizierten politischen, sozialen und juristischen Fragen vereinigten. Die grundsätzlichen Unterschiede in den Anschauungen, die sich bald ergaben, haben in zwei Persönlichkeiten klassischen Ausdruck gefunden, in Alexander Hamilton und in James Madison. Hamilton war ohne Zweifel eine der interessantesten Persönlichkeiten, nicht nur der amerikanischen, sondern der Weltgeschichte. Sein Vater soll ein sdiottisch-jüdischer Händler gewesen sein, die Mutter entstammte einer Hugenottenfamilie. Hamilton wuchs in bedrängten Verhältnissen auf, er zeichnete sich im Unabhängigkeitskrieg durch ungewöhnlichen Mut und durch Führungsbegabung aus. £r besaß eine angeborene Zuneigung zu aristokratischen Lebensformen, zu den Kreisen, die zu Besitz und Reichtum gelangt waren. So hat er z. B. die Tochter eines reichen Grundbesitzers geheiratet. Er blieb jedoch hart gegen sich selbst bis zur Askese, und nicht Erwerbsstreben, vielmehr Ehrgeiz und Machtstreben waren bei ihm vorherrschende Charakterzüge. Hamilton war eine geniale Persönlichkeit. Nicht grundlos ist behauptet worden, daß er kein großer Amerikaner

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gewesen sei. Er hielt nidits von den Idealen, die für lange Zeit die amerikanische Nation hochgehalten hat, er besaß weder deren Tugenden noch Schwächen. Hamilton bewegte sidi in der dünnen Luft hochfliegender Pläne und Träumereien, alles Mittelmäßige war ihm verhaßt, und für den Durchschnittsmenschen empfand er eher Verachtung; Demokratie und Volkssouveränität waren für ihn hohle Schlagworte. Er kämpfte für eine starke Bundesgewalt; am liebsten hätte er wohl die Monarchie wieder eingeführt, und zwar, wie man boshaft gemeint hat, eine nach japanischem Vorbild. Er war jedoch klug genug für die Einsicht, daß eine solche Restauration nicht durchzusetzen war. Hamilton war davon überzeugt, daß nicht die Gesellschaft, nidit das Individuum, sondern der Staat den Vorrang haben müsse. Er gehörte zu denjenigen, die schon instinktiv ahnten, daß die USA eines Tages ein mächtiges Reich werden könnten. Macht und Unabhängigkeit des Staates gingen ihm über alles. Aber bei allen Widersprüchen, die er in sich vereinigte,war er ein Staatsmann von Format. Als erster Finanzminister der Bundesregierung hat er sich unvergängliche Verdienste erworben, indem er die Nationalbank gründete, die der Wirtschaft das notwendige Vertrauen einflößte, und dies hat in kurzer Zeit zu einer erstaunlichen Belebung des Wirtschaftslebens geführt, ganz abgesehen davon, daß das Nationalinstitut zur Festigung des noch lose zusammengefügten Bundesstaates beitrug. Seine Gegner haben die Begründung der Nationalbank für verfassungswidrig erklärt, aber Hamilton antwortete mit der Feststellung, daß die Verfassung solche „implied powers" enthalte. Hamilton fiel 1804 im Duell. Dieses Ende stand im Einklang mit seiner romantischen Lebensauffassung. Sein Gegenspieler Madison (1751—1836) entstammte dem Süden. Er war eine kränkliche Natur, und hat deshalb am Kriege nicht teilgenommen. Er genoß eine sehr sorgfältige Ausbildung, vor allem hat er die großen europäischen Staatsphilosophen gründlich studiert. Praktische Erfahrungen hatte er bei der Ausarbeitung der Verfassung von Virginia gewonnen. Im Grunde war auch er konservativ, er wollte von einer von Massenleidenschaften beherrschten Regierung nichts wissen. Mit kühler, durchdringender Intelligenz untersuchte er schon im

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modernen Sinne die soziologischen Voraussetzungen für die geeignetste Regierungsform. Aber er war ein Mann, der fähig war, bei Gegensätzen zu vermitteln, der überzeugte Anhänger einer richtig verstandenen Demokratie. Es war vor allem sein Verdienst gewesen, daß die amerikanische Verfassung, im wesentlichen nach dem Vorbild der Lehre von Montesquieu, auf dem Prinzip der Gewaltenteilung aufgebaut worden ist. Um diese zwei Persönlichkeiten gruppierten sich zwei Hauptrichtungen, die sich bei den Verfassungsberatungen gegenüberstanden, die föderalistische und die republikanische, aus denen dann die föderalistische und republikanische Partei wurden. Die Föderalisten standen unter der Führung von Hamilton, die Republikaner unter derjenigen Madisons und später insbesondere Jeffersons. Nachdem die ursprünglichen Gegensätze an Bedeutung verloren, wandelte sich die föderalistische Partei in die republikanische, die vor allem die Interessen der Industrie, des Finanzkapitals und des Gewerbes vertrat, die demokratische die Landwirtschaft und den Mittelstand. Doch läßt sich sagen, daß der grundsätzliche Unterschied der beiden Parteien, die sich bis zur Gegenwart behauptet haben, weniger auf Bundesebene als in den Einzelstaaten, vor allem in der Selbstverwaltung, in Erscheinung trat. Es sollte eine der Hauptleistungen der amerikanischen Demokratie sein, daß sie die Bürger zu Verantwortungsbewußtsein erzog. Dies war auf regionaler und lokaler Ebene leichter als auf nationaler zu erreichen. Die kleineren Staaten waren besonders von der Sorge beherrscht, von den größeren erdrückt zu werden; sie verlangten deshalb die Garantie der völligen Gleichberechtigung. New Jersey wünschte sogar, daß die Konföderation in Kraft bleiben und der Kongreß nur zusätzliche Befugnisse in bezug auf Handel und steuerliche Einnahmequellen erhalten sollte. Der regionale Gegensatz zwischen Norden und Süden trat schon deutlich in Erscheinung. Der erstere wünschte den Schutz der Sdiiffahrt, der letztere völlig freien Handel. Der Süden setzte insofern seinen Standpunkt durch, als dem Bunde nicht gestattet wurde, Ausfuhrzölle zu erheben; er sicherte sich audi für zwanzig Jahre den Import von Sklaven. Ein anderer wichtiger Streitpunkt war die Einbeziehung der Sklaven in den Südstaaten in

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die Vertretungsquote für das Repräsentantenhaus man einigte sidi schließlich darauf, sie zu 3/s anzurechnen. Die amerikanische Verfassung, die am 17. September 1787 unterzeichnet wurde, beruht auf einem Kompromiß. Die USA sind ein Bundesstaat. Die Gleichberechtigung der Staaten hat sich im Senat durchgesetzt, in den jeder ohne Rücksicht auf seine Größe zwei Vertreter entsendet. Dafür ist im Repräsentantenhaus jeder Staat im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl vertreten. Die Rechte der Bundesgewalt sind begrenzt. Sie hat die Möglichkeit der direkten Besteuerung, die sie sogar durch eigene Beamte durchführen kann, was ζ. B. nadi der deutschen Reichsverfassung von 1871 nicht möglich war. Auswärtige Politik und Außenhandel sind ihr vorbehalten. Die übrigen Bereiche, vor allem das ganze Gebiet der Verwaltung, der Polizei, der Kultur und auch der Binnenwirtschaft liegen bei den Einzelstaaten. In einer Anzahl von Fällen teilten sich Bund und Staaten in die Befugnisse. Im Geiste Montesquieus ist eine möglichst strenge Scheidung zwischen Exekutive, Legislative und Rechtsprechung durchgeführt worden. Zur Sicherung der persönlichen Freiheit sollten sich die Staatsorgane gegenseitig kontrollieren. Der Präsident ist der Träger der Exekutive. Seine Wahl erfolgte zunächst durch eine von den Legislaturen ausgehende Wahlkörperschaft. 1824 wurde das dahin geändert, daß die Präsidentschaftskandidaten durch die Parteikonvente aufgestellt werden, dem Volk obliegt nur die Wahl der Wahlmänner, deren Mehrheit den Sieg eines Kandidaten entscheidet. Die Amtszeit beträgt vier Jahre, es bildete sich seit Washington die Gewohnheit aus, daß ein Präsident nur einmal wiedergewählt werden durfte, diese Tradition ist bisher nur von Franklin Roosevelt gebrochen worden. Das Verbot einer zweimaligen Wiederwahl ist nach dessen Tode gesetzlich vereinbart worden. Am 26. Februar 1951 wurde das Maximum einer einmaligen Wiederwahl gesetzlich festgelegt. Der Präsident ist gleichzeitig Staatsoberhaupt, er hat den Oberbefehl über Heer und Marine, er kann mit Zustimmung des Senates Verträge abschließen, die höchsten Beamten und diplomatischen Vertreter ernennen und hat das Initiativrecht in der Gesetzgebung. Er kann den Kongreß zu Sondersitzungen einberufen, verfügt über

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das aufschiebende Veto, das nur durch eine 2/a Mehrheit in beiden Häusern außer Kraft gesetzt werden kann. Im Kriege besitzt der Präsident außerordentliche Vollmachten und hat sich auch häufig zu verfassungswidrigen Maßnahmen entschließen müssen, ohne daß sich bisher daraus eine dauernde Alleinherrsdiaft entwickeln konnte. Das Repräsentantenhaus wird direkt durch das Volk gewählt. In der ursprünglichen Verfassungsurkunde war nichts darüber gesagt worden, wer eigentlich wahlberechtigt sein sollte. In der verfassungsgebenden Versammlung ging die überwiegende Meinung dahin, den Kreis der Wähler nicht allzu weit zu ziehen. Es herrschte damals, auch in Europa, vielfach die Auffassung vor, daß gerade ein radikales Wahlsystem zu einer Oligarchie hinführe, da der arme Wähler von den Reichen abhängig sei. Das allgemeine gleiche Wahlrecht für beide Geschlechter hat sich seit dem Ersten Weltkrieg im ganzen Bundesgebiet durchgesetzt. Der Kongreß wird alle zwei Jahre neu gewählt, so daß sich der Präsident schon oft während seiner Amtszeit einer gegnerischen Mehrheit gegenüber sehen kann. Die Senatoren, die bis 1912 von den Parlamenten der Einzelstaaten bestimmt wurden, werden auf die Dauer von sechs Jahren gewählt, und zwar alle zwei Jahre je ein Drittel von ihnen, so daß sich auch hier die Mehrheitsverhältnisse während der Amtsperiode des Präsidenten völlig verändern können. Dem Senat ist vor allem die Kontrolle der Außenpolitik vorbehalten. Die Wahlen zu dieser Körperschaft gingen zunächst ausschließlich von den Legislaturen aus. Erst später wurde das geändert. Das Oberste Bundesgericht besteht aus einem Obertribunal und zahlreichen Untergerichten. Die Richter werden auf Lebenszeit gewählt und können nur in besonders schwerwiegenden Fällen vom Kongreß abgesetzt werden. Das Bundesgeridit hat sehr weitgehende Befugnisse, es befaßt sich mit vielen Streitfällen, die sich aus den Beziehungen der Einzelstaaten zum Bund und untereinander und den Rechten und Pflichten der Bürger ergeben. Das Bundesgericht hat sich erst die unbestrittene Autorität in bezug auf die Interpretation der Verfassung erkämpft, es ist praktisch in der Lage, gesetzliche Maßnahmen des Präsidenten wie des Kongresses für verfassungs-

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widrig zu erklären. Im großen und ganzen hat es jedoch mäßigend und ausgleichend gewirkt. Die amerikanisdie Verfassung unterscheidet sich in mancher Hinsicht grundsätzlich von der englischen: sie ist schriftlich festgelegt, während die englische überwiegend auf Gewohnheitsrecht beruht. Die amerikanisdie Regierung ist nicht parlamentarisch, sie kennt nicht den Premierminister wie in England, der jeweils von der stärksten Partei gestellt wird. Die Verfassung ging aus den Staatstheorien der Aufklärung hervor, sie verleugnete jedoch nidit den englischen Instinkt gegen allzu gewagte Experimente. Sie ist auf die Ausbalancierung der Gewalten gerichtet, freilich bis zur nicht ungefährlichen Übertreibung, so war eine Lahmlegung der Exekutive möglich. Solange die Außenpolitik nidit im Vordergrund stand und die sozialen Probleme nodi weitgehend ohne Staatshilfe gelöst werden konnten, traten die damit verbundenen Gefahren nidit sonderlich in Erscheinung. In neuester Zeit ist dies jedoch anders geworden. Die Bundesregierung hat an Madit und Einfluß gewonnen und damit auch ihr Beamtenapparat. Unter schwierigen inneren und äußeren Voraussetzungen geschaffen, ist die Verfassung eine bemerkenswerte Leistung; es war ohne weiteres möglich, durch spätere Zusätze (amendments) Unklarheiten zu beseitigen oder einer veränderten Situation Rechnung zu tragen. Um die Annahme und Durchführung der Verfassung entbrannte ein heftiger Streit. Die Ratifizierung durch die einzelnen Staaten hat sich noch länger hingezogen. Den einen ging die Zentralisation schon viel zu weit, die anderen mißtrauten wachsenden Ansprüchen des kleinen Mannes. In konservativen Kreisen waren restaurative Bestrebungen vorhanden, es wurde sogar vorübergehend die Wiederherstellung der Monarchie in Erwägung gezogen, u. a. ist an den Prinzen Heinrich, den Bruder Friedrichs des Großen, als Anwärter gedacht worden. Aus dem Ringen der Anschauungen sind die beiden großen Parteien entstanden. Das Wort Demokratie ist an keiner Stelle der Verfassung erwähnt worden, es hatte für viele noch etwas Anrüchiges, es galt noch als gleichbedeutend mit Massenherrschaft.

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Thomas Jefferson hatte an den Verfassungsberatungen nicht teilgenommen, da er Gesandter in Paris war. Nach seiner Rückkehr beobachtete er mit steigender Bestürzung, wie stark restaurative Kräfte im Vordringen waren. Die föderalistische Partei lag in Führung. Nidit so sehr Madison wie Jefferson wurde zum entschiedensten Gegner Hamiltons. In diesen beiden Männern, die in der ersten Regierung unter dem Präsidenten Washington tätig waren, prallten zwei Weltanschauungen zusammen, die auch heute noch Aktualität besitzen. Hamilton und Jefferson waren sehr verschiedene Naturen. Hamilton, ein Mensch der Widersprüche, unausgeglichen, unbekümmert um taktische Gesichtspunkte, Jefferson ruhig und heiter, eine harmonische N a t u r . Er war der geborene Taktiker, er gab sich nur ungern eine Blöße, er bereitete aus dem Hintergrund seine Pläne vor. Beide hatten eine ganz verschiedene Auffassung vom Menschen. Hamilton glaubte nicht an die menschliche Vernunft, im Volk sah er nur das „große Tier, unruhig und wechselhaft". Demokratie mußte nach seiner Meinung zu Anarchie führen. Das Land brauchte eine starke Regierung, eben den Staat, der die menschlichen Impulse zum Zwecke überindividueller Zielsetzungen nutzbar machte. Jefferson glaubte an das Gute im Menschen. Er war als echter Aufklärer zu der Überzeugung gelangt, daß die menschlichen Eigenschaften durch die Leitkraft der Vernunft zur Mitwirkung im Staate gebracht werden könnten. Hauptsache war, daß die individuellen Bedürfnisse nicht unterdrückt wurden. Der Staat war für Jefferson nur eine der vielen Lebensformen und nicht einmal die wichtigste. Während Hamilton die maßgebenden Kräfte der Zukunft im Handel und in der Industrie sah und aus den Besitzenden eine Art von Elite bilden wollte, war Jefferson gerade von der Bedeutung der Landwirtschaft überzeugt. Die Gegnerschaft nahm, als sie beide gemeinsam im Kabinett Washingtons tätig waren, eine solche Schärfe an, daß es Washington nur mit Mühe gelang, sie von der Absicht des Rücktrittes abzubringen. Seit Beginn der 90er Jahre kam die Wirkung der französischen Revolution hinzu, deren Bedeutung Jefferson hoch einschätzte, während die herrschende föderalistische Partei sich entschieden von ihr abwandte, als die Terror-

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herrschaft begann. Bei dieser Haltung kam nodi hinzu, daß Rücksicht auf England genommen werden mußte, das in dieser Zeit die Führung im Kampf gegen das revolutionäre Frankreich und später gegen Napoleon übernahm. Es ist schließlich Jeffersons Verdienst gewesen, daß er als Präsident der Fortentwicklung der Demokratie eine Chance gab, wenn auch unter stärkster Betonung des Schutzes der persönlichen Freiheit; von Kollektivismus, von Radikalismus in jeder Form wollte er nichts wissen. Jefferson ist für das amerikanische Volk zum Vorbild f ü r die Ideale geworden, die es so lange vertreten hat, f ü r das Vertrauen in das Gute und Entwicklungsfähige im Mensdien. Jefferson, am 13. April 1743 in Shadwell (Virginia) geboren, gehörte wenigstens von der Mutterseite her zu dem Kreis der großen virginischen Pflanzerfamilien. Zeitlebens war er an eine aristokratische Lebensweise gewöhnt. Sein Landsitz Monticello war durch seine großzügigen Anlagen wie durch seine geistvolle Geselligkeit berühmt. Auf seinen Reisen hatte er ein offenes Auge für alles Neue und Unbekannte, es war sein Verdienst, daß ein besonders wollreiches Schaf, der Olivenbaum und die Rüdesheimer Rebe in Amerika eingebürgert wurden. Er war von 1779—1781 Gouverneur von Virginia, ohne sich jedoch in dieser schwierigen Zeit sonderlich zu bewähren. Die Gesandtenzeit in Paris 1785—1789 bedeutete für sein Leben einen tiefen Einschnitt. Hier nahm er die Ideen der französischen Aufklärung an, er war fortan des Glaubens, daß das Wolf- und Sdiafverhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten nur durch eine wirksame Kontrolle durch das Volk zu überwinden sei. Er begründete die republikanische Partei, die er zum vollen Siege führte, wurde 1790—1793 Staatssekretär des Auswärtigen und von 1801—1809 Präsident. Er starb am 4. Juli 1826 in Monticello. Jefferson machte die Sache des Volkes zu der seinen. Von seiner Jugendzeit her brachte er den unerschütterlichen Glauben an den Wert und die Tüchtigkeit des Durchschnittsmenschen mit, die er an der nahen Grenze aus eigener Anschauung erlebt hatte. Seine Vorstellung von Demokratie war allerdings noch

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ganz an die Umwelt gebunden, in der er lebte. Er ging von einer Gesellschaft aus, die vornehmlich auf der Landwirtschaft beruhte, die noch keine Massenprobleme kannte. Gegen die Industrie und die großen Städte hat er ein gewisses Mißtrauen erst allmählich überwunden. Jefferson war von einer natürlichen Auslese unter den freien Grundeigentümern überzeugt. Demokratie war für ihn kein feststehender Zustand, sondern eine dynamische Lebensform, die nur in einer ständigen Auseinandersetzung vertieft und durch dauernde Wachsamkeit des Volkes gesichert werden konnte. Die individuelle Freiheit lag ihm ebenso am Herzen wie die soziale Gerechtigkeit. Zum Schutz beider befürwortete er einen weitgehenden Föderalismus und die Erhaltung des mittleren und kleinen Grundbesitzes. Theoretisch neigte er zu doktrinärerem Radikalismus, als Staatsmann handelte er durchaus nüchtern, er respektierte die Realitäten. Es geht wohl zu weit, in Jefferson den Vollender der amerikanischen Revolution sehen zu wollen, die ohne ihn von dem konservativen Geist der englischen Aufklärung abhängig geblieben wäre. Ganz abgesehen davon, daß er auch schon vor seinen Erfahrungen in Frankreich radikaleren Gedankengängen zugänglich war, lag es doch in den sozialen Verhältnissen und in der Sonderentwicklung der britischen Kolonien in Amerika begründet, daß die Revolution hier weitergehende Auswirkungen haben mußte als die glorreiche Revolution in England. Es war jedoch unzweifelhaft Jeffersons Verdienst, daß er dem Glauben an eine besondere amerikanische Mission durch sein Leben ein Vorbild gab, daß er als einer der ersten erkannt hat, daß die neue Welt dem Durchschnittsmenschen einzigartige Möglichkeiten zu einer freien Entwicklung bot. Er trug dadurch wesentlich dazu bei, daß in der Zukunft große materielle und moralische Kräfte zur Entfaltung gelangen konnten. Gleichzeitig barg die Überzeugung, daß alle Menschen zur Freiheit bestimmt seien oder unter Umständen dazu erzogen werden müßten, die Gefahr in sich, daß die sehr verschiedenen Entwicklungsstufen der Völker nicht genügend beachtet wurden und der Kreuzzugsgedanke in der amerikanischen Außenpolitik allzu lange eine erhebliche Rolle zu spielen vermochte. 4

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Die Entstellung der Vereinigten Staaten von Amerika

Jefferson wurde zum Verkünder einer Gesellschaftsauffassung, die den breiteren Schichten einen möglichst großen Anteil an Politik und Kultur sichern sollte. Für das Wesen des Staates als Macht besaß er noch kein rechtes Organ. Hamilton dagegen hatte fast zu sehr das Gebot der Stunde im Auge. Er wies die Amerikaner bereits auf den Weg, den sie eines Tages zwangsläufig gehen sollten, den Weg zur Weltmacht, mit allen damit verbundenen Verantwortlichkeiten und Gefahren. Washington, der seit 1789 als erster Präsident die Geschicke des Landes leitete, sah sich einer schwierigen außenpolitischen Lage gegenüber. Zwar war der gleichzeitige Ausbruch der französischen Revolution insofern ein Glücksfall für die junge Republik, als nun für längere Zeit die europäischen Mächte mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt waren. Andererseits konnte es nicht ausbleiben, daß die Revolution audi auf Amerika einwirkte, die Unsicherheit auf dem ganzen Kontinent steigerte, und während des großen Ringens zwischen England und Frankreich, das auch besonders auf den Meeren ausgetragen wurde, der amerikanische Handel schwer zu leiden hatte. Die französische Revolution erweckte anfangs große Sympathien, auch in den Vereinigten Staaten, sah man doch in den dortigen Vorgängen eine Nachahmung der amerikanischen Revolution, durch die Persönlichkeit von Lafayette symbolisch zum Ausdruck gebracht. Mit dem Beginn der Schreckensherrschaft trat aber eine ähnliche Reaktion ein wie in England. Die konservativen Kreise fühlten sich von der zunehmenden Anarchie abgestoßen, die Religionsfeindlichkeit der Jakobiner wurde allgemein abgelehnt. Die öffentliche Meinung war gespalten, die einen befürworteten die Anlehnung an Frankreich, die anderen an England. Washington war nicht gesonnen, sich in eine abenteuerliche Politik einzulassen. In Übereinstimmung mit Hamilton war er der Meinung, daß man sich nach Möglichkeit aus den europäischen Verwicklungen heraushalten und auf die Sicherung der Republik beschränken solle. Sein Unterhändler John Jay brachte mit England einen Vertrag zustande, der allerdings noch viele amerikanische Wünsche offen ließ (19. November

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1794). Dagegen konnte Washington nidit verhindern, daß die Beziehungen zu Frankreich sich immer mehr verschlechterten. Besonderen Anstoß erregte das Verhalten des französischen Gesandten Edmond Charles Genet, der sich in die inneren Verhältnisse einmischte, das Volk gegen die Regierung aufwiegelte und sogar Truppen für seine Unternehmung gegen die spanischen Kolonien anwarb, so daß am 2. August 1793 seine Abberufung verlangt werden mußte. Infolge der inzwischen ausbrechenden Schreckensherrschaft blieb er aber im Lande und wurde ein friedlicher amerikanischer Bürger. Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen hat Washington am 17. September 1796 seine Abschiedsbotschaft erlassen, die neben der Monroedoktrin die Grundlage für die spätere Außenpolitik geworden ist. Diese Botschaft, deren Text Hamilton verfaßte, warnte vor einer Teilnahme an den europäischen Kriegen und sprach sich gegen dauernde Bündnisse aus. Den Ausdruck „entangling alliances" (verstrickende Bündnisse) hat erst Jefferson gebraucht. Unter Jeffersons Präsidentschaft waren die Beziehungen zu Frankreich anfänglich sehr gespannt, aber dieser war noch viel weniger zu einem Bruch mit Frankreich geneigt. Er hatte stets den antifranzösischen Kurs verurteilt. Grundsätzlich Pazifist, hielt er sich nach allen Seiten vorsichtig zurück, allerdings ohne zu einer Vernachlässigung der amerikanischen Interessen bereit zu sein. Zur allgemeinen Überraschung vermied er audi im Innern radikale Reformen, die man nach dem mit äußerster Heftigkeit geführten Wahlkampf und nach dem vollen Siege seiner Partei, der republikanischen, erwartet hatte. Gerade ihm sollte es jedoch beschieden sein, einen großen Erfolg zu erzielen. Im Geheimvertrag von San Ildefonso (1. Oktober 1800) hatte sich Napoleon vom spanischen König Louisiana zurückgeben lassen. Da Napoleon zunächst gewillt war, große Kolonialpolitik zu treiben, konnten sich ernste Folgen für die amerikanische Union ergeben; ganz besonders fürditete man die Besetzung von New Orleans und Westflorida. Vom letzteren glaubte man fälschlich, daß es in die Abtretung von Louisiana eingeschlossen sei. Angesichts des neu ausbrechenden Krieges mit England nach dem Frieden von Amiens (27. März 1802) und 4*

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Die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika

unter dem Eindruck der Revolution auf San Domingo gab Napoleon den Plan einer großen Kolonialpolitik auf und entschloß sich am 30. April 1803 zum Verkauf von Louisiana. Jefferson ging nicht ohne Gewissensskrupel auf das Angebot ein. Der Verkaufspreis betrug 60 Millionen Franken, von denen überdies 20 Millionen auf Entschädigungsansprüche angerechnet •wurden. Ohne einen Schwertstreich kamen damit die USA in den Besitz von 828 000 Quadratmeilen. England hielt sich ebensowenig an die Bestimmungen des Seekriegsrechts wie Frankreich. 1807 beschloß der Kongreß ein Embargo, das jedoch in Neuengland auf starken Widerstand stieß, nicht wirksam durchgeführt und 1809 aufgehoben wurde. 1812 kam es unter dem Präsidenten Madison zum Kriege, obwohl England schließlich bereit war, in wichtigen Punkten nachzugeben. Der Krieg ist weniger wegen der Gefährdung des Handels entstanden, als aus dem Wunsch der Kriegspartei unter Führung des späteren Staatssekretärs Henry Clay, England vom Kontinent zu vertreiben. Man wünschte vor allem die Erwerbung von Kanada und Ostflorida. Westflorida war im gleichen Jahr besetzt worden. Die Kriegserklärung (18. Juni) wurde gegen eine starke Minderheit beschlossen; viele betrachteten sie als einen Verrat an der Freiheit, indem England in seinem Kampf gegen die Tyrannei Napoleons damit in den Rücken gefallen wurde. Der Krieg verlief wenig glücklich für die Union. Zwar brachte es die junge Marine zu beachtlichen Leistungen. Aber ein Vorstoß gegen Nordkanada scheiterte vollständig, und als dann die Kriegslage sich in Europa infolge der Katastrophe Napoleons in Rußland wandelte, kamen die Amerikaner zu Lande in die Defensive und mußten es sogar erleben, daß im August 1814 das Kapitol und andere öffentliche Gebäude in Washington niedergebrannt wurden. Dafür konnte der General Andrew Jackson New Orleans über den Friedensschluß hinaus halten; nicht zuletzt die dadurch und durch seine Verdienste in den Indianerkämpfen gewonnene Popularität brachte ihn später auf den Präsidentenstuhl. Die USA konnten froh sein, daß es im Genter Frieden (24. Dezember 1814) beim status quo blieb. Die Engländer hatten ursprünglich bedeutend mehr ge-

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fordert. Mit Rücksicht auf die ungeklärte Lage in Europa wünschten sie aber eine möglichst rasche Beendigung des amerikanischen Krieges. Man hat mit einem gewissen Recht von einem zweiten Unabhängigkeitskrieg gesprochen. Obwohl er den Amerikanern keinen territorialen Gewinn brachte, trug er dodi zu einer Festigung ihres kollektiven Selbstbewußtseins bei.

ZWEITER TEIL

Der Weg zur Großmacht 1. Kapitel Die Besiedlung des Westens Die scheinbar so ungestörte innere Entwicklung, die der Union im nächsten halben Jahrhundert beschieden war, kann leicht den Eindruck erwecken, als hätte es nach 1815 für sie überhaupt keine ernsten außenpolitischen Gefahren mehr gegeben. Dies war nicht der Fall. Die europäischen Mächte waren weder vom Kontinent und noch viel weniger aus Westindien verdrängt worden. Großbritannien hatte einen großen Teil seiner nordamerikanischen Besitzungen behauptet, es besaß überdies Honduras und Guyana mit dem Hafen Georgetown. Der spanische Besitz ragte mit seinen nördlichen Teilen noch in die unmittelbare Interessensphäre der USA hinein. Dies galt für Mexiko, Florida und Kalifornien. Frankreich hielt Guyana mit Cayenne, das als Strafkolonie benutzt wurde. Ein kleiner Teil Guyanas gehörte den Holländern. Im Norden besaßen die Russen Alaska. Fast alle Inseln Westindiens waren in den Händen großer und auch kleinerer europäischer Staaten. Auch im Pazifik hat sich Großbritannien später die wichtigsten Stützpunkte gesichert. Die USA waren vom Meer abgedrängt. Allerdings begann gleich nach dem Kriege die Loslösungsbewegung der spanischen Kolonien vom Mutterland, die sich in den zwanziger Jahren sämtlich in selbständige Staaten verwandelten. Im Ablauf der Zeit erwies es sich, daß hierin für die USA sowohl ein Vorteil wie ein Nachteil lag. Die neuen Staaten,

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durch Revolution und Kriege untereinander geschwächt, bedeuteten zu keinem Zeitpunkt eine akute Gefahr für den großen Nordstaat. Aber die labilen inneren Verhältnisse in den ehemaligen spanischen Kolonien blieben bis in die Gegenwart hinein audi eine ständige Beunruhigung. Es lag im Bereich der Möglichkeit, daß andere und viel stärkere Staaten als Spanien sich auf dem amerikanischen Kontinent dauernd niederließen. Nur der Geschicklichkeit ihrer Politiker sowie dem Umstand, daß auch England die anderen europäischen Mächte vom neuen Kontinent fernhalten wollte, war es zu verdanken, daß sich die USA ohne ernsthaften Druck von außen über den ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Raum verbreiten konnten. Schon 1819 gelang es ihnen, für 5 Millionen Dollar von Spanien Ostflorida zu erwerben unter Anrechnung von Entschädigungsansprüchen amerikanischer Bürger gegen Spanien. Dieser diplomatische Erfolg des Staatssekretärs John Quincy Adams war um so wichtiger, als noch im Kriege die Engländer dieses Gebiet als Basis benutzt und zum letzten Male die Indianer gegen die Siedler aufgestachelt hatten. Auch ging der Vertrag weit über die bloße Erwerbung hinaus, regelte er doch die Grenzen vom Atlantisdien bis zum Pazifischen Ozean gegenüber den spanischen Besitzungen. Die Amerikaner unterstützten indirekt die Aufstände in den spanischen Kolonien, aber sie waren auch mit Recht gegen die europäischen Pläne mißtrauisch. Aus den Friedensschlüssen war die Heilige Allianz hervorgegangen, die sich die Aufgabe setzte, die Revolutionen in Europa, wenn notwendig auch mit Gewalt, zu unterdrücken. Die amerikanische Regierung befürchtete eine Übertragung dieser Methoden nach Amerika. Audi erhob der russische Zar Anspruch auf eine Ausdehnung an der Nordwestküste bis zum 51. Breitengrad, also bis zum Oregongebiet. Aus dieser Sorge heraus, gleichzeitig aber auch mit dem Wunsch, die eigene Ausdehnungspolitik nicht stören zu lassen, ist die Monroedoktrin entstanden. Für den Außenminister John Quincy Adams ging es mehr um das Grundsätzliche, um die amerikanische Mission für die ganze Welt. In der Vorgeschichte dieser Botschaft ist von besonderem Interesse, daß zunächst an eine gemeinsame Erklärung mit Großbritannien gedacht wor-

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den ist, da der damalige britisdie Außenminister George Canning durdiaus den Geist der Heiligen Allianz ablehnte. Es ist nicht dazu gekommen, da die damit verbundenen Absichten zu verschieden waren, vor allem die englische Regierung die Amerikaner darauf festlegen wollte, sich nicht auf Kosten der spanischen Kolonien zu vergrößern. Aber bei diesen Verhandlungen wird schon deutlich, daß trotz aller Rivalitäten doch ein gemeinsames Interesse gegenüber Kontinentaleuropa bestand, das später einmal große Bedeutung erlangen sollte. In der Botschaft des Präsidenten James Monroe vom 2. Dezember 1823 wird versichert, daß man sich in die bestehenden europäischen Kolonien und Einflußgebiete nicht einmischen werde. Die amerikanischen Kontinente seien aber künftig nicht mehr als ein Boden zur Kolonisierung durch irgendwelche europäischen Mächte anzusehen. Da das politische System der alliierten Mächte von dem Amerikas völlig verschieden sei, werde man jeden Versuch von ihrer Seite, ihr System auf irgendeinen Teil dieser Hemisphäre auszudehnen, als für den Frieden und die Sicherheit der Union gefährlich betrachten. Man werde es als die Äußerung einer unfreundlichen Gesinnung gegen die Vereinigten Staaten auffassen, wenn eine Einmischung seitens einer europäischen Macht zum Zwecke der Unterdrückung derjenigen Regierungen in Amerika erfolge, die ihre Unabhängigkeit erklärt hätten. In die inneren Verhältnisse Europas wollte sich die Regierung der USA jedoch nicht einmischen. Völkerrechtlich gesehen war die Monroedoktrin nicht verbindlich, sondern lediglich eine einseitige Erklärung der bestehenden amerikanischen Regierung. Es war auch nichts darüber gesagt worden, was bei Verletzung dieser Doktrin geschehen sollte. Die USA waren noch viel zu schwach, um ihre Anerkennung erzwingen zu können. Europa hat sie zunächst kaum ernst genommen. Noch Bismarck bezeichnete die Monroedoktrin als eine internationale „Unverschämtheit". Sie wurde häufig verletzt und im Verlauf der Zeit in verschiedener Weise von den Regierungen der USA interpretiert. Sie gab jedoch die Richtung an, in der sich die amerikanische Politik gegenüber

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Europa und Lateinamerika bewegen sollte; mit der wachsenden Macht wurden ihre Grundsätze immer nachdrücklicher zur Geltung gebracht. So hat sie immerhin das Ziel erreicht, daß keine neuen europäischen Kolonien in Amerika, audi nicht im Karibischen Inselbereich, entstanden sind. Die weitere Expansion der USA wurde durch die Monroedoktrin nicht behindert. Der Wunsch, auf breiter Front an den Pazifischen Ozean zu gelangen, mußte für sie naturgemäß um so größer sein, als auch die europäischen Mächte ähnliche Ziele verfolgten. Mit England entstand ein Streit um das Oregongebiet. Seit 1818 befand sich das Land unter gemeinsamer englisch-amerikanischer Verwaltung. Im Vertrage vom 15. Juni 1846 verzichtete Großbritannien endgültig auf große Teile des Territoriums, der Staat Oregon konnte gebildet werden. Mit großer Aufmerksamkeit wurde auch die Entwicklung in Texas, Mexiko und Kalifornien verfolgt, da England, Frankreich und auch Rußland Ansprüche auf Kalifornien anmeldeten. 1842 wurde unter dem Protektorat des Herzogs von Nassau der Mainzer Adelsverein gegründet, der sich das utopische Ziel setzte, aus Texas allmählich einen deutschen Staat zu machen. Die Annexion von Texas war insofern für die Union nicht besonders schwierig, als schon zahlreiche Einwanderer aus den Vereinigten Staaten in das wenig besiedelte Land gekommen und bereit waren, dem Bund beizutreten. Texas wurde am 29. Dezember 1845 aufgenommen. Die Union bekam dadurch einen Zuwachs von fast 700 000 qkm, ein Gebiet also, das um ein Drittel größer war als das frühere Deutsche Reich. Gleich nach diesem Gewinn hat der amerikanische Präsident James Polk, der Hauptbefürworter der pazifischen Politik, seine Bemühungen darauf gerichtet, Mexiko zur Abtretung seines Landes bis zum Rio Grande, ja bis Oberkalifornien gegen Bezahlung zu veranlassen. Da diese Versuche aber nicht zum Ziele führten, wurde die Entwicklung planmäßig bis zum Kriege mit Mexiko vorgetrieben, den das im Inneren so schwache Land nicht durchzuhalten vermochte. Im Frieden von Guadalupe-Hidalgo vom 2. Februar 1848 erhielt die Union gegen eine Zahlung von 15 Millionen Dollar Neumexiko und Oberkalifornien. Mexiko mußte alle Ansprüche auf Texas auf-

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geben. Kalifornien war 1847 erobert worden, im folgenden Jahr wurden hier die großen Goldfunde gemacht, die einen gewaltigen Zustrom von Einwanderern zur Folge hatten. Mit dem 19. Jahrhundert setzte die große Einwanderung ein, die seit 1830 sprunghaft anstieg. Von 1820—1950 sind über 33 Millionen, allein im Jahrzehnt 1900—1910 beinahe 8 Millionen Europäer eingewandert. Das Jahr 1907 erreichte mit 1 285 349 den Höhepunkt. Es ist zwischen der älteren und neueren Einwanderung zu unterscheiden. Bis in die achtziger Jahre hinein stellten West-, Mittel- und Nordeuropa das Hauptkontingent; vor allem die Engländer, Deutschen und Iren. Seit dieser Zeit ließ die Einwanderung aus diesen Ländern mehr und mehr nach; die große Masse kam jetzt aus Ost- und Südeuropa. In der ersten Periode gab der Obergang zur Industrialisierung den Hauptanstoß zur Auswanderung. Aus den ländlidien Bezirken strömten viele Menschen in die Städte, die dort aber nicht alle Arbeit finden konnten oder nicht geneigt waren, in das Industrieproletariat überzugehen. Der Bedarf an Arbeitskräften in den Vereinigten Staaten war außerordentlich groß. So wurden durdi Agenten, durdi Briefe von bereits Ausgewanderten die verlockendsten Versprechungen verbreitet. Nicht alle Hoffnungen wurden erfüllt, aber sehr viele konnten sich als Siedler oder in den neuentstehenden Industrien eine Existenz begründen. In der zweiten Periode kamen die Einwanderer aus den nodi unterentwickelten Agrarländern, sie waren im allgemeinen an ein bescheidenes Lebensniveau gewöhnt. Da die Landabgabe aufgehört hatte, konnten sie fast aussdiließlidi nur Beschäftigung in der Industrie finden. Sie ballten sich vor allem in den großen Städten zusammen, ihre materielle Lage war oft trostlos. Um die Jahrhundertwende sind besonders viele Juden aus Rußland, Polen und Ungarn eingewandert, da sie unter Verfolgungen zu leiden hatten. Etwa 1 Million Chinesen und Japaner sind hinzugekommen. Unter den Einwanderern befanden sich nicht allzu viele, die den sogenannten gebildeten Ständen angehörten. Es waren vornehmlich Bauern, Handwerker, Kaufleute und Arbeiter, die wohl aus ihrer Heimat Gewohnheiten und Vorurteile mit-

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brachten, die aber an der Kultur ihrer Heimatländer keinen unmittelbaren Anteil genommen hatten. Ihr Bestreben ging dahin, sich im Existenzkampf durchzusetzen. Viele brachten es zu Wohlstand, manche sogar zu großem Reichtum. Unzählige sind gescheitert, andere kehrten freiwillig oder enttäuscht in die alte Heimat zurück. Im großen und ganzen — dies gilt insbesondere für die Periode der älteren Einwanderung — bestanden für sie in den Vereinigten Staaten Möglichkeiten zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten, die ihnen in Europa versagt geblieben waren. Die Motive, die sie herübergeführt hatten, waren sehr verschieden. Sicherlich hat dazu nicht in erster Linie politischer Druck gehört, abgesehen von bestimmten Emigrantengruppen. Wohl aber waren sie geneigt, diesen Grund später anzugeben, da es in Amerika gern gehört wurde. Den meisten von ihnen war Politik zunächst gleichgültig. Sie hatten in der ersten Generation genug damit zu tun, sich den veränderten Verhältnissen, besonders in sprachlicher Hinsicht anzupassen. Der Gegensatz zu den bereits länger im Lande befindlichen Arbeitern war oft größer als zu den Arbeitgebern, da sie von jenen in zunehmendem Maße als lästige Konkurrenz betrachtet wurden. Die nativistische „know nothing"-Bewegung machte ihnen viel zu schaffen. So war es oft erst das Ergebnis einer planmäßigen Erziehung zum amerikanischen Bürger, die ihnen die Überzeugung beibrachte, in einer besseren Welt zu leben, und sie auf die politischen und sozialen Zustände in Europa mit einiger Geringschätzung herabsehen ließ. Alle Volksgruppen, einige jedoch in besonderem Maße, haben zur Bildung des Amerikanertums beigetragen. Für die englischen Einwanderer war die Einordnung in den neuen Staat natürlich am leichtesten, da sie keine neue Sprache zu lernen brauditen und in mancher Hinsicht ähnliche Einrichtungen vorfanden. Die Angloamerikaner blieben noch lange in Politik, Wirtschaft und Kultur führend, sie verstanden es, andere ihnen blutsmäßig verwandte Gruppen ziemlich rasch zu assimilieren. Im lokalen Bereich entfalteten die Iren eine große Aktivität; sie brachten oft einen unüberwindlichen Haß gegen England mit, da sie in vielen Fällen bitterste Not zur Auswanderung gezwungen hatte. Die Deutschen kamen bis zur Reidisgründung

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nicht im Bewußtsein herüber, einer großen Nation anzugehören, sondern aus kleinstaatlicher und landschaftlicher Enge. An Mitverantwortung waren sie nicht gewöhnt; die Mehrheit zeigte keine Neigung zur politischen Betätigung. Der Einfluß der sogenannten Achtundvierziger darf nicht überschätzt werden. Sie waren der Zahl nach zu wenige, einige unter ihnen mehr Ideologen als Realpolitiker. Von ihnen wurde Karl Schurz Staatssekretär, aber auch andere Deutschamerikaner brachten es zu einflußreichen Stellungen, John Peter Altgeld (1847—1902) z.B. zum Gouverneur; er kam sogar als Kandidat für die Präsidentschaft in Frage. Vor dem Bürgerkrieg waren nicht wenige im Zeitungswesen tätig und übten auf die Meinungsbildung erheblichen Einfluß aus. Aber eine politisch maßgebende Schicht konnten die Deutschamerikaner nicht bilden. Die älteren unter den Einwanderern aus Deutschland waren noch an kleinstaatliche Verhältnisse gewöhnt, zu wenig zu politischem Denken und Handeln erzogen worden, um die Neigung zu verspüren, in der neuen Heimat durch geschlossenen Einsatz politischen Einfluß zu gewinnen. Sie neigten zu Vereinsmeierei. Selbst dann, als die späteren Einwanderer infolge der Reidisgründung an Selbstvertrauen gewannen, blieb die Zersplitterung bestehen. Die politischen Parteien und die Präsidenten haben um die Stimmen der Deutschamerikaner geworben; das deutschamerikanische Element war vor dem Ersten Weltkrieg als wesentlicher Faktor nicht zu übersehen, da es einen hohen Prozentsatz im Vergleich zur Gesamteinwanderung darstellte. Nach dem Zensus von 1910 gaben mehr als 8 Millionen Deutschland als ihr Herkunftsland an. Wegen ihrer Intelligenz und ihrer Tüchtigkeit wurden sie hodi geschätzt. Die Verschmelzung der verschiedenen Bevölkerungselemente wurde seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein schwieriges Problem. Abgesehen davon, daß das Bedürfnis zunahm, völkische Eigenart zu bewahren, waren die Einwanderermassen aus Süd- und Osteuropa nach Herkunft und Lebensweise zu verschieden, um eine rasche Anpassung zu ermöglichen. Es kam hinzu, daß sie überwiegend der katholischen Konfession

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angehörten und sdion aus diesem Grunde angesichts der Vorurteile der protestantischen Mehrheit der amerikanisdien Bevölkerung sich noch länger abgesondert verhielten. Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte ein ununterbrochener Strom der Einwanderer in westliche Richtung ein, die die noch menschenleeren Räume besiedelten, die Wälder rodeten, den Boden kultivierten und dann auch Gewerbe und Industrie zur Entfaltung brachten, so daß Staat um Staat dem Bunde eingegliedert werden konnte. Der Osten verlor seinen Führungsanspruch. Es war der neue Westen, in den sich das Schwergewicht verlagerte. Solange sich die technische Revolution noch nicht voll auswirkte, war der Vormarsch beschwerlich und erforderte wenigstens in den vordersten Linien ein hohes Maß von Mut und Zähigkeit. In die damit verbundenen Kriege und Grenzkämpfe griffen nodi immer die Eingeborenen als Verbündete oder gefährliche Gegner ein. Von ihrer Behandlung durch die Weißen war bereits die Rede. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts leben die Indianer in Reservationen mit autonomer Verwaltung. Sie hielten auch immer mit erstaunlicher Zähigkeit an ihren uralten Uberlieferungen fest, deren Bedeutung für die amerikanische Geschichte immer mehr unter dem Einfluß fortgeschrittener Einzelforsdiungen anerkannt wird. In diesen Reservatgebieten leben z. Zt. ungefähr 350 000 Menschen. Land an Siedler und Gesellschaften wurde von der Bundesregierung abgegeben, da anfänglich Grenzstreitigkeiten zwischen den Staaten gang und gebe gewesen waren. Der Mindestpreis für den Morgen (acre) wurde gesetzlich immer wieder neu festgelegt, war aber mäßig, durchschnittlich nicht viel mehr als ein Dollar. Auch die Mindestgröße der Grundstücke, die abgegeben wurden, schwankte. Bis 1940 sind über eine Milliarde Morgen Land verteilt worden. Aber noch mehr hielt der Bund als öffentliches Eigentum zurück, annähernd l 1 /^ Millionen Morgen. Ein neuer Staat wurde dann zugelassen, wenn das betreffende Territorium die Einwohnerzahl des kleinsten der bestehenden Staaten erreicht hatte. Bis zur vollen Gleichberechtigung war eine Übergangslösung vorgesehen. Bedingung für die Aufnahme als Bundesstaat war die Beteiligung an den

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Bundesschulden und die Verpflichtung auf die republikanische Staatsform. Sklaverei durfte in den neu hinzugekommenen Staaten nicht eingeführt werden. Vom Westen her ist das moderne Amerika gebildet worden, hier war alles im Werden und auf die Zukunft gestellt. Noch für lange Zeit konnte in den neubesiedelten Räumen von einer stabilen Ordnung nicht die Rede sein. Vollends nach dem Einsetzen der industriellen Revolution, nach dem Siegeszug des Dampfschiffes und der Eisenbahn, nach der sprunghaften Steigerung der Produktion und den unerhörten Möglichkeiten, die nun zur Hebung der Bodenschätze gegeben waren, begann die amerikanische Gesellschaft, die in der Kolonialzeit in vieler Hinsicht der europäischen noch ähnlich gewesen war, neue Formen zu entwickeln. Das Gewicht des neuen Westens und vor allem der Grenze und ihr Anspruch auf die Führung machten sich unter dem Präsidenten Andrew Jackson (1829—1837) zusehends gelten. Die „Jacksonian democracy" bedeutete nodi nicht im eigentlichen Sinne eine soziale Umwälzung. Das Maschinenzeitalter stand erst in den Anfängen, die Basis war noch immer die Landwirtschaft. Wohl aber konnte sich zum erstenmal ein Präsident durch direkten Appell an die breiten Schichten im Wahlkampf durchsetzen, zum erstenmal belagerten seine Anhänger anläßlich der Inauguration das Weiße Haus und forderten einen angemessenen Anteil an der Beute. Jackson willfahrte diesem Wunsch. Viele Beamtenstellen wurden mit Parteifreunden besetzt; das „Spoilsystem" galt als ein heilsamer Blutkreislauf und machte für die Zukunft Schule. Erst 1883 sicherte das Civil Service Law die Unabhängigkeit des Berufsbeamtentums. Der Präsident war bemüht, Farmer und Industriearbeiter im Kampf gegen das Kapital zu einigen, in dessen Vorherrschaft er die größte Bedrohung der persönlichen Freiheit und der Demokratie sah. Er ging vor allem gegen die Nationalbank vor, die als reaktionäres Bollwerk verhaßt war, indem er ihr die Staatsgelder entzog. Jackson wußte in erstaunlichem Maße Autorität und Popularität miteinander zu verbinden. In die amerikanische Politik kam mit ihm ein rauher Wind; die Methode der modernen Massenführung wurde von

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ihm angewandt. Die demokratische Partei erhielt das heutige Gesidit, die republikanische vereinigte erst um 1860 die Whigs (Nationalrepublikaner) und die Mitglieder der Free Soil Party. 2. Kapitel Der Bürgerkrieg Nur bei Berücksichtigung der steigenden Unruhe, die das ganze amerikanische Leben ergriffen hatte, wird das Wesen der großen Krise verständlidi, die im Bürgerkrieg enden sollte. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß zwischen dem Norden und dem Süden seit dem 18. Jahrhundert ein regionaler Gegensatz bestand, der sich schon allein aus verschiedenem Klima und anders gearteten Produktionsmöglichkeiten erklären läßt. Im 19. Jahrhundert wurde es der dynamische Westen, dessen ökonomischem Expansionsdrang der Süden mit seiner ganz anders gearteten Sozialstruktur im Wege stand. Aber erst durch die Sklaverei wurde dieser Gegensatz verhängnisvoll. Es sdiien eine Zeitlang so, daß die unfreie Arbeit von selbst aufhören würde. Die Pflanzer begannen sidi die Frage zu stellen, ob bei dem hohen Preis, der für Sklaven gezahlt werden mußte, und angesichts deren beschränkter Arbeitskraft freie Arbeiter nicht rentabler sein würden. Da haben die Erfindung der Baumwollentkörnungsmaschine durch Eli Whitney 1792 und andere Verbesserungen eine völlig neue Sachlage geschaffen. Nunmehr war die Steigerung der Baumwollproduktion in einer Weise möglich, daß die gesamte Wirtschaft dieser Staaten weitgehend von ihr abhing. Für die großen Baumwollpflanzungen wurden die Neger unentbehrlich, bei ihrer Freilassung mußten sich sehr große finanzielle Verluste ergeben. Die Baumwolle legte den Süden auf die Landwirtschaft fest, eine nennenswerte Industrie konnte sich nicht entwickeln. Sie begünstigte die großen Pflanzungen mit extensiver Wirtschaft; das sprunghafte Ansteigen der Preise auf dem Sklavenmarkt machte es den weniger Kapitalkräftigen unmöglich, sich die notwendigen Arbeitskräfte zu beschaffen. Der Süden wurde von der Masseneinwanderung ausgespart, da hier die Gelegenheiten zum Fortkommen weit geringer als im Norden waren. Er wurde in dem Maße statisch,

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wie Norden und Westen dynamisch wurden. Die Sklaverei bestimmte die gesamte Gesellschaftsordnung: die großen Pflanzerfamilien hielten die politische und wirtschaftliche Macht in Händen; die ganze übrige weiße Bevölkerung aber bis zum ärmsten Weißen herunter war von den Negern durch eine tiefe Kluft getrennt; der Stolz auf die Freiheit war so hoch gesteigert, wie es f ü r Zivilisationen mit einem Stand der Unfreien charakteristisch ist. Es ist viel über den Alten Süden geschrieben worden. Sein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Norden ist f ü r völlig unbegründet erklärt worden, da er besondere kulturelle Leistungen auf keinem Gebiet aufzuweisen gehabt habe. Nimmt man die Naturwissenschaften aus, bei denen der Beitrag des Südens erheblich war, so ist dies wohl richtig. So sollen nur Machtwille und Wirtschaftsinteressen die Rebellion ausgelöst haben. Diese Auffassung ist zum mindesten einseitig. Wenn der Süden auf seine Lebensform so stolz war, wenn er bereit gewesen ist, f ü r seine Unabhängigkeit zu kämpfen, so mußte das tiefere Gründe haben. Es herrschte hier eine andere Atmosphäre als im Norden. Die Menschen waren noch nicht der Unruhe, der Ubergeschäftigkeit des Tages verfallen, die für die Industriegebiete mehr und mehr typisch wurden. Die Wirtschaft beruhte hier wie dort auf kapitalistischer Grundlage. Der ganze Lebensstil war jedoch ein anderer; die Beziehungen der Menschen weißer Rasse untereinander waren persönlicher und wärmer, sie lebten in einer in sich geschlossenen, zahlenmäßig beschränkten Gemeinschaft, die bis zu einem gewissen Grade sogar die Haussklaven einschließen konnte. Es war das Anderssein, das schließlich den Ausschlag gegeben hat; politische und wirtschaftliche Gegensätze allein haben den Konflikt nicht unüberbrückbar gemacht, so wichtig diese auch gewesen sind. Im großen gesehen verteidigte der Süden nicht eigentlich die Sklaverei, sondern seine eigene Welt, verteidigte sie gegen den revolutionären Neuen Westen und die von diesem ausgehenden Auswirkungen auf die Gesellschaft, gegen den fremdgewordenen, ja verhaßten Yankee des Nordens. Es gibt kaum ein anderes Beispiel in der Geschichte, daß in einer verhältnismäßig so kurzen Zeit sich ein regionaler Gegensatz zu einem vierjährigen

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furchtbaren Krieg hin entwickeln konnte, obwohl die Oberschicht der Herkunft nadi ungefähr die gleiche war und keine konfessionellen Gegensätze bestanden. Keine Sophistik vermochte daran etwas zu ändern, daß die Sklaverei ein krasser Anachronismus geworden war, ein für Menschenwürde und Menschenredite gleichermaßen unerträglicher Zustand. Mit philosophischen und religiösen Argumenten bemühte man sich im Süden darum, die Institution der Sklaverei zu rechtfertigen. Man wies gern darauf hin, daß Länder mit einem besonders hohen Kulturniveau die Sklaverei oder einen Stand der Unfreien gekannt hätten. Eine solche Gesellschaftsordnung widerspreche auch nicht dem göttlichen Willen. Auch die Gesellschaft in den christlichen Ländern habe noch für eine lange Zeit die Sklaverei beibehalten. Gerade der gläubige Christ fühle sich noch in besonderem Maße verpflichtet, für alle Armen und Schutzbedürftigen zu sorgen. Gleichheit bestehe nur vor den Augen Gottes. Es wurde auch nicht mit dem Vorwurf gespart, daß im Norden die sogenannten freien Arbeiter besonders schlecht behandelt würden. Auch hätten ja die Neger in Afrika unter einem weit schlimmeren Los zu leiden. Die Wahrheit sah doch recht anders aus. Der Sklave war ohne jeden Rechtsschutz, er konnte nach Belieben an andere Herren weiterverkauft werden. Größere Negergruppen wurden unter unmenschlichen Bedingungen in ein anderes Gebiet deportiert und dorthin verkauft, wenn ihre Weiterbeschäftigung sich an dem bisherigen Ort ökonomisch nicht mehr auszahlte. Familien wurden rücksichtslos auseinandergerissen. Flüchtige Sklaven hatten nach Wiederergreifung schwerste Strafen zu gewärtigen. Wenn es unter den verzweifelten Sklaven gelegentlich zu Unruhen kam, wurden diese blutig unterdrückt. Der freie Norden hatte somit das historische und moralische Recht ganz auf seiner Seite. Die in mancher Beziehung lebensvolle und farbenreiche Welt des Südens war unweigerlich zum Untergang verurteilt. Das Feuer hatte schon seit langem geschwelt. 1820 war der Missourikompromiß geschlossen worden. Danach sollte in Missouri die Sklaverei noch erlaubt sein, aber weiter nördlich nicht mehr. Seit den dreißiger Jahren nahmen die Auseinandersetzungen zusehends an Schärfe zu; im Kongreß lieferten sich

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die Anhänger und Gegner der Sklaverei glänzende Rededuelle. Im Interesse seines Heimatstaates Südcarolina legte John Calhoun die Verfassung in eigenartiger Weise aus. Die Union hatte nach ihm die Rechte der Staaten nidit aufgehoben. Die Freiheit verlange den Schutz der Minderheit. Calhoun prägte das Schlagwort der „konkurrierenden Minderheit". Es war daher nach seiner Überzeugung nicht verfassungswidrig, wenn ein Staat ein Bundesgesetz für ungültig erklärte, im Falle, daß durch dieses vitale Interessen verletzt wurden (Nullifikationstheorie). Die Anhänger der Union, besonders Daniel Webster, hielten dagegen unbedingt daran fest, daß die Union eine dauernde, über den Staaten stehende Einrichtung sei und der Kongreß als Gesamtvertretung des Volkes für alle bindende Gesetze erlassen dürfe. In Anwendung von Calhouns Theorie hat Südcarolina 1832 schon einmal von dem Redit Gebrauch gemacht, die Sdiutzzollgesetze von 1828—1832 für nicht verbindlich zu erklären. Damals konnte noch ein Kompromiß gefunden werden. Aber jede Erwerbung, jeder neu entstehende Staat warf die grundsätzliche Fragen auf, ob die Macht des sklavenhaltenden Südens oder die freien Staaten dadurch gestärkt wurde. Insofern bedeutete der Gebietszuwachs der vierziger Jahre auch einen unbestreitbaren Gewinn für den Süden. Dieser befand sich unzweifelhaft wirtschaftlich gesehen schon in der Defensive, er war nicht mehr recht entwicklungsfähig. Auf freien Handel angewiesen, bekämpfte er die Schutzzollpolitik. Am verhängnisvollsten aber war für ihn, daß er als mächtigen Verbündeten den landwirtschaftlichen Westen verlor. Der Vormarsch der Technik verband Landwirtschaft und Industrie im Neuen Westen so eng miteinander, daß hier die frühere Gegnerschaft gegen den industriellen Osten sinnlos wurde. Der Süden konnte seinen Machtbereich nicht mehr nach Westen verschieben. Er war isoliert. Die anfänglidi nodi gleichgültige öffentliche Meinung erregte sich immer mehr. 1830 hatte William Garrison den „Liberator" begründet, der steigenden Einfluß gewann. 1852 erschien Harriet Beacher Stowes Buch „Onkel Toms Hütte", das die Immoralität der Sklaverei eindrucksvoll und überzeugend sdiildert. 5

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Es stellt sich die Frage, ob eine friedliche Lösung trotzdem möglich gewesen wäre. In beiden Lagern war die Neigung zum Bruch nicht groß; statistisch läßt sidi nachweisen, daß die Mehrzahl der Bevölkerung audi in den sklavenhaltenden Staaten für die Erhaltung der Union eintrat. Andererseits gab es auch eine große Anzahl Menschen im Norden, denen das Schicksal der Neger nicht sonderlich am Herzen lag, die jedenfalls nicht geneigt waren, für deren Freiheit das Leben einzusetzen. Es scheint fast so, als ob der Machtwille der Pflanzeraristokratie und kleinere Fanatikergruppen für den Ausbruch des Krieges verantwortlich gewesen sind. Es ist jedoch nicht recht zu sehen, wie eine grundsätzliche Verständigung, zum mindesten seit den fünfziger Jahren noch zu erreichen gewesen sein sollte, wenn der Süden nicht bereit war, kampflos zu kapitulieren. Dieses aber erlaubten ihm sein Stolz und seine Interessen nicht, so wie er diese verstand. Jeder Unbefangene, von außen kommende, war im letzten Jahrzehnt vor dem Kriege von der Heftigkeit der Leidenschaften, von der Gehässigkeit der gegenseitigen Anklagen überrascht. Während die Gegner der Sklaverei den Zustand immer unerträglicher fanden, zog sich ein Teil des Südens unter dem wachsenden Druck von außen auf sich zurück, er verteidigte seine Einrichtungen mit philosophischen und religiösen Argumenten. So tief war der zwangsläufig gewordene Gegensatz, daß selbst die Einheit der methodistischen Kirche im Süden daran zerbrach. So bleibt doch der Eindruck bestehen, daß es sich in diesem Jahrzehnt trotz aller Versöhnungsversuche nur noch darum gehandelt hat, die Ausgangsposition für die große Auseinandersetzung zu sichern. Die Wahlen von 1852 und 1856 brachten der demokratischen Partei nochmals einen vollen Sieg. Der Süden stimmte geschlossen für sie, da sie die Rechte der Staaten verteidigte, wenn auch andere Programmpunkte der Pflanzeroligarchie ihr nicht genehm sein konnten. So war es der demokratischen Mehrheit im Kongreß möglich, das Kansas-NebraskaGesetz 1854 durchzubringen, durch das in Kansas die Sklaverei zugelassen wurde. Es war eine offene Verletzung des Missourikompromisses. Dauernde Beunruhigung schuf das 1850 erlassene Flüchtlingsgesetz, das die Behörden zur Auslieferung ge-

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flüditeter Sklaven verpflichtete, das aber im Norden offen umgangen wurde. Auch wurde stürmischer Widerspruch laut, als das Bundesgericht bei besonderem Anlaß 1856 die grundsätzliche Entscheidung fällte, daß der Kongreß nicht befugt sei, in der Sklavereifrage Gesetze zu erlassen. Der Süden war wegen des in Vorbereitung befindlichen Homestead-Gesetzes außerordentlich beunruhigt, da dieses den Siedlern im Neuen Westen große Vorteile bot, ein neuer Schlag gegen die Ausbreitung der Sklaverei. Es trat erst 1862 in Kraft. Im Oktober 1859 versuchte ein fanatischer Weißer, John Brown, mit einigen Anhängern, in Virginia einen Sklavenaufstand anzuzetteln. Der Versuch scheiterte völlig, Brown wurde noch im gleichen Jahr gehängt. Der Zwischenfall war bezeichnend für die fast hektische Erregung. Der Sieg der republikanischen Partei im Jahre 1860 und die Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten gaben dann den Ausschlag. Dieser Sieg wurde nur dadurch möglich, daß eine tiefgehende Spaltung im demokratischen Lager wegen der Haltung zur Sklavereifrage bestand. Lincoln wurde mit 1 866 352 gegen 2 815 617 Stimmen seiner Gegner gewählt. Es war also eine Minderheitswahl. In zehn von den Südstaaten hat Lincoln nicht eine einzige Stimme erhalten. Trotzdem war der Ausgang der Wahl kein bloßer Zufall. Nach der Verteilung der Stimmen auf die Staaten hatten die Sklavereigegner auf alle Fälle die Mehrheit der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigt. An und für sich bedeutete Lincolns Wahl durchaus keine Herausforderung an den Süden. Er gehörte der gemäßigten Richtung an und wußte, da er in seiner Jugend in einem Staat mit Sklaven lebte, wie schwierig diese Frage praktisch zu lösen war. Er hatte daher in seinen Reden vor allem die Notwendigkeit der Erhaltung der Union betont. Aber es gab nun kein Halten mehr. Südcarolina, die Seele des Widerstandes, erklärte schon im Dezember seine Unabhängigkeit, zehn andere Staaten folgten zögernd und schlossen sich vom Februar bis Juni 1861 zu den konföderierten Staaten von Amerika unter dem Präsidenten Jefferson Davis zusammen. Die Hauptstadt wurde Richmond. Die Grenzstaaten Maryland, Kentucky, Delaware und Missouri blieben trotz Sklaverei bei der Union. *5

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Virginia spaltete sich. Westvirginia blieb bei der Union. In Missouri fiel die Entscheidung erst nach einem Bürgerkrieg. Lincoln hätte gern den offenen Bruch vermieden; erst der Angriff südcarolinischer Truppen auf das Fort Sumter bei Richmond (12. April 1861), das er nicht rechtzeitig in Verteidigungszustand versetzt hatte, bedeutete den Krieg. Wie konnte der Süden überhaupt hoffen, einen so ungleichen Kampf zu gewinnen? Schon im April 1861 hat ein junger Offizier in einem Brief an seinen Freund die reale Situation sehr treffend gezeichnet: In den konföderierten Staaten lebten 9 Millionen Menschen, von denen 3'/2 Millionen Sklaven seien; der Norden habe 22 Millionen Bewohner. Alle wichtigen Industrien lägen im Norden, der über den gesamten Staatsschatz und über sämtliche Schiffe verfüge. Eine ausgebildete Armee besaßen weder der Süden noch der Norden; die in Westpoint erzogenen Offiziere stellten sich fast ausnahmslos ihren Heimatstaaten zur Verfügung. Gewiß herrschte im Süden, insbesondere in Südcarolina, eine an Hysterie grenzende Stimmung, die eine nüchterne Überlegung nicht mehr aufkommen ließ. Man war überzeugt, daß der Norden keine guten Soldaten stellen könne, und zählte auf die dortige fehlende Bereitschaft, für die Neger das Leben zu wagen. Nach einer Lebensdauer der Republik von nur 80 Jahren wurde auch nicht viel von der zusammenhaltenden Kraft der Union gehalten. Vor allem aber war die Sezession überzeugt, daß weder die amerikanische und noch weniger die europäische Wirtschaft den Ausfall der Baumwolle für längere Zeit ertragen könnten (King Cotton); früher oder später müsse das wohlverstandene Interesse der europäischen Mächte zur Anerkennung der Konföderation führen. Wohl ließ die Begeisterung bald nach; die Konföderation war sehr locker gefügt, die Eifersucht und der Egoismus der einzelnen Staaten bildeten ein ernstes Hindernis. für eine einheitliche Kriegführung. Im Verlauf der Jahre zeigten sich Ermüdungserscheinungen, an Desertionen fehlte es nicht, und die sozialen Spannungen zwischen den armen Weißen und den reichen Pflanzern waren eine zusätzliche Belastung. Trotzdem war im großen und ganzen die Kriegsmoral sicherlich nicht schlechter als im Norden. Der Süden bewies eine erstaunliche

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Widerstandskraft, er ging bis zum äußersten. Hätte es sidi wirklidi bloß um einen Machtkampf einer Oligarchie gehandelt, so wäre der Zusammenbruch angesichts der ungeheuren Opfer, die der Krieg forderte und die von einer keineswegs autoritativen Regierung erzwungen werden konnten, früher erfolgt. Aber audi im Norden war der Wille, die Union um jeden Preis zu behaupten bzw. wiederzugewinnen, überraschend stark. Wohl gab es viele, die dem Bruch bis zur letzten Stunde widerstrebt hatten, besonders Wirtschaftskreise, die am Baumwollhandel unmittelbar interessiert waren und viel Geld in den Wahlkampf zugunsten der Demokraten geworfen hatten. Die industrielle Revolution ging unaufhaltsam weiter; ungeheure Gewinne wurden erzielt, die bei den Soldaten große Unzufriedenheit erzeugten. Deserteure gab es audi auf Seiten des Nordens nur allzu viele, gelegentlich kam es zu offenen Unruhen wie in New York. Aber das alles war nicht entscheidend. Das Bewußtsein, gegen soziale Ungerechtigkeit und für die Menschenwürde zu kämpfen, rief große moralische Energien wadi. Trotz ihres kurzen Bestehens schien vielen die Union in der Stunde der Gefahr ein unersetzliches Gut zu sein. Hier vollzog sich ein Prozeß im großen, denn audi in Europa zeigte es sich, daß die zur Einheit hindrängenden Tendenzen stärker waren als die partikularen. Es war kein ungefähres Zusammentreffen, daß zur gleidien Zeit, als mit der Erstürmung der Düppeler Schanzen durch preußische Truppen der erste Akt der deutschen Einigung über die Bühne ging, Amerikaner deutscher Herkunft in großer Zahl für die Union zu kämpfen und zu sterben wußten. Während des Sezessionskrieges haben sich zwei Persönlichkeiten durch hohe politische, militärische, vor allem aber durch mensdiliche Qualitäten einen bleibenden Platz in der amerikanischen Geschichte gesichert. Die Seele der Union war der Präsident Abraham Lincoln, die der Konföderation nicht der wenig bedeutende Präsident Jefferson Davis, sondern der General Robert E. Lee. Abraham Lincoln, am 12. Februar 1809 in Hardin, Kentucky, geboren, kam aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Er

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war ein Mensch der Prärie und hatte sidi über verschiedene Berufe in Illinois schließlich zum Anwalt emporgearbeitet. Seit 1847 gehörte er dem Repräsentantenhaus an, trat dort jedoch wenig hervor. Erst während des Wahlkampfes um einen Sitz im Senat 1858 wurde er weithin bekannt. Seine Stellungnahme zur Sklaverei drückte er am 16. Juni in der „house divided"Rede klar aus: Auf die Dauer könne man nicht zur Hälfte Sklaverei, zur anderen Hälfte Freiheit haben. Er war nichts weniger als eine glänzende Erscheinung. Karl Schurz hat in seinen Erinnerungen den fast grotesken Eindruck sehr lebendig geschildert, den er beim ersten Zusammentreffen vom Präsidenten empfing. Von Natur aus neigte Lincoln trotz eines derben Humors zu tiefer Melancholie. Ein Zeitgenosse hat von ihm gesagt, in seinen Augen habe der traurigste Ausdruck gelegen, der ihm je vorgekommen sei. Es war schwer, selbst für seine engere Umgebung, ihn näher kennen zu lernen. Er war kein sprühendes Genie, eher langsam im Denken. Lincoln hat manchen Grund zu herber Kritik gegeben, bei der Auswahl von Persönlichkeiten für führende Posten, besonders der Generäle, hatte er nicht immer eine glückliche Hand, er mischte sich überhaupt zu oft in die Strategie ein. Er war nicht ohne Ehrgeiz und Sinn für persönliche Macht. Doch war er ohne Zweifel der richtige Mann in der überaus ernsten Stunde seines Landes. Frei von Vorurteilen, intuitiv richtig geleitet, hielt er stets die große Linie ein und stellte das Gemeinsame und nicht das Trennende voran. Sein Glaube an die breiten Volksschichten erwuchs nicht aus abstrakten Theorien, sondern aus innerster Zugehörigkeit. In einer von Haß vergifteten Atmosphäre blieb er immer menschlich; für die Wiedervereinigung der streitenden Parteien wäre er zu jedem persönlichen Opfer bereit gewesen. Er besaß auch die bei Staatsmännern nicht häufig vertretene Eigenschaft, daß er begangene Fehler zugeben konnte. Auch Robert E. Lee besaß überdurchschnittliches Format. Geboren in Stratford am 9. Januar 1807, hatte er am mexikanischen Krieg teilgenommen und seit 1855 mit Unterbrechungen an der Grenze von Texas gedient. Er war kein Anhänger der Sezession, stellte sich jedoch, als die Entscheidung gefallen war, seinem Heimatstaat Virginia zur Verfügung. Oberbefehlshaber

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aller konföderierten Streitkräfte wurde er erst im Februar 1865. Lee war der geborene Führer, von vornehmer Gesinnung, human im Denken und Handeln. Er gewann die Herzen seiner Soldaten durdi seinen Gerechtigkeitssinn, durch die unablässige Fürsorge für ihr Wohl. Offiziere, die ihre Pflichten verfehlten, verurteilte er streng. Er war wohl neben Grant der beste Stratege in diesem Kriege, verstand es vorzüglich, die Vorteile der inneren Linie und die Schwächen des Gegners auszunützen. Durch Kühnheit und Entschlußfähigkeit erzielte er überraschende Erfolge. Sein Ansehen blieb auch nadi der Niederlage, die er mit großer Würde trug, im Süden unerschüttert. Als Präsident des Washington College, das heute den Namen Washington and Lee University trägt, bewies er eine erstaunliche Menschenkenntnis sowie psychologisches Einfühlungsvermögen. Auch die Studenten vergötterten ihn bald wie früher die Soldaten. Lee starb 1870. Die Hauptkriegsschauplätze lagen in dem Gebiet östlich der Appaladien und westlich von diesen und dem Mississippi. Die Überlegenheit der Union zur See war von vornherein entscheidend. Bereits am 26. April 1862 fiel New Orleans. Der Druck der Blockade wurde immer fühlbarer; der Süden wurde eine belagerte Festung; auch kühne Kaperfahrten der konföderierten Schiffe konnten hieran nichts ändern. Zum erstenmal in einem Kriege wurden Panzerschiffe eingesetzt. Auf dem Lande wurde dagegen zunächst mit wechselndem Erfolg gekämpft. Die Unionstruppen erlitten einige schwere Niederlagen. Die Konföderierten hatten das Glück, neben Lee noch einen so ausgezeichneten General wie Thomas J. Jackson (Stonewall) zu besitzen. Unter anderem gingen die Schlachten bei Bull Run (21. Juli 1861 und am 2 9 . - 3 0 . August 1862), Fredericksburg (13. Dezember 1862) und Chancellorsville (2.—4. Mai 1863) dem Norden verloren. Im Westen konnten die Unionstruppen nur in Alabama und Tennessee tiefer eindringen. Doch mußte sich schließlich das Ubergewicht der Union an Menschen und Kriegsmaterial auswirken. Nach mehrmaligem Wechsel im Oberkommando fand auch Lincoln in Ulysses Grant einen General, der Lee gewachsen war; Jackson fiel in der Schkcht von Chancellorsville.

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Die entscheidende Wende trat in dem Ringen bei Gettysburg in Pennsylvania vom 1.—3. Juli 1863 ein. Der Sieg hätte es Lee ermöglicht, Washington zu bedrohen. Aber die Sdilacht endete mit einem Siege der von Grant geführten Unionsarmee. Bei der Verteidigung von Cemetery Ridge haben sich deutsdiamerikanisdie Truppen besonders ausgezeichnet. Auf dem Schlachtfeld in Gettysburg hat Lincoln am 19. November bei der Einweihung des Denkmals seine berühmte Rede (Gettysburg Address) gehalten, die heute jedes Schulkind in Amerika kennt, in der er von der Geburtsstunde der neuen Freiheit, von der Demokratie als einer Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk sprach. Da Grant im gleichen Jahre den ganzen Lauf des Mississippi unter seine Kontrolle brachte, wurde das Gebiet der Konföderation in zwei voneinander getrennte Kriegsschauplätze gespalten. Seit dem Juni 1864 belagerte Grant Richmond, vom 7. Mai — 2. September unternahm William Sherman seinen Verwüstungszug durch Georgia, der mit dem Fall von Atlanta endete. Vom 16. Januar — 21. März 1865 wurden die Carolinas in gleicher Weise von ihm heimgesucht. Am 3. April fiel Richmond. Am 9. April kapitulierte Lee mit den völlig erschöpften Truppen (Appomattox Courthouse). Lincoln hat sich zur allgemeinen Emanzipation der Sklaven erst durch die Proklamation vom 1. Januar 1863 entschlossen, obgleich diese Verzögerung weder in Amerika noch im Auslande recht verstanden wurde. Der Grund lag darin, daß er die Reaktion in den sklavenhaltenden Staaten fürchtete, die bei der Union geblieben waren. Er wünschte den Besitzern der dortigen Sklaven Entschädigungen zu verschaffen, konnte damit aber im Kongreß nicht durdidringen. Überhaupt hatte er im Verlauf des Krieges wachsende Widerstände zu überwinden, nur mit Mühe konnte er 1864 seine Wiederwahl durchsetzen. Die Konföderierten haben die äußersten Anstrengungen unternommen, bei den europäischen Mächten Unterstützung oder wenigstens ihre Anerkennung als selbständiger Staatenbund zu erreichen. Die Erfüllung ihrer Wünsche schien zunächst nicht aussichtslos zu sein. Die englische Regierung unter Palmerston und die konservativen Kreise hätten einen selbständigen Südbund aus

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politischen und wirtschaftlichen Gründen gern gesehen. Der Ausfall der amerikanischen Baumwolle führte zu großen Schwierigkeiten in der Textilindustrie; den englischen Konservativen war die Pflanzeraristokratie wesensverwandter, ihre Angehörigen waren häufig auf englischen Schulen und Universitäten ausgebildet worden. Die Beziehungen zur Union waren jedenfalls zeitweilig gespannt. Deren Regierung nahm es sehr übel, daß England die Konföderierten als kriegführende Macht anerkannte. Eine ernste Krise brachte der Trentzwischenfall. Am 8. November 1861 wurde der englische Dampfer „Trent" durch ein amerikanisches Kriegsschiff angehalten und die darauf befindlichen Kommissare der Konföderation James Mason und John Slidell heruntergeholt. Die englische öffentliche Meinung reagierte empfindlich auf die Beleidigung der britischen Flagge. Die Unionsregierung war jedoch klug genug, nachzugeben und die Freilassung der beiden Diplomaten anzuordnen (26. Dezember). Lincolns Staatssekretär William Seward erwies sich dieses Mal als vorsichtiger Politiker, während er vor dem Kriege den tollen Plan ausgeheckt hatte, dem inneren Konflikt durch einen Kampf gegen die europäischen Mächte auszuweichen. Umgekehrt war die Stimmung in der Union sehr gereizt, als der auf englischen Werften gebaute Hilfskreuzer „Alabama" im Juli 1862, wohl mit Duldung der Behörden, heimlich entwich und, von den Konföderierten eingesetzt, großen Schaden anrichtete. Der Streit um die Entschädigungsansprüche hat bis in den Beginn der siebziger Jahre hinein gedauert, ein interessantes Kapitel in der Geschichte des Seekriegsrechts. Trotzdem hat eine ernstliche Kriegsgefahr zwischen Großbritannien und der Union kaum bestanden. In den unteren Volksschichten war keine Sympathie für die Sklaverei vorhanden. In der Regierung und im Parlament gab es einflußreiche Männer genug, die ein Eingreifen unbedingt zu vermeiden wünschten. Die internationale Lage war für Großbritannien undurchsichtig, das Verhältnis zu Rußland und Frankreich gespannt; seit 1863 bereitete auch die schleswig-holsteinische Frage der englischen Regierung ernste Sorgen. Die fehlende Baumwolle konnte aus Indien und Egypten — sogar in besserer Qualität — beschafft werden.

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Mehr noch als England mußte Napoleon III. an einem Siege der Konföderierten interessiert sein. Er hatte das sehr unüberlegte Abenteuer in Mexiko gestartet und träumte von einem lateinischen Kaisertum unter dem Protektorat Frankreichs. Sein Schützling war der österreichische Erzherzog Maximilian, der unter dem Einfluß seiner ehrgeizigen Gemahlin Charlotte die mexikanische Kaiserkrone angenommen hatte. Es war klar, daß diese flagrante Verletzung der Monroedoktrin von einer siegreichen Union niemals hingenommen werden würde. Aber auch Napoleon, dem die öffentliche Meinung des Landes überdies in seiner Politik nicht folgte, wagte ohne Übereinstimmung mit England keinen entscheidenden Schritt, er begnügte sidi mit dem Angebot der Vermittlung. Außerdem zwang ihn die Lage in Europa, später insbesondere Bismarcks Erfolge, zur größten Vorsidit. Die Folge war, daß er nach dem Siege der Union und unter dem Eindruck der österreichischen Niederlage von Königgrätz das mexikanisdie Abenteuer völlig liquidieren mußte. Rußland nahm eine durchaus wohlwollende Haltung gegenüber der Union ein; das Erscheinen eines russischen Geschwaders in den amerikanischen Gewässern wurde als eine willkommene moralische Unterstützung beurteilt. Deutschland als Ganzes kam als politischer Faktor noch nidit in Betracht. Preußen unter Bismarck hielt strikte Neutralität ein. Es war von kaum zu überschätzendem Wert für die Union, daß sie am deutschen Geldmarkt Anleihen aufnehmen konnte, als dies in England und Frankreich kaum möglich war. So ging Europa niemals über die Anerkennung der Konföderation als kriegführende Madit hinaus, obwohl es nidit an Stimmen fehlte, die einen allzu starken amerikanischen Staat als eine künftige Gefahr betrachteten. Die europäischen Rivalitäten waren eine wichtige Voraussetzung für den Sieg der Union; es zeigte sich, daß die Hoffnungen der Sezessionsstaaten trügerisch gewesen waren. Vollends waren, als die Kriegswende 1863 eintrat, die Regierungen von England und Frankreich froh, daß sie sich zu keinem übereilten Schritt hatten hinreißen lassen. Die Zustände im Süden nach der Niederlage waren in mancher Hinsicht nicht unähnlich wie die in Deutschland nach dem Ersten und sogar in manchen Gegenden wie nach dem Zweiten

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Weltkrieg. Gemessen an der Bevölkerungszahl waren die Verluste furchtbar. Auf beiden Seiten sind ungefähr je 300 000 Menschen ums Leben gekommen, überwiegend allerdings in den Hospitälern und durdi Epidemien in den Gefangenenlagern. Weite Strecken waren vollständig verwüstet, die Lebensmittel schon durch die Blockade erschöpft, oft waren eine Tasse Tee, einige Äpfel alles, was ein Gastgeber zu bieten hatte. Viele Pflanzer wurden durch Krieg und Emanzipation der Neger ruiniert und zum Verkauf ihrer Pflanzungen gezwungen. Pflanzer, die ein Einkommen bis zu 150 000 Dollar gehabt hatten, fristeten zunächst ihr Leben damit, daß sie Tee an ihre früheren Sklaven verkauften. Die freigelassenen Neger fanden häufig keine Arbeit, viele zurückkehrende Soldaten fanden kein Heim mehr vor. Die Mehrheit der Bewohner des Südens lebte im Bewußtsein, für die Freiheit ihrer Heimat gekämpft zu haben. Die meisten waren jedodi bereit, sich mit den vollendeten Tatsachen abzufinden. Ganz besonders hat Lee seinen Einfluß in dieser Hinsicht geltend gemacht. Eine vorsichtige und maßvolle Politik der siegreichen Union konnte die schwierige Übergangszeit überbrücken. Lincoln hatte am Ende des Krieges nodi keinen festen Plan, wünschte aber eine weitgehende Amnestie und rasche Wiederaufnahme der Sezessionsstaaten in die Union, sobald sie in ihrer Gesetzgebung die Sklavenbefreiung anerkannt hatten. Ob sich selbst seine überragende Autorität gegen den wachsenden Widerstand des Kongresses hätte durchsetzen können, kann allerdings nicht mit Sicherheit entschieden werden. Lincolns Ermordung am 14. April 1865 durch John W. Booth, einen aus dem Süden stammenden Schauspieler, im Washingtoner Ford-Theater war jedenfalls ein schwerer Schlag für die Besiegten. Der Vorgang hatte sich so rasch abgespielt, daß die Augenzeugenberichte sich widersprachen. Wahrscheinlich ist der Ruf „sie semper tyrannis", den der Mörder vor seiner Flucht von der Bühne aus ausgestoßen haben soll, eine Legende. Am gleichen Tage wurde auch ein mißglücktes Attentat auf den erkrankten Staatssekretär Seward in seiner Wohnung unternommen. Vier Attentäter, darunter eine Frau, wurden gefaßt und

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gehängt Booth selbst ist bei der Verfolgung ums Leben gekommen. Der Vizepräsident Andrew Johnson, der nun die Präsidentschaft übernahm, war keine Persönlichkeit überragender Begabung, besaß aber moralischen Mut und wollte die maßvolle Politik von Lincoln fortführen. Hierbei stieß er auf die unüberwindliche Opposition der radikalen Republikaner im Kongreß, die die Führung in den Händen hielten. In der Frage des Negerwahlredits waren diese Männer weniger von humanitären Motiven bestimmte als von der Sorge um den kommenden Wahlkampf. Ohne die Negerstimmen war ein Sieg der demokratischen Partei wahrscheinlich. Audi sprach einiges für schärferes Vorgehen in den Sezessionsstaaten, da sich dort deutliche Anzeichen für eine planmäßige Sabotage der Emanzipation offenbarten. Der Machtkampf zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß steigerte sich schließlich bis zum „impeachment" gegen den ' Präsidenten Johnson, das die Verfassung nur in ganz schwerwiegenden Fällen vorsah. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Mißbrauch der Amtsgewalt. In der entscheidenden Abstimmung vom 16. Mai 1868 wurde der Präsident von 35 Senatoren für schuldig, von 19 für nicht schuldig befunden. Es fehlte somit für die Verurteilung nur eine Stimme zu der notwendigen Zweidrittelmehrheit. Es ist später nie wieder zu einem solchen Verfahren gekommen. Zweifellos ging es um eine grundsätzliche Entscheidung. Der Sieg des Kongresses hätte u. U. das amerikanische System zerstört, das auf einer unabhängigen Exekutive beruhte. Im gleichen Jahr fand die neue Präsidentenwahl statt, die Wahl fiel auf Grant, den republikanischen Kandidaten. Der Name des ruhmreichen Generals blieb mit einer der dunkelsten Korruptionsperioden verbunden. Persönlich war er wohl integer, er betrachtete jedoch sein Amt als eine Art Versorgungsanstalt für ehemalige Kriegskameraden, so daß sich selbst in seiner unmittelbaren Umgebung Korruptionserscheinungen zeigten. Er war gegenüber den eigentlichen Drahtziehern ohnmächtig. Die „reconstruction" im Süden wurde mit allen Mitteln weitergetrieben, die Militärdiktatur errichtet und das Wahlrecht der Neger erzwungen. Die Neger waren auf dieses „Geschenk" in keiner

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Weise vorbereitet. Sie waren an Fürsorge gewöhnt, und da sie keinen Besitz hatten, wurden viele von ihnen zunächst in Not und Arbeitslosigkeit gestürzt, andere machten die Straßen unsicher. Nur in einigen Staaten kam es vorübergehend zu einer Herrschaft der Schwarzen; im allgemeinen hatten die armen Weißen, die „scalawags", in Verbindung mit neu hereingekommenen, oft wenig ehrenhaften Personen, den „carpetbaggers", das Heft in der Hand. Die neuen Verfassungen waren nur dem äußeren Anschein nach demokratisch. So wenig erfreulich auch diese Periode für die Zukunft der ehemaligen Sklaven war, einige positive Ergebnisse dürfen nicht übersehen werden. Die wirtschaftliche Erholung des Südens madite erstaunlich rasche Fortschritte. Kapital strömte ins Land, Fabriken wurden errichtet. In sozialer Hinsicht ist für die Schwarzen nicht wenig getan worden. Angesichts der immer mehr um sich greifenden Unsicherheit und Unordnung ging die weiße Bevölkerung zur Selbsthilfe über. Der terroristische nationalistische Geheimbund des Ku Klux Klan spielte dabei eine Hauptrolle. Die damals im Süden herrschende Atmosphäre ist in dem berühmten Roman von Margaret Mitchell „Gone with the wind" (Vom Winde verweht) eindrucksvoll geschildert worden. 1877 wurden die letzten Unionstruppen zurückgezogen. Schon in den vorhergehenden Jahren hatten die Konservativen in den meisten Staaten wieder die Oberhand gewonnen. Von einer tatsächlichen Gleichberechtigung der schwarzen Rasse war keine Rede mehr. Die Verschärfung der Gegensätze darf nicht allein der reconstruction zur Last gelegt werden. Im Alten Süden konnte H a ß gegen die Neger schon deshalb nicht entstehen, weil eine ernste Bedrohung durch die Sklaven nicht möglich war. Seit dem Bürgerkrieg bestand die ernste Lage, daß in einigen Bezirken die Neger in der Oberzahl waren und noch sind. Man glaubte sie daher aus dem politischen Leben ganz ausschalten zu müssen. Durch besondere Maßnahmen verschiedener Art, durch den Intelligenztest und die Großvaterklausel wurden sie des Wahlrechts beraubt. Scharfe Trennung der Rassen in allen öffentlichen Angelegenheiten, das Lynchsystem und andere Maßnahmen mehr sollten dazu beitragen, die befreiten Sklaven im Bewußtsein ihrer Inferiorität zu erhalten.

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Das Negerproblem warf seine Schatten weit voraus, es harrt noch immer der endgültigen Lösung. Wenn der Süden auch sein Gesicht behielt, so war doch die Welt des alten Südens unwiderruflich untergegangen. Neue Menschen kamen, die moderne Wirtschaft bildete die Gesellschaft um. Der Süden verband sein politisches Schicksal eng mit der demokratischen Partei. Als diese wieder zur Herrschaft gelangte, lag die Führung nidit mehr in den Händen von Nachkommen der Pflanzeraristokratie, die vor dem Bürgerkrieg einige der bedeutendsten Staatsmänner gestellt hatten. Für das politische Leben der Nation erlangte jedoch der Süden verhältnismäßig bald viel von seiner früheren Bedeutung zurück. 3. Kapitel Kapital und Staatsautorität Der Sezessionskrieg entschied darüber, daß die Einheit der Union von innen her nicht mehr bedroht werden konnte. Niemals wieder hat einer der Staaten gewagt, Bundesgesetze offen zu sabotieren oder gar den Austritt aus dem Bund zu erwägen. Damit stieg das Prestige der amerikanischen Republik. Viele Europäer hatten vor dem Krieg die Überzeugung gewonnen, daß die Spaltung unüberbrückbar geworden sei. Der einheitliche Wirtschaftsraum konnte jetzt eine Produktionskraft entwickeln, die den großen europäischen Industriestaaten, Großbritannien und Deutschland, durch Konkurrenz bald schwer zu schaffen machen sollte. Der Sieg der Union bedeutete jedoch durchaus nicht, daß nun auch die Bundesgewalt sofort an Autorität gewann. In der folgenden Periode zeigte es sich vielmehr deutlich, in welch unfertigem Zustande sidi der politische Organismus noch befand, wie sehr die ständige Zunahme der Einwanderung und der jähe Aufschwung der Wirtschaft die staatliche Autorität schwächten, wenn nicht ζ. T. sogar zunichte machten. Für die Zeit bis zum Beginn der imperialistischen Epoche lohnt es sich schwerlich, den Vorgängen im Weißen Haus oder im Kongreß, allzu große Aufmerksamkeit zu schenken. Wichtiges und Bedeutendes geschah im Bereich der Politik kaum. Der

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Eindruck der Mittelmäßigkeit herrschte vor, die eigentlich vorwärtstreibenden Kräfte lagen an anderer Stelle. Die innere Kolonisation und die wirtschaftliche Expansion hatten in dieser Epoche den Vorrang. Das Tempo, in dem sich dies vollzog, hat etwas Faszinierendes. Einigen Wirtschaftsführern ist sogar ein dämonischer Zug nicht abzusprechen, der dem amerikanischen Leben bisher fehlte: das Streben nach Macht. Die Amerikaner haben früher als die Europäer die in der modernen Technik und in den Fortschritten der Naturwissenschaften liegenden Möglichkeiten voll ausschöpfen können. In den riesigen Räumen bedeutete die Umwälzung im Verkehrswesen noch weit mehr als in den von einander abgegrenzten europäischen Nationalstaaten. Durdi Eisenbahn und Dampfsdiiff wurden gewaltige Entfernungen überbrückt, die Ozeane miteinander verbunden und die Rohstoffe an die verarbeitende Industrie herangeführt. Die modernen Erfindungen bedeuteten aber auch, daß die noch ungehobenen Bodensdiätze voll ausgeschöpft und die Leistungsfähigkeit der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion sprunghaft gesteigert werden konnten. Mit den Einwanderern standen stets genügend Arbeitsreserven zur Verfügung. Wohl gab es noch für längere Zeit ein Grenzerleben mit seiner sogenannten Wild-West-Romantik, ein ideales Betätigungsfeld für gewalttätige Naturen. Noch mußte mit den Eingeborenen um den Boden gekämpft werden, den sie beanspruchten. Für die Gesamtentwicklung hatte das aber keine entscheidende Bedeutung mehr; bereits seit den achtziger Jahren gab es nur nodi vereinzelte Grenzkämpfe. Es ging nicht mehr um die Kolonisation alten Stils, sondern um die Ausbeutung; der Raubbau nahm ein beängstigendes Ausmaß an. Die Eisenbahn drang in Gebiete vor, die vorher kaum von der Zivilisation berührt worden waren; neue Städte schössen wie Pilze aus dem Boden. Ein Wettlauf aller um die höchsten Gewinne hatte eingesetzt. Die Bewegungsfreiheit machte es den Stärksten und Rücksichtslosesten möglidi, Reichtümer anzusammeln. Ein ernsthaftes Hindernis gab es angesichts der Anfälligkeit weiter Kreise für Korruption nicht. Vielleicht ist der Ausdruck „Korruption" nicht einmal ganz berechtigt. Die Freiheit des einzel-

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nen von staatlidier Bevormundung, die entfesselten materiellen Energien, erlebten jetzt ihre höchste Steigerung. Gesetzliche Ordnung erwies sich dem gegenüber als ohnmächtig. Es war für kapitalkräftige Unternehmer oder Gesellschaften nicht schwierig, sich in den Besitz großer Ländereien zu setzen, ganz abgesehen davon, daß auch von den Siedlern Grundstücke gekauft werden konnten. Der Umfang dieser Ländereien war oft für europäische Begriffe unvorstellbar; so erhielt ζ. B. allein eine der Eisenbahngesellschaften, die Northern Pacific, 44 Millionen Morgen, fast ein Drittel der Oberfläche Frankreichs. Durch die direkte oder indirekte Einflußnahme auf den Kongreß, auf die Länderregierungen und Volksvertretungen war die Umgehung von Gesetzen möglich; die ökonomische Expansion machte vor dem partikularen Egoismus der Bundesstaaten nicht Halt. Schon in der früheren Periode war der jähe Aufstieg eines Mannes aus kleinen Anfängen keine Seltenheit gewesen. Ein deutscher Junge, Johann Jacob Astor, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, hatte sich mühsam das Geld für die Überfahrt erspart und kam durch Pelzhandel und vor allem durch den Ankauf von Grundstücken zu dem damals ungewöhnlichen Vermögen von 20 Millionen Dollar. Aber erst seit den fünfziger Jahren war die Zeit für die Ansammlung riesiger Vermögen gekommen, wie für die Eisenbahnkönige John P. Morgan, der gleichzeitig im Bankwesen eine führende Stellung erlangte, und die Vanderbilts, für George J . Gould, Collis Pi Huntington, James J . Hill und Edward H. Harriman, für den ölmagnaten John D. Rockefeller sowie für den Beherrscher des Stahls Andrew Carnegie. Die von diesen Männern ins Leben gerufenen Gesellschaften entwickelten eine ungeheure Macht. Sie sollten nodi viele Nachfolger haben. Solche Persönlichkeiten waren oft weit mehr als nur Geschäftsleute und Unternehmer. Sie besaßen die Eigenschaften großer Strategen: Kühnheit und Initiative, Kombinationstalent und Menschenkenntnis. Sie wagten oft sehr viel; jederzeit mußten sie auf Rückschläge gefaßt sein. Nicht wenige von ihnen hatten sich von unten emporgearbeitet; oft ohne höhere Bildung, waren sie allein auf eigenes Können angewiesen. Daher waren diese Männer auch so stolz auf ihren Aufstieg, sie fühlten sich

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durch ihren Reichtum kaum im Gewissen bedrückt, da es nach ihrer Meinung jedem Amerikaner frei stand, das Gleiche zu erreichen. Dabei übersahen sie später nur allzuleicht, daß die erdrückende Ubermacht der jetzt entstehenden Trusts und Monopole viele kleine Existenzen in Frage stellte, bzw. daß ein gleich günstiger Start für Neueinwanderer nicht mehr bestand. Von den Zeitgenossen und der Nachwelt wurden sie scharf kritisiert oder gar als Verbrecher angeklagt, die skrupellos und ohne Schonung ihrer Mitmenschen rein egoistischen Zielen nachgejagt hätten. Einige wenige Familien, so wurde gesagt, seien die eigentlichen Herren Amerikas geworden und hätten die Demokratie zu einer Farce gemacht. Sicherlich lassen sich in den Lebensbildern dieser Geldfürsten recht dunkle Flecken entdecken. Ihre Methoden waren oft recht bedenklich. Und doch ist eine völlige Verurteilung nicht am Platz. Sie haben Leistungen vollbracht, die unter den damaligen Verhältnissen letzten Endes auch den breiten Schichten zugute kamen. Sie sicherten für viele Menschen Arbeitsplätze, die Massenproduktion verbilligte den Lebensstandard des kleinen Mannes. Die Mächtigsten unter ihnen haben sogar zunächst eine Aufgabe übernommen, zu deren Erfüllung die schwache Staatsführung noch nicht imstande war. Sie brachten in das durch den Kampf aller gegen alle vorübergehend entstandene Chaos eine Art von Ordnung. Besonders im Eisenbahnwesen herrschten anfänglich unglaubliche Zustände, planlose Preisgestaltung, Uberfälle auf Eisenbahnzüge usw. Die Bildung der Trusts entsprang doch audi den Bedürfnissen, den regellosen Wettbewerb durch Zusammenschluß einzuschränken. Das Großkapital ist in beschränktem Umfange auch in anderer Hinsicht für den Staat eingesprungen. Es hat für das Erziehungswesen, für Wissenschaft und Kunst nicht wenig getan. Die noch starke Bindung einiger Wirtschaftsführer an einen kirchlich geprägten Calvinismus darf nicht einfach als Heuchelei abgetan werden. Hiermit war eine Art Selbstbindung, das Verantwortungsgefühl für Gemeinschaftsaufgaben verbunden, das aus Geltungsdrang allein nicht zu erklären ist. Die großzügigen Stiftungen für Universitäten, wissenschaftliche Institute und philanthropische Einrichtungen aller Art kamen der 6

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Forschung und der allgemeinen Volksbildung zugute. Die Rockefeller- und Carnegiestiftung haben bis in die Gegenwart hinein ihre Lebenskraft bewahrt. Jene dient der internationalen Wissenschaft, diese der Friedensbewegung. Die berühmten Bildersammlungen der Vanderbilts und Morgans haben die amerikanischen Museen bereichert. Für ein Mäzenatentum, wie es die großen europäischen Kulturepochen gekannt hatten, fehlten selbstverständlich nodi die Voraussetzungen. Trotzdem bleibt es bestehen: Die Zusammenballung der wirtschaftlichen Macht in den Händen weniger bedeutete ein ernstes Problem für die Staatsautorität, für die Demokratie wie für die persönliche Freiheit. Obwohl die Spitzengruppe nur 2 % der Bevölkerung ausmachte, besaß sie zeitweilig 60 °/o des Gesamtvermögens. In der schweren Krise von 1895 war schon allein der Morgantrust in der Lage, den bedrohlichen Goldabfluß ins Ausland zu verhindern. Neben dem Negerproblem wurde dies die zweite große Sorge für viele Amerikaner. Stellten Sklaverei und nach ihrer Aufhebung die Rassendiskriminierung die Gleichheit in Frage, so mußte sich der amerikanische Bürger auch durch die Erfahrung belehren lassen, daß die Bedrohung der Freiheit keineswegs nur von Fürsten und Aristokraten ausgehen, sondern daß ihre Gefährdung aus der Gesellschaft selbst kommen kann. Die Entwicklung hat dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen konnten. Gleichzeitig mit der Konzentration der Wirtschaftsmacht in den Händen weniger machte aber auch die Demokratisierung des amerikanischen Lebens große Fortschritte. Die Mammutbetriebe waren in der Lage, Massengüter zu billigen Preisen herzustellen, die auch für den Verbraucher mit einem bescheidenen Einkommen erschwinglich waren. Der Lebensstandard für die arbeitende Bevölkerung verbesserte sich ständig. Das öffentliche Bewußtsein wurde ein Machtfaktor, der nicht einfach unbeachtet bleiben konnte. Die Hochfinanz mußte mit den erstarkenden Arbeiterorganisationen rechnen. Je krasser die Mißstände wurden, um so stärker machte sich der Wille zu umfassenden Reformen geltend, der in den Programmen beider Parteien seit der Jahrhundertwende seinen Niederschlag fand.

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Die Frage ist zu beantworten, wie es kommen konnte, daß die amerikanische Demokratie weder zu einer radikalen Massenherrsdiaft noch zum Despotismus der Einzelpersönlichkeit geführt hat. Die Antwort darauf ist keineswegs so einfach, wie sie häufig gegeben wird: die Möglichkeiten für den wirtsdiaftlidien Aufstieg des kleinen Mannes seien in den Vereinigten Staaten so groß gewesen, daß gefährliche soziale Spannungen immer wieder aufgefangen werden konnten. Die Zeitspanne zwischen dem Bürgerkrieg und dem Ersten Weltkrieg wurde durchaus nidit durch eine gleichmäßige wirtschaftliche Aufwärtsbewegung in den USA gekennzeichnet. Vielmehr ist es, meist zur gleichen Zeit wie in Europa, zu wiederholten schweren Wirtschaftskrisen gekommen, wie etwa 1873 und 1907. Das Los der Menschen, die sich in großen Städten zusammenballten, war oft erbarmungswürdig, da sozialer Schutz noch gänzlich fehlte, so daß den Einzelnen N o t und Arbeitslosigkeit in schonungsloser Härte treffen konnten. Auch in den USA bestand zwischen Arm und Reich eine tiefe Kluft, die Gewerkschaften, die ständig größeren Einfluß gewannen, haben durch eine Kette von Streiks versucht, höhere Löhne zu erzwingen. Größere Unruhen wurden von Unternehmern mit Hilfe der Staatsgewalt oft mit brutalen Mitteln niedergeschlagen. Der H a ß gegen die Reichen um die Jahrhundertwende war um so größer, als sie nicht selten ihren unerhörten Luxus herausfordernd zur Schau stellten. Auch in den USA haben sozialistische und anarchistische Strömungen jeder Art fanatische Anhänger gefunden. Um 1910 gewann die Sozialistische Partei immerhin eine solche Bedeutung, daß sie hoffen durfte, sich im politischen Machtkampf durchzusetzen, worin sie sich freilich täuschen sollte. Es ist schließlich beim Zweiparteiensystem geblieben. Aber auch von anderen Seiten wurde die Gefährdung von Gesetz und Ordnung immer größer, zahlreiche kriminelle Elemente, als Banden vorzüglich organisiert, haben in den großen Städten, wie in Chicago, Unterschlupf gefunden, gegen die sich die Polizei als machtlos erwies. Die sogenannte „Frontier", die sich immer weiter nach Westen hin ausdehnte, ist für die Bildung eines demokratischen Gemeinschaftsbewußtseins keineswegs so geeignet gewesen, wie dies behauptet worden ist. 6*

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Wohl verloren im Grenzerleben vorübergehend Standes- und Klassenunterschiede an Gewicht; gemeinsame Schwierigkeiten und Gefahren erzwangen wechselseitige Hilfe. Aber gerade im äußersten Westen, in der vorgeschobensten Linie, konnten sich audi in unbeschränktem Maße Roheit, gesetzloser Geist, krasser Egoismus des einzelnen entfalten. O f t genug gab das Faustrecht des Stärksten und Rücksichtslosesten den Ausschlag. Angesidits der ständigen Veränderungen in der Sozialstruktur sowie in der noch schwach ausgebildeten Staatsautorität wäre es an und für sich denkbar gewesen, wenn einzelne Machtmenschen oder sozialistische und anarchistische Kräfte sich schließlich durchgesetzt hätten. Jedoch ist dieses nicht geschehen, die Absicherungen haben sich als stark erwiesen. Trotz mancher Krisen und zeitlichen'Wandlungen ist der ursprüngliche Geist der amerikanischen Verfassung lebendig geblieben. Die USA besaßen von Anfang an eine sich von unten ständig ergänzende Führungsschicht, die die Mentalität des kleinen Mannes kannte und ihr Rechnung trug, die aber auch über den Instinkt, den Willen und die Entschlossenheit verfügte, jeden Radikalismus im Keime zu ersticken. Diesen Gruppen, die in Staat, Wirtschaft und Kirche die Schlüsselstellungen hielten, hat das puritanische Erbe in erster Linie die prägende Kraft gegeben. Der Puritanismus vermittelte eine bestimmte Lebenshaltung, den ausgeprägten Wirklichkeitssinn, das moralische Weltbild, den geheimen Glauben an den schließlichen Sieg des Geistes, die schroffe Ablehnung der Vorherrschaft des Irrationalen. Gerade die damit verbundene Einseitigkeit ließ keine Erschütterungen des Gesellsdiaftsgefüges zu. George Santayana hat in seinem Roman „The last Puritan" diesem Typus ein Denkmal gesetzt. Der Autor hat nicht den Preis verschwiegen, der dafür gezahlt werden mußte: die seelische Belastung ganzer Generationen infolge der bewußten Unterdrückung des natürlichen Gefühlslebens. In der amerikanischen Demokratie kam individuelle Freiheit nicht zu kurz. In der Periode der Kolonisation war es selbstverständlich, daß der einzelne Mensch, die Gruppe, die Kirdiengemeinde über ihr Schicksal selbst bestimmten. Aber auch später blieb das ungeschriebene Gesetz in Kraft, daß der Mensch auf

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eigene Verantwortung handeln müsse. Der Existenzkampf stellte hohe Anforderungen an den menschlichen Willen, er forderte den kämpferischen Einsatz des ganzen Menschen. Kapitulation galt als Sünde. Die Erreichung des Zieles steigerte daher auch das Selbstvertrauen des Durchschnittsmenschen, er vermochte nicht im Kollektiv aufzugehen. Ein einheitliches Klassenbewußtsein der amerikanischen Arbeiterschaft konnte sich trotz aller sozialen Spannungen schon deshalb nicht durchsetzen, weil zwischen den Alteingesessenen und den Neueinwanderern, zwischen den Menschen verschiedener Rassen und völkischer Herkunft die Gegensätze noch stärker waren als zwischen Reichen und Armen. In den amerikanischen Gewerkschaften hat der Marxismus nur wenige Anhänger gewonnen, ganz besonders haben die kontinental-europäischen Arbeitervertreter immer wieder gestaunt, daß bei ihren amerikanischen Kollegen keine Religionsfeindschaft bestand. So hat, im ganzen gesehen, das Hauptproblem in Europa, zwischen dem Bedürfnis nach individueller Freiheit und den Interessen der Gesellschaft einen Ausgleich zu finden, wenigstens für lange Zeit keine wesentliche Rolle gespielt. Der Glaube an die Demokratie als die geeignetste Gesellschaftsform blieb unerschüttert. Wenn wenigstens theoretisch an dem Grundsatz festgehalten wurde, daß gleidie Chancen für alle bestehen sollten, so mußte dafür allerdings ein Preis gefordert werden: der Verzicht auf eine von den unteren Klassen abgesonderte Bildungssdiicht, die Anpassung an die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Mehrheit. Es war von jeher ein charakteristisches Merkmal des amerikanischen Lebens, worauf schon James Bryce hingewiesen hat, daß es in Amerika leichter war, Geld zu erwerben als es auszugeben, da für lange Zeit viele Annehmlichkeiten fehlten, die in Europa selbstverständlich waren. So hielt sich auch das Kulturniveau auf einer mittleren Höhe; der gesamte Zuschnitt war nicht für eine anspruchsvolle Minderheit bestimmt. Der Aufbau der amerikanischen Demokratie läßt sich ohne metaphysischen Hintergrund nicht denken. Ihr Fundament war der Glaube an das Gute im Menschen, an seine Entwicklungsfähigkeit zu höheren Stufen. Dieser Glaube hing nicht nur mit

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der Aufklärung, mit dem Naturrecht zusammen, er wurde auch durch die Erfahrung in Amerika bestätigt, daß der Mensch über sich selbst hinauszuwachsen vermag, wenn er vor der Notwendigkeit steht, eigene Entscheidungen treffen zu müssen. Diese Grundauffassung wurde von der Wirklichkeit oft Lügen gestraft. Die Grenzen wurden nicht genügend beachtet, die der menschlichen Natur gesetzt sind. Der materielle Fortschritt wurde nicht ohne Naivität dem moralischen gleichgesetzt. Pharisäische Überheblichkeit, das Bestreben, andere Völker zu der eigenen Lebensform zu erziehen, beeinflußten allzu lange den Geist der amerikanischen Außenpolitik. Aber die Bereitschaft zu immer neuen Wagnissen und Experimenten war doch auch eine Herausforderung der übrigen Welt, vornehmlich Europas. Denn angesichts der tragischen Geschichte dieses Erdteils bestand die umgekehrte Gefahr, daß die Europäer zu einer allzu pessimistischen Beurteilung der menschlichen Möglichkeiten, zu Skepsis und Resignation neigten. Der Vorrang, den die innere Kolonisation zunächst hatte, bedeutet nicht, daß die Außenpolitik keine wesentliche Rolle spielte. Es wurde manches vorbereitet bzw. nicht vernachlässigt, was in einer späteren Zeit sich lohnen sollte. Dies galt vor allem für den pazifischen Raum. Die politische Führung in den USA war sich von vornherein bewußt, daß dort deren Bestimmung und Zukunft, vornehmlich für den Handel lag. Der Ehrgeiz, nach dem Vorbild Europas bewußte Großmachtpolitik zu treiben, bestand in den Vereinigten Staaten trotz ständiger territorialer Ausdehnung und dem Bevölkerungswachstum noch nicht. In europäischen Augen galten die USA noch in den achtziger Jahren kaum als Großmacht. Jedoch fehlte es auch nie an Ansätzen zu einer aktiven Außenpolitik. Der Wunsch, Kanada zu annektieren, wurde noch für längere Zeit nicht aufgegeben. Während des Unabhängigkeitskrieges und danach schien sich eine letzte Möglichkeit zu bieten. Die irische Sinnfeinerbewegung, voller Erbitterung gegen England, versuchte in Kanada unter Ausnützung der inneren Gärung Unruhe zu stiften. Doch wurde diesem Wunsch ein Ende bereitet, als Großbritannien seine einzelnen nordamerikanischen Besitzungen 1867 zum Dominion von Kanada zusammenfaßte. Kanada blieb

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nodi für längere Zeit ein zuverlässiges Mitglied des britischen Commonwealth, bis es nadi dem Ersten Weltkrieg in eine weitgehende wirtschaftliche Abhängigkeit zu den USA geriet. Die inneren Spannungen in Kanada zwischen dem englisch und französisch spredienden Volksteil konnten damit allerdings nicht überwunden werden, da es sich dabei um große gesellschaftliche und konfessionelle Unterschiede handelte, die noch in unseren Tagen eines Ausgleichs bedürfen. Einen beachtlichen Erfolg erzielte der Außenminister William H. Seward, der nach Lincolns Tod die amerikanische Außenpolitik leitete, durch den Ankauf von Alaska im März 1867. Die russische Regierung hatte mehr und mehr das Interesse an Alaska verloren, da die beabsichtigte Ausdehnung an der Nordwestküste durch die englische Festsetzung in Columbia und durch die Einverleibung Kaliforniens in die Union unmöglich gemacht wurde. Der Kaufpreis betrug 7,2 Millionen Dollar. Die ame^ rikanische Öffentlichkeit sah den Gebietszuwachs als ein sehr sdilechtes Gesdiäft an. In der Tat blieb Alaska, räumlich von den USA getrennt, noch für längere Zeit ein Gegenstand der Sorge, gewann aber infolge der Goldfunde, des Pelzhandels und der Fischerei steigend an wirtschaftlicher Bedeutung, wenn auch angesichts des Klimas und der Bodenbeschaffenheit das Land dünn besiedelt blieb. Der hohe strategische Wert dieser Erwerbung wurde erst in unseren Tagen erkannt. Außer Seward verfolgte der Außenminister James G. Blaine weitreichende Pläne, soweit es ihm seine kurze Amtstätigkeit — er bekleidete nur 1881 und 1889 bis 1898 das Amt — dazu Gelegenheit gab. Blaine hat schon die außerordentlidie Bedeutung eines künftigen zwischenozeanischen Kanals für die USA erkannt und das Ziel verfolgt, ihn unter deren ausschließliche Kontrolle zu bringen. Vor allem erwarb sich Blaine um die panamerikanische Politik Verdienste. Er ging dabei von dem Gedanken aus, den Einfluß Englands in Lateinamerika zurückzudrängen und die amerikanischen Märkte für die Union zu öffnen. Gleichzeitig wünschte er den Doppelkontinent gegen jeden Versudi einer Einmischung von außen zu einigen. Seine Bemühungen hatten insofern Erfolg, als am 2. Oktober 1889 der erste panamerikanische Kongreß zusammentrat, der ange-

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sidits der sehr unterschiedlichen Entwicklungsstufe der Staaten zwar Blaines hochfliegende Ziele nicht verwirklichte — dafür war die Zeit noch nidit reif —, aber immerhin wurde als dauernde Einrichtung das Büro der amerikanischen Republiken in Washington ins Leben gerufen. Im übrigen war aber die öffentliche Meinung noch allen gewagten Abenteuern abgeneigt; die verschiedenen amerikanischen Regierungen mußten sich darauf beschränken, um jeden Preis zu verhindern, daß ein für die Sicherheit der USA gefährlicher Besitzwechsel bei den Inselgruppen im Atlantischen und Pazifischen Ozean eintrat. Annexionswünsche besonders hinsichtlich Kubas und Hawaiis wurden noch zurückgestellt; nur in der Samoagruppe faßten die Amerikaner gemeinsam mit den Engländern und Deutschen in den siebziger Jahren Fuß, da audi ihre strategische Bedeutung nidit übersehen wurde. Aus der Rivalität der drei Mächte ergaben sich dann ernste Schwierigkeiten. 4. Kapitel Die USA und die Bildung des Weltstaatensystems Vom Ende der neunziger Jahre an wird der Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik datiert. Es ist leicht möglidi, diesen Übergang allzu sehr zu dramatisieren. Das Zeitalter des Imperialismus ergab sich aus dem steigenden Nationalismus der Völker, aus der Industrialisierung und der damit verbundenen Bevölkerungsvermehrung. Der allgemeine Wettlauf um die Gewinnung neuer Kolonialräume und die Mitbeherrschung der Weltmärkte, um die Errichtung politischer und wirtschaftlicher Interessensphären setzte ein. Die Umwälzungen, die sidi im Verkehrswesen vollzogen, ermöglichten die Überwindung großer Entfernungen; die Erde schrumpfte gewissermaßen zusammen, die Erdteile traten in eine unmittelbare Beziehung zu einander. Politische wie wirtschaftliche Expansion nahm globalen Charakter an. Damit verschob sich auch der Begriff der Großmacht, der zu allen Zeiten einem Wechsel unterlegen hatte; die eigentlichen Weltstaaten traten in den Vordergrund. Darunter sind in erster Linie diejenigen Maditgebilde zu ver*

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stehen, deren Interessen sidi wie diejenigen des Britisdien Imperiums über mehrere Kontinente erstrecken oder die, durch die Lage an Weltmeeren begünstigt, Weltpolitik treiben konnten. Es war so nur natürlich, daß nunmehr auch die außereuropäischen Räume an Eigengewicht gewannen. Welches Land konnte dazu mehr prädestiniert sein als die USA, die von zwei Ozeanen umgeben waren, deren Handel sidi über die ganze Welt ausdehnte? Die Industrie war an die erste Stelle getreten; von 1859 bis 1914 steigerte sich der Wert ihrer Erzeugnisse um das Achtzehnfache. Bereits 1894 war die Industrieproduktion der USA doppelt so groß wie die Englands, sie betrug halb so viel wie die ganz Europas. Wohl konnten die Amerikaner im Gegensatz zu den Engländern sidi aus ihrer Landwirtschaft selbst versorgen. Aber sie bedurften neuer Absatzmärkte; die Erfordernisse des Handels mußten fortan ihre Außenpolitik bestimmen. Die dogmatisch erstarrte Isolierung entsprach nicht mehr der zwangsläufigen Entwicklung zur Weltwirtschaft und zur Weltpolitik. Das Jahr 1890 bedeutete für die nordamerikanische Union insofern einen tiefen Einschnitt, als nunmehr die Periode der freien Landabgabe abgeschlossen war. Die Konsolidierung begann, der wirtschaftliche Unternehmergeist drängte über den Kontinent hinaus. Die USA gingen dazu über, der imperialistischen Zeitströmung Rechnung zu tragen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung darauf nodi nicht vorbereitet war. Nur in den Küstenstaaten war tieferes Verständnis für den überseeischen Handel und seinen Schutz vorhanden; im mittleren Westen blieben der Geist der Selbstgenügsamkeit, provinzielles Denken noch vorherrschend. Eine allgemein verpflichtende außenpolitische Tradition konnte es nicht geben. Es war deshalb zunächst nur eine Minderheit, die die neue Politik willensmäßig getragen hat: die USA sind, so könnte man es ausdrücken, gegen ihren Willen Groß- und schließlich Weltmacht geworden. So blieb auch in der imperialistischen Epoche der amerikanischen Außenpolitik die Tendenz zur moralischen Rechtfertigung erhalten; an eine direkte und dauernde Beherrschung fremder Völker mit militärischen Mitteln wurde nur zögernd herange-

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gangen. Zwar konnte auch die „Dollardiplomatie", das Vorschieben wirtschaftlicher Machtsphären, besonders in Lateinamerika, von den betroffenen Staaten nur als Beeinträchtigung der Unabhängigkeit aufgefaßt werden, da sie gelegentlich mit militärischen Interventionen verbunden war. Der Bürger der Vereinigten Staaten beruhigte jedodi sein Gewissen damit, daß die Kapitalinvestitionen doch den nodi wirtschaftlich unentwickelten Ländern zugute kamen. Audi ließ sich immerhin zugunsten dieser Methoden sagen, daß sie leichter zu revidieren waren als territoriale Erwerbungen. Der Glaube an die Allmacht der Wirtschaft und damit an einen dauernden Fortschritt barg jedoch die Gefahr in sich, daß mindestens ebenso wichtige geschichtliche und psychologische Faktoren in ihrer Bedeutung zu gering veranschlagt worden sind. Aus der Tatsache, daß die USA im Widerspruch zum Gesetz, nach dem sie angetreten waren, zur Machtpolitik gelangt sind, läßt sich der Schluß ziehen, daß sich die Bildung einer Großmacht keineswegs nur aus den Handlungen einzelner ehrgeiziger Führer erklärt, sondern daß ein Staat von einer gewissen Größe sich der Zwangsläufigkeit nicht entziehen kann, wenn die Zeit dafür reif ist und die Voraussetzungen dafür vorhanden sind. Der neue Geist der amerikanischen Außenpolitik wurde zum ersten Mal in dem Venezuelastreit mit Großbritannien 1895 wirksam. Seit einiger Zeit hatte sich zwischen England und Venezuela ein Konflikt um die Grenzen mit Britisch Guyana entwickelt. Die britische Regierung verlor schließlich die Geduld und wollte die Frage auf gewaltsamem Wege lösen. Da griff die amerikanische Regierung ein und verlangte eine schiedsgerichtliche Lösung. Die Monroedoktrin wurde dahin ausgelegt, daß die Sicherheit der USA durch jedes Vorgehen einer auswärtigen Macht gegen einen anderen amerikanischen Staat verletzt werden konnte. Da die englische Regierung diesen Standpunkt für unannehmbar erklärte, bestand vorübergehend ernstliche Kriegsgefahr. Aber auf beiden Seiten des Atlantik setzte sich die Erkenntnis rasch durch, daß ein Konflikt zwischen den beiden englisdisprechenden Nationen ein Unglück sein würde. Der britische Kolonialsekretär Joseph Chamberlain machte sich in einer Rede am 25. Januar 1896 zum Wortführer

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dieser verbreiteten Stimmung. Durch ein internationales Schiedsgericht wurde der Grenzstreit überwiegend zugunsten Englands entschieden (2. Februar 1897). Den Auftakt zur Gewinnung von maritimen Stützpunkten bildete die Besetzung von Hawaii, wo revolutionäre Unruhen der Eingeborenen ausgenützt werden konnten. Die offene Annexion wurde erst am 7. Juli 1898 vollzogen. Im Jahre 1898, nach dem spanisch-amerikanischen Krieg, trat die nordamerikanische Republik, wenn auch nicht ohne Zögern, mitbestimmend in die Weltpolitik ein. Die Vorgeschichte dieses Krieges umfaßt einen längeren Zeitraum. Es war begreiflich, daß es den amerikanischen Regierungen unbehaglich sein mußte, die größte Insel des Karibischen Meeres, in der unmittelbaren Sicherheitszone der Union liegend, in den Händen einer größeren europäischen Macht zu wissen. Auch waren die wirtschaftlichen Interessen bedeutend. Die Investitionen in Kuba betrugen kurz vor Ausbruch des Krieges 50 Millionen, der jährliche Handel hatte einen Wert von 100 Millionen Dollar. Die Spanier konnten im 19. Jahrhundert niemals eine Befriedung der Insel erreichen, um so weniger als die einheimischen Rebellen heimlich durch Waffen und auch durch Freiwillige vom Kontinent aus unterstützt wurden. Die amerikanische öffentliche Meinung wurde immer wieder durch die mit der Niederwerfung des Aufstandes verbundenen Gewalttaten erregt, der Gedanke eines militärischen Eingreifens ist bereits seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wiederholt aufgetaucht. Seit 1895 befand sich Kuba in vollem Aufstande; die Kubaner verlangten die Unabhängigkeit. Von beiden Seiten sind große Grausamkeiten verübt worden, auch Konzentrationslager wurden schon damals von den Spaniern eingerichtet. Die Rebellen haben absichtlich amerikanische Werte vernichtet, um die Stimmung in den USA gegen Spanien zu beeinflussen. In dieser Zeit hat zum ersten Mal der Einfluß der modernen Massenpresse eine erhebliche Rolle gespielt. Die schon nach dem Bürgerkrieg begründete Pulitzer- sowie die 1897 ins Leben gerufene Hearst-Presse stellten ihre Massenblätter in erster Linie auf Sensation ab, wobei auf die Zuverlässigkeit der Nachrichten kein besonderer Wert gelegt wurde. Einflußreidie Kreise,

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besonders der damalige Unterstaatssekretär der Marine Theodore Roosevelt, trieben offen auf den Konflikt hin; die Präsidenten Grover Cleveland und William McKinley waren zunächst noch um eine friedliche Lösung bemüht. Am 15. Februar 1898 sank im Hafen von Havanna das amerikanische Kriegsschiff „Maine". Die Ursache ist nie geklärt worden. Die Untersuchungskommission der amerikanischen Marine nahm Einwirkung eines U-Bootes an. Es ist aber ebensogut möglich, daß eine Explosion stattgefunden hat oder daß die Aufständischen selbst vielleicht mitschuldig waren. Den Spaniern konnte an einer Verschärfung der Lage kaum gelegen sein. Die Erregung in der amerikanischen Öffentlichkeit nahm fast hysterische Züge an. Von allen Seiten ertönte der Ruf „Remember Maine!". Für die Rüstung bewilligte der Kongreß 50 Millionen Dollar. Die Regierung stellte Spanien eine Art Ultimatum: sofortiger Waffenstillstand und Aufhebung der Konzentrationslager. Die spanische Regierung versuchte, die europäischen Mächte für eine Unterstützung zu gewinnen, konnte aber nicht mehr erreichen, als daß in sehr vorsichtiger Form in Washington die Vermittlung angeboten wurde. In letzter Stunde nahm die spanische Regierung alle amerikanischen Forderungen an. Präsident McKinley, inzwischen von der Unvermeidbarkeit des Krieges überzeugt, verlangte trotzdem am 11. April im Einklang mit der Stimmung im Lande vom Kongreß Vollmachten für bewaffnete Intervention. Sehr rasch zeigte sich, daß von der stolzen Vergangenheit Spaniens angesichts der dauernden inneren Wirren nidits mehr übrig geblieben war. Der Hauptschlag zur See fiel vor den Philippinen. Hier vernichtete der Admiral George Dewey ohne eigene Verluste das spanische Geschwader (l.Mai). Die Folge war ein Aufstand der Philippinos gegen die spanische Herrschaft. Die spanisdie Monarchie, von keiner europäischen Macht tatkräftig unterstützt, mußte schon im Präliminarfrieden von Washington am 12. August harte Bedingungen annehmen: völliger Verzicht auf Kuba, Abtretung von Puerto Rico und einer MarianenInsel, Überlassung von Stadt und Hafen von Manila bis zum endgültigen Frieden, der, nachdem Manila am 13. August kapituliert hatte, am 10. Dezember in Paris abgeschlossen wurde.

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Außer Kuba erhielten die Vereinigten Staaten die ganzen Philippinen-Inseln gegen eine Entschädigung von 20 Millionen Dollar, dazu Puerto Rico und Guam. Kuba kam zunächst unter amerikanisches Protektorat, wurde aber 1934 unabhängig, als es zur Selbstverwaltung reif zu sein schien. Dies erwies sich allerdings als ein Irrtum. Kuba wurde weiterhin von schweren inneren Unruhen erschüttert, bis es 1959 zur erfolgreichen Revolution unter Fidel Castro kam, mit den ernsten Folgen, die sich hieraus für die USA ergaben. Die Amerikaner hatten den schweren Fehler begangen, nicht rechtzeitig für eine zeitgemäße wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen, die den ärmeren Schichten zugute gekommen wäre. Die Philippinen, Puerto Rico und Guam wurden annektiert; aber nur Guam blieb amerikanischer Flotten- und Luftstützpunkt; die Philippinen wurden 1946 unabhängig mit Einbeziehung in das strategische System der USA, Puerto Rico erhielt 1952 Dominion-Status. Trotzdem handelte es sich um einen grundsätzlichen Wandel. Es kam vor der Jahrhundertwende zu leidenschaftlidi geführten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und den Gegnern des Imperialismus, zu den letzteren gehörten u. a. die Deutsch-Amerikaner Karl Schurz und Hermann v. Holst. Die Befürworter wiesen auf die wirtschaftlichen und strategischen Vorteile hin, auf die Verantwortung für nodi unterentwickelte Völker; die Gegner betonten den Verlust an moralischem Prestige, den die USA erleiden würden, die Gefahr für die innere Freiheit, wenn das Recht durch Macht ersetzt wurde. Seit der Jahrhundertwende schalteten sich die Vereinigten Staaten in zunehmendem Maße in das Kräftespiel der anderen Großmächte ein, zu denen als einziger asiatischer Staat Japan seit dem Kriege mit Rußland gehörte. Der Schwerpunkt lag für die USA im Pazifik. Von den Veränderungen, die sich damals in der Weltpolitik vollzogen, konnte auch die Union nicht unbeeinflußt bleiben. Die Beziehungen zu Europa waren bisher überwiegend handelspolitisch und ideologisch bestimmt gewesen. Amerika war die Freistätte für die Verfolgten und Unterdrückten gewesen, in den europäischen Kriegen erblickte man einen Anachronismus, eine Entwicklungsstufe, die Amerika über-

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wunden zu haben meinte. Wichtige Fragen wurden fast nur gegenüber Großbritannien und Spanien aufgeworfen, die als traditionelle Gegner angesehen wurden. Jetzt wurde das doch anders; die zwischenstaatlichen Beziehungen waren den jeweiligen politischen Interessen der Union untergeordnet. Es erfolgte vor allem ein Umschwung im Verhältnis zu Großbritannien. Die Weltsituation gebot beiden Mächten die Überprüfung ihrer bisherigen Beziehungen. Das Britische Imperium befand sich in dieser Periode in einer bedrohlichen Isolierung. Im Mittleren und Fernen Osten überschnitten sich die britischen und russischen Interessensphären; die Spannung zwischen England und Frankreich erreichte 1898 im Sudan (Faschoda) ihren Höhepunkt. Der 1899 ausbrechende Burenkrieg zeigte mit erschreckender Deutlichkeit, daß England in Europa keinen zuverlässigen Freund mehr besaß. Die britische Regierung, insbesondere der Kolonialminister Joseph Chamberlain, war überzeugt, daß die bisher so erfolgreiche Politik der splendid isolation sidi nicht mehr aufrecht erhalten ließ. Chamberlain schwebte zunächst eine engere Verbindung mit dem Deutschen Reich und mit den Vereinigten Staaten vor, ein Vorschlag, der allerdings in den USA kühl aufgenommen wurde. Zwischen 1898 und 1902 fanden mit der deutschen Regierung jene Verhandlungen statt, die auf eine gemeinsame Politik in den Hauptfragen, wenn nicht auf ein Bündnis, abzielten. Sie scheiterten an dem gegenseitigen Mißtrauen, an dem irrigen Glauben der Reichsregierung, noch für längere Zeit volle Handlungsfreiheit zu haben, an der Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner für die von einander abweichenden Ziele zu finden. Im gleichen Zeitabschnitt erfolgte eine Annäherung Großbritanniens an die USA, deren Machtaufstieg im pazifischen Raum nicht übersehen wurde. Die Dominions von Kanada, Australien und Neuseeland, die ihr Eigengewicht immer stärker zur Geltung brachten, drängten schon aus wirtschaftlichen Gründen auf einen solchen Ausgleich hin. In der Union kamen vor allem die Vertreter der jüngeren Generation, die nicht mehr mit überkommenen Vorurteilen belastet waren, solchen Bestrebungen entgegen. Rußlands Fernostpolitik, insbesondere

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seine Bemühungen, sich in der Mandschurei festzusetzen, sowie die beginnende Beunruhigung, die von Deutschland und Japan ausging, konnten nidit ohne Einfluß bleiben. Für eine Handelsmacht, wie es die USA waren, mußte die Sicherung der großen Handelsstraßen vor allem wichtig sein. Dies konnte nur gelingen, wenn die damals nodi stärkste Flotte der Welt, die britisdie, nidit im Kriege gegen die USA eingesetzt werden konnte. Für die angelsächsischen Mächte mußte die Beilegung der bisherigen Streitigkeiten weit mehr im gegenseitigen Vorteil liegen als ein bewaffneter Konflikt, der für das Britische Imperium angesichts der sdiwer zu verteidigenden kanadischen Grenzen kaum auf dem Lande, für die amerikanische Union zur See nicht zu gewinnen war. Es war allerdings nicht einfach, die Vergangenheit zu überwinden. Weder in England noch in den USA waren die Unabhängigkeitskriege vergessen. Der Bürgerkrieg hatte von neuem das Klima verschlechtert. Da England noch über Besitzungen in Nord- und in Mittel- und Südamerika verfügte und wichtige Stützpunkte in Westindien und im Pazifik behielt, gab es stets genügend Konfliktstoff. Die zahlreichen nach Amerika ausgewanderten Iren trugen ein unverhülltes Ressentiment gegen die Engländer zur Schau. Andererseits war aber auch nie aus der Erinnerung verschwunden, daß die Vereinigten Staaten aus englischen Kolonien hervorgegangen waren, daß englische Einrichtungen und Vorstellungen in Politik, Kirche und Kultur, wenn auch in abgewandelter Form auf dem amerikanischen Kontinent fortwirkten. Im beiderseitigen Verhältnis zu Kontinentaleuropa bestand eine beschränkte Interessengemeinschaft. So kam es in einer veränderten Welt zu einem Einverständnis, dessen diplomatische Vorbereitung zwischen 1896 und 1903 liegt. Die Wende kündigte sich auch in einem Teil der Publizistik an. In Büchern, Zeitschriften und Zeitungen kam es auf beiden Seiten des Ozeans zu einem lebhaften Gedankenaustausch über die künftigen Beziehungen. Man besann sich darauf, daß die angelsächsischen Länder trotz der politischen Unstimmigkeiten doch auch sehr viel Gemeinsames besaßen. Die Verantwortung der englisch sprechenden Welt für den Frieden und

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das Wohl der Menschheit wurde stark betont. Die Sorge vor einer slawischen Bedrohung stand nodi im Vordergrund. Die kommende Auseinandersetzung zwischen Slawen und Germanen wurde von einigen f ü r unvermeidlich gehalten und es daher als wunderbares Ergebnis gepriesen, daß die wichtigsten Produkte der Welt und fast alle strategisch bedeutsamen Plätze an den großen Handelsstraßen von einer der beiden Mächte kontrolliert würden. Gewiß entsprach der gelegentliche Überschwang der Sprache nicht den nüchternen Tatsachen. Es waren jedoch auch einflußreiche Persönlichkeiten, die sich zum Worte meldeten, Diplomaten, Minister, berühmte Schriftsteller, bekannte Journalisten. Man warf sich gegenseitig die Bälle zu. So waren audi diejenigen Männer, die zunächst berufen waren, nach neuen Wegen zu sudien, wie der amerikanische Botschafter in London und nachmalige Außenminister John H a y , der amerikanische Diplomat H e n r y White, die britischen Botschafter in Washington Lord Pauncefote und Spring-Rice, nicht nur nüchterne Realpolitiker, sie gingen auch im Bewußtsein der blutsmäßigen und ideologischen Verbundenheit an die Lösung der schwierigen Aufgabe heran. Das komplizierteste Problem war die Kanalangelegenheit. Die Augen der Welt waren schon seit längerer Zeit auf den Bau eines zwisdienozeanisdien Kanals gerichtet, da in Mittelamerika die geringe Entfernung der Küsten voneinander ein solches Vorhaben begünstigte. Hier standen nun die britischen und amerikanischen Belange im Widerstreit. Großbritannien mußte in Sorge um Britisch-Honduras und seine sehr bedeutenden Handelsinteressen in Lateinamerika und Westindien sein. Die britische Regierung hatte daher nicht die Absicht, die Kontrolle über den Kanal allein den USA zu überlassen. Im Clayton-Bulwer-Vertrag von 1850 war noch ein Kompromiß möglich: der Kanal sollte der internationalen Handelssdiiifahrt uneingeschränkt zur Verfügung stehen; militärische Befestigungen in der Zone waren dagegen nicht gestattet. 1879 begründete der Erbauer des Suezkanals, Ferdinand Lesseps, die Panamagesellschaft, die jedoch nach Aufdeckung eines Korruptionsskandals ein unrühmliches Ende fand. Bei den verantwortlichen Persönlichkeiten in Washington, aber audi in der öffentlichen Meinung

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setzte sich mehr und mehr die Überzeugung durdi, daß der zu bauende Kanal unter ausschließlicher amerikanischer Aufsicht stehen müsse. Verschiedene Projekte führten zunächst zu keinem praktischen Ergebnis; nach dem Kriege mit Spanien wurden jedoch die Pläne mit verstärktem Nachdruck wieder aufgenommen. Die Auseinandersetzung mit England mußte zum Prüfstein der sich bildenden Freundschaft werden. Nach zähen Verhandlungen zwischen H a y und Pauncefote kam am 5. Februar 1900 der erste Vertrag zustande, der bereits vorsah, daß die Vereinigten Staaten den Kanal allein bauen und verwalten sollten, den Amerikanern jedoch keine militärischen Sicherheitsmaßnahmen in der Kanalzone gestattete. Der Vertrag fand nicht die Zustimmung des Senates; am 18. November 1901 wurde der zweite Hay-Pauncefote-Vertrag abgeschlossen und am 16. Dezember vom Senat ratifiziert. Der Clayton-Bulwer-Vertrag war damit preisgegeben. Die USA hatten das Recht, längs des Kanals eine militärische Polizei zum Schutz der Sicherheit zu unterhalten. Die Befestigung der Zone war von Großbritannien stillschweigend zugegeben, die Neutralisierung der Schiffahrt wurde aufrechterhalten. Bei Erhebung der Durchgangszölle sollten alle Nationen völlig gleichgestellt werden. Wegen der Zollfrage kam es 1912 noch zu ernsten Meinungsverschiedenheiten mit England, da die amerikanische Regierung in dieser Hinsicht keine Verpflichtungen zu übernehmen wünsdite. Zweifellos bedeutete dieser Vertrag ein großes Opfer für Großbritannien, er konnte nicht ohne Rückwirkungen auf dessen bisherige Stellung in Mittelamerika und im Karibisdien Meer bleiben. Der deutsche Kaiser sprach sogar von einem „Verrat" an Europa. Zu einem so großen Zugeständnis konnten sich die Engländer nur unter der Voraussetzung entschließen, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu einem Kriege zwischen den beiden Nationen kommen könne. Die Entscheidung fiel nun dahin, den Kanal auf dem Gebiet von Panama zu bauen, das zu Kolumbien gehörte. Da sich jedoch die Verhandlungen mit diesem Staat zerschlugen, kam es mit amerikanischer Unterstützung zu einer Revolution in Panama, das am 3. November 1903 seine Selbständigkeit er7

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klärte. Die USA-Regierung erlangte gegen Zahlung an den neuen Staat die freie Verfügung über eine 10 Meilen breite Kanalzone, sie hatte auch das Interventionsrecht zur Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung im ganzen Gebiet der neuen Republik, so daß Panama praktisch zu einem Protektorat der Union wurde. Den Kanal baute mit einem Kostenaufwand von 65 Millionen Dollar Oberst George W. Goethals; am 15. August 1914 wurde er dem internationalen Verkehr übergeben. Die Bedeutung dieses Ereignisses läßt sich kaum überschätzen. Der Handelsverkehr mit den pazifischen Staaten wurde hierdurch ungemein erleichtert. Der Kanal bestimmte audi weitgehend die künftige Politik der USA gegenüber Lateinamerika und verstärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl des Doppelkontinents, eine einheitliche Strategie im Atlantik und Pazifik im Kriege wurde nun erst möglich. Die zweite Frage, die eine Regelung forderte, ergab sich aus den fortdauernden Grenzstreitigkeiten zwischen Kanada und Alaska. Sie gingen bereits auf die russische Zeit zurück. Schon damals waren die Grenzen und die Fischereirechte nidit klar genug geregelt worden. Zwischenfälle waren daher an der Tagesordnung. Die Verhandlungen waren risikoreicher als diejenigen über den Kanal; die englischen Unterhändler mußten auf die kanadische Empfindlichkeit Rücksicht nehmen. Am 20. Oktober 1903 fällte eine gemisdite Kommission einen Schiedsspruch, der im wesentlichen die amerikanischen Wünsche erfüllte und deshalb zunächst große Unzufriedenheit in Kanada hervorrief. Diese beiden Verträge bildeten die Grundlage für die künftigen englisch-amerikanischen Beziehungen. Von einem eigentlichen Bündnis war nie die Rede, dafür wäre die amerikanische Öffentlichkeit nicht zu haben gewesen. Audi das Vorhandensein eines „Gentlemen agreement", von dem der deutsche Kaiser überzeugt war, ist aktenmäßig nicht nachweisbar. Es fehlte auch weiterhin nicht an ernsten Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA und Großbritannien; es gab Zeiten der Entfremdung und Abkühlung, das eingewurzelte Ressentiment ließ sich auch so rasch nicht überwinden. Trotzdem ist es doch unverkennbar, daß in diesen Jahren ein besonderes Verhältnis begründet worden ist, das den Verlauf der Welt-

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gesdiichte über den Zweiten Weltkrieg hinaus weitgehend bestimmt hat. Die Folgen der sich anbahnenden Freundschaft waren schon vor dem Ersten Weltkrieg erkennbar. Während des spanischamerikanischen Krieges nahm Großbritannien als einzige europäische Großmacht den Amerikanern gegenüber eine wohlwollende Haltung ein. Aus Australien und Neuseeland haben sich sogar Freiwillige zur Verfügung gestellt. Die Amerikaner dankten diese Haltung während des Burenkrieges. Ihre Sympathien gehörten zwar, wie fast überall, dem kleinen Volk der Buren; nur mit Mühe konnte die Ausfahrt von Freiwilligen verhindert werden. Die Regierung verhielt sich aber äußerst vorsichtig und zurückhaltend. Die geplante Reise des Präsidenten Paul Krüger nach den USA durfte nicht stattfinden. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain leugnete zwar in einem Brief an einen Freund das englische Unrecht nicht, hielt aber eine englische Niederlage für ein Unglück, er befürditete, daß sich dann russische und deutsche Regierungsmethoden über die ganze Welt verbreiten könnten. England müsse daher siegen. So ähnlich dachten wohl viele seiner Landsleute. Bei der Regelung der Samoa-Frage 1899, bei der zweiten Haager Abrüstungskonferenz von 1907 sowie audi schon anläßlich des Venezuela-Konfliktes 1902/1903 ist sowohl ein direktes wie ein indirektes Zusammenspiel zu beobachten. Das englisch-japanische Bündnis von 1902 konnte das freundschaftliche Verhältnis zwischen den USA und Großbritannien nicht ernstlich belasten; angesichts der zunehmenden amerikanisch-japanischen Spannung hat England den Vertrag 1911 nur mit dem ausdrücklichen Vorbehalt erneuert, daß er keine Anwendung auf die USA finden dürfe. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde er fallengelassen. Auch die Beziehungen zu Rußland änderten sich. Im 19. Jahrhundert war das Verhältnis mehr vom Ideologischen her als von der Realpolitik her bestimmt worden. Durch Alaska bestanden wohl konkrete Reibungsmöglichkeiten. Aber mit Ausnahme der Periode der Heiligen Allianz, die ein Übergreifen der Russen auf den Kontinent befürchten ließ, lag doch für die Amerikaner das Russische Reich so fern und war so fremd, daß 7*

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mehr vorgefaßte Meinungen als nüchterne Tatsachen den stimmungsmäßigen Aussdilag gaben. Die beiden Staaten hatten einige Berührungspunkte: Ihre geschichtliche Entwicklung wurde von einem Raum ohne feste Grenzen bestimmt. Hier wie dort bildete der Staat sich aus der inneren Kolonisation. Die Völker lebten von der Hoffnung auf die Zukunft. Doch der Geist war grundsätzlich sehr verschieden: Despotie auf der einen, Demokratie auf der anderen Seite; freie Entfaltung der Menschen in Amerika, staatliche Bevormundung und individuelle Unfreiheit in Rußland. In amerikanischen Augen verkörperte daher Rußland die extreme Form desjenigen politischen Systems, das man an Europa grundsätzlich verurteilte. Die politischen Beziehungen waren trotzdem im 19. Jahrhundert überwiegend freundlicher Natur gewesen. Der gemeinsame Gegensatz zu England ließ eine gegenseitige Unterstützung in beschränktem Maße geboten erscheinen. Die Amerikaner bewiesen im Krimkrieg demonstrativ ihre Sympathien für Rußland, umgekehrt wurde es den Russen während des Bürgerkrieges hoch angerechnet, daß ein russisches Geschwader in amerikanischen Gewässern erschien, obwohl dies mit dem Hintergedanken geschah, daß im Falle eines befürchteten Krieges mit England die Schiffe in Sicherheit waren. Der Verkauf von Alaska trug noch zu einer Verbesserung des politischen Klimas bei. Eine andere Lage entstand dadurch, daß Rußland eine sehr aktive Fernostpolitik begann und den Handel der USA in China störte. Seit dem russisch-japanischen Kriege fühlte sich allerdings die Unionsregierung von den drückendsten Sorgen befreit, da die russische Politik das Schwergewicht auf den Balkan verlegte. Die Revolution von 1905 erweckte vorübergehend große Hoffnungen auf den Sieg der Demokratie. Die Judenpogrome in Rußland, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, erregten dann wieder die Öffentlichkeit um so stärker, als infolge des wachsenden Drucks zur gleichen Zeit sehr viele Ostjuden in die Union einwanderten, so. daß im August 1914 das Zusammengehen der Westmächte mit Rußland in den USA sehr zwiespältige Gefühle auslöste. Die Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten verschlechterten sich seit der Jahrhundertwende zusehends. Erst seit der Reichsgründung gab es überhaupt deutsch-

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amerikanische Beziehungen, die über wirtschaftliche und kulturelle Fragen hinausgingen. Von den deutschen Staaten hatten vorher nur Preußen und Österreich für die amerikanische Diplomatie Bedeutung. Das Verhältnis zu Preußen war traditionell gut. Dieser Staat galt als die protestantische Vormacht in Europa, das zeitweilige Bündnis zwischen Friedrich dem Großen und England im Siebenjährigen Krieg trug dazu bei, das Gemeinsame stärker zu betonen als das Trennende. Auch die Beziehungen zum Deutschen Reich waren anfänglich noch normal. Bismarck ist stets bestrebt gewesen, keine unnötigen Spannungen aufkommen zu lassen. Einige der in Berlin akkreditierten Botschafter wie George Bancroft und Andrew D. White waren Bewunderer der deutschen Kultur und der Politik Bismarcks. Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts studierten zahlreiche Amerikaner in Göttingen und Heidelberg. Der Einfluß, der von der deutschen Wissenschaft und Philosophie auf das amerikanische Geistesleben ausgegangen ist, ist erheblich gewesen. Die Methoden der wissenschaftlichen Forschung wurden von den deutschen Universitäten übernommen. Freilich, gewisse Interessenkonflikte infolge der Wirtschaftsrivalität ließen sich sdion bald nach der Reichsgründung nicht vermeiden. Der erste ernsthafte Streit ergab sich erst über die SamoaInseln. Vorübergehend kam es hier zu so ernsten Meinungsverschiedenheiten über das Verhalten zu den Eingeborenen, daß auf einer Konferenz von 1889 durch die Einrichtung einer gemeinsamen Verwaltung die Befriedung gesucht werden mußte. Da diese sich nicht bewährte, wurden 1899 die Inseln zwischen Deutschland und den USA geteilt. Die Ausweitung des deutschen Handels, vor allem nach Südamerika, der Ehrgeiz der Reichsleitung, auch im pazifischen Raum Stützpunkte zu erwerben und in China mit den anderen Mächten zu wetteifern, führten in den 90er Jahren zu einer merklichen Abkühlung der gegenseitigen Beziehungen. Die Schutzzollpolitik der amerikanischen Regierungen erschwerte den deutsdien Export. Als Andrew White 1894 zum zweitenmal als Botschafter nach Berlin kam, war er betroffen über die gegenüber den achtziger Jahren veränderte Atmosphäre, über die Unfreundlichkeit der Presse und über die vielen kritischen Urteile, die er in Ge-

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sprächen über sein Land zu hören bekam. Auf der anderen Seite des Ozeans war es kaum anders. So konnte audi während des spanisch-amerikanischen Krieges ein ernster Zwischenfall eintreten. Obwohl die Reichsregierung strikte Neutralität einhielt und dem Kaiser viel an einem freundschaftlichen Verhältnis zu den USA lag, kam es wegen der Philippinen zu Unstimmigkeiten. Die kaiserliche Regierung hoffte, wenigstens einen Teil der Philippinen käuflich erwerben zu können, in der irrtümlichen Annahme, daß die Amerikaner auf diese keinen Anspruch erheben würden. Zur Beobachtung der Lage waren mehrere deutsche Kriegsschiffe vor Manila erschienen, eine Demonstration, die in der amerikanischen Öffentlichkeit beträchtliches Aufsehen erregte. Zwischen dem Kommodore George Dewey und dem deutschen Admiral Otto von Diederichs kam es zu einer nicht ungefährlichen, durch die Schiffskommandanten verschuldeten lokalen Krise. Der Streit wurde dann rasch beigelegt. Die Reichsregierung gab jeden Anspruch auf die Philippinen auf und begnügte sich mit dem käuflichen Erwerb der Karolinen- und Marianeninseln von Spanien, den die amerikanische Regierung auch nicht gerade gerne sah, aber gegen den sie nichts tun konnte. Symptomatisch war jedodi die Heftigkeit, mit der die amerikanische Presse den Fall aufgriff, wobei auch schon der Einfluß einer von England ausgehenden gezielten Pressekampagne erkennbar ist. In den USA zeigte sich ein auffällig starkes Mißtrauen gegen die künftigen Pläne des Reiches, das tiefere Gründe haben mußte. Wenn es audi feststeht, daß die Propaganda für eine Aufrüstung und Vermehrung der amerikanischen Marine mit Vorliebe auf die gleichzeitigen deutschen Flottenrüstungen hinwies, so war doch die Besorgnis nicht nur vorgetäuscht. Der rasche Aufstieg des Reiches zu einer der ersten Handelsmächte, die starke Bevölkerungsvermehrung und die nach Bismarcks Ausscheiden so unsicher gewordene deutsche Außenpolitik erweckten in den Vereinigten Staaten den Argwohn, daß man deutscherseits nicht nur im karibisdien Meer und im pazifischen Raum nach geeigneten Kohlenstationen suche, sondern daß die Deutschen eventuell beabsichtigten, sich in Mittel- und Südamerika Siedlungsgebiete zu erwerben. Die

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Briefe Theodore Roosevelts sowie vertrauliche Äußerungen anderer Amerikaner oder Politiker lassen keinen Zweifel daran, daß man mit Überraschungen von deutscher Seite und sogar mit der Möglichkeit einer ernsthaften künftigen Gegnerschaft gerechnet hat. Es steht fest, daß die Reichsregierung keine gefährlichen Absichten verfolgt hat. Unverantwortliche, insbesondere alldeutsche Kreise haben allerdings mit solchen Gedanken gespielt. Es bestand jedoch eine wachsende Handelsrivalität mit den USA in Mittel- und Südamerika, wo geschlossene deutsche Siedlungen in einzelnen Ländern, wie vor allem in Südbrasilien, in Chile und Venezuela, nicht nur wirtschaftlich sondern auch kulturell einen großen Einfluß ausübten und aus den Spannungen der lateinamerikanischen Staaten zu den USA erheblichen Nutzen zogen. Diese Handelsrivalität hat ohne Zweifel das deutsch-amerikanische Verhältnis bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges hin sehr entschieden belastet. Wohl ergaben sich zeitweilig Möglichkeiten eines Zusammengehens im Fernen Osten, da die deutsche Politik ohne Gefährdung der eigenen Interessen auf amerikanische Wünsche eingehen konnte. Während der amerikanisch-japanischen Spannungen 1907/1908 betrieb Wilhelm II., der damals ganz in der Sorge vor der „gelben Gefahr" lebte, die Annäherung an Washington mit besonderem Eifer, ohne daß es zu praktischen Ergebnissen kam. Im großen betrachtet, lassen sich die Anzeichen nicht übersehen, daß sich die USA, wenn auch ohne jede engere Bindung, politisch und ideologisch den Westmächten zuwandten. Dieses Gefahrenmoment ist von den deutschen Regierungen nicht genügend erkannt worden, wenn es auch an gelegentlichen Warnungen von der deutschen Botschaft in Washington nicht gefehlt hat. Selbst die ehrlich gemeinten Versuche zu einer freundschaftlicheren Gestaltung der Beziehungen konnten hieran nidits ändern. Das ideologische Mißverständnis zwischen den beiden Völkern darf gleichfalls nicht übersehen werden, das sich aus der ganz verschiedenen geschichtlichen Entwicklung ergab. In den amerikanischen Augen nahm sich der deutsche „Militarismus" als der Versuch aus, das ganze staatliche und gesellschaftliche Leben unter das Gesetz der Disziplin und Unterordnung zu bringen. Das deutsche

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System schien auf planmäßiger Unterdrückung individueller Freiheit zu beruhen; vielen Deutschen wiederum schien die amerikanische Demokratie krassen Geschäftsgeist, Unordnung und Gesetzlosigkeit zu begünstigen. Die Deutschamerikaner konnten die Vermittlung nicht übernehmen. Der Deutschamerikanische Bund, in dem sie ζ. T. organisatorisch zusammengefaßt waren, wahrte nicht immer den notwendigen Takt. Die verschiedenen Volksgruppen mit ihren kulturellen Sonderbestrebungen bereiteten den amerikanischen Regierungen sowieso Sorge; der ältere Roosevelt prägte das böse Wort vom Bindestridiamerikanertum, mit dem er auch die Loyalität von Bürgern deutscher Herkunft in Zweifel zog. Roosevelt leitete einen neuen Abschnitt der amerikanischen Geschichte ein. Im Vergleich mit den überwiegend recht farblosen Präsidenten des späten 19. Jahrhunderts war er zweifellos eine der stärksten und lebensvollsten Persönlichkeiten. Er entstammte einer wohlhabenden New Yorker Familie (geb. 27. Oktober 1858) und hatte in seiner Jugend ein abenteuerliches Grenzerleben geführt, das er in seiner Autobiographie anschaulich geschildert hat. Als Polizeipräsident von New York 1895—1897 fiel er durch den unersdirockenen Mut auf, mit dem er gegen das Verbrechertum vorging. 1897—1898 war er Unterstaatssekretär der Marine und ging 1898 als Gouverneur von New York energisch gegen die dort herrschende Korruption an. Dem konservativen Flügel der republikanischen Partei war er nidit genehm. So hoffte man, ihn als Vizepräsidenten unter McKinley politisch kaltgestellt zu haben. Infolge der Ermordung des letzteren wurde er zur Bestürzung des Großkapitals automatisch Präsident (1901—1909). Der Hauptzug seines Wesens war eine ungewöhnliche Vitalität, ein rastloses Bedürfnis zur Betätigung, die sich auf alle bedeutenden und nebensächlichen Angelegenheiten erstreckte. Für Roosevelt gab es fast nichts, um das er sich nicht kümmerte. Als er einmal zu der neuen Damenhutmode keine Stellung zu nehmen wünschte, schrieb eine Zeitung boshaft, es sei eigentlich das erstemal, daß der Präsident keine eigene Meinung habe. Über das, was ihm als gut oder böse ersdiien, hatte er eine sehr ausgeprägte Meinung. Er teilte die damals weit verbreitete Auffassung von der

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Überlegenheit der germanischen Rasse und war von dem Ehrgeiz beseelt, die USA eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielen zu sehen. Roosevelt war von den Gedankengängen des späteren Admirals Alfred Mahan beeinflußt, der in seinen Werken sein Land auf die Bedeutung der Seemadit hinwies; dem Ausbau der Flotte hat Roosevelt seine Hauptaufmerksamkeit gewidmet. Seine Außenpolitik war von großer Selbständigkeit; er liebte die starke Geste, den „big stick". Audi wagte er sich gelegentlidi weiter vor, als es dem Willen der Nation entsprach, so daß die amerikanische Politik in seiner Zeit eine Aktivität entwickelte, die für seine Nachfolger nicht in gleicher Weise charakteristisch war. In der Praxis blieb aber seine Außenpolitik durchaus maßvoll; kriegerischen Abenteuern war er abgeneigt. Dem Amt des Präsidenten hat Roosevelt wieder mehr Würde und Ansehen gegeben, als es sie in der vorhergegangenen Zeit besessen hatte. Die Entwicklung im Fernen Osten beanspruchte zunächst seine volle Aufmerksamkeit. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich der amerikanische Handel mit Asien ständig erweitert. Aus der gewaltsamen Öffnung der chinesischen Häfen für den Handel durch die Kriege Englands und Frankreichs mit China hatten auch die Amerikaner wirtschaftliche Vorteile gezogen, vor allem in gleicher Weise exterritoriale Rechte erworben, wenn sie sich auch selbst nicht an Kämpfen beteiligten. Seit dem chinesisch-japanischen Krieg von 1895, der den Chinesen das Protektorat über Korea kostete, waren die Großmächte dazu übergegangen, sich im Chinesischen Reich noch weiter auszubreiten und sich wirtschaftliche Privilegien zu sichern. Sie konnten die politische Ohnmacht Chinas ausnützen, das infolge der inneren Wirren gelähmt war und, hinter der modernen Entwicklung weit zurückliegend, keinen Widerstand zu leisten vermochte. Den USA ging es in China nicht um territoriale Erwerbungen. Sie beschränkten sich auf den Schutz ihrer Handelsinteressen. Folgerichtig und durchaus vernünftig war die Politik der „offenen Tür", die Forderung der vollen Gleichberechtigung für alle Handel treibenden Nationen, ein Kurs, den auch das Deutsche Reich im eigenen Interesse konsequent hätte verfolgen sollen. Aus diesem Grunde traten sie für die

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chinesische Integrität und Unabhängigkeit ein, setzten jedoch zu deren Wahrung niemals ihre militärische Macht ein. Von Chinas Seele verstanden die Amerikaner wenig, sie gaben sidi viel zu lange der trügerischen Hoffnung hin, daß eine Besserung der dortigen sozialen Zustände zu einer Demokratie nach westlichem Muster führen werde. Ihre Politik im Fernen Osten war von vornherein nicht frei von Halbheiten und Widersprüchen. 1900 bradi der Boxeraufstand aus, eine fremdenfeindlithe Bewegung, die im Geheimen von der Kaiserin-Witwe, der eigentlichen Herrscherin Chinas, unterstützt wurde (13. Juni bis 14. August). Da die Gesandtschaften in Peking von den Aufständischen eingeschlossen waren und es zu der Ermordung von Missionaren und des deutschen Gesandten gekommen war, vereinigten sich alle Großmächte, einschließlich der Vereinigten Staaten, zu einer militärischen Aktion, die zur Erstürmung des Takuforts und zur Befreiung des Gesandtschaftsviertels führte. Bald jedoch ging die amerikanische Politik eigene Wege. Ihre Truppen wurden, noch bevor Alfred Graf v. Waldersee den Oberbefehl übernahm, wieder zurückgezogen. Mit der Höhe der Entschädigungssumme, die China zahlen sollte, waren die USA nicht einverstanden. Sie gaben daher einen großen Teil des ihnen zustehenden Betrages an China zurück. Auch Roosevelt führte die Politik der „offenen Tür" fort; seine Sorge galt vornehmlich dem russischen Vordringen in der Mandschurei. Während des russisch-japanischen Krieges (1904/ 1905) schaltete er sich als Vermittler ein. Die Sympathien der Amerikaner gehörten zu dieser Zeit noch vornehmlich Japan. Ihr Handel mit diesem Land war damals noch viel bedeutender als der mit China. 1854 waren die Japaner durch den amerikanischen Commodore Matthew C. Perry förmlich dazu gezwungen worden, einen Handelsvertrag mit den USA abzuschließen. Seitdem paßte sidi Japan den Forderungen des industriellen Zeitalters an und beschritt nach einer inneren Umwälzung zugunsten der kaiserlichen Autorität den Weg zur Großmacht. Japans unerwartet große Erfolge erregten dann allerdings in Amerika keine sonderliche Freude. Im Frieden von Portsmouth (1905) erhielt Japan Port Arthur, die Schutzherrschaft über Korea und die südliche Hälfte von Sachalin, außerdem mußte

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sich Rußland zur Räumung der Mandschurei verpflichten. Die Japaner vergaßen es nicht, daß sie von den Amerikanern um die Früchte ihres Sieges gebracht worden waren. Sie hatten vor allem auf eine Entschädigung gehofft. 1907 kam es bereits zu einer sehr ernsten Verstimmung zwischen den USA und Japan. Die Furcht vor der billigen japanischen Arbeitskraft führte in Kalifornien zu diskriminierenden Einwanderungsgesetzen, gegen die sich der japanische Stolz auflehnte. Jedoch wurde von Roosevelt eine Kompromißlösung gefunden. Die Revolution von 1911/12, die die moderne Entwicklung Chinas einleitete, begrüßten die Amerikaner auf das lebhafteste, da der Führer Sun-Jat-sen in den USA studiert hatte und ganz in den Anschauungen der westlichen Demokratie lebte. Sehr rasch zeigte sich jedoch, daß für eine friedliche Entwicklung die Voraussetzungen fehlten; die unaufhörlichen Bürgerkriege in China veranlaßten erst recht die Großmächte zu einer ständigen Einmischung. Gegenüber Lateinamerika verfolgte Roosevelt eine aktive Politik, weniger als seine Vorgänger geneigt, irgendeine Verletzung der Monroedoktrin, so wie er sie auffaßte, zuzulassen. Während der Venezuela-Affäre (1902/1903) kam dies deutlich zum Ausdruck. Der in Venezuela ausgebrochene Bürgerkrieg schädigte britisches, deutsches und italienisches Eigentum schwer; die venezolanische Regierung verweigerte die Anerkennung dieser Schulden. Im Dezember 1902 wurde die Küste Venezuelas durch englische und deutsche Kriegsschiffe blockiert, wobei zwei Kanonenboote durch die Deutschen versenkt wurden. Obwohl eine solche Strafaktion nach dem ursprünglichen Wortlaut der Monroedoktrin zulässig war, legten Regierung und Öffentlichkeit in den USA entschiedenen Protest ein. Dabei war bemerkenswert, daß die Vorwürfe sich fast ausschließlich gegen Deutschland richteten, während ein großer Teil der amerikanischen Presse den Briten klarzumachen versuchte, daß sie sich im eigenen Interesse von der unglücklichen Verbindung mit den Deutschen lösen sollten. Da auch viele Engländer ähnlich dachten — es war für lange Zeit die letzte gemeinsame Aktion Deutschlands und Englands —, kamen die Engländer sehr rasch zu einer Verständigung über die Sdiuldenfrage, deren

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Regelung einem Schiedsgericht anvertraut worden war (1903). Audi die deutsche Regierung folgte dem Beispiel. Während des Ersten Weltkrieges hat dann Roosevelt die Behauptung aufgestellt, nur durch ein Ultimatum habe er die dauernde Festsetzung der Deutschen an der Küste Venezuelas verhindert. Die deutsche Regierung hat keine territorialen Pläne in Venezuela verfolgt; das angebliche Ultimatum hat sich in den Akten nicht finden lassen. Möglicherweise beabsichtigte Roosevelt eine derartige Drohung. Für die Weiterentwicklung der Monroedoktrin wurde die Episode bedeutsam. Roosevelts Zusatz zur Monroedoktrin (6. Dezember 1904) bedeutete gegenüber der ursprünglichen Fassung eine grundsätzliche Änderung. Den Vereinigten Staaten blieb jetzt das Recht vorbehalten, in den anderen amerikanischen Ländern militärisch zu intervenieren, falls sie sich nicht in der Lage zeigen sollten, sich gegen auswärtige Bedrohung zu schützen. Diese Erklärung hat in Lateinamerika sehr gemischte Gefühle wachgerufen. War anfänglich die amerikanische Schutzherrschaft eher dankbar empfunden worden, so wurde aber mehr und mehr der imperialistische Charakter der neuen Politik nicht übersehen, der für längere Zeit „die gute Nachbarschaft" unmöglich machte. 1905 bis 1907 brachte Roosevelt St. Domingo unter die amerikanische Schutzherrschaft. Schon seit längerem hatten die Politiker die unruhigen Zustände auf dieser wichtigen Insel des Karibischen Meeres, die eine schwarze Regierung hatte, mit Aufmerksamkeit verfolgt. Gegenüber Europa war Roosevelt undogmatisch eingestellt. Seine Familie war holländischer Abkunft; er konnte nicht die gleiche gefühlsmäßige Bindung an Großbritannien wie andere Mitglieder seiner Regierung haben, begünstigte aber doch die Annäherung an das Britische Imperium aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Zum ersten Mal nahmen die Amerikaner an einer wichtigen politischen Konferenz der europäischen Mächte teil, an der Algeciraskonferenz, die am 16. Januar 1906 begann und den marokkanischen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich schlichten sollte. Der deutsche Kaiser hatte um die Vermittlung von Roosevelt ersucht, da er ihn, was ein Irrtum war, für einen uneigennützigen Freund hielt. Der Präsident

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nahm die Vermittlung an, um für die Erhaltung des Friedens tätig zu sein, hielt sich aber im engen Einvernehmen mit den Westmächten. Die amerikanischen Bevollmächtigten unterstützten den französischen Standpunkt in jeder Weise, so daß die fortschreitende Isolierung des Deutschen Reiches auf der Konferenz erschreckend zutage trat. Allerdings war die Politik des Präsidenten in der Marokkokrise eigenmächtig; das Schlußprotokoll wurde vom Senat nur mit dem Vorbehalt angenommen, daß die Monroedoktrin dadurch nidit verletzt werden dürfe. In der inneren Politik wurden unter Roosevelt einschneidende Reformen eingeleitet, die schon längst überfällig waren. Die Korruption in den Staatsregierungen und in den Lokalverwaltungen mit dem Bossystem hatte Ausmaße angenommen, die den Unwillen weiter Kreise erregt hatten. Die Fortschrittsbewegung hatte beide Parteien erfaßt, Republikaner und Demokraten gingen gemeinsam in den Kampf gegen Korruption und die Übermacht der Trusts. Am entschiedensten hat ihn William J. Bryan aus einer kompromißlosen ethischen Haltung heraus geführt, die ihm einen großen Anhang im Volke sicherte. Dodi ist es ihm niemals gelungen, den Präsidentenstuhl zu besteigen. Die Auswüchse in den Städteverwaltungen wurden vielerorts durdi die Einsetzung einer Kontrollkommission zumindest eingeschränkt. In einer großen Anzahl von Staaten wurde die Cliquenwirtschaft der Parteikonvente sowie der Legislaturen durch direkte Volkswahlen gebrodien; wichtige Gesetze mußten durch ein Volksreferendum bestätigt werden. Roosevelt übernahm es, gegen die Trusts und Monopole energischer als bisher vorzugehen, da das sogenannte ShermanAntitrustgesetz von 1890 ohne bleibende Wirkung geblieben war. Die Machtkonzentration in den Händen einiger weniger war allerdings beunruhigend. Vier miteinander verbundene finanzielle Institutionen in New York, die die Morgan- und Rockefellerinteressen vertraten, verfügten über 341 Direktorenstellen in 112 Banken, alles zusammengenommen, kontrollierten sie ein Kapital von über 22 Milliarden Dollar, ein Betrag, der den Wert des Volksvermögens in 22 Staaten und den Territorien westlidi des Mississippi überstieg. Die Gesetzgebung griff in

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die Preisregelung der Eisenbahngesellschaften ein, löste Firmen auf, die unfaire Geschäftsmethoden angewandt hatten, und untersagte u. a. auch, daß die Körperschaften die Bundeswahlen durdi Geldzuwendungen in der ihnen genehmen Richtung beeinflußten. Zu nodi radikaleren Maßnahmen sah der Präsident keinen Anlaß, er unterschied zwischen guten und schlechten Trusts. Auch mußte er mit einem starken Widerstand im Kongreß und in den interessierten Kreisen redinen. Immerhin waren wichtige Schritte unternommen worden; wenn sie auch noch nicht durchschlagend genug waren, konnten seine Nachfolger auf diesem Wege weitergehen. Große Verdienste erwarb sich der Präsident auch im Kampf gegen den Raubbau, u. a. wurde in seiner Zeit der Forstschutz organisiert (1905). Roosevelts Nachfolger William H . Taft gehörte zum konservativen Flügel der republikanischen Partei. Er zeigte wenig Begabung für eine tatkräftige Führung. Aber auch unter ihm wurde einiges erreicht, vor allem die Zollgesetzgebung reformiert. Der Staat verstärkte seine Autorität gegenüber den großen Gesellschaften. Die Republikaner hatten durchaus die Möglichkeit, weiterhin an der Macht zu bleiben. Es war daher ein schwerer Fehler, daß Roosevelt, der in der Zwischenzeit große Reisen unternommen hatte, gegen Taft, dessen Wahl er zunächst begünstigt hatte, Stellung bezog und für die neu entstandene progressive Partei kandidierte. Infolge dieser Spaltung konnte die demokratische Partei das Rennen gewinnen. Nachdem ihr Parteikonvent sich zunächst auf einen Kandidaten nicht einigen konnte, wurde schließlich als eine Art Verlegenheitslösung Woodrow Wilson nominiert, von dem man wußte, daß er ein Anhänger der Reformen war, aber Bryans radikalen Kurs ablehnte. Wilson wurde im November 1912 mit 41 %> der Stimmen gewählt. Bei einem Rüdcblidt auf die Gesamtentwicklung des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts fallen vor allem die großen Veränderungen auf, die sich in der Bevölkerungszusammensetzung vollzogen hatten. Das 19. Jahrhundert war die Geschichte der großen Einwanderung, unzählige Menschen, die in der Übergangszeit zur Industrialisierung in Europa keine Arbeit fiiiden konnten, sahen in den USA neue Möglichkeiten. Es ist an

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einer früheren Stelle sdion darauf hingewiesen worden, daß die erste Einwanderungswelle vornehmlich aus West- und Nordeuropa kam, die zweite aus Ost- und Südeuropa; audi die Einwanderung von Asiaten darf zahlenmäßig nicht unterschätzt werden. Während zunächst das Experiment der Integration verhältnismäßig leidht gelungen war, wurde das nach dem Einbruch der zweiten Welle immer schwieriger. Die Einwanderer standen im Durchschnitt sozial auf einer tieferen Stufe, rassische und konfessionelle Unterschiede kamen hinzu, der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung wurde immer größer (er machte ungefähr 17 °/o aus, heute liegt er bei 20 °/o), sie gewannen zusehends an Einfluß. Es ist z.B. daran zu erinnern, daß die katholische Publizistik in den Vereinigten Staaten den Kulturkampf in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und abfällig beurteilt hat. Seit den neunziger Jahren hörte die freie Landabgabe auf; ein großer Teil der Neueinwanderer blieb in den großen Städten. Die Folge waren Arbeitslosigkeit und Massenelend für die vielen Gescheiterten. Es ergaben sich ernste Spannungen zwischen den Eingesessenen und den Neuhinzugekommenen, da diese wegen ihrer billigen Arbeitskraft als lästige Konkurrenten angesehen wurden. So tief auch immer die Kluft zwischen Kapital und Arbeit wurde, für den Klassenkampf nach europäischem Vorbild waren in den Vereinigten Staaten keine günstigen Voraussetzungen vorhanden, die immer mehr erstarkenden Gewerkschaften sahen marxistische und anarchistische Elemente als eine Gefahr für die innere Geschlossenheit und damit für ihre Macht an. Die bis zum Sezessionskrieg gefährdete nationale Einheit war nach dem Sieg des Nordens für immer gesidiert. Um so mehr trat die Lösung des Problems in den Vordergrund, Staat und Gesellschaft gegen die Übermacht der Hochfinanz, gegen Monopole und Trusts sowie gegen asoziale Elemente zu sdiützen. Erst in den achtziger Jahren hörte „Wildwest" mit seiner naditräglich überidealisierten „Romantik" auf, vor allem mit seinen Unmenschlichkeiten im Verhältnis zu den Eingeborenen. Das amerikanisdie Leben bewegte sich in großen Gegensätzen, krasser Egoismus auf der einen Seite, oft erstaunliche Hilfsbereitschaft auf der anderen

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Seite. Die großen Städte, vor allem New York und Chicago, wurden zu Brutstätten der Korruption und des organisierten Verbrechertums. Von einer kleinen Minderheit wurde ein unerhörter Luxus unbekümmert zur Schau getragen, während daneben Not und Elend in den unteren Volksschichten verbreitet waren. Aber gerade in den großen städtischen Kommunen konnte sidi demokratischer Geist positiv auswirken, die Bürger wurden zur Kritik und Mitverantwortung erzogen, während im nationalen Bereidi in Anbetracht des mächtigen Apparates der Parteien der Einfluß des einzelnen nur gering sein konnte. Die amerikanische Gesellschaft bewahrte noch immer ihren konservativen Grundcharakter, trotz zeitbedingter Auflösungserscheinungen. Das Gewicht der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften blieb im großen und ganzen noch ungefährdet. Es kam gelegentlich zu religiösen Massenbewegungen mit ähnlichen emotionalen Symptomen, wie sie auch in unseren Tagen zu beobachten sind. In der führenden Schicht, besonders in der Hochfinanz, war das puritanische Erbe, trotz aller seiner Schattenseiten, für den Zusammenhalt einer noch unfertigen Nation noch kaum entbehrlich. Je mehr sich das Selbstverständnis der Amerikaner vertiefte, um so stärker waren sie bestrebt, sich ganz aus der geistigen Abhängigkeit Europas herauszulösen. Alle Strömungen der alten Welt fanden im 19. und 20. Jahrhundert in den USA Eingang, wie der englische Empirismus, die Aufklärung, der deutsche Idealismus, die Romantik und schließlich auch Realismus und Naturalismus. Aber die allgemeine Tendenz wies auf eine amerikanische Sonderentwicklung hin. Die gesamte Fragestellung mit ihren Antworten darauf wurde eine andere. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die USA erstaunlich viele Philosophen, Schriftsteller und Dichter von bedeutendem Rang, deren Namen auch über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurden. Sicherlich war es kein Zufall, daß die meisten unter ihnen noch der Übergangszeit angehörten. Sie waren in vieler Hinsicht von dem Erbe der Kolonialepoche geprägt, zu ihren Jugendeindrücken gehörten noch nicht die großen Städte mit ihren Menschenzusammenballungen, sie

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lebten nodi nidit in der Anschauungswelt der modernen Tedinik, sondern waren nodi im besten Sinne naturverbunden. Von manchen, wie etwa von Edgar Allan Poe, diesem eigenartigen Sonderling mit seiner morbiden Phantasie, ist kaum zu sagen, ob sie bereits im eigentlidien Sinne als Amerikaner anzusprechen sind. Der bedeutendste Vertreter der Philosophie des Transzendentalismus, Ralph W. Emerson, ist ohne den deutschen Idealismus, ohne Romantik, aber auch ohne sein ausgesprochen puritanisches Lebensgefühl nicht zu denken. Emerson wollte die auf sich selbst gestellte Persönlidikeit; Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens und des Handelns waren für ihn das Leitbild. Aber dieses war für ihn nicht gleichbedeutend mit überbetontem Subjektivismus. Der Mensch war nach seiner Überzeugung nur eine der vielen Erscheinungsformen der Natur, der menschliche Geist dazu bestimmt, dem in der Natur wirkenden Allgemeingeist Ausdruck zu verleihen. Die Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen führte nach Emerson immer wieder zur Einheit im Kosmos zurück. Er meinte gerade das den großen Geistern des Abendlandes vorwerfen zu müssen, daß sie sich nicht als Teile des Ganzen empfunden hätten und daher ihr Denken in unerlaubtem Maße egozentrisch gewesen sei. Sein berühmtes Budi „Representative Men" war als eine Art geistiger Unabhängigkeitserklärung Amerikas gegenüber Europa gedacht. So konnten audi die Transzendentalisten trotz ihrem Persönlichkeitskult in keinen schroffen Widerspruch zu den Idealen der demokratischen Gesellschaft geraten. Für sie hatte jeder Mensch die gleichen unveräußerlichen Rechte, die gleiche sittliche Verpflichtung. Emerson hatte ein fast naives Vertrauen in die moralisdie Natur des Menschen; denn die letzten Ziele des in der Natur wirkenden Geistes könnten nur so vollkommen erreicht werden. Typischer für die amerikanische Denkweise wurde allerdings die Philosophie des Pragmatismus, da sie die besondere amerikanisdie Lebenserfahrung voraussetzte. Das bekannte Wort von Benjamin Franklin: „Wir fragen nidit danach, was einer ist, sondern was einer tun wird", war der Ausdruck einer geistigen Haltung, der es nidit so sehr um das Sein, wie um das 8

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Werden ging. Denn in einer Nation, die nodi so ganz auf Entwicklung, auf die Zukunft hin, ausgerichtet war, mußte sich audi das Denken unwillkürlidi dieser Tendenz anpassen. Bei den bedeutendsten Philosophen des Pragmatismus, William James und John Dewey, lag der Hauptakzent auf dem Glauben an eine ständige Veränderung. James kannte keine absolute Wahrheit; für ihn war selbst das Denken in die Entwicklung mit eingeschlossen. Nicht nur die Erde, der gesamte Kosmos, ja Gott selbst, befand sich nadi ihm im Zustand des Werdens. Rein spekulatives Denken wurde von ihm durdiaus abgelehnt. Er meinte, daß das Werden von Ideen sich an der Erfahrung und im Handeln der Menschen bestätigen müsse. Er war daher audi davon überzeugt, daß der menschliche Geist imstande sei, den Gang der Entwicklung mit zu bestimmen, wenn er sich in Übereinstimmung mit der Erfahrung halte. Dewey, im Prinzip mit James einig, interessierte sidi stärker für die Probleme der Gesellschaft. Er wollte ganz bewußt eine Philosophie für die Demokratie begründen. Auch ihm lag die Erhaltung der persönlichen Freiheit am Herzen, indes beharrte er darauf, daß der einzelne Mensch von seiner Umwelt so stark beeinflußt werde, daß es darauf ankomme, das gesellschaftliche Milieu zu verbessern. Nur so lasse sidi auch das Ausleseproblem lösen. Dewey legte daher den größten Wert auf die Erziehung, der modernen Pädagogik sollte er wertvolle Anregungen geben. Seine Lehre gehörte mehr in den Bereidi der Psydiologie als in den der Philosophie. Bei den Dichtern und Schriftstellern der frühen Periode, wie bei Henry Longfellow, Henry D. Thoreau, Walt Whitman und Herman Melville ist bezeichnend, in welchem Maße noch der weite Raum, das Erlebnis der noch weitgehend ungebrochenen amerikanischen Natur für ihr Schaffen Voraussetzung gewesen ist. An ihr entzündete sich vor allem ihre Einbildungskraft, noch lebten auch sie, wie die Europäer, in einer Zeit, in der die Technik wohl rasche Fortschritte machte, aber die menschliche Gesellschaft noch nicht zu überwältigen drohte. Aber sie waren bei aller Vorliebe für persönliche Freiheit doch schon darin echte Amerikaner, daß sie für keine aristokratischen Lebenswerte eintraten. Eine so exzentrische Persönlichkeit wie Whit-

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man hätte vielleicht in Europa in einer selbstgewollten Isolierung gelebt, in Amerika konnte er zum begeisterten Künder der amerikanischen Demokratie werden, weil sie nach seiner Überzeugung die volle Entfaltung der menschlichen Freiheiten und Fähigkeiten gewährte. Unter den Romanschriftstellern nahm mit Abstand Melville den höchsten Rang ein; er vereinigte ein erstaunliches, schon modern anmutendes Einfühlungsvermögen in menschliche Verhaltensweisen mit dichterisch-religiösem Sehertum. Die gleiche Qualität ist Ende des Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften und in der Literatur nicht mehr vorhanden. Die gesellschaftskritische Literatur, schon in den Anfängen vorhanden, erlangte erst nach dem Kriege ihre große Wirkung. Für einige Schriftsteller wurde es charakteristisch, daß sie ihre Stoffe lieber aus der Vergangenheit als aus der Gegenwart wählten. Manche, vor allem Künstler, zogen es vor, in Europa in einem selbstgewählten Exil zu leben. Der amerikanische Beitrag in den Naturwissenschaften war sehr bedeutend; es brauchen hierfür nur die Namen Edison, Morse und Bell erwähnt zu werden. Im großen und ganzen fehlten dem amerikanischen Kulturleben noch jene Verfeinerung, Vielfalt und Differenzierung, an die die Europäer gewöhnt waren, so daß sie von ihnen noch als etwas Künstliches empfunden wurde. Der Grundzug war mehr auf das Praktische, auf die Breite hin ausgerichtet. Das Ziel war eine Popularisierung des Wissens. Das amerikanische Erziehungswesen hielt es für seine Hauptaufgabe, nicht die gleiche tiefe Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten entstehen zu lassen, wie dies in Europa der Fall war. Das College sollte keine exklusive Bildungsstätte sein, sondern einer möglichst breiten Schicht ein für den künftigen Beruf verwendbares Allgemeinwissen vermitteln, vor allem für das Leben in der Gemeinschaft vorbereiten. Nur an wenigen Universitäten waren schon die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Ausbildung gegeben. Für die Volksbildung wurde viel getan. Es stand dahinter das Vertrauen, daß durch Vorträge, durch gut ausgestattete Bibliotheken, die Einrichtung von Abendkursen und anderem mehr selbständiges Denken und vor allem mehr Verständnis für die Verantwortung des einzelnen Menschen in 8*

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der Gesellschaft gefördert werden könne. Durch eine gezielte Propaganda wurde jedenfalls eines weitgehend erreicht: den Neueinwanderern bewußt zu machen, welch ein Vorzug darin liege, amerikanischer Bürger werden zu dürfen und damit einer heileren Welt anzugehören. Der Glaube an eine amerikanische Zukunft, damit an eine besondere Mission, blieb im großen und ganzen unerschüttert. Die Überzeugung, daß es einen ununterbrochenen Fortschritt gebe, hielt sich in den USA viel länger, als es im alten, immer skeptischer werdenden Erdteil der Fall war. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg ist das zusehends anders geworden.

DRITTER TEIL

Von der Isolierung zur weltpolitischen Verantwortung 1. Kapitel Die USA im Ersten Weltkrieg Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sollte die USA vor eine Situation stellen, wie sie für sie seit hundert Jahren nicht mehr bestanden hatte. Sie konnten so lange die Rolle eines relativ unbeteiligten Zuschauers vor der Weltbühne spielen, wie die Weltmeere, vor allem der Pazifische Ozean, nicht zu Kriegsschauplätzen wurden. Als das Britische Imperium in den Krieg eintrat, wurde dies grundsätzlich anders. Alle Probleme des Seekrieges, wie sie schon im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und vollends in der Periode zwischen 1783 und 1815 aufgeworfen wurden, waren nun wieder aktuell und hätten jede amerikanische Regierung zu schwerwiegenden Entscheidungen gezwungen. Wilson hatte im Wahlkampf seinen Landsleuten vor allem innere Reformen versprochen; es wurde sein Schicksal, daß er schon ein Jahr später, 1914, die Hauptlast in der Außenpolitik zu tragen hatte. Woodrow Wilson wurde am 28. Dezember 1856 in Staunton, Virginia, geboren, 1890 in Princeton zum Professor für Jurisprudenz und Staatswissenschaften ernannt

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und in -weiteren Kreisen als Präsident dieser Universität (1902) bekannt. Er wußte sich in dieser Stellung Autorität zu verschaffen und bemühte sidi, allerdings erfolglos, gegen sehr starken Widerstand mächtiger Gegner um eine Reform der Universitätsverwaltung. Er ging in die aktive Politik über, 1910 wurde er Gouverneur von New Jersey, wo er durch Mut und Initiative auffiel, in überraschend kurzer Zeit führte er in seinem Staat einige wesentliche Reformen durch. So wurde er 1913 als Kandidat der demokratischen Partei für die Präsidentschaft aufgestellt, die nach längerer Zeit durch seinen Sieg wieder an die Macht gelangte. Die Wähler entschieden sich für Wilson und nicht für William J. Byran, der immer wieder versucht hatte, an die erste Stelle zu kommen. Aber die Wähler mißtrauten seinem allzu radikalen Reformeifer. Wilson war eine anders geartete Persönlichkeit als Theodore Roosevelt. Er besaß nichts von dessen Spontaneität und Vitalität, aber auch nur wenig von dessen Spürsinn für weltpolitische Zusammenhänge. In seinem Denken neigte er zur Einseitigkeit, infolge seines Ehrgeizes audi zu selbstherrlichem Verhalten. Es war Wilsons Hauptschwäche als Politiker, daß er Menschen gegenüber kontaktarm war und daher auch bei der Behandlung seiner Mitarbeiter und politischen Gegner oft geringes Geschick bewies. Wilson war überzeugter Moralist, das religiöse Erbe war bei ihm ausgeprägt; unter seinen Vorfahren befanden sich mehrere Geistliche. Seine Sprache hatte gelegentlich ein fast priesterliches Pathos. Angesichts seiner moralischen Grundhaltung neigte er zur Unduldsamkeit gegen Andersgesinnte. Er teilte uneingeschränkt den Glauben vieler Amerikaner an die absolute Überlegenheit ihrer Demokratie über jede andere Regierungsmethode in dem Sinne, daß nach seiner Uberzeugung jeder Fortschritt der Menschheit vom Triumph der demokratischen Ideale in der Welt abhing. Wilson setzte Friedensliebe und Vernunft bei den Völkern voraus, es schien ihm so zu sein, daß sie höchstens durch Gewaltherrschaften auf einen verhängnisvollen Weg gebracht werden könnten. Die sogenannte Dollardiplomatie, die den USA so viel Feindschaft in Lateinamerika eingetragen hat, die Bereitschaft zur ökonomischen Hilfe, aber audi zur Bevormundung, zu militärischem Eingrei-

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fen, wenn es galt eine Diktatur zu beseitigen, eine Politik, die er gegenüber Mexiko anwandte, wurde unter diesem Präsidenten aktiviert. Es läßt sidi ohne Ubertreibung sagen, daß sich imperialistische und pazifistische Tendenzen in seiner Politik vereinigten, wie es auch in seinem Verhalten auf der Friedenskonferenz in Versailles zutage trat. Für einen Staatsmann großen Formats fehlten Wilson die schöpferische Kraft, der nüchterne Blick für das Erreichbare. Das überwiegend ablehnende Urteil ist jedoch ungerecht, das nach dem Versagen auf der Friedenskonferenz über ihn gefällt worden ist. Wilson hat nie die amerikanischen Interessen aus dem Auge verloren; dies gilt vor allem für den Fernen Osten. Er besaß die ungewöhnliche Fähigkeit, den Empfindungen und Vorstellungen des kleinen Mannes nicht nur in Amerika, sondern auch in der übrigen Welt Ausdruck zu verleihen. Nicht so sehr als überragender Staatsmann wie als Verkünder von Menschheitszielen hat er weit über seine Zeit hinaus gewirkt, er gehörte in die Linie Franklin Roosevelt und John F. Kennedy. Er stellte wie kaum ein anderer Präsident vor ihm der amerikanischen Nation ihre humanitäre Weltmission vor Augen, Wilsons innere Politik war anfänglich von bemerkenswertem Schwung. Die von ihm verkündete „Neue Freiheit" sollte dem amerikanischen Leben ein höheres Ethos geben, eine gerechtere Verteilung der materiellen Güter herbeiführen, den bescheidenen Existenzen den Aufstieg erleichtern. Die Freiheit der Persönlichkeit mußte nach seiner Überzeugung auch durch größere wirtschaftliche Unabhängigkeit gesichert werden. Wilson über-, nahm energisch die Führung seiner Partei, die ihm zunächst willig folgte. Er brachte bereits im ersten Jahr seiner Präsidentschaft einige wichtige Reformgesetze ein. Er hat eine progressive Einkommensteuer eingeführt, die Zölle wurden Erfordernissen des Handels angepaßt, die Finanzoperationen der Eisenbahngesellschaften überwacht und für den inneren, zwischenstaatlichen Handel eine Kontrollkommission eingesetzt. Das Vorgehen gegen die Trusts und Monopole fand den stärksten Ausdruck in dem Clayton-Antitrustgesetz vom 15. Oktober 1914. Unter anderem war im Gesetz untersagt, daß sich untereinander verbundene Direktorate in den Gesellschaften und

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Banken bildeten, die über eine übermäßige Kapitalkraft verfügten. Audi die freie Betätigung der Arbeiter- und Farmerorganisationen, insbesondere das Streikredit, wurden gesetzlich festgelegt. Der ursprüngliche Entwurf wurde allerdings im Kongreß stark verwässert, audi ließ Wilsons Eifer merklidi nach, vor allem unter dem Eindruck einer Wirtschaftsdepression, die bis in den Krieg hinein dauerte. Da bald die auswärtige Politik ganz in den Vordergrund trat, wird sich ein endgültiges Urteil über die Ergebnisse seiner inneren Politik nicht gewinnen lassen. Der Impuls, der zunächst von Wilson ausging, war jedoch bedeutsam. Es entstand so etwas wie eine idealistische Bewegung, ein „Wilsonismus", vornehmlich in intellektuellen Kreisen der jüngeren Generation. Auf die Außenpolitik war Wilson nicht vorbereitet. Auslandsreisen hatte er nicht unternommen. Es sollte sich besonders auf der Versailler Friedenskonferenz zeigen, daß er zu wenig mit den sehr komplizierten europäischen Verhältnissen vertraut war. Anfangs stand er unter dem Einfluß des Staatssekretärs des Auswärtigen, Bryan, der sich jedodi 1915 von ihm trennte, da er als kompromißloser Pazifist Wilsons Verhalten in der U-Bootfrage verurteilte. Auf Bryans Anregung ging die erste außenpolitische Aktion Wilsons im Verhältnis zu Europa zurück, als er kurz vor dem Kriege Schiedsverträge unter den europäischen Staaten vorschlagen ließ, die angesichts der äußerst gespannten Lage undurchführbar waren. Der engste Berater und Freund des Präsidenten wurde der Oberst Edward M. House, der nie ein Amt in der Regierung bekleidet hat. Die Freundschaft der beiden Männer ist als die „seltsamste der Geschichte" bezeichnet worden. Sie entwickelte sich auf ganz natürlichem Wege. House war schon, bevor Wilson in das Weiße Haus einzog, dessen begeisterter Anhänger; in den Wahlkämpfen hat er ihm wertvollste Dienste geleistet. Als sie das erstemal zusammentrafen, stellten sie völlige Übereinstimmung ihrer Ansichten fest. Wilson brauchte jemanden, dem er unbedingt vertrauen konnte, der für den Kontakt mit der Außenwelt sorgte. Anfangs war House wohl mehr oder minder nur das Sprachrohr des Präsidenten. Das galt besonders für seine europäische Mission im Frühjahr 1914.

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Im Kriege gewann House jedoch zusehends an Eigenprofil; seine Ansichten deckten sich immer weniger mit denen Wilsons, wenn er auch keinen offenen Widerspruch wagte. Vor allem sah er die Freundschaft mit England im amerikanischen Interesse für lebenswichtig an. Als er schließlich auf der Friedenskonferenz erhebliche Zugeständnisse machte, betrachtete dies der Präsident als einen persönlichen Verrat. Im Grunde eitel, reagierte er in solchen Dingen überempfindlich, er brach völlig mit dem Freunde, bis zu seinem Tode hat er nie mehr mit ihm gesprochen. Die gefühlsmäßige Einstellung der Amerikaner zu den kriegführenden Staaten richtete sich noch vielfach nach Herkunft und Interessenlage der verschiedenen Volksgruppen, denen die Einwanderer angehörten. Von den damals 90 Millionen Einwohnern waren über 32 Millionen entweder im Ausland geboren oder wenigstens ein Elternteil von ihnen war eingewandert. Unter 8 Millionen Amerikanern deutscher Herkunft waren 21/2 Millionen noch in Deutschland geboren. Im großen und ganzen war es daher so, daß ein erheblicher Teil der Amerikaner deutscher Herkunft und auch viele Iren mit den Mittelmächten sympathisierten, daß aber die übrigen Volksgruppen, insbesondere auch die lateinischen und slawischen, als ententefreundlich zu gelten hatten. Auf die Territorien verteilt, war der ganze Osten, vor allem die großen Hafenstädte, England und Frankreich zugeneigt, ziemlich gleichgültig verhielt sich zunächst der Mittelwesten, der von Europa und den Meeren weit entfernt war. Die angloamerikanische Führungsschicht in Politik, Wirtschaft und Kultur sympathisierte entschieden mit der Entente. Diese freundschaftlichen Gefühle übertrugen sich allerdings keineswegs auf das autokratisch regierte Rußland. In der hohen Diplomatie war die antideutsche Einstellung besonders ausgeprägt. Der Botschafter in London, Walter H. Page, war so englandfreundlich, daß ihn Wilson im Verlauf des Krieges daran erinnern mußte, daß er nicht englische, sondern amerikanische Politik zu vertreten habe. Industrie und Finanz waren schon im eigenen Interesse auf der Seite des europäischen Westens festgelegt und wurden dies infolge der Waffenlieferungen immer mehr. Wohl litten einige Wirtschafts-

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kreise, insbesondere die Produzenten und Händler von Baumwolle, anfänglich schwer unter der englischen Blockade. Aber die Vorteile waren dodi weit größer. Die zu Beginn des Krieges noch bestehende Wirtschaftsdepression konnte bald durch umfangreiche Materiallieferungen an die Kriegführenden überwunden werden. Allein vom März bis November 1915 stieg der Wert der ausgeführten Sprengstoffmengen von 3 auf 32 Millionen Dollar. Über 2 Milliarden Dollar in Gold flössen nach den Vereinigten Staaten. Die Hochfinanz gewährte f ü r V / i Milliarden Dollar Anleihen an die Entente, nur f ü r 37 Millionen an die Zentralmächte. Die amerikanische Wirtschaft war daher in steigendem Maße an einem Siege der Westmächte interessiert, da im anderen Falle diese Kredite verloren waren. Rein gefühlsmäßig waren die Sympatien f ü r Frankreich noch ausgeprägter als f ü r Großbritannien. Die Franzosen hatten stets eine geschickte Kulturpropaganda getrieben und immer wieder an die gemeinsamen Menschheitsideale und an die unschätzbaren Dienste erinnert, die Frankreich im amerikanischen Unabhängigkeitskampf geleistet hatte. Das Eindringen deutscher Truppen in Belgien erregte schon deshalb die Gemüter, weil es sich um einen kleinen neutralen Staat handelte. Die von England ausgehende Propaganda gegen Deutschland hatte daher ein leichtes Spiel. Viele Amerikaner, die von den Verhältnissen in Europa wenig wußten, nahmen auch die unglaubwürdigsten Nachrichten, wie das bekannte Greuelmärchen von den abgehackten belgischen Kinderhänden, als wahr hin. Es galt ihnen als selbstverständlich, daß der deutsdie Militarismus den Krieg provoziert habe und daß nach einem deutschen Siege auch die Freiheit in den Staaten bedroht werden könne. Die deutsche Gegenwirkung konnte nur sdiwadi sein, schon deshalb, weil keine großen Zeitungen zur Verfügung standen. Von der deutschen Botschaft angestiftete, sehr dilettantische Sabotageakte führten zur Ausweisung des deutsdien Militârattachés Franz v. Papen und des Marineattadiés Karl v. Boy-Ed (1. Dezember 1915). Dies heißt nun freilich nicht, daß das amerikanische Volk von Anfang an bereit gewesen sei, in den Konflikt aktiv einzugreifen. Die überwiegende Mehrheit wünschte, daß sich die

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USA aus den europäischen Händeln heraus halten sollten. Es ist behauptet worden, daß Wilson und seine Berater planmäßig zum Kriege hingetrieben hätten. Soweit sich so etwas mit Sicherheit sagen läßt, war dies jedenfalls nicht Wilsons Politik. Ohne Zweifel war er im Denken und Empfinden nicht neutral, sondern von dem besseren Recht der Westmächte überzeugt. Doch strebte Wilson für sein Land eine Vermittlerrolle an. Der von ihm gewünschte Friede sollte auf einem Ausgleich beruhen, der Abtretungen von Reichsgebiet allerdings nicht ausschloß. Die Meinung daß der Präsident dem Druck der mächtigen Wirtschaftsgruppen, insbesondere dem Morgantrust, erlegen sei, läßt sich nicht beweisen. Die von ihm eingeschlagene Politik hatte durchaus eine persönliche Note, die sich nicht mit den Anschauungen seines Kabinetts, auch nicht seines Freundes House, gedeckt hat. Er hat den offenen Konflikt solange wie möglich hinausgeschoben, für ihn gab erst die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Bootkrieges den Aussdilag. Wie er sich verhalten hätte, wenn Großbritannien unmittelbar von einer Niederlage bedroht gewesen wäre, ist eine andere Frage. Aber eine solche Situation trat ernstlich zu keinem Zeitpunkt des Krieges ein. Wilson war jedoch nicht geneigt, in den beiden wichtigsten Fragen, in bezug auf die Kriegsmateriallieferungen und den U-Bootkrieg, dem deutschen Standpunkt irgendwie gerecht zu werden. Die ersteren kamen infolge der englischen Blockade den Ententemächten einseitig zugute. Sie hatten in zweifacher Hinsicht eine schädliche Wirkung. Sie erschütterten das Vertrauen der Deutschen in die Ehrlichkeit einer amerikanischen Vermittlung und verstärkten noch zusätzlich die enge Verflechtung der Wirtschaft der USA mit derjenigen der Ententemächte. Ein Verbot oder zum mindesten die Einschränkung dieser Lieferungen waren an und für sich möglich. Mehrere neutrale europäische Staaten haben sich zum Embargo für alle kriegführenden Länder entschlossen. Im Kongreß sind insbesondere von deutschamerikanischer Seite aus erhebliche Anstrengungen gemacht worden, das Verbot durchzusetzen, wofür jedoch weder der Präsident noch die Mehrheit des Hauses zu haben waren.

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Die schwerste Belastung der gegenseitigen Beziehungen wurde aber der U-Bootkrieg. Das Unterseeboot wurde erst während des Krieges zu seiner vollen Leistungsfähigkeit entwickelt. Es war eine neue Waffe, die in die Bestimmungen des bisherigen Seekriegsrechts noch nicht hineinpaßte. Nach dem geltenden Recht mußten Handelsschiffe gewarnt und vor der Versenkung die Besatzung in Sicherheit gebracht werden. Das U-Boot konnte nur unter Wasser wirksam operieren, das aufgetauchte Boot war leicht abzuwehren, besonders als England zur Bewaffnung der Handelsschiffe überging. Es war sicherlich ein Unterschied, ob nur das Eigentum oder ob ein Bürger eines neutralen Staates bedroht wurde. Es konnte verständlich erscheinen, wenn die amerikanische Öffentlichkeit auf Menschenverluste in weit stärkerem Maße reagierte als auf nodi so willkürliche Übergriffe gegen das Privateigentum. Noch war der totale Krieg nicht üblich, der audi die Zivilbevölkerung nicht schonte. Immerhin war audi mit der englischen Hungerblockade diese Grenze bereits überschritten worden. Bei einer formalen Behandlung des Problems wurden die Deutschen einer wirksamen Gegenwehr gegen die Blockade beraubt. Eine streng neutrale Regierung hätte amerikanische Bürger warnen können, Handelssdiiffe kriegführender Staaten zu benutzen. Zum mindesten konnte gegen die Bewaffnung der Handelsschiffe protestiert werden. Die amerikanische Neutralitätsgesetzgebung der dreißiger Jahre hat diese Schlußfolgerung gezogen. Wilson und seine Berater waren zu keinen Zugeständnissen in dieser Frage bereit. Das Deutsdie Reich hatte daher nur die Wahl, auf den U-Bootkrieg praktisch zu verzichten oder einen Konflikt mit den USA zu riskieren. Wohl hat die amerikanische Regierung audi gegen Verletzungen des Seekriegsredits durch England protestiert, aus der Nichtbeachtung des Einspruchs jedoch keine ernsten Folgerungen gezogen. In einigen Punkten konnte die britische Regierung ohne Gefährdung für die eigene Kriegführung nachgeben. Um so entschiedener war die Haltung gegenüber Deutschland. Als am 4. Februar 1915 die Gewässer um die britischen Inseln zur Kriegszone erklärt wurden, verkündete die amerikanische Regierung gleich, daß das Reich für den Verlust von

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amerikanischen Schiffen oder Leben haftbar gemacht werden würde. Bereits am 28. März und am 1. Mai ereigneten sich die ersten Zwisdienfälle. Infolge der Versenkung der „Lusitania" (7. Mai) trat eine kritische Lage ein. Die Versenkung des englischen PassagierschifFes kostete 1198 Menschen das Leben; es befanden sich darunter 124 Amerikaner, auch viele Frauen und Kinder. Die „Lusitania" war nodi nicht bewaffnet, wie zunächst irrtümlich von deutscher Seite angenommen worden ist. Es waren lediglich Vorbereitungen für die Umwandlung in einen Hilfskreuzer getroffen worden. Der Umfang der Katastrophe wurde durch eine explodierende Munitionsladung verursacht. Die Erregung in den USA war außerordentlich und wurde nodi durdi den unglücklichen Zufall gesteigert, daß am Tage der Versenkung in der amerikanischen Presse eine Warnung der deutschen Botschaft erschien, feindlidie Sdiiffe zu Reisen zu benützen, man bezog diese Warnung auf die „Lusitania", was jedoch nidit zutraf. Trotzdem war die Mehrheit der Amerikaner nicht für den Kriegseintritt. Audi Wilson hat ihn zu vermeiden gewünscht. Zum mindesten wäre es möglich gewesen, die Stimmung für vermehrte Rüstungen auszunützen. Seine bekannte „too proud to fight"-Rede, die ihm viele heftige Angriffe eintrug, läßt darauf schließen, daß er zu beruhigen versuchte. Die an die deutsche Regierung gerichteten Noten waren allerdings in einem sehr scharfen Ton gehalten. Bryan, der als kompromißloser Pazifist die Verpflichtung zur Neutralität ernst nahm, trat zurück, er erhob gegen die Mitglieder des amerikanischen Kabinetts den Vorwurf, daß sie einseitig für die Alliierten Partei ergriffen hätten. Sein Nadifolger wurde der ententefreundlidie Robert Lansing. Als am 19. August des gleichen Jahres der britische Passagierdampfer „Arabic" versenkt wurde, auf dem zwei Amerikaner das Leben verloren, erklärte sich die deutsche Regierung bereit, auf eine warnungslose Versenkung von Passagierschiffen zu verzichten. Doch auch dieser sogenannte eingeschränkte U-Bootkrieg reidite nidit aus, um weitere Zwisdienfälle zu verhindern. Nach dem Untergang der „Sussex" am 24. März 1916 verlangte Wilson in ultimativer Form die Einstellung des U-Bootkrieges in der bisherigen Form. Im Falle

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der Weigerung wurde mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gedroht. In Deutschland tobte ein heftiger Meinungskampf. Ein Teil der Presse unter dem Einfluß von Tirpitz vertrat die irrige Auffassung, daß es sich bei der amerikanischen Drohung nur um einen Bluff handelte. Die Regierung und zu dieser Zeit auch die Oberste Heeresleitung waren der Meinung, daß ein Krieg mit den USA angesichts der ungünstigen Gesamtlage nicht in Kauf genommen werden könne. Der U-Bootkrieg wurde praktisch eingestellt, mit dem Vorbehalt allerdings einer eventuellen Wiederaufnahme, falls Großbritannien nicht zur Einhaltung der Seekriegsrechtsbestimmungen veranlaßt werden könne. Ein ernsthafter Druck auf Großbritannien ist jedoch von der amerikanischen Regierung in dieser Hinsicht nie ausgeübt worden. Im November 1916 wurde Wilson mit einer knappen Mehrheit zum zweitenmal zum Präsidenten gewählt. Er erhielt 600 000 Stimmen mehr als der Republikaner Charles Hughes. Zweifellos übte das Sdilagwort der demokratischen Partei „er hielt uns aus dem Kriege heraus" einen erheblichen Einfluß auf die Wähler aus. Auch viele Deutschamerikaner stimmten aus diesem Grunde für Wilson. Er nahm nun mit verstärktem Nachdruck die Friedensbemühungen wieder auf, die er bereits seit dem Frühjahr 1915 eingeleitet hatte. Er hatte zu diesem Zeitpunkt House nach Europa gesandt, um die Möglichkeiten zu erkunden. Dieser stieß jedoch in London, Paris und Berlin auf völlige Ablehnung. Januar/Februar 1916 kam es zu einer nochmaligen Mission von House. Der Präsident ließ dieses Mal den Zusammentritt einer Friedenskoferenz vorschlagen, House stellte einen wahrscheinlichen Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg in Aussicht, falls Deutschland diese Konferenz verweigere. Er hat offenbar die Instruktionen des Präsidenten überschritten, der sich nur sehr vage in ähnlichem Sinne geäußert hatte. Die Friedensbedingungen, die Wilson vorschwebten, sahen die Wiederherstellung Belgiens, die Rückkehr Elsaß-Lothringens zu Frankreich und einen Seehafen für Rußland vor.

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Deutschland sollte außerhalb Europas entschädigt werden. Audi dieses Mal stießen die Anregungen im Ententelager auf kein Verständnis. Man erwartete die amerikanische Teilnahme am Kriege, die auch von einflußreichen Kreisen in Amerika, u. a. von Th. Roosevelt, gefordert wurde, der Wilsons Politik fanatisch bekämpfte. Inzwischen hatte sich dieser die Völkerbundsidee ganz zueigen gemacht, die zunächst von England aus propagiert wurde. Der Völkerbund sollte das bisherige Gleidigewiditssystem ersetzen. Gegenüber England befand er sich in diesen Monaten in einer gereizten Stimmung, die Proteste gegen die englischen Maßnahmen, insbesondere gegen die Aufstellung von schwarzen Listen, die sich gegen amerikanische Firmen richteten, wurden nachdrücklicher. House hat später behauptet, daß ohne die schweren deutschen Fehler die amerikanisch-englische Spannung audi zum Kriege mit England hätte führen können. Davon konnte selbstverständlich nicht die Rede sein. Aber der Präsident entsdiloß sich jetzt zu einer energischen Friedensaktion, da er befürchtete, daß anderenfalls audi die USA in den Krieg hineingezogen werden könnten. Unglücklicherweise hat sich dieser Friedensschritt zeitlich sehr verzögert, da der Präsident auf den Ausgang seiner zweiten Wahl warten wollte und mit starken Widerständen im eigenen Kabinett rechnen mußte. So kam ihm das Friedensangebot der Mittelmächte (12. Dezember) zuvor. Für den Präsidenten war es unangenehm, daß der Eindruck einer geheimen Absprache mit dem Reichskanzler entstehen konnte. So verständlich es war, daß die deutsche Regierung Wilsons ehrlichen Absichten mißtraute, ihr Verhalten war dennoch psychologisch ein Mißgriff. Die Ententestaaten lehnten das deutsche Angebot schroff ab. Wilsons Noten an die Kriegführenden wurden am 18. Dezember überreicht. Er bat darin um die Mitteilung der beiderseitigen Friedensbedingungen. Während die deutsche Note unklare Angaben enthielt, gaben die Alliierten ihre Bedingungen bekannt, die von jeder deutschen Regierung nur nach einer völligen Niederlage angenommen werden konnten. Trotzdem blieb Wilson optimistisch. Noch am 22. Januar hat er in der Adresse an den Senat die Notwendigkeit betont, einen Frieden ohne Sieger und Besiegte abzuschließen. Er drängte die deutsche

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Regierung, sidi über die vorbehaltlose Rückgabe Belgiens eindeutig zu äußern. Inzwischen -war aber bereits im deutschen Hauptquartier die Entscheidung gefallen. Das Jahr 1916 war militärisch für die Mittelmächte ungünstig verlaufen. Rumänien war in den Krieg eingetreten, die Kämpfe um Verdun und an der Somme hatten furchtbare Verluste gebracht. Die Blockade wurde hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung immer fühlbarer. Angesichts der ernsten Lage war nun auch die Oberste Heeresleitung der Überzeugung, daß nur nodi der U-Bootkrieg England zum Frieden zwingen könne. Die Marineleitung hatte sich in ihren Gutachten viel zu zuversichtlich über den baldigen Erfolg geäußert. Am 8./9. Januar 1917 wurde in Pless, trotz der Warnungen des deutschen Botschafters in Washington, des Grafen Johann Heinrich v. BernstorfF, der verhängnisvolle Entsdiluß gefaßt. Am 1. Februar 1917 begann der uneingeschränkte U-Bootkrieg. Bethmann Hollweg fügte sidi gegen seine Überzeugung. Die diplomatischen Beziehungen wurden von Washington sofort abgebrochen. Kurz darauf fiel auch noch ein Telegramm des Staatssekretärs Zimmermann an die mexikanische Regierung mit dem Angebot eines Kriegsbündnisses in die Hände der amerikanischen Regierung, die es am 1. März veröffentlichte. Dieses Telegramm gab den Ausschlag. Wilson hatte das Gefühl, daß man ihm in den Rücken gefallen sei. Er empfand seitdem Bitterkeit, ja H a ß gegen die kaiserliche Regierung. Wahrscheinlich hatte er bis dahin noch immer gehofft, den offenen Kriegszustand vermeiden zu können, wenn auch schon die Rüstung auf Hochtouren lief. Erst neue Versenkungen mit dem Verlust amerikanischer Menschenleben brachten am 6. April die Kriegserklärung. Nach dem Bericht von Augenzeugen war Wilson persönlich sehr erschüttert. Er fürchtete nicht zu Unrecht, daß die durch den Krieg aufgepeitschten Leidenschaften im eigenen Volk unberechenbare Folgen haben könnten. Nachdem die USA in den Krieg eingetreten waren, vollzog sidi in erstaunlich kurzer Zeit die bisher vernachlässigte militärische und wirtschaftliche Mobilmachung. Neben einer be-

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schränkten Wehrpflicht wurde auch die Produktion von Kriegsmaterial außerordentlich gesteigert. Zunächst ging die Planung davon aus, daß der eigentliche Einsatz erst ab 1919 möglich sein werde. Infolge der deutlichen Ermüdungserscheinungen in England und Frankreich und nach dem Zusammenbruch der russischen Front als Folge der Oktoberrevolution wurde die Verschiffung von Truppen auf das äußerste beschleunigt. Sie war angesichts der Schiffsraumknappheit eine organisatorische Leistung ersten Ranges. Bereits im Mai 1918 standen 500 000 einsatzfähige amerikanische Soldaten auf französischem Boden. Im ganzen sind 2 084 000 Mann nach Frankreich gebracht worden. Anfang Juni 1918 nahmen amerikanische Divisionen schon bei Cantigny und Château-Thierry an den Kämpfen teil. Vom 3. August ab erhielt der General John J. Pershing einen eigenen Frontabschnitt in der Länge von 85 Meilen. Seit der Wende des Kriegsglüdcs im August 1918 zugunsten der Alliierten konnten die Amerikaner beträchtliche Erfolge erzielen: vom 12.—13. September eroberten sie den Bogen bei St. Mihiel und nahmen dann an der großen Offensive zwischen der Mosel und den Ardennen in der Richtung auf Sedan teil. Besonders wichtig war aber die Hilfe, die die USA zur See zu gewähren vermochten. Durch deutsche U-Boote wurden allein im April über 800 000 Tonnen Schiffsraum versenkt. N u r der mit äußerstem Nachdruck betriebene Bau von Handelsschiffen auf amerikanischen Werften konnte die gefährliche Lücke für England ausfüllen. Durch die Erfindung eines Abhörapparates und durch die Einführung des Konvoisystems wurde man der U-Bootgefahr seit dem Sommer Herr. Hierbei hat sich vor allem der Admiral Williams S. Sims große Verdienste erworben. Er hatte, in Deutschland zu wenig beachtet, bereits einige Jahre vor dem Kriege anläßlich eines Flottenbesuches in England die englisch-amerikanische Blutsgemeinschaft in einer Rede gefeiert. Entscheidend war aber nicht so sehr die militärische und wirtschaftliche Hilfe, wie die moralische Ermutigung. 1917 war auch für Frankreich und England ein sehr kritisches Jahr, der U-Bootkrieg und russische Revolution bedeuteten eine Nervenbelastung, die erst nach Kriegseintritt der USA allmählich überwunden wurde.

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Wilson ergriff mit Geschick die politische Offensive. In seinen Reden deutete er den Kampf als eine Auseinandersetzung zwischen unvereinbaren Regierungsformen, zwischen Demokrat tie und Autokratie, zwischen den friedlichen Völkern und dem deutschen Militarismus, wobei er eine deutliche Trennungslinie zwischen den deutschen Madithabern und dem von ihnen beherrschten Volk zog. Als Hauptziel stellte er auf, daß die Welt „safe for democracy" gemacht werden müsse. Auch die überaus schwierige Lage, in die die Westmächte durch den UBootkrieg, durch den Zusammenbruch der russischen Front und durch das Scheitern der Nivelle-Offensive im Westen gerieten, konnte ihn nicht von dem Entsdiluß abbringen, daß mit der bestehenden deutschen Regierung kein Frieden geschlossen werden könne, da sie nidit vertrauenswürdig sei. Am 8. Januar 1918 verkündete er in einer Adresse an den Kongreß seine 12 Punkte, im Augenblick, als die große deutsche Offensive im Westen bevorstand. Das Programm sollte in besonderem Maße das deutsche und das russische Volk beeindrucken. Es war aber auch auf die allgemeine Kriegsmüdigkeit berechnet und als Gegenzug gegen die Veröffentlichung der Geheimabkommen durch die bolschewistische Regierung gedacht. Um ein direktes Friedensangebot hat es sich nicht gehandelt. Unter anderem forderte Wilson das Ende der Geheimdiplomatie, der ökonomischen Rivalität, des Militarismus und des Imperialismus. Geheimabkommen sollten abgeschafft, die Freiheit der Meere hergestellt, abgerüstet und koloniale Ansprüche unter Berücksichtigung der Interessen der Eingeborenen geregelt werden. Die Räumung der von Deutschland besetzten Gebiete sowie ein unabhängiges Polen waren vorgesehen. Die französisch-deutschen und österreichisch-italienischen Grenzen sollten nach nationalen Gesichtspunkten festgelegt werden. Wilson verlangte ferner die Selbstbestimmung der Völker und ein kollektives Sicherheitssystem. Der Eindruck der 14 Punkte war groß; die moralische Stellung des Präsidenten wurde dadurch in der ganzen Welt gefestigt. Gegen den Brest-Litowsker Frieden vom März 1918 war Wilsons Reaktion außerordentlich heftig, er verlangte jetzt gegen das Reich die schrankenlose Anwendung von Gewalt. Nachdem die Lage für die Mittel9

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mächte immer kritischer wurde, trug Wilsons Programm zur Schwächung der Widerstandskraft in diesen Ländern bei. Es bildete sidi in Deutsdiland unter dem Prinzen Max von Baden eine demokratische Regierung, die am 5. Oktober ein Waffenstillstandsangebot an Wilson richtete, in der Hoffnung, daß man auf der Basis der 14 Punkte nodi einen einigermaßen erträglichen Frieden erhalten könne. In dem darauf folgenden Notenwechsel legte der Präsident besonderes Gewicht auf die Bürgsdiaft, daß man es mit einer glaubwürdigen demokratischen Regierung zu tun habe. Von Note zu Note ließ sich deutlicher zwischen den Zeilen lesen, daß die Beseitigung der Monarchie erwartet wurde. Für die neuerdings vertretene These, Wilson hätte gegen eine parlamentarische Monarchie nichts einzuwenden gehabt, fehlt der schlüssige Beweis. Nach dem Vorfriedensvertrag vom 5. November wurde von der deutsdien Regierung stillschweigend vorausgesetzt, daß die 14 Punkte die Grundlage für den Frieden bilden sollten. Mit Rücksicht auf die Westmächte war es Wil^ son gar nicht mehr möglich, dies Programm durchzuführen, da Geheimabkommen bestanden, deren Existenz dem Präsidenten bekannt war und die im direkten Widerspruch zu einzelnen Punkten standen. Bereits vor Absdiluß des Waffenstillstandes (11. November) führte House Verhandlungen mit den assoziierten Mächten über die Auslegung einzelner Punkte. Besonders ging es um die Freiheit der Meere, gegen die die englische Regierung ernste Bedenken erhob, man einigte sich schließlich auf die vage Formel, daß auf der Friedenskonferenz darüber diskutiert werden solle. Auch die Entschädigungsforderungen spielten schon eine große Rolle. Es ist Wilson als schwerer Fehler angeredinet worden, daß er zu den Friedensverhandlungen persönlich nach Europa gegangen sei und sich auf diese Weise in die intensive Pariser Kriegsatmosphäre begeben habe, anstatt von Washington aus das politische und moralische Gewicht, über das er zu dieser Zeit noch in hohem Maße verfügte, einzusetzen und die innenpolitische Opposition unter Kontrolle zu halten. Aus taktischen Gründen wäre das wohl zweckmäßiger gewesen. Es ist jedoch

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fraglich, ob dann die Entwicklung so gänzlidi anders verlaufen wäre. Der Mißerfolg der amerikanischen Politik auf der Friedenskonferenz hatte reale Gründe. Die europäischen Westmächte fühlten sich als die eigentlichen Sieger; die Vereinigten Staaten waren zu spät in den Krieg eingetreten, um ihre Macht entscheidend zur Geltung bringen zu können. Die Stellung des Präsidenten war überdies durch die Zwischenwahlen vom November 1918, die eine republikanische Mehrheit brachten, gegenüber den Verhandlungspartnern schon empfindlich geschwächt. Unter diesen Umständen handelte er noch besonders unklug, als er die Friedensdelegation fast ausschließlich aus Demokraten zusammensetzte. Es ergibt jedoch ein schiefes Bild, wenn davon ausgegangen wird, daß er sich auf der Konferenz von den Westmächten als „weltfremder Ideologe" habe düpieren lassen. Wilson machte sich an und für sich keine Illusionen über die Schwierigkeiten, die er auf der Konferenz zu überwinden haben werde. Aber er beurteilte die Mentalität der Völker mit seiner Annahme falsch, daß sie seine in die Zukunft weisenden Pläne tatkräftig unterstützen würden. Seine Reisen durch die verschiedenen Länder waren wohl zunächst ein einziger Triumphzug. Aber die Begeisterung galt doch in erster Linie dem Manne, der den Sieg ermöglicht hatte; die Völker dachten so wenig wie die Regierungen daran, auf die Befriedigung ihrer territorialen Wünsche und auf die Vergeltung zu verzichten. Es war eher so, daß letztere unter dem Druck einer durch Kriegsleidenschaften und hemmungslose Propaganda erhitzten öffentlichen Meinung standen. Wilsons Hauptaugenmerk richtete sich auf die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes für die kleinen Völker, später ganz auf den Völkerbund. Das Selbstbestimmungsrecht mußte, wie sich auch zeigen sollte, in Osteuropa gefährliche Auswirkungen haben. Durch engste Verbindung des Friedensvertrages mit dem Völkerbund glaubte der Präsident am besten den dauernden Frieden zu sichern. J e weniger er sein Programm im ganzen durchzusetzen vermochte, um so mehr setzte er seine Hoffnungen auf den Völkerbund, dessen Möglichkeiten er entschieden überschätzte. Viele Amerikaner wollten von einem Beitritt nichts wissen. 9»

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Die dramatischen Verhandlungen auf der Versailler Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 begannen, gehören in die allgemeine Gesdiidite, so daß sich eine ausführliche Schilderung an dieser Stelle erübrigt. Im Februar kehrte Wilson für kurze Zeit nach den USA zurück und stieß bei den Senatoren auf starke Bedenken gegen den Völkerbundsentwurf. Als er am 13. März wiederkam, hatte er mit einer Versteifung der französischen Haltung zu rechnen. Sein Hauptgegner war Georges Clemenceau, der Wilson für einen Utopisten hielt und gemeinsam mit dem französischen Oberkommando die Abtretung des linken Rheinufers, zum mindesten eine unbefristete Besetzung dieses Gebietes anstrebte. Die Gegensätze erreichten zeitweilig eine solche Zuspitzung, daß Wilson am 7. April auf der „George Washington" zurückfahren wollte. Es ist immerhin sein Verdienst, daß er gemeinsam mit Lloyd George weitergehende französische Pläne vereitelte, auch die Abstimmung im Saargebiet nach 15 Jahren setzte er durch. Vom Geiste der 14 Punkte wichen die Friedens vertrage weit ab, sie enthielten viele Konfliktsmöglichkeiten für die Zukunft. Viele, die von einer neuen Ordnung geträumt hatten, waren am Ende bitter enttäuscht. Wilson sah das Ergebnis der Verhandlungen nicht als persönliche moralische und politische Niederlage an. Er hatte als Moralist gegen einen harten, nach seiner Überzeugung gerechten Frieden für Deutschland nicht viel einzuwenden. Am 10. Juli 1919 legte er dem Senat die Verträge zur Ratifikation vor. Es bestand wohl eine heftige Gegnerschaft unter der Führung des Senators Henry Cabot Lodge, die persönliche wie sachliche Gründe hatte. Aber es lagen auch annehmbare Kompromißvorschläge einiger Senatoren vor, von denen Wilson bei seiner unnachgiebigen Haltung nichts wissen wollte. So wurde die Ratifizierung der Verträge am 19. November mit 53 gegen 38 abgelehnt, endgültig am 19. März 1920 mit 49 : 35 Stimmen. Wilson hat noch nach seiner Rückkehr gehofft, durch einen direkten Appell an das Volk die Verträge und den Völkerbund zu retten. Am 4. September 1919 begann er eine Reise durch die Staaten. Immer wieder betonte er in seinen Reden, die ihre Wirkung auf die Zuhörer nicht verfehlten, daß die USA nicht

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mehr in der bisherigen Isolierung verharren könnten. Seine Hoffnungen wurden zunichte, als er am 25. September in Pueblo Colorado infolge der Überanstrengung einen völligen Zusammenbrach erlitt; die Erkrankung hatte sich bereits auf der Konferenz angekündigt. Wilson war seitdem in seiner politischen Tätigkeit lahmgelegt, bis zu seinem Tode (3. Februar 1924) siedite er dahin. Die Präsidentschaftswahlen von 1920 brachten eine überwältigende republikanische Mehrheit für Warren G. Harding. Die Verträge und der Beitritt zum Völkerbund waren gescheitert. Das Versailler Friedenswerk bekam einen ganz anderen Charakter. Erst infolge des Fernbleibens der USA erhielten die Franzosen ein gefährliches Ubergewicht im Völkerbund und damit die Möglichkeit, ihn einseitig als Machtinstrument gegen Deutschland einzusetzen. Da auch das geplante und von den Franzosen so sehr angestrebte Verteidigungsbündnis mit England und den USA nicht zustande kam, sah sidi Frankreich des Rückhalts an starke Mächte beraubt und begann, gestützt auf Polen und die kleine Entente, eine starre Sicherheitspolitik, die verhängnisvolle Folgen haben sollte. Trotz aller Fehler und Irrtümer hatte dodi Wilson richtiger gesehen als seine Gegner, daß die USA, nachdem sie einmal in den Weltkrieg eingetreten waren, sich der Verantwortung für den Frieden nicht mehr entziehen konnten. Die Rückkehr zur Isolierung war ein Anachronismus und, wie sich bald zeigen sollte, praktisch auch nicht mehr möglich. 2. Kapitel Scheinisolierung und Prosperität Viele Amerikaner hatten den Weltkrieg in Kreuzzugstimmung erlebt; gerade deshalb erfolgte der Übergang zur Ernüchterung ziemlich rasch. Sie bekannten sidi wieder zur Isolierung und lehnten auch überwiegend die imperialistischen Tendenzen der vorhergehenden Zeit ab. Der Krieg bedeutete für die Amerikaner kein innerlich aufwühlendes Erlebnis; die Verluste hielten sich im Vergleich zu den furchtbaren Blutopfern, die Europa gebracht hatte, in tragbaren Grenzen. Die

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Unkenntnis über Europa war in den USA nodi weit verbreitet, Audi die im Kriege gewonnenen eigenen Erfahrungen blieben doch recht beschränkt. N u r kurze Zeit haben amerikanische Truppen an der Besetzung des Rheinlandes teilgenommen und sich humaner als die Franzosen betragen, deren separatistischen Bestrebungen der amerikanische General entschieden entgegentrat. Die internationale Lage hatte sich zunädist vollkommen geändert. Deutschland war als Machtfaktor ausgeschaltet. Am 2. Juli 1921 kam ein Sonderfrieden zustande, der den USA wohl grundsätzlich alle sich aus dem Versailler Vertrag ergebenden Rechte vorbehielt, aber doch eine Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen einleitete. Man setzte große Hoffnungen auf einen Erfolg der deutschen Demokratie, bewunderte den scheinbaren wirtschaftlichen Aufstieg nadi der Stabilisierung der deutschen Währung und stand der von Stresemann seit 1924 eingeleiteten Versöhnungspolitik mit Frankreich sehr wohlwollend gegenüber. Die Beziehungen der USA zu Rußland wurden mehr von ideologischen als von politischen Motiven bestimmt. Die amerikanische Regierung hatte zunächst den Ausbruch der russischen Revolution als einen Sieg des demokratischen Gedankens überschwänglich gefeiert. Um so heftiger war die Reaktion nach der Oktoberrevolution. Die USA hatten sich während des Krieges an der bewaffneten Interventionspolitik der Westmächte zunächst beteiligt, waren aber voller Mißtrauen gegen Japan, das starke Truppeneinheiten nach Sibirien geworfen hatte. Die amerikanische Regierung war daher nach dem Kriege zu einer Fortsetzung der bewaffneten Intervention nicht mehr bereit. Der Bolschewismus wurde um so mehr als eine Herausforderung der Demokratie empfunden, als man in Amerika die angeblichen Ziele des Kommunismus, den sozialen Fortschritt der breiten Schichten, die unmittelbare Beteiligung an Zivilisation und Kultur, schon viel besser gesichert zu haben meinte. Man versagte somit bis 1933 der Sowjetunion die Anerkennung, um so mehr, als deren Machthaber die Vorkriegsschulden nicht übernehmen wollten. Ein nennenswerter Handel konnte sich nicht entwickeln. Als 1921 eine furchtbare Hungersnot in weiten Gebieten Rußlands ausbrach, wurde unter Führung des späteren

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Präsidenten Herbert Hoover eine großzügige Hilfsaktion eingeleitet, die zunächst von der Sowjetregierung gerne angenommen wurde, deren Bedeutung dann später aber von dieser in Jeder Weise herabgesetzt wurde. Im übrigen gab es in den USA wie übrigens auch in Europa nur wenige, die die von dieser Seite her drohende Gefahr vorausahnten. Waren doch die Friedensverträge ohne jede Rücksicht auf russische Interessen abgeschlossen worden. Die Beziehungen der USA zu den Westmächten kühlten sich bald ab. Über die Frage der Kriegsschulden entstanden ernste Meinungsverschiedenheiten. Die Engländer und Franzosen vertraten den Standpunkt, daß die Kriegsschulden an die Vereinigten Staaten auf das engste mit den Reparationen verbunden seien, d. h., daß sie nur unter der Voraussetzung zahlen könnten, wenn Deutschland seinen im Friedensvertrag auferlegten Wiedergutmachungsverpflichtungen nachkam. Die amerikanischen Regierungen verneinten dagegen diesen Zusammenhang. Finnland wurde als Vorbild hingestellt, das seine Schulden in regelmäßigen Raten abzahlte. Auf beiden Seiten wurde die Stimmung immer gereizter, handelte es sich doch um sehr große Beträge. Allein die offiziellen Anleihen betrugen 10,35 Milliarden Dollar, ganz abgesehen von den sehr erheblichen privaten Investitionen. Die europäischen Sdiuldnerländer empfanden diese Hartnäckigkeit durchaus als unangebracht. Sie rechneten den Amerikanern gerne vor, daß sie an den Kriegsmateriallieferungen sehr viel verdient hätten; da sie erst spät in den Krieg eingetreten seien, sollten sie die Anleihen als Beitrag zum Siege ansehen. Das empfanden nun wieder viele Amerikaner als unglaubliche Zumutung, sie stellten sidi die Frage, ob ihr Land nicht besser neutral geblieben wäre. Schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt wurde es klar, daß der Wunsch vieler Amerikaner, sidi ganz aus den europäischen Angelegenheiten herauszuhalten, nicht zu erfüllen war. Die USA waren im eigensten Interesse genötigt, sich aktiv in das Reparationsproblem einzuschalten, da ihnen sehr viel an einer Gesundung der europäischen Wirtschaft gelegen sein mußte. Seit 1924 begannen die Versuche, das Reparationsproblem auf einer geschäftlichen Basis zu lösen, nachdem der Ruhreinmarsch

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der Franzosen zu einer völligen Zerrüttung der deutschen Währung geführt hatte. Am 1. September 1924 trat der Dawesplan in Kraft, genannt nach dem amerikanischen Großfinanzmann Charles Dawes, der den Vorsitz im internationalen Sachverständigenaussdiuß führte. Das Reich sollte danach jährliche Zahlungen leisten, die bereits im fünften Jahr die Höhe von 27ï Milliarden Goldmark erreicht hätten. Die Gesamtsumme war noch nicht festgesetzt worden. Die Zahlungen waren nur durch große auswärtige Anleihen möglidi, die Deutschland förmlich aufgezwungen worden sind. Die Last war zu groß, so daß am 7. Juni 1929 ein neuer Plan auf Grund eines Gutachtens des Amerikaners Owen D. Young zustande kam. Die gesamte Reparationssumme wurde danach auf 34,5 Milliarden Mark festgesetzt; die Zahlungen sollten über eine Gesamtzeit von 59 Jahren laufen. Audi der Youngplan blieb nur kurze Zeit in Kraft. Die große Krise seit 1929 machte weitere Zahlungen unmöglich. Am 20. Juni 1931 sdilug Hoover ein Moratorium auf ein Jahr vor. Reparationen und Kriegsschuldenzahlungen wurden praktisch eingestellt. Aber audi in anderer Hinsidit war die amerikanische Isolierung gegenüber Europa doch nur scheinbar. Es kam zu einer engen Zusammenarbeit mit dem Internationalen Gerichtshof im Haag, allerdings ohne förmlichen Beitritt, obwohl einige einflußreidie Politiker wie Franklin Roosevelt, diesen dringend befürworteten. Auch im Völkerbund arbeiteten die Amerikaner in verschiedenen unpolitischen Sektionen mit; bis 1930 nahmen sie an mehr als 40 Völkerbundkonferenzen teil. 1931 hatten sie in Genf fünf permanente Beobachter, ganz abgesehen davon, daß sie durch andere amerikanisdie Staaten, die dem Völkerbund angehörten, wenigstens indirekt vertreten waren. Die Anhänger der Neutralitätspolitik waren über diese Entwicklung nichts weniger als erbaut, behaupteten sie dodi, daß die USA, wenn auch nicht dem Namen nadi, bereits faktisch Mitglied des Völkerbundes geworden seien. Gegenüber Lateinamerika wurde die „Dollardiplomatie" mehr und mehr liquidiert und seit 1930 eine Politik der „guten Nachbarschaft" eingeleitet, die dann unter Roosevelt nodi sehr vertieft worden ist. Auf mili-

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tärische Interventionen wurde grundsätzlich verzichtet. Die panamerikanischen Kongresse förderten die gemeinsamen Interessen. An Gegensätzen zu den größeren südamerikanisdien Staaten fehlte es allerdings nach wie vor nicht. Die Hauptsorge galt Asien. Während des Ersten Weltkrieges wurden, die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Japan auf eine harte Probe gestellt. Infolge des Bündnisses zwischen Großbritannien und Japan und dessen Eintritts in den Krieg gegen Deutschland war es für die Amerikaner unmöglich, den Bestrebungen Japans, sich in China eine Vorrangstellung zu verschaffen, mit genügendem Nachdruck entgegenzutreten. In einem besonderen Abkommen legte Lansing mit dem japanischen Außenminister Baron Kikujiro Ishii am 2. November 1917 fest, daß Japan besondere Interessen in China zu vertreten habe; gleichzeitig versicherten aber beide Partner, daß sie die Unabhängigkeit und territoriale Integrität von China nicht verletzen wollten. Das Prinzip der „offenen Tür" wurde nochmals anerkannt. In der Praxis war aber das japanische Verhalten ganz anders. Die Regierung hatte China bereits 1915 21 Forderungen gestellt, die der japanischen Einmischung in diesem Reich Tür und Tor öffneten. Vergeblich versuchte die amerikanische Regierung nach dem Ersten Weltkrieg, die allgemeine Befriedung im pazifischen Raum zu erreichen. Am 12. November 1921 trat die Washingtoner Flottenkonferenz zusammen, an der außer den USA Großbritannien, Japan, Frankreich und Italien teilnahmen. Sie verlief erfolgreich. Die Vertragspartner verpflichteten sich, für die Dauer von zehn Jahren keine großen Kriegsschiffe mehr zu bauen. Das Stärkeverhältnis wurde für die fünf Mächte auf 5 : 5 : 3 :1,75 : 1,75 festgelegt. Im Neunmächteabkommen wurde die Unabhängigkeit Chinas anerkannt und in einem Sonderabkommen die Rückgabe Schantungs an China festgesetzt. Die Japaner verpflichteten sich, ihre Truppen aus Sibirien abzuziehen, die Insel Jap kam unter amerikanische Kontrolle. Die Flottenverständigung war jedoch nicht von langer Dauer. Sie verlor schon deshalb bald an Bedeutung, weil die Zahl der kleineren Schiffseinheiten nicht beschränkt worden war. Die Londoner Flottenkonferenz (Januar—März

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1936) verließ Japan vorzeitig in einem veränderten politischen Klima. Die Brüsseler Konferenz (1937) wurde von den Japanern schon gar nicht mehr besdiickt. In China gestaltete sidi die Lage immer undurchsichtiger. Die Nationalbewegung suchte zunächst Anlehnung an die Sowjetunion, die die kluge Taktik einschlug, gegenüber der innerchinesischen Entwicklung sdieinbare Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, da dieses Land für den Kommunismus noch nidit reif war. Nach dem Vertrag von 1924 verzichteten die Russen auf exterritoriale Rechte; die ostchinesische Eisenbahnfrage wurde dahin geregelt, daß die Chinesen in dieser Zone die ausschließliche politische Kontrolle ausüben sollten. Die Partei der Kuomintang vereinigte somit eine Zeitlang nationale und kommunistische Elemente, die Ausbildung der Truppen erfolgte nach russischem Muster, Tsdiiang Kai-schek, der nach dem Tode Sun-Jat-sens die Führung übernommen hatte, war selbst in Moskau gewesen. Aber bereits 1927 trat die Spaltung ein. 1928 richtete Tschiang Kai-schek eine Regierung über das Land südlidi der Großen Mauer mit Nanking als Hauptstadt ein, während der nördliche Teil unter japanischen Einfluß geriet. Die USA kamen seit dem Kriege in eine zwiespältige Situation. Sie spielten weiterhin die Rolle eines uneigennützigen Freundes und Beschützers Chinas. Die amerikanische Regierung konnte jedoch nicht verhindern, daß die wachsende fremdenfeindliche Stimmung Chinas sidi auch auf ihre eigenen Staatsangehörigen auswirkte; 1927 mußte die Fremdenkolonie in Schanghai unter Teilnahme eines amerikanischen Regiments geschützt werden. Nach 1927 trat der Gegensatz zur japanischen Politik immer deutlicher in Erscheinung. Die Japaner legten auf das Zustandekommen eines chinesischen Einheitsstaates keinen Wert, sie mischten sich dauernd in den Bürgerkrieg ein und erklärten schließlich, nicht zulassen zu können, daß der Kriegsschauplatz auch auf die Mandschurei und Mongolei ausgedehnt wurde. 1929 besetzten chinesische Kräfte der Nationalarmee die ostchinesische Eisenbahn und verhafteten russische Beamte, denen sie politische Einmisdiung vorwarfen. Es kam daraufhin zu einem begrenzten bewaffneten Konflikt mit den Russen, er bedeutete die erste offene Verletzung des Kelloggpaktes, der

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kurz vorher von fast allen Staaten unterzeichnet worden war und den Krieg als Mittel der Politik grundsätzlich ächtete (27. August 1928). Die USA ließen es bei papierenen Protesten bewenden und zeigten keine Neigung, die Anerkennung des Vertrages zu erzwingen. In den nächsten Jahren trat Japan endgültig aus seiner Reserve heraus. Längst schon hatte es einen Festlandbesitz angestrebt, um ein Absatzgebiet für seine Industrie zu sdiaffen. Die weltwirtschaftliche Depression mit ihren Wirkungen auf die politische Lage wurde von den Japanern ausgenützt. Die Hinrichtung eines japanischen Kapitäns wegen angeblicher Spionage durch die Chinesen mußte den Vorwand für die Besetzung der Südmandschurei im September 1931 hergeben. Seit 1932 stand die gesamte Mandschurei unter japanischer Kontrolle; ein selbständiger Staat Mandsdiukuo wurde unter einem Abkömmling der Mandsdiudynastie gebildet, der völlig von Japan abhängig war (15. September). Die amerikanische Regierung erhob zwar energisdien Protest und erkannte den neuen Staat nicht an. Von einem aktiven Eingreifen aber wollte sie nichts wissen, sie hielt sidi vorsichtig zurück, obwohl sich im Völkerbund Bereitschaft für Sanktionen gegen Japan zeigte. Die innere Entwicklung der USA wird von 1923 bis 1929 durch eine Prosperität gekennzeichnet, die das Land in solchem Ausmaß noch nicht gekannt hatte. Die Verarmung Europas hatte dahin geführt, daß nun an Stelle Großbritanniens die Vereinigten Staaten zum Weltbankier wurden. Die Produktion von Massengütern war in ständigem Aufstieg begriffen, auch das Auto konnten sich jetzt Leute mit bescheidenerem Einkommen leisten. 1920 kam der Rundfunk, 1927 der Tonfilm. Der amerikanische Handel konnte nach allen Seiten hin ausgeweitet werden. Es schien so, als ob nunmehr der Traum Unzähliger erfüllt worden sei. Angesichts steigender Löhne kamen viele Menschen in den Genuß von Gütern, an die sie früher nicht einmal zu denken gewagt hatten. Eine amerikanische Zeitschrift schrieb mit einem gewissen Recht, daß es den Fabrikanten gelungen sei, ein Märchen zur Wirklichkeit werden zu lassen. Eine Welle von Optimismus ging über das Land. Man sah kein Wölkchen am Himmel. Eine fieberhafte Jagd nach

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dem materiellen Erfolg hatte eingesetzt. Wer sich nicht durchzusetzen vermochte, der konnte nach der allgemeinen Ansicht nichts taugen, da so große Möglichkeiten bestanden. Der idealistische Auftrieb zur Reformbewegung vor dem Kriege war ziemlich geschwunden. Auch die Korruption wurde jetzt nicht mehr so wichtig genommen. „Die Sadie der USA ist das Geschäft", sagte der amerikanische Präsident Calvin Coolidge; so ähnlidi dachten viele andere. Der Amerikanismus bedeutete einen bestimmten Lebensstil und drang auch vielfach nach Europa ein, von den einen als Triumph des Durchschnitts, der Mittelmäßigkeit und einer äußerlichen Zivilisation verabscheut (die schärfste Kritik ertönte aus Frankreich), von den anderen beneidet, bewundert und nachgeahmt. In allen „trivialen Angelegenheiten" traten die USA die Vorherrschaft an, wie man es ausgedrückt hat. Allerdings waren keineswegs alle Amerikaner diesem Rausch verfallen. Besonders Repräsentanten des religiösen und kulturellen Lebens sahen tiefer. Sie beklagten die Selbstüberheblichkeit und waren vor allem beunruhigt, in welchem Ausmaß sittliche und geistige Werte vernachlässigt wurden. Thomas Stearns Eliot forderte die Rückkehr zu einer kirchlich gebundenen Tradition. Schriftsteller wie Sinclair Lewis in seinen Romanen „Main Street" und „Babbitt", wie Theodore Dreiser in „An American Tragedy" zeigten die wenig erfreulichen Seiten des amerikanischen Lebens. Besonders unerbittlich, gelegentlich über das Ziel hinausschießend, war die Kritik von Henry L. Mendsen in der Zeitschrift „Mercury". Sehr spürbar war auch die Auflehnung gegen das puritanische Erbe, gegen eine unaufrichtige Moral. Andere wieder, wie Willa Cather in ihren großen Romanen „Death Comes for the Archbishop" und „Shadows on the Rock" sowie Thorton Wilder in „The Bridge of San Luis Rey" flüchteten sich aus der Gegenwart in die Tradition und in die Vergangenheit. Alles dies vermochte den Optimismus des Durchschnittsamerikaners nicht zu erschüttern. Wie die auswärtige ließ auch die innere Politik jeden großen Zug vermissen. Die Prohibition war immerhin ein interessantes Experiment. Es ist keineswegs zutreffend, daß nur die einflußreidien Frauenverbände im Bunde mit der Kirche und den

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ewigen Weltverbesserern in allen Bundesstaaten das Prohibitionsgesetz von 1919 durchgeführt haben, das als 18. Amendment der Bundesverfassung einverleibt wurde. Dahinter standen ernste politische Erwägungen. Der Alkoholverbrauch hatte in den USA weit krassere Formen angenommen als in Europa. Damit war auch eine erschreckende Zunahme der Kriminalität verbunden. Die Hauptsorge galt dem Süden; im heißen Klima begingen unter alkoholischem Einfluß Weiße wie Schwarze zahlreiche sdiwere Vergehen. Die wieder sehr rührig gewordene nationalistische Know-Nothing-Bewegung hetzte die weiße Bevölkerung auf, die sich mit schrecklicher Lyndijustiz an den Farbigen rächte. Es ist statistisch einwandfrei nachgewiesen worden, daß der Alkoholverbrauch nadi Aufhebung des Alkoholverbots nie wieder annähernd die gleichen Ausmaße wie vor dem Erlaß erreicht hat. Einige der Südstaaten blieben audi dann nodi „trocken". Trotzdem mußte der gut gemeinte Versuch ein gigantisches Fiasko werden. Er bedeutete einen derartigen Eingriff in die Lebensgewohnheiten des amerikanischen Bürgers, daß er gerade in den Vereinigten Staaten als unerträglich empfunden werden mußte. Das Gesetz wurde in jeder Form umgangen. Die „Bootleggers", gegen die die Polizei machtlos war, machten mit dem Alkoholsdimuggel das große Geschäft. Der angerichtete physische und moralische Schaden war weit größer als der Nutzen. Die oft sehr schlechte Qualität der Getränke führte zu schweren Gesundheitsschädigungen. In der studierenden Jugend, audi in der weiblidien, spielte der Alkohol eine größere Rolle als je vorher, da das Verbot einen besonderen Anreiz bot. Nadi langen innerpolitisdien Auseinandersetzungen, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise, wurde das Bundesgesetz wieder aufgehoben (Dezember 1933). Für die USA bedeutete es etwas grundsätzlich Neues, daß es zu einer einschneidenden Beschränkung der Einwandererquote kam. Bisher waren die Amerikaner stolz darauf gewesen, allen Verfolgten und wirtschaftlich Bedrängten ein Asyl zu bieten. Aus Sorge vor der Konkurrenz verlangten die Gewerkschaften immer nachdrücklicher eine Änderung der Einwanderungspoli-

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tik. Das Gesetz von 1924 verbot bereits die Einwanderung von Chinesen und Japanern gänzlidi. Seit 1929 wurden auch die Quoten für die anderen Ländern radikal verringert. Die Quote von 1929 für Nord- und Westeuropa betrug 132 333, für Süd- und Osteuropa 20 251 Personen. Die Vereinigten Staaten hatten seit diesem Zeitpunkt praktisch aufgehört, Menschen aller Nationen eine neue Heimat und ein besseres materielles Fortkommen zu bieten. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind allerdings die Einwanderungsbeschränkungen wieder erheblich aufgelockert worden. 3. Kapitel Weltwirtschaftskrise und New Deal Bald sollte sich zeigen, daß der Aufschwung der Wirtschaft trügerischer Schein gewesen war; er beruhte nicht auf gesicherten Grundlagen. N u r allzu viele Amerikaner hatte das Spekulationsfieber ergriffen. Kredit war das Losungswort des Tages geworden, Kredit auch ohne ausreichende Deckung. Der Überproduktion entsprach schließlich nicht mehr die Nachfrage. An den schwarzen Tagen, 24. und 29. Oktober 1929, fielen die Aktien an der New Yorker Börse ins Bodenlose, sie erschütterten die amerikanische Wirtschaft in ihren Grundfesten. Unzählige, besonders viele kleine Leute, büßten ihre gesamten Ersparnisse ein. Da die Krise sich über viele Länder verbreitete, froren auch die im Ausland angelegten Kapitalien ein. Es zeigte sich, daß die Wirtschaftsexperten durchaus falsche Prognosen gestellt hatten. Anfänglich glaubte man noch, daß es sich nur um eine vorübergehende Krise handle. Als sich das Gegenteil erwies, und die Ziffer der Arbeitslosen in den ÜSA auf ca. 15 Millionen anstieg, als fast ganz Europa in diè Krise hineingerissen wurde, als sogar Großbritannien und die anderen Sterlingstaaten 1*930 das Pfund um fast die H ä l f t e abwerten mußten, trat im amerikanischen Denken eine Wandlung ein. Zum erstenmal geriet der optimistische Glaube weiter Kreise ins Wanken, daß ihr „way of life" und ihr Wirtschaftssystem die besten der Welt seien; der Kapitalismus schien seine Bewährungsprobe nidit bestanden zu haben. Vergeblich versuchte

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der Präsident Herbert Hoover, der Krise Herr zu werden. Er verkündete ein Moratorium für alle auswärtigen Schulden, erhöhte die Zolltarife, brachte neue Steuervorlagen ein und bemühte sich, durch radikale Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt sowie durdi ein großzügiges Bauprogramm der herrschenden Not zu steuern. Alles das genügte nicht. Das Vertrauen in die Staatsführung war in gefährlicher Weise erschüttert. Bei der Präsidentenwahl von 1932 errang der Demokrat Franklin D. Roosevelt mit 472 Wahlmännerstimmen gegen 59 einen überwältigenden Sieg. Die Wahl bedeutete weit mehr als nur den Übergang der politischen Macht an die demokratische Partei, die diese seit 1920 verloren hatte. Eine Epoche wurde eingeleitet, in der viele der bisherigen Vorstellungen revidiert werden mußten. Der neue Präsident, geboren am 30. Januar 1882, stammte aus einer reichen New Yorker Familie. .Er hatte eine sehr sorgfältige Erziehung genossen. Unter Woodrow Wilson, der ihm in vieler Hinsicht ein Vorbild geblieben ist, war er sieben Jahre lang Unterstaatssekretär der Marine (1913—1920). Der Flotte widmete er seine besondere Aufmerksamkeit. 1921 wurde er von der Kinderlähmung befallen, mit eiserner Energie brachte er es dahin, daß er wieder an Krücken gehen konnte. Er kehrte in die aktive Politik zurück. Als Gouverneur von New York (1928—1932) hat er sich in der schweren Zeit als umsichtig erwiesen, als erster führte er dort die Arbeitslosenunterstützung ein. So empfahl er sich als Kandidat für das höchste Amt. Franklin D. Roosevelt ist eine der umstrittensten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte. Wir stehen dieser Zeit für ein abgewogenes Urteil noch zu nahe. Kein amerikanischer Präsident ist vor und nach ihm so bewundert worden wie er, keiner aber auch so scharf kritisiert und von einer Minderheit geradezu gehaßt worden. Als führende Kraft des New Deal verkörperte er für die einen die Rettung aus der schwersten Wirtschaftsdepression, durch die die USA jemals gegangen waren, war er ein Mann von unzweifelhafter, aufrichtiger sozialer Gesinnung, der sein Land auf den Weg zum Wohlfahrtsstaat hinführen wollte. Von den anderen, dies gilt vornehmlich für die Repräsentanten des

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Großkapitals, wurde er als der Zerstörer des amerikanischen Wirtschaftssystems, als Wegbereiter des Staatssozialismus bezeichnet. Als Präsident galt er für viele Menschen in der ganzen Welt als Symbol demokratischer Ideale, dem in erster Linie der Sieg über deren Feinde zu verdanken war. Seine Gegner haben anderseits den Vorwurf erhoben, daß Roosevelt die USA bedenkenlos in den Krieg getrieben habe. Roosevelt war eine ungewöhnliche, mit Führungsqualitäten ausgestattete Persönlichkeit. Seine Arbeitskraft war ebenso erstaunlich wie seine Fähigkeit, mit schwierigen Situationen fertig zu werden und sich durch keine noch so großen Widerstände entmutigen zu lassen. Im Umgang mit Menschen war er viel gewandter als Wilson, er strahlte menschliche Wärme aus, er gewann das Vertrauen seiner Landsleute, wie es die erstaunlich hohen Stimmenzahlen beweisen, die er in vier Wahlen zu erreichen vermochte. Es ist Roosevelts größtes Verdienst, daß er trotz der Machtfülle, die ihm infolge der besonderen Umstände im Frieden wie im Kriege in die Hand gegeben wurde, nie der Versuchung erlegen ist, sie zum eigenen Vorteil zu mißbraudien, obwohl es ihm an persönlichem Ehrgeiz nicht fehlte. Es kann ihm dies um so weniger leicht gefallen sein, als er mit ansehen mußte, weldie sensationellen Erfolge Hitler bei Uberwindung der Wirtschaftskrise anfänglich erzielte, die ihm angesichts der starken innenpolitischen Widerstände verwehrt waren. Roosevelt blieb überzeugter Demokrat. Alle Verdächtigungen, daß er im Grunde die amerikanischen Institutionen habe zerstören wollen, sind unbegründet. Daran hat er nie gedacht und sidi damit die moralische Autorität in den Augen der Welt im Kampf gegen die Diktatoren in Europa und Asien gesichert. Schon deshalb wird er immer als ein großer Innenpolitiker gelten dürfen. Eine Würdigung seiner Außenpolitik soll in der vorliegenden Darstellung erst später erfolgen, wenn die großen Konferenzen des Zweiten Weltkrieges behandelt werden. Der „New Deal" ist als eine soziale Revolution bezeichnet worden. Dieser Ausdruck ist zu weitgehend. Im Grunde war die Entwicklung schon seit längerem eingeleitet worden. Seit dem Abschluß der Besiedlung war die Zeit zu Ende, in der sidi die

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amerikanische Wirtschaft fast völlig frei, ohne staatliche Eingriffe und Kontrolle, zu entfalten vermochte. Seit 1929 war nur der trügerische Schleier erbarmungslos hinweggerissen worden. Wie alle kapitalistischen Länder gingen auch die USA den Weg zum Wohlfahrtsstaat hin, der eine weitaus stärkere Beteiligung der öffentlichen Hand erforderte. Roosevelt hat nie die Absicht gehabt, die Grundlagen des amerikanischen Lebens anzutasten. Er besaß jedoch ein ausgeprägtes Gefühl für soziale Gerechtigkeit, er warf den großen Geschäftsleuten vor, daß sie aus skrupelloser Gewinnsucht die gegenwärtige Situation herbeigeführt hätten. Der „New Deal" (die Neuausgabe von Spielkarten) zielte zunächst darauf ab, vom Staate her Hilfestellung zu geben, wo immer solche notwendig war. Die zweite Aufgabe sollte dann die Erholung der schwer getroffenen Wirtschaft sein. Schließlich bestand die Absicht, durch umfassende Reformen eine Wiederkehr der 1929 eingetretenen Katastrophe zu verhindern. Die drei R's (relief, recovery and reform) bildeten zusammen eine Einheit, die getroffenen Maßnahmen überschnitten sich gelegentlich in empfindlicher Weise. Die Initiative zu dem großen Programm lag beim Präsidenten, der sich mit einem Sadiverständigenausschuß, dem „braintrust", umgab. Vom 9. März bis 16. Juni 1933, in den „hundert Tagen", wurde das Land förmlich mit Gesetzen überschüttet, die in einem bisher noch nie dagewesenen Umfange den Staat und seine Machtmittel in der Wirtschaft zum Einsatz brachten. Das Bemühen ging dahin, einen Ausgleich zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen den Bedürfnissen der Industrie und der Landwirtschaft zu finden. Die großen Vermögen und Einkommen wurden hoch besteuert; ganz neue Wege zur Ankurbelung der Wirtschaft versucht, u. a. mußten die Banken ihre Kreditwürdigkeit nachweisen, der Industrie wurden Kredite gegeben, der besonders schwer darniederliegenden Landwirtschaft wurde zunächst durch Drosselung der Produktion, als diese sich nicht bewährte, durch staatliche Aufkäufe eines großen Teils der Ernte sowie durch Kredite geholfen. Durch öffentliche Arbeiten größten Ausmaßes konnte wenigstens ein Teil der Arbeitslosen beschäftigt werden. Eine Alters- und Invalidenversicherung wurde ins Leben gerufen. In dieser Hinsicht lagen 10

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die USA bis dahin nodi weit hinter Europa zurück. Bis Februar 1934 wurde der Dollar gegenüber dem Gold auf die Hälfte abgewertet. Es wurden in das Hilfsprogramm audi Schriftsteller, Künstler und wissenschaftliche Institute mit einbezogen. Ein riesiger Beamtenapparat bildete sich über Nacht. Ohne Zweifel wurden zu viele Organisationen geschaffen. Manche Maßnahmen bewährten sich nicht. Der Präsident überschätzte die Initiative der Geschäftswelt und den Gemeingeist, an den er dauernd appellierte. Amerikaner, die in den früheren Vorstellungen befangen waren, beschuldigten Roosevelt, daß er einen Staatssozialismus einführen wolle. Der Widerstand war oft leidensdiaftlidi. Selbst die demokratische Mehrheit des Kongresses fürchtete sich vor einer Diktatur des Präsidenten und ging später zögernder mit als am Anfang. Eine ernste Lage trat ein, als das Oberste Bundesgericht mehrere New Deal-Gesetze, besonders die Festsetzung von Höchstpreisen, für verfassungwidrig erklärte. Der Präsident versuchte, den Widerstand dadurch zu brechen, daß er einige freiwerdende Riditerstellen mit Anhängern besetzte. Schließlich gab das Bundesgeridit in einigen wichtigen Punkten nach. 1938 ging eine nochmalige Rezession über das Land, die neue Maßnahmen erforderte. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab es noch immer 10 Millionen Arbeitslose. Von einem durchschlagenden Erfolg des New Deal kann daher nicht gesprochen werden. Aber Roosevelt und seinen Mitarbeitern gebührt dodi das Verdienst, durch ihre Initiative auf allen Gebieten der Bevölkerung neues Selbstvertrauen eingeflößt und die sozialen Spannungen abgemildert zu haben. Die Wahl vom 3. November 1936 bradite dem Präsidenten eine Mehrheit, wie sie keiner seiner Vorgänger seit Monroe erreicht hatte. Er erhielt 532 Wahlmännerstimmen gegen 8 seines republikanischen Gegners Alfred Landon. In der Außenpolitik sah sich Roosevelt von Anfang an vor ernste Probleme gestellt. Gleich nach dem Einzug in das Weiße Haus nahm er die diplomatischen Beziehungen zu der Sowjetunion auf. Der Handel zwischen den beiden Staaten hielt sich jedodi in sehr bescheidenen Grenzen. Die Hauptsorge in der

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Außenpolitik blieb Japan, das 1937 China den offenen Krieg erklärte, in der Mandschurei einen Vasallenstaat errichtete, sich um den Kelloggpakt, der den Krieg ächtete, nicht kümmerte und zur gleichen Zeit wie Deutschland aus dem Völkerbund austrat. Es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann es zu einem kriegerischen Konflikt kommen würde. Immer beunruhigender wurde dann auch bald die Lage in Europa. Vor allem trat das deutsche Problem in den Vordergrund. In der kurzen Periode zwischen 1924 und 1933 hatten sich die amerikanisch-deutschen Beziehungen recht erfreulich entwickelt, Stresemann hatte in den USA viele Bewunderer, der Handel zwischen den beiden Ländern nahm einen bedeutenden Aufschwung. Es ist eine irrige Auffassung, daß dies mit dem Jahre 1933 sofort ganz anders geworden wäre. Die Regierungen der USA betrachteten das Reich als einen Schutz wall gegen den Kommunismus; es ist erwähnenswert, daß auch sie den Rapallo-Vertrag als beunruhigend empfunden hatten, da er eine Abkehr Deutschlands vom Westen anzudeuten schien. Viele Amerikaner haben zunächst in Hitler einen modernen Volksführer gesehen, sie waren von den Scheinerfolgen seiner sozialen Reformen stark beeindruckt und hielten ihn für einen Erzfeind des Kommunismus. Auch in den USA war ein latenter Antisemitismus vorhanden, die ersten Maßnahmen gegen die Juden stießen nicht gleich auf so allgemeine Ablehnung wie später. Nur in den Kreisen der liberalen Intelligenz und vor allem bei Amerikanern deutsch-jüdischer Herkunft, die übrigens vorher sehr viel für die Verständigung zwischen den beiden Völkern getan hatten, trat sofort ein Stimmungsumschwung ein. Hitler verhielt sich in den ersten Jahren seiner Herrschaft taktisch vorsichtig gegenüber den USA und vor allem ihrem Präsidenten, dessen Person in der Presse auffallend lange geschont worden ist. In einer aufsdilußreichen neueren deutschen Untersuchung von H. J. Schroeder ist die These vertreten worden, daß sich die Beziehungen in erster Linie infolge der wachsenden Wirtschaftsrivalität verschlechtert hätten, und zwar habe sie in den dreißiger Jahren in Mittel- und Südamerika an hoher Aktuali10»

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tät gewonnen. Die Deutschen besaßen in einigen lateinamerikanischen Ländern wirtschaftlich und kulturell einen großen Einfluß. Sie waren die Hauptnutznießer des dort verbreiteten Ressentiments im Verhältnis zu den USA, an dem auch die von Roosevelt neu eingeleitete Politik der „guten Nachbarschaft" nicht viel ändern konnte. Die deutschen Handelsbeziehungen mit Lateinamerika nahmen in den dreißiger Jahren einen großen Aufschwung, sie wurden in den USA nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern audi aus politischen Gründen um so mehr als besorgniserregend empfunden, als schon vor dem Ersten Weltkrieg die Befürchtung bestand, daß sich das Reich dort Siedlungsgebiete für Flottenstützpunkte verschaffen könnte, die unmittelbar die amerikanischen Interessen im Pazifik und im Atlantik berühren mußten. Die erwähnte Studie weist auch darauf hin, daß der zunehmende deutsche Einfluß in Südosteuropa die Expansion des amerikanischen Handels in diesem Raum sehr empfindlich behinderte. Ohne diese Tatsachen in ihrer Bedeutung zu unterschätzen, darf allerdings daraus nicht gefolgert werden, daß diese Wirtschaftsrivalität irgendwie entscheidend für das Verhalten der USA im Kriege geworden ist. Vielmehr trat der wahre Charakter der hitlerischen, den Frieden bedrohenden Gewaltherrschaft immer unverhüllter zutage. Infolge der zunehmenden Einwanderung von flüchtenden Deutschen, insbesondere Juden, erfuhr die amerikanische Öffentlichkeit erst in vollem Umfange von den Verfolgungen, denen viele in Deutschland ausgesetzt waren. Der Historiker William Dodd, der von 1933 bis 1937 Botschafter in Berlin war, in Deutschland studiert hatte und der deutschen Kultur nahestand, wurde zum fanatischen Gegner des nationalsozialistischen Regimes; er hat als einziger von den diplomatischen Vertretern die Teilnahme an den Nürnberger Parteitagen grundsätzlich verweigert. Nach der Kristallnacht vom November 1938 wurde der amerikanische Botschafter in Berlin zur Berichterstattung zurückgerufen. Der Völkerbund verlor mit dem Ausscheiden Deutschlands und Japans mehr und mehr an Ansehen. Auch der formale Eintritt der Sowjetunion 1935 konnte daran nichts ändern.

Weltwirtschaftskrise und New Deal

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Die westlichen Demokratien wurden durch die Diktaturen in die Defensive gedrängt. Infolge der inneren Schwierigkeiten konnte Roosevelt nicht daran denken, in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft sehr aktive Außenpolitik zu betreiben. Weniger als je war die Mehrheit der Bevölkerung zunädist bereit, sich in neue kriegerische Verwicklungen hineinziehen zu lassen, ein Bedürfnis, das audi durch die schwere Wirtschaftskrise gesteigert wurde. Der sog. Nye-Senatsausschuß brachte 1934/1935 sensationelle Enthüllungen über die merkwürdige Rolle, die die Finanzwelt und vor allem der Morgantrust im Ersten Weltkriege gespielt hatten. Weite Kreise glaubten darin einen Beweis zu sehen, daß das Großkapital planmäßig zum Kriege getrieben habe, daß der Idealismus vieler Amerikaner in der schmählichsten Weise mißbraucht worden sei. Dies w a r natürlich übertrieben; die wirtschaftlichen Interessen hatten nidit allein den Ausschlag f ü r den Kriegseintritt im Jahre 1917 gegeben. Der Kongreß wünschte unter allen Umständen, eine ähnliche Entwicklung f ü r die Zukunft zu unterbinden. Bereits 1934 verbot ein Gesetz Anleihen an jeden Staat, der seine Sdiulden nicht bezahlt hatte. 1935/1937 traten weitgehende Neutralitätsgesetze in K r a f t . Unter anderem war ein vollständiges Waffenembargo an kriegführende Staaten vorgesehen. Der Präsident wurde ermächtigt, Reisen amerikanischer Bürger auf Schiffen kriegführender Staaten zu verbieten, wenn diese nicht das Risiko selbst übernahmen. 1937 kam es zu einer erheblichen Verschärfung. Das Verbot von Reisen auf Schiffen kriegführender Staaten wurde jetzt vollständig, alle Munitionslieferungen an Kriegführende waren untersagt, selbst Rohstoffe durften nur gegen Barbezahlung abgegeben werden. Ähnliche Maßnahmen im Ersten Weltkrieg hätten die Kontroverse über den U-Bootkrieg entschärft; er hätte nicht zum Hauptgrund für den Kriegseintritt der USA werden können. In den dreißiger Jahren mußte die Neutralitätsgesetzgebung Hitler den Eindruck vermitteln, daß er von den USA nichts zu befürchten habe. Angesichts der weltweiten Spannungen hätten höchstens umfangreiche militärische Vorbereitungen auf den Ernstfall eine abschreckende Wirkung auf die Achsenmächte haben

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können. Roosevelt, der weiter sah, unterschrieb nur zögernd die Neutralitätsgesetze; bei der vorherrschenden Stimmung im Kongreß waren ihm die Hände gebunden. Roosevelt und seinen Freunden schienen die unveräußerlichen Mensdienredite im gleichen Maße von Deutschland, Italien und Japan bedroht zu sein. Japan wurde auch zu den totalitären Staaten geredinet, obwohl hier nodi verschiedene Gruppen um die Madit rangen. Der Sowjetunion gegenüber leitete die amerikanische Regierung sofort eine Politik der Annäherung ein, indem sie diese am 16. November 1933 anerkannte, wobei auch der handelspolitische Nutzen stark ins Gewicht fiel. Die Ereignisse in Europa und Asien beobachtete der Präsident mit steigender Besorgnis. Es ist die Ansicht vertreten worden, daß ihm die Rüstungen die willkommene Möglichkeit geboten hätten, die unbefriedigenden Ergebnisse des New Deal zu verschleiern. In der Tat hat erst die Aufrüstung die Lösung des Arbeitslosenproblems gebradit. Aber die Bedrohung des Weltfriedens durch Hitler, Mussolini und die Japaner war doch eine Tatsache, die amerikanischen Rüstungen sind eine Folge dieser Entwicklung gewesen. Seit 1937 gab die Regierung immer deutlicher zu verstehen, daß sie gegenüber dem Vorgehen der Diktaturen nicht gleichgültig bleiben könne. Schon während des abessinisdien Krieges war der Präsident bereit, die Sanktionspolitik Großbritanniens und des Völkerbundes zu unterstützen, die bekanntlich am Widerstande Frankreichs sdieiterte. Am 5. Oktober 1937 hielt der Präsident in Chicago die bekannte Quarantänerede: neunzig Prozent der Mensdiheit wünschten den Frieden, nur ein Zehntel bedrohe die internationale Ordnung. Man müsse sidi gegen diese wie gegen eine ansteckende Krankheit schützen. Die Rede war in erster Linie an die Adresse von Japan gerichtet. Die Reaktion auf diese Rede war jedoch im eigenen Lande z. T. so ungünstig, daß Roosevelt genötigt war, abzustreiten, daß die Quarantänerede als Drohung gemeint gewesen sei. Er beteuerte seine Friedensliebe. In die Sudetenkrise von 1938 griff er durdi diplomatische Aktionen ein. Am 6. September richtete er eine Mahnung an Hitler, am 27. an diesen und Mussolini. Auf die Erhaltung dès

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Friedens hatten die Sdiritte keinen Einfluß. Das Münchener „appeasement" wurde als eine moralische Niederlage der, Demokratien von der amerikanischen Regierung aufgefaßt. Am 12. Januar 1939 hielt Roosevelt eine drohende Rede: „Worte mögen nutzlos sein, aber Krieg ist nidit das einzige Mittel, um den schuldigen Respekt vor der Weltmeinung zu erzwingen. Es gibt viele Methoden kurz vor dem Kriege." Vom Kongreß verlangte er große Rüstungskredite, die ihm audi bewilligt wurden. Am 15. April 1939, nadi dem Einmarsdi der deutschen Truppen in Prag, appellierte der amerikanisdie Präsident von neuem an Hitler und Mussolini. Er schlug die Einberufung einer internationalen Konferenz vor, empfahl radikale Abrüstung und stellte freien Zugang zu allen Rohstoffquellen in Aussicht. Die amerikanisdie Diplomatie entfaltete in diesen letzten Monaten vor Ausbrudi des Krieges große Aktivität. Am 14. August hat Roosevelt nochmals Hitler, den König von Italien und den Präsidenten der Republik Polen zur Verständigung aufgefordert, ohne jeden Erfolg. 4. Kapitel Die USA im Zweiten Weltkrieg Durch den Kriegsausbruch hat sich zunächst nichts daran geändert, daß die meisten Amerikaner die Politik der Neutralität wünschten, wenn sie auch Hitler für den eigentlichen Anstifter des Krieges hielten. Erst nadi dessen überwältigenden Erfolgen 1940 kam es zu einer tiefen Beunruhigung, man hatte das Gefühl einer unmittelbaren Bedrohung, aber auch dann waren die Anhänger einer unbedingten Neutralität nodi immer sehr rührig. Der Präsident war wahrscheinlich von vornherein überzeugt, daß eine Teilnahme der USA am Kriege auf die Dauer unvermeidlidi sein werde. Aus taktisdien Gründen betonte er jedoch immer wieder seinen Willen, das amerikanisdie Volk aus dem Kriege herauszuhalten. Wenn er auch bei Kriegsausbruch die Neutralitätsgesetze in Kraft setzen mußte, gelang es ihm bereits am 4. November 1939, daß das vollständige Waffenembargo vom Kongreß aufgehoben wurde. Auf eigenen Schiffen und gegen Barzahlung durften kriegführende Staaten

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Waffen und Munition aus den USA kaufen (cash and carry). Allerdings kam das nur den Westmächten, nicht aber Nationaldiina in dessen Kampf mit Japan zugute, da es keine eigenen Schiffe besaß. Erst als der amerikanisch-japanische Handelsvertrag am 26. Januar 1940 ablief, war eine weit wirksamere Unterstützung Nationalchinas möglich. Gleichzeitig wurde die Sicherheitspolitik verstärkt; eine gemeinsame Erklärung der amerikanischen Staaten in Panama sprach sich schon am 2. Oktober 1939 für eine Sidierheitszone längs der atlantischen Küste aus. Der Krieg der Sowjetunion gegen die Finnen, für die die Amerikaner große Sympathien hegten (Oktober 1939 bis März 1940) führte zu ernsten Spannungen mit der Sowjetunion. Stalins Verständigung mit Hitler hatte schon starken Unwillen erregt. Nach den großen deutschen Siegen im Jahre 1940 konnte zwar der Präsident den Franzosen auf deren Hilferuf hin keine wirksame Unterstützung geben; die Kriegsproduktion wurde aber auf volle Touren gebracht und bereits eine teilweise Wehrpflicht eingeführt. Aus taktischen Gründen wurden allerdings auch diplomatische Beziehungen zu der Vichy-Regierung aufrecht erhalten. Gegen Überlassung einiger Stützpunkte in Westindien gab die amerikanische Regierung an Großbritannien 50 Zerstörer ab (2. September 1940). Gestützt auf den Pakt mit Deutschland und Italien, ging Japan im September 1940 mit Zustimmung der Vichy-Regierung gegen Französischindochina vor. Die amerikanische Regierung antwortete mit einem vollständigen Ausfuhrverbot für Eisen und Stahl nach allen Staaten außerhalb des amerikanischen Kontinents mit Ausnahme Englands. 1941 waren alle Anstrengungen darauf gerichtet, England und später Sowjet-Rußland soweit wie nur möglich durch Lieferungen von Kriegsmaterial zu unterstützen. Churchill und Roosevelt unterhielten einen persönlichen Briefwechsel und tauschten die vertraulichsten Informationen aus. Im April 1941 wurde Grönland durch amerikanische Truppen besetzt. Am 11. März 1941 gab schließlich der Kongreß seine Zustimmung zu dem Pacht- und Leihgesetz, das England in unbeschränktem Umfange Kriegsmaterial zur Verfügung stellte. Im gleichen Monat wurde ein Patrouillendienst

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vor der amerikanischen Küste eingerichtet, am 4. April ein Marinestützpunkt in Nordirland vorbereitet. Im Frühsommer wurden die deutschen Guthaben blockiert und die deutschen Konsulate geschlossen. Am 7. Juli erfolgte die Besetzung von Island. Am 11. September erhielten die amerikanischen Schiffe den Befehl, bei Angriff das Feuer zu erwidern. Im November 1941 wurden die Handelsschiffe bewaffnet. Jede einzelne Maßnahme Schloß die Möglichkeit eines Krieges mit Deutschland ein. Es war das, was Roosevelt eine Politik „short of war" nannte. Dodi wagte selbst Hitler nicht, die Herausforderung anzunehmen. Im Kongreß mußte Roosevelt nodi immer mit einer starken Opposition redinen. In seinen Reden malte er unaufhörlich die Gefahren aus, die nadi seiner Überzeugung nach einem Siege der Achsenmächte auch für die Union entstehen würden: Vernichtung der persönlichen Freiheit, aber auch unmittelbare militärisdie Bedrohung durch Luftangriffe. Politisdi war der Präsident nidit untätig. Im Februar 1940 sandte er den Unterstaatssekretär Sumner Welles nach Europa, um sidi über Friedensmöglidikeiten eine Ansicht zu bilden. Das Ergebnis war negativ. Am 6. Januar 1941 verkündete er in seiner Jahresbotschaft die „vier Freiheiten": Freiheit der Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Furcht. Am 14. August 1941 kam es zwischen ihm und Churchill auf einem Kriegsschiff im Atlantik zu einer Zusammenkunft. Die Atlantik-Charta legte den Verzicht auf territoriale Eroberungen fest, sie versprach allen Völkern ungehinderten Zugang zu den Rohstoffquellen. Stillschweigend wurde bereits vorausgesetzt, daß diese Erklärung auf Deutschland und Italien keine Anwendung finden solle. Die Vorgeschichte zum japanischen Überfall auf Pearl Harbor ist nicht einwandfrei geklärt worden. Die amerikanischjapanischen Beziehungen hatten sich während des Krieges ständig verschlechtert. Die Besetzung Indochinas durch japanische Truppen am 23. Juli 1941 wurde damit beantwortet, daß alle japanischen Kredite in den USA eingefroren wurden. Damit war praktisch der amerikanisch-japanische Handel unterbrochen, die Japaner wurden vor allem von der ölzufuhr abgeschnitten, von der sie abhängig waren. Während die eng-

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lische Politik erheblidi vorsichtiger war, da Großbritannien in Japan einen wichtigen Ordnungsfaktor für China erblickte, waren die Japaner infolge der amerikanischen Haltung nicht in der Lage, den Krieg in China zu beenden, obwohl sie ihre Kräfte bereits überspannt hatten. Die japanische Regierung war von vornherein darauf bedacht, sich nicht in den europäischen Krieg hineinziehen zu lassen. Die Nachricht von Hitlers bevorstehendem Angriff auf die Sowjetunion erregte Bestürzung; am 13. April 1941 wurde ein Nichtangriffspakt in Moskau geschlossen. Nach dem Kriegseintritt Japans zeigte es sich erst in voller Deutlichkeit, daß von einheitlicher deutschjapanisdier Strategie überhaupt nicht die Rede sein konnte. Damit war Hitlers Absicht, durch den Pakt mit Japan einen neuen Verbündeten zu gewinnen, im Grunde gescheitert. Da Japan nicht bereit war, Rußland anzugreifen, gab es keine Entlastung für die deutsche Ostfront. Die Ansichten, ob Japan sich einen längeren Krieg leisten könne, waren geteilt, mit der Ministerpräsidentschaft General Tojos war der Sieg der Militärpartei entschieden. Mit ihm übernahm die Marine die Führung, die den kriegerischen Austrag für unvermeidlich hielt. Nur zum Schein wurden die Verhandlungen noch weitergeführt. Da am 26. November der Staatssekretär Cordeil Hull den Rückzug der Japaner aus China und Indochina verlangte, entschloß sich Tokio zum Kriege. Die amerikanische Regierung wußte, daß ein japanischer Angriff zu erwarten war, da man den japanischen Geheimkode entziffern konnte; auch sind zuletzt noch direkte Warnungen über Australién gekommen. Es ist unter diesen Umständen unbegreiflich, daß die in Pearl Harbor liegende Flotte sowie die Erdtruppen nicht rechtzeitig in Alarmzustand versetzt worden sind. Versäumnisse der Marineleitung, vielleicht auch mangelnde Initiative der verantwortlichen Kommandanten sind dafür nur eine teilweise Erklärung. Offenbar hat bei diesen merkwürdigen Vorgängen der Wunsch eine gewisse Rolle gespielt, unter allen Umständen den Japanern die Verantwortung für den ersten Schuß zuzuschieben. Außerdem wurde angenommen, daß der Hauptschlag an einer anderen Stelle erfolgen werden. In letzter Stunde hat dann auch der Nachrichtendienst versagt. Die Gegner Roosevelts, vor allem

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audi Admiral Husband E. Kimmel, der das Flottenoberkommando in Pearl Harbor hatte, haben die Möglichkeit angedeutet, daß Roosevelt vorsätzlich die Katastrophe nicht verhindert habe, um einen Vorwand für einen Kriegseintritt zu haben. Eine solche Hypothese ist abwegig, eine derartige Gewissenlosigkeit ist Roosevelt nicht zuzutrauen. Der japanische Überraschungsangriff am 7. Dezember durch Luftstreitkräfte gelang vollständig. Von acht amerikanischen Schlachtschiffen sanken fünf oder wurden schwer beschädigt, im ganzen wurden 19 Schiffe entweder versenkt oder kampfunfähig gemadit. 2343 Seeleute und Soldaten sowie 68 Zivilisten verloren ihr Leben. Gleichzeitig wurden die Philippinen, Guam und Midway angegriffen. Das japanische Vorgehen ohne Kriegserklärung stellte mit einem Schlage die nationale Einheit in den USA her. Mit einer einzigen Stimmenthaltung stimmte der Kongreß der Kriegserklärung zu. Der furchtbare Schlag brachte dem amerikanischen Volk zum Bewußtsein, daß die Isolierung ein unerfüllbarer Traum war. Diese Lehre ist seitdem nicht wieder vergessen worden. Da Hitler den USA sofort den Krieg erklärte, hatte der Präsident für die strategische Kriegführung völlig freie Hand. Bereits in einer Zusammenkunft zwischen Roosevelt und Churchill im Dezember 1941 fiel die Entscheidung, daß der europäische Kriegsschauplatz den Vorrang haben solle, da das deutsche Kriegspotential als stärker angesehen wurde. Roosevelts Politik „der guten Nachbarschaft" im Verhältnis zu Lateinamerika bewährte sich im Kriege. Unter dem Druck aufsteigender Gefahren hatte sidi das Solidaritätsgefühl verdichtet. Die panamerikanische Konferenz in Lima verkündete schon im Dezember 1938 die Solidarität Amerikas; in Panama verpflichteten sich die amerikanischen Regierungen zu einer gemeinsamen Politik der Neutralität; in Havana erklärten sie sich im Oktober 1940 gegen jede Veränderung des europäischen Kolonialbesitzstandes in der westlichen Hemisphäre. Nacheinander sind sämtliche Staaten Lateinamerikas in den Krieg gegen die Achsenmächte eingetreten. Am längsten zögerten Chile und Argentinien, die eine kluge Neutralität vorzogen; letzteres hat erst 1944 den Kriegszustand proklamiert.

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Die Anstrengungen, die die USA unternehmen mußten, waren außerordentlich. Obwohl sie militärisch weit besser vorbereitet waren als im Ersten Weltkrieg, erwies es sich doch als notwendig, die Produktion von Kriegsmaterial bis zum äußersten zu steigern, da es nicht nur um die Versorgung der eigenen Land- und Seestreitkräfte ging, sondern auch um die der Kriegspartner. Die Produktion war 1944 doppelt so groß wie die der Achsenmächte zusammen. Rohstoffe wurden knapp, audi die USA mußten zur Herstellung von synthetischem Gummi übergehen. Die Wirtschaftsdepression ging jedoch zu Ende. Die Zahl der Industriearbeiter stieg von 47 Millionen im Jahre 1940 auf 54 Millionen 1944; da 11 Millionen Mann mobilisiert waren, wurden audi ältere Personen, Halbwüchsige und Frauen in die Fabriken geholt. Ein ernstes Problem waren die häufig wegen der Teuerung entstehenden Streiks. Die Hauptaufgabe der Amerikaner bestand zunächst darin, gemeinsam mit den Engländern der U-Bootgefahr Herr zu werden. Nodi 1942 verloren die Alliierten durdi U-Booteinwirkung 1859 Schiffseinheiten. Infolge der Entwicklung des Radargerätes wurde 1943 die „Schlacht um den Atlantik" gewonnen. Die deutsche Marine büßte schließlidi fast alle U-Boote ein. Die Lieferungen nach Sowjet-Rußland, besonders von Lastkraftwagen, haben wesentlich dazu beigetragen, daß auf dem östlichen Kriegssdiauplatz seit 1943 die dramatische Wendung eintreten konnte. Die erste Landoperation, an der die Amerikaner im europäischen Krieg teilnahmen, erfolgte in Nordafrika, als britisdie und amerikanische Truppen gegen vorübergehenden französischen Widerstand bei Casablanca, Oran und Algier am 8. November 1942 landeten. Damit mußten die Deutschen Nordafrika aufgeben, nachdem die Engländer Rommel zum Rückzug von El Alamein gezwungen hatten. Am 10. Juli 1943 erfolgte die Invasion in Sizilien und Süditalien. Am 3. September kapitulierte Italien bedingungslos. Da es jedoch den Deutschen gelang, die Entwaffnung der italienischen Truppen durchzuführen und Mussolini zu befreien, hörte der Kampf um Italien bis Kriegsende nicht auf. 1942 begann die englische Luftoffensive gegen Deutschland; die Amerikaner übernahmen

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seit 1943 die Tagesangriffe. Am 6. Juni 1944 begann unter dem Oberkommando von Dwight D. Eisenhower die Operation „Overlord", die Invasion an der französischen Küste. Zu Stalins großer Unzufriedenheit war sie bis 1944 verschoben worden, Angesichts der überwältigenden Luft- und Materialüberlegenheit wurden die Deutschen zum Rückzug auf den Rhein gezwungen. Da Hitler nicht daran dachte, alle Kräfte auf den Osten zu konzentrieren, wo seit Stalingrad die Wende eingetreten war, kam es am Rhein zu einem zeitweiligen Stillstand; die am 16. Dezember unternommene Gegenoffensive der deutschen Truppen in den Ardennen hatte sogar einen vorübergehenden Erfolg und trug den Amerikanern schwere Verluste ein. Am 7. März 1945 wurde der Rhein bei Remagen überschritten. Am 7./8. Mai erfolgte die bedingungslose Kapitulation. Auf dem pazifischen Kriegsschauplatz konnten die Japaner zunächst große Erfolge erzielen, da es ihnen gelungen war, am 10. Dezember 1941 die britischen Kriegsschiffe „Prince of Wales" und „Repulse" zu versenken. Sie hatten daher anfänglich die unbedingte Überlegenheit zur See. Noch im Dezember landeten sie auf den Philippinen, die von MacArthur verteidigt wurden, sie eroberten die Wake-Inseln und Hongkong. 1942 setzte sich der Siegeszug fort. Am 15. Februar fiel Singapur, das für uneinnehmbar galt. Es war daher ein besonders schwerer Schlag für das britische Prestige. Im Januar begann der Angriff japanischer Truppen auf Niederländisdi-Ostindien, bis März waren die Operationen abgeschlossen. Am 1. Mai wurde Mandaley besetzt, der Nachschub auf der Burmastraße war abgeschnitten. In der Seeschlacht bei den Midway-Inseln (3. bis 6. Juni) begann jedoch der Umschwung. Die japanische Marine erlitt ihre erste schwere Niederlage, sie verlor vier Flugzeugträger. Von diesem Schlag hat sie sich nicht mehr erholt. Es gelang den Japanern auch nicht, gegen australischen Widerstand ganz Neuguinea zu erobern. Seit Juli 1943 setzte die amerikanische Gegenoffensive ein. Die Seeschlacht bei den Salomoninseln 13.—15. November 1942 bewies die Überlegenheit der Amerikaner zur See und in der Luft. Die Kapazität der japanischen Industrie reichte nicht aus, um die Verluste zu

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ersetzen. Seit 1943 befanden sich die Japaner in der Defensive. MacArthur wandte die erfolgreiche, allerdings auch sehr verlustreiche Strategie des Springens von Insel zu Insel an. Bis August mußten die Japaner die Aleuten aufgeben, die sie am 12. Juni 1942 besetzt hatten. Am 30. Juni begann die amerikanische Offensive im Südpazifik mit dem Ergebnis, daß die amerikanische Flanke für die Operationen gegen die Philippinen gesichert wurde. Am 21. November führte der Vorstoß im Zentralpazifik zur Eroberung der Marschall-, Marianen- und Palauinseln, die bis November 1944 vollbracht war. Von Mai bis August wurden Burma, bis Februar 1945 die Philippinen von MacArthur zurückerobert. Als die deutsche Kapitulation im Mai 1945 erfolgte, waren die Japaner bereits mit Ausnahme des diinesichen Kriegsschauplatzes auf ihre Inseln zurückgeworfen; ihre Städte lagen von der Volcanoinsel und von Flugzeugträgern aus unter schwersten Luftangriffen. Die Widerstandskraft der Japaner ist im letzten Stadium überschätzt worden, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß sich japanische Elitetruppen bis zuletzt mit äußerster Todesverachtung geschlagen haben. Manche Sachverständige nahmen noch in Jaita an, daß sie sidi etwa 15 Monate halten könnten. Da das in Potsdam im Juli 1945 an Japan gestellte Ultimatum, das auf bedingungslose Kapitulation hinauslief, nicht angenommen wurde, erfolgte der Abwurf von je einer Atombombe auf Hiroshima (6. August) und auf Nagasaki (9. August) mit furchtbarer Wirkung. Der Abwurf ist damit gerechtfertigt worden, daß die bevorstehende Invasion nodi viel mehr Blut gekostet hätte. Bereits am 10. August kapitulierte die japanische Regierung unter dem Vorbehalt, daß die Rechte des Kaisers nidit berührt werden dürften. Dieser Vorbehalt wurde nicht angenommen. Mit der gottähnlichen Stellung des Tenno war es für immer vorbei. Die Amerikaner hatten audi diesen Krieg als Kreuzzug geführt, er sollte mit der Bestrafung der Schuldigen enden, die besiegten Völker zur Demokratie erziehen und zu einer friedlichen Welt hinführen. Die Stimmung der amerikanischen Bevölkerung war allerdings eine andere als im Ersten Weltkrieg. Soweit von H a ß gesprochen werden kann, richtete er

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sich vornehmlich gegen Japan, den Nationalfeind Nummer eins. Schon während des Krieges wurden für den kommenden Frieden Vorbereitungen getroffen. Bei allen Völkern war das Gefühl verbreitet, daß eine bessere internationale Organisation geschaffen werden müsse als der Völkerbund gewesen war. Die Aussichten schienen dafür günstig zu sein, da audi Stalin zustimmte, so daß am 25. April 1945 eine Konferenz in San Francisco zusammentreten konnte, die von 50 Nationen beschickt wurde. Auf dieser Konferenz wurde die Organisation der Vereinten Nationen (UNO) geschaffen. Die Charta trat am 26. Juni 1945 in Kraft. Bei den Beratungen über die Friedensregelung spielte von Anfang an das Verhältnis zu Sowjet-Rußland eine entscheidende Rolle. Hitlers Politik hatte das unnatürliche Zusammengehen zwischen den Westmächten und dem Bolschewismus erzwungen. Da die Hauptlast des Kontinentalkrieges zunächst die Russen trugen, waren die Westmächte darauf bedacht, so weit wie möglich entgegenzukommen, da die immer wieder versprochene zweite Front erst 1944 errichtet werden konnte. Die erste gemeinsame politische Demonstration von Roosevelt und Churchill nach dem Kriegseintritt der USA war die Casablanca-Konferenz (14.—24. Januar 1943). Die Verbündeten verlangten hier die bedingungslose Kapitulation ihrer Gegner. Die Forderung ging auf Roosevelt zurück. Ohne Zweifel hat sie zur Verlängerung des Krieges beigetragen, sie lähmte die deutsche Widerstandsbewegung um so mehr, da ihr keine Ermutigung vom Auslande her zukam. Auf der Moskauer Konferenz (19. Oktober bis 1. November 1943) sahen es der amerikanische und der britische Außenminister als einen großen Erfolg an, daß sich Stalin mit der Errichtung einer großen internationalen Organisation einverstanden erklärte und versprach, daß er nach dem Siege über Deutschland in den Krieg gegen Japan eintreten werde. Auf der Konferenz in Kairo (22.—25. November) verpflichteten sich China, die USA und Großbritannien zur Fortsetzung des Krieges bis zur bedingungslosen Kapitulation. Japan sollte alle seine Erwerbungen im Pazifik seit 1914 verlieren und mußte die chinesischen Gebiete einschließlich Formosa an China zurückgeben. Korea

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wurde die Unabhängigkeit versprochen. Vom 28. November bis 1. Dezember 1943 fand die Konferenz in Teheran statt, auf der zum ersten Mal Roosevelt und Churchill mit Stalin zusammentrafen. Umsonst hatte Roosevelt, für den weite Reisen beschwerlich waren, um einen näher gelegenen Ort gebeten. Stalin blieb dabei, daß er sich nicht zu weit von der Front entfernen könne. In Teheran fiel die Entscheidung, daß die Invasion Frankreichs im Juni des nächsten Jahres beginnen solle. Die Gebietsverteilung nadi dem Kriege wurde besprochen. Polen sollte für den Verlust der östlichen Länder, die Stalin beanspruchte, durch deutsches Gebiet entschädigt werden. Endgültige Beschlüsse wurden nicht gefaßt. Im offiziellen Kommuniqué von Teheran hieß es, daß man audi im Frieden gemeinsam handeln werde: „Wir kamen hierher mit Hoffnungen und Entschlossenheit. Wir gehen von hier als Freunde im Geist und in den Zielen." Auf der Dumbarton Oaks Konferenz bei Washington (21. August bis 27. September 1944), an der außer der Sowjetunion auch China teilnahm, wurde die Charta der Vereinten Nationen beraten. Auf der zweiten Moskauer Konferenz (9.—18. Oktober), bei der Churchill und Stalin persönlich anwesend waren, beriet man die Aufteilung des Balkans in Interessensphären. Den Russen wurde der Vorrang in Ungarn, Rumänien und Bulgarien zuerkannt, während sich Großbritannien Griechenland als eigene Interessensphäre vorbehielt. Vom 4. bis 11. Februar 1945 kamen die drei Großen in Jaita auf der Krim zusammen. Hier legte man bereits die Besatzungszonen für Deutschland fest. Die Westmächte haben die Abmachungen später auf das Genaueste beachtet, obwohl sie von ihnen bereits besetzte deutsche Gebiete wieder aufgeben mußten. Im Mittelpunkt der Beratungen stand das Schicksal Polens. Stalins Versprechen, daß Polen ein unabhängiger Staat werden solle, wurde schon bald nach dem Ende der Konferenz durch Einsetzung einer der Sowjetunion hörigen Regierung gebrochen. Folgenschwere Bedeutung sollten die Vereinbarungen über China in Jaita erhalten. Die USA legten den größten Wert auf die russische Unterstützung im Krieg gegen Japan, die Atombombe war noch nicht einsatzbereit. So machten Roose-

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velt und sein Berater William Harriman Stalin in Jaita außerordentlich weitgehende Zugeständnisse. Der status quo in der äußeren Mongolei, Wiederherstellung aller seit 1904 verloren gegangenen russischen Rechte, sowie die Rückgabe des südlichen Teils von Sachalin und der benachbarten Inseln. Ferner erreichten die Russen die Internationalisierung des Handelshafens Dairen mit besonderen Garantien f ü r die Interessen der UdSSR und die Abtretung der Kurilen. Die chinesische Ostbahn und die südmandschurische Bahn sollten durch eine russisch-chinesische Gesellschaft unter Berücksichtigung der russischen Sonderinteressen und unter der Garantie der vollen chinesischen Souveränität in der Mandschurei betrieben werden. Port Arthur wurde wieder russische Flottenbasis. Das Übereinkommen ist dann auch von Churchill und Eden unterzeichnet worden. Es bedeutete die Preisgabe der Integrität Chinas und den Bruch der Versprechungen, die Tschiang Kai-schek auf der Kairokonferenz gegeben worden waren. Das Abkommen ist mit Recht sehr scharf kritisiert worden, Roosevelts physische Erschöpfung wurde dafür verantwortlich gemacht. Es war aber vor allem charakteristisch dafür, welchen Preis der amerikanische Präsident f ü r ein Vertrauensverhältnis zur Sowjetunion zu zahlen bereit war und wie hoch noch die russische Waffenhilfe im Kriege gegen Japan eingeschätzt wurde. Über das Ergebnis von Jaita herrschte zunächst noch große Freude. Die Konferenz wurde geradezu als ein Wendepunkt in der menschlichen Geschichte bezeichnet. Die Ernüchterung trat dann sehr bald ein, da die Sowjetunion offen dazu überging, ein System von Satellitenstaaten in Osteuropa zu schaffen. Auch Roosevelt wurde immer besorgter, noch kurz vor seinem Tode sandte er wegen Polen ein sehr scharfes Schreiben an Stalin, das nicht beantwortet worden ist. Das Mißtrauen zwischen den Verbündeten war schon groß, zuletzt war Stalin noch voller Argwohn infolge der militärischen Beratungen der Westmädite in Bern, die die deutsche Kapitulation einleiteten. Franklin Roosevelts Tod erfolgte am 12. April 1945, nur wenige Monate nach seiner vierten Wahl zum Präsidenten, die er nur mit einer bescheidenen Mehrheit gewinnen konnte. Es ist möglich, daß der Tod ihm bittere Enttäuschungen erspart 11

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hat, da kaum anzunehmen ist, daß er mit den schwierigen Nadikriegsproblemen besser fertig geworden wäre als seine Nachfolger. Die Fortsetzung der New Deal-Politik wäre sicherlich auf wachsende Widerstände im Kongreß gestoßen, da die Gesamtsituation für sie nicht mehr günstig war. Allerdings lag in der Innen- und vor allem in der Sozialpolitik Roosevelts Stärke; viele vermißten nach seinem Tode schmerzlich seine unbestrittene moralische Autorität, die nicht zu ersetzen war. Seine Außenpolitik jedoch, soweit es dabei um die Vorbereitung der Nachkriegszeit ging, verdient kaum die gleiche uneingeschränkte Anerkennung. Die Anschauungen, die er während des Krieges zur Lösung der deutschen Frage vertrat, waren sichtlich stärker von Emotionen als von nüchternen Erwägungen bestimmt. Es ist unverständlich, daß Roosevelt, allerdings gemeinsam mit Churchill, den Plan des Staatssekretärs des Schatzamtes Henry Morgenthau in Quebec 1944 unterschrieben hat, wenn er sich dann auch schneller als Churchill von dessen Undurchführbarkeit überzeugte; der britische Staatsmann war zunächst von dem Vorschlag Morgenthaus, den größten Teil der deutschen Industrie zu zerstören, fasziniert, da er für längere Zeit England von der lästigen deutschen Konkurrenz befreit hätte. Aber der Morgenthau-Plan war eine groteske Verkennung der nüchternen Wahrheit, daß ohne das deutsche Industriepotential, ohne die Arbeitskraft eines 60 Millionen-Volkes eine Erholung Europas unmöglich war. Zur Rolle eines Paria unter den Völ-, kern verdammt, zu einem niedrigen Lebensstandard herabgedrückt, wäre Deutschland eine leichte Beute des Kommunismus geworden. Die zur Untersuchung der deutschen Frage eingesetzten amerikanischen Ausschüsse haben es erst dem Präsidenten klar machen müssen, daß Deutschland als Armenhaus eine untragbare Last für die Siegermächte werden würde. Auch Roosevelts Verhalten auf den großen Konferenzen des Zweiten Weltkrieges gibt zu Bedenken Anlaß. Dies gilt vor allem für die Konferenz in Jaita. Roosevelts Politik ist von seinen Anhängern und von Historikern damit erklärt worden, daß die Westmächte angesichts der bis zur Invasion kritischen

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Gesamtlage auf das Wohlwollen Rußlands angewiesen waren und dies um so mehr, da die Befürchtung eines deutsch-russischen Sonderfriedens nie ganz verschwand. Der große Wert, den die amerikanischen Unterhändler auf die Beteiligung der Sowjetunion am Krieg gegen Japan legten, läßt sich aus der Sorge rechtfertigen, daß ohne russische Unterstützung der Krieg noch lange dauern könnte, denn die japanische Widerstandskraft wurde zu diesem Zeitpunkt noch sehr hoch eingeschätzt. Solche Motive müssen selbstverständlich gewürdigt werden. Aber sie erklären nicht alles. Roosevelt ist über die Verdächtigung seiner fanatischen Gegner erhaben, daß die marxistische Ideologie eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausgeübt habe. Er hielt allerdings den Faschismus jeder Art für gefährlicher als den Kommunismus, jedenfalls waren er und seine Berater davon überzeugt, daß es durchaus möglich sei, mit der Sowjetunion in Frieden zusammenzuarbeiten. Es herrschte in diesem Kreise ein kaum zu rechtfertigendes Vertrauen in die Vernunft der Sowjetpolitik und in Stalins Glaubwürdigkeit. Man meinte, daß, solange Stalin die Macht in den Händen hielt, eine Welt des Friedens aufgebaut werden könne. Dies war um so seltsamer, als schließlich die furchtbaren Säuberungsaktionen, die unmittelbar vor dem Kriege stattgefunden hatten, noch in frisdier Erinnerung waren. Es war bekannt, auch in den USA, daß die 4000 polnischen Offiziere, die in den Massengräbern von Katyn aufgefunden wurden, nur von den Russen ermordet worden sein konnten. Die Welt hatte auch 1944 das erschütternde Schauspiel erlebt, daß die russische Armee tatenlos dem Warschauer Aufstand zusah, der infolgedessen in einer Tragödie ohnegleichen endete. Churchill hat später gegen Roosevelt den Vorwurf erhoben, daß er in Jaita die meiste Zeit über seinen Kopf hinweg allein mit Stalin verhandelt habe. Wie kam der amerikanisdie Präsident dazu, auf den Rat eines so erfahrenen, mit den europäischen Angelegenheiten viel besser vertrauten britischen Staatsmannes zu verzichten? Ferner bleibt unerklärlich, daß Roosevelt in bezug auf Ostasien weitgehende Zugeständnisse in Jaita gemadit hat, die den Russen praktisch freie Hand ließen, 11*

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ihre Macht und ihren Einfluß auf China auszudehen. Es war daher zu befürchten, daß in der amerikanischen Außenpolitik unter der Führung Roosevelts noch länger an gefährlichen Illusionen festgehalten worden wäre. Hiermit soll nidit gesagt sein, daß es richtig gewesen wäre, gleich auf den Konfrontationskurs zu gehen, wohl aber mit der nötigen Skepsis zu beachten, daß in der Sprache von Kommunisten Worte und Begriffe einen anderen Sinn haben als in den Demokratien des Westens. 5. Kapitel Die Nachkriegszeit Viele Vorgänge der vergangenen Jahrzehnte und die Reaktionen der Staatsmänner sind nodi nicht genügend geklärt, um schon ein einigermaßen objektives Urteil zu erlauben. Es wird angemessen sein, sich im nächsten Abschnitt mit einer allgemein gehaltenen Übersicht zu begnügen. Es ist daran zu erinnern, daß viele Amerikaner noch nach dem Ersten Weltkrieg nicht bereit waren, die Verpflichtungen, die sich infolge der Teilnahme am Kriege ergaben, zu übernehmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war eine solche Haltung nidit mehr denkbar. Pearl Harbor hatte der Isolierungspolitik ein Ende gesetzt; die USA waren zur führenden westlichen Macht aufgestiegen; sie konnten sich der damit verbundenen Verantwortung nicht mehr entziehen. Es war gewissermaßen das grundsätzlich Neue, daß die amerikanische Demokratie, die sich so lange Zeit den Luxus leisten konnte, der Innenpolitik den Vorrang vor der Außenpolitik zu geben, nunmehr gezwungen war, globale Außenpolitik zu treiben. Zum erstenmal in ihrer Geschichte mußten die Amerikaner die bittere Erfahrung machen, was der Besitz großer Macht bedeutet, welche Lasten, weldie Gefahren damit verbunden sind. Die Vereinigten Staaten waren einmal stolz darauf gewesen, keine Wehrpflicht zu kennen, vielmehr Menschen anderer Staaten die Möglichkeit zu geben, sich von diesem Druck zu befreien. Nunmehr waren sie genötigt, selbst Millionen von Männern unter Waffen zu halten, in Rivalität mit der Sowjetunion alle nur möglichen

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modernen Waffensysteme zu entwickeln. Sie waren neben den Russen die einzige Macht, die eine wirklich einsatzfähige Atomwaffe besaß, die das dazugehörige Nachrichtennetz ausbaute, und dies alles in dem Bewußtsein, wie sdinell auch modernste Waffen veralteten, so daß es schien, als seien Unsummen nutzlos vergeudet worden. Für die moderne Pluralgesellschaft ist die Demokratie im westlichen Sinne die beste Regierungsform, um innere Spannungen abzugleichen, dem individuellen Freiheitsdrang den nötigen Spielraum zu lassen. In der Außenpolitik ist sie schwieriger zu handhaben. In dieser muß sehr oft eine wichtige Entscheidung kurzfristig getroffen werden; es kann daher problematisch sein, wenn die Rücksicht auf bevorstehende Parlamentswahlen Entschlüsse verzögert, wenn auch die Außenpolitik in den Parteienstreit hineingerät. Diese Situation hat sich nicht nur in den USA, sondern auch in anderen größeren Ländern ergeben. Es wird auf die Dauer gesehen eine Lösung gefunden werden müssen, diesen sichtlichen Nachteil gegenüber diktatorisch regierten Ländern auszuschalten. Im Zweiten Weltkrieg hatten die USA weit größere Verluste an Menschenleben zu beklagen als im Ersten. Sie hatten jedoch, von Luftangriffen und Lebensmittelknappheit verschont, nicht die entsetzlichen Leiden und Entbehrungen der europäischen Völker und Japans durchgemacht. Gerade in unseren Tagen, in denen antiamerikanische Ressentiments ein so erschreckendes Ausmaß angenommen haben, sollte die großartige Hilfsbereitschaft gewürdigt werden, die, hauptsächlich von den USA ausgehend, auch in den schwersten Jahren Deutschland zugute gekommen ist. Audi in den USA war es anfänglich noch schwierig, Millionen von Soldaten, die ins Zivilleben zurückströmten, zu versorgen und im Berufsleben unterzubringen. Seit Anfang der fünfziger Jahre gab es jedoch für viele Jahre einen ununterbrochenen Wirtschaftsaufschwung. Die Amerikaner waren die ersten, die sich die sensationellen Erfindungen und Resulte der technischen Revolution nutzbar machen konnten, vornehmlich im Verkehr, dem Nachrichtendienst, der Verbreitung der Massenmedien. Sie lernten auch als erste die damit verbundenen Gefahren für die Zukunft kennen; es seien nur die Automation und die

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Computer erwähnt, die in einem hohen Grade geeignet sind, menschliche Arbeit und sogar menschliches Denken zu ersetzen. „Die Zukunft hat schon begonnen", das galt in erster Linie für die USA, und hier wurde den Zukunftsproblemen die größte Aufmerksamkeit geschenkt. In der Technik, in den Naturwissenschaften und auch in der Medizin, wurden die USA absolut führend. Ihre hervorragend ausgestatteten Laboratorien und Institute boten günstigste Arbeitsbedingungen und übten auf den naturwissenschaftlichen Nachwuchs auch in Europa zeitweilig eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Schon durch die politischen Einwanderer der dreißiger Jahre hatten die USA wertvollste Kräfte ins Land gezogen; jetzt kamen noch viele andere, die in den Vereinigten Staaten eine gründliche Ausbildung erfuhren oder dort ein dauerndes Unterkommen fanden. Erst infolge der radikalen Einsparungen, die im Gefolge des Mondfahrtprogramms der sechziger Jahre sich als notwendig erwiesen, ist es für amerikanische Naturwissenschaftler fast schwieriger als für andere Berufsgruppen, noch einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu finden; sie streben ζ. T. nach Europa zurück; ja selbst amerikanische Gelehrte bewerben sich um Anstellungen an europäischen Universitäten und Forschungsinstituten. Es steht allerdings dahin, ob es sich nicht nur um eine vorübergehende Krise handelt. Der frühere, oft naive Optimismus, daß die Welt von einem ununterbrochenen Fortschritt regiert werde, war nicht mehr vorhanden. Aber in den USA waren, wie im ganzen Abendland, die anscheinend so fest gefügten Werte ins Wanken geraten. Auch viele Amerikaner waren unsicher, seelisch labiler geworden, sie wurden sichtlich durch die gesteigerte technische Zivilisation in den Großstädten und ganz besonders in New York überfordert. Es war kaum ein Zufall, daß psychoanalytische Behandlung gerade in den USA üblich wurde. Die bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller wie Ernest Hemingway, William Faulkner, Thomas Wolfe, Henry Miller und andere stellten die gleichen Fragen und fanden ähnliche Antworten wie die Literatur im gesamten Abendland. Der Nachfolger Roosevelts wurde sein Vizepräsident Harry Truman, ein politisch unbeschriebenes Blatt. Er war jedenfalls

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in keiner Weise darauf vorbereitet, eine solche Verantwortung wie die Präsidentschaft zu übernehmen. In der Innenpolitik, der sein Hauptinteresse galt, vermochte er nur bescheidene Erfolge zu erzielen. Im wesentlichen blieb er auf der Linie Roosevelts; „New Deal" wurde von ihm durch das Schlagwort „Fair Deal" ersetzt. Truman war gewerkschaftsfreundlich. Als Kongreß und Senat das sogenannte Taft-Hartley-Gesetz vom 23. Juni 1947 durchsetzten, das den Arbeitgebern das Redit gab, für Vertragsbrüche und Streikschäden auf Ersatz zu klagen, und dem Präsi-? denten die Vollmacht einräumte, bei Streikbeschlüssen eine sogenannte Abkühlungszeit von 60 Tagen zu verhängen, wenn allgemeine Interessen der Gesellschaft berührt wurden, konnte sidi Truman mit seinem Veto nicht durchsetzen. Im großen und ganzen hat sich das Gesetz durchaus bewährt, da es die übermäßige Macht der Gewerkschaften einschränkte. Zur allgemeinen Überraschung, gegen alle Prognosen der Meinungsforschungsinstitute, errang Truman bei den Wahlen von 1948 einen Sieg, wenn auch gegen eine Kongreß- und Senatsmehrheit. Er hatte einen sehr persönlichen Wahlfeldzug geführt, breiten Volksschichten und den Gewerkschaften Versprechungen gemacht, die er dann nicht zu erfüllen vermochte. Im allgemeinen wurde man in dieser Zeit einschneidenden Reformbestrebungen gegenüber immer weniger aufgeschlossen, da die günstige Wirtschaftslage solche wenig begünstigte. Ganz anders ist Truman als Außenpolitiker zu beurteilen. Obgleich er keine so außergewöhnliche Persönlichkeit wie sein Vorgänger war, besaß er ausgesprochen das, was man einen gesunden Menschenverstand nennt, einen ausgeprägten Sinn für Realitäten, vor allem aber die Fähigkeit, in schwierigen Situationen rasch und entschieden zu reagieren. Auf der Konferenz in Potsdam im Juli 1945 sah sich Truman vollendeten Tatsachen gegenüber, an denen er nichts mehr ändern konnte. Aber er war von vornherein kritisch und mißtrauisdier gegenüber den Absichten der Sowjetunion und gelangte sehr bald zu der Erkenntnis, daß deren weiteres Vordringen in die noch freie Welt unter allen Umständen verhindert werden müsse. Der kalte Krieg begann.

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Die erste Sorge galt der Genesung der schwer darniederliegenden europäischen Wirtschaft. Die Produktion war auf die Hälfte des Vorkriegsstandes gesunken. Die Trumandoktrin (12. März 1947) brachte zunädist der Türkei und Griechenland wirtschaftliche und militärische Unterstützung, da in diesen Ländern die kommunistische Bedrohung am stärksten in Erscheinung trat. Am 5. Juni des gleichen Jahres legte der Außenminister George C. Marshall seinen Plan vor; die damit verbundene großzügige Geld- und Sachhilfe für die europäischen Staaten und Japan zeitigte in wenigen Jahren Erfolge, die die Erwartungen weit übertrafen. Während es gelang, der Verbreitung des Kommunismus in den freien Ländern Europas vorläufig Einhalt zu gebieten, errang dieser in China einen durchschlagenden Erfolg. Die Sowjetunion hat den Marshallplan als eine Provokation empfunden, den Satellitenstaaten die Beteiligung verboten. Bald wurde dann jede weitere Hilfe für die Sowjetunion eingestellt, und die Reparationslieferungen aus dem Westen hörten audi auf. 1948 verhängte die Sowjetunion die vollständige Blockade über alle Land- und Wasserwege nach Westberlin. Die rettende Luftbrücke war das Verdienst des amerikanischen Militärgouverneurs Lucius Clay, eine Meisterleistung, die die Russen zum Nachgeben zwang. Ähnlich wie die durch Hitler verursachte Katastrophe zur Spaltung Europas führte, erwies es sich, daß auch die Niederlage Japans keine Befriedung Asiens bedeutete, daß sie dem steigenden Einfluß der Sowjetmacht und der Verbreitung des Kommunismus zugute kam. Die Russen waren noch im letzten Augenblick in den Krieg gegen Japan eingetreten, obwohl ihre Hilfe durch die Atombombe überflüssig geworden war. Sie sidierten sich die gesamte Industrieausrüstung der Mandschurei. Die Nationalchinesen waren nicht in der Lage, mit den Kommunisten fertigzuwerden, da diese unter der Führung Maos eine viel größere Anziehungskraft auf die breiten Massen ausübten. Tschiang Kai-sdiek hatte seine frühere Popularität eingebüßt; er vermochte der Korruption in den eigenen Reihen nicht Herr zu werden. Die amerikanischen Anstrengungen, zwischen den chinesischen Nationalisten und den Kommunisten

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eine Verständigung herbeizuführen, sdieiterten vollständig. Der Bürgerkrieg bradi von neuem aus, und da die Amerikaner nicht bereit waren, ihre damals so große militärische Macht in China nadi Japans Niederlage zur Geltung zu bringen, sondern sogar ihre Truppen sehr bald zurückzogen, war der Sieg der disziplinierten kommunistischen Armeen nur noch eine Frage der Zeit. 1947 wurde auf Grund der Berichte der Generäle Marshall und Wedemeyer, die in besonderer Mission in China tätig waren, die weitere Unterstützung Nationalchinas mit Waffenlieferungen als hoffnungslos aufgegeben. 1949 stand das gesamte chinesisdie Festland unter kommunistischer Herrschaft. Tschiang Kai-schek mußte sich mit dem Rest seiner Truppen nach Formosa zurückziehen. Wegen ihrer großen strategischen Bedeutung waren die amerikanischen Regierungen nicht bereit, auch diese Insel einer kommunistischen Macht zu überlassen. Rotchina wurde diplomatisch nicht anerkannt, den ständigen Sitz im Sicherheitsrat nahm Nationalchina ein, eine Anormalität, die bis 1971 bestehen blieb. Es ist der amerikanischen Regierung zum schweren Vorwurf gemacht worden, daß sie gegenüber dem kommunistischen China allzu lange an einer rein negativen Einstellung festgehalten hätte. Es wird jedodi zu würdigen sein, daß dies nicht zuletzt aus moralischen Bedenken geschah. Die Vereinigten Staaten hatten so lange Tschiang Kai-schek unterstützt, daß es ihnen unehrenhaft zu sein schien, ihn im Unglück im Stich zu lassen. Er begründete in Formosa einen Staat, der bald einen erstaunlidien wirtschaftlichen Aufschwung nahm. Allerdings ist es dem Marschall auch nie erlaubt worden, seine utopischen Pläne zur Wiedereroberung des Festlandes in die Praxis umzusetzen. Im übrigen war China zu einer Art von Trauma für die Amerikaner geworden. Sie hatten niemals wie andere Mächte in China territoriale Ansprüche erhoben, sondern waren konsequent für eine Politik der offenen Tür eingetreten. Sie hatten die Revolution von 1911/12 unterstützt und vielen jungen Chinesen Gelegenheit zum Studium im Amerika gegeben und China im Kampf gegen Japan beigestanden. Es war daher für sie ein Schock, daß gerade die Chinesen ihnen dies nicht nur keineswegs dankten, sondern im Gegenteil das

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kommunistisdie China besonders feindlidi eingestellt war und die USA ständig der Verfolgung imperialistischer Ziele beschuldigte. Damit soll nicht gesagt werden, daß eine schon viel frühere Umorientierung zweckmäßig gewesen wäre. Zum mindesten aber wäre der Zeitpunkt gekommen gewesen, als sich der russisch-chinesische Gegensatz immer deutlicher abzeichnete. Eine neue Krise, die das Verhältnis der USA zu China betraf, war nicht zu vermeiden. Amerikanische und russische Truppen hatten Korea zunächst gemeinsam besetzt und die Halbinsel in zwei Interessensphären geteilt. Die Grenzlinie war nicht festgelegt. Der 38. Breitengrad hat erst im Koreakriege die große Bedeutung erhalten. Nach der Räumung im Jahre 1949 durch beide Mächte griffen die Nordkoreaner am 25. Juni 1950, mit russischen Waffen ausgerüstet, Südkorea an, um die Einheit zu erzwingen. Truman entschloß sich sofort zum aktiven Eingreifen, wahrscheinlich zur Überraschung der Russen, die das nicht erwartet hatten. Der Sicherheitsrat, an dessen entscheidender Sitzung der Vertreter der Sowjetunion nicht teilgenommen hat, erklärte Nordkorea zum Angreifer. Damit war Truman durch die UNO gedeckt. Den Oberbefehl übernahm von Japan aus MacArthur. Die Amerikaner unterschätzten anfangs die Kampfkraft der Nordkoreaner sehr erheblich, die eigenen Truppen, ungenügend ausgerüstet und auf eine solche Kriegführung nicht vorbereitet, wurden auf den Brückenkopf von Pusan zurückgedrängt, gingen aber am 15. September zur Gegenoffensive über und näherten sich Ende Oktober der mandschurischen Grenze. Chinesische „Freiwilligenverbände" griffen ein und zwangen die Amerikaner, Südkoreaner und einige europäische Einheiten zum Rückzug hinter den 38. Breitengrad, wobei diese schwere Verluste erlitten. Hier wurde die Kampflinie ungefähr gehalten. An einen Sieg war nun allerdings nicht mehr zu denken, da die diinesisdien Nachschubbasen nicht angegriffen werden konnten. MacArthur, der die Bombardierung chinesischen Territoriums befürwortete, wurde seiner Stellung enthoben und durch Matthew B. Ridgway ersetzt (11. April 1951). Erst im Sommer 1953 konnte ein Waffenstillstand geschlossen werden, nachdem

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längere Zeit ergebnislose Verhandlungen geführt worden waren. Die Amerikaner versuchten hiernach, im „kalten Krieg" ihre Machtposition auf der ganzen Welt zu verstärken, durch Errichtung militärischer Stützpunkte, durch Waffenlieferungen oder durch wirtschaftliche Hilfe für bedrohte Völker. Sie mußten es jedoch erleben, daß ihnen ihre Hilfsbereitschaft mehr Feindschaft als Freunde eintrug; in Asien und Afrika wurden sie eines neuen Kolonialismus beschuldigt. Die republikanische Partei besaß in Dwight D. Eisenhower einen zugkräftigen Kandidaten, mit dem Prestige des siegreichen Feldherrn. Er war allgemein beliebt. So war sein persönlicher Erfolg bei den Wahlen 1952 groß, er wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt, mußte allerdings mit demokratischen Mehrheiten im Kongreß und im Senat während seiner Amtszeit rechnen. Er fand jedoch heraus, daß er oft besser mit den Demokraten als mit den Republikanern zusammenarbeiten konnte. Eisenhower war in seinen Anschauungen gemäßigt konservativ, an der Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse interessiert. Sowie sich die Gelegenheit durch russische Vermittlung anbot, beendete er den Koreakrieg. Es blieb bei der früheren Teilung. Unter amerikanischem Einfluß wurde in Südkorea eine schlagkräftige Armee aufgebaut. Wie sich die Zukunft für das geteilte Land gestalten wird, bleibt ungewiß. Für alle Anhänger des kalten Krieges gilt noch immer die Eisenhower-Ära als das Musterbeispiel für eine solide Politik, da der Außenminister John Foster Dulles seine gesamte Diplomatie darauf aufbaute, in der ganzen Welt den Einfluß der Vereinigten Staaten zu stärken, Militärbündnisse zu schließen, strategische Stützpunkte zu errichten, die Sowjetunion politisch, militärisch und wirtschaftlich zu isolieren. Es ist bekannt, daß zu keiner anderen Zeit das Einvernehmen zwischen den USA und der Bundesrepublik so ungetrübt war; Adenauer und Dulles waren befreundet, jener konnte seine Grundkonzeption verwirklichen, Westdeutschland ganz in das westliche Bündnissystem zu integrieren. Die Bundesrepublik wurde wieder souverän, aufgerüstet, in den Atlantikpakt aufgenommen,

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allerdings mit der Einschränkung, daß sie keine freie Verfügungsgewalt über die eigenen Truppen wie über Atomwaffen besaß. Sieht man jedoch genauer hin, so war die amerikanische Außenpolitik bei weitem nicht so erfolgreich, wie es zu sein sdiien. Im Wahlkampf war die Außenpolitik Trumans wegen ihrer angeblichen Schwäche scharf angegriffen worden, Dulles kündigte eine politische Strategie des „roll back" an. Den bereits unter kommunistischem Regime stehenden Völkern wurde die Befreiung in Aussicht gestellt. In Wahrheit blieb es in dieser Hinsicht bei leeren Worten. Auch die EisenhowerRegierung ist von vornherein auf der Linie stehen geblieben, die seit dem Zweiten Weltkrieg eingehalten worden ist: zwar eine Erweiterung der sowjetischen Interessensphäre nach Möglichkeit zu verhindern, im übrigen aber die durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Machtverhältnisse stillschweigend anzuerkennen. Weder beim Berliner Aufstand vom 17. Juni 1953, noch bei dem Ungarn-Aufstand von 1956 ist die amerikanische Regierung zu irgendeiner wirksamen Unterstützung bereit gewesen, obgleich die Ungarn auf eine solche sehnlich gewartet haben. Die gleichzeitige Suezkrise hat den Sachverhalt nur verhüllt, auch ohne sie wären die Amerikaner mit Sicherheit untätig geblieben. Ohne Zweifel waren Macht und Einfluß der USA damals noch groß, aber indem Dulles die Welt in die Guten und die Bösen, in freie und kommunistische Staaten einteilte, stieß er gerade bei den neutralen Staaten auf wachsenden Widerstand, da sie mit Recht erkannten, daß die geleistete Hilfe sich nur nach ihrem politischen Wohlverhalten richtete. Das Bild vom „häßlichen Amerikaner" entstand; ein blockfreier Staatenbund wurde gegründet. Dabei wäre es nach dem Tode Stalins (1953) möglich gewesen, eine vielseitigere Politik zu treiben, ohne die eigene Sicherheit und die der Verbündeten in Frage zu stellen. Denn ohne Zweifel war Chruschtschows Außenpolitik dynamischer, elastischer als die Molotows. Seine geheime Bewunderung für die USA konnte er bei einem Besuch vom 15.—27. September 1959 kaum verbergen. Er bluffte gern, wich aber vor dem äußersten Risiko zurück. Halbherzig war die amerikanische Haltung nach dem

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Berliner Ultimatum. Westberlin wurde nidit preisgegeben, aber die Westmächte wären notfalls zu recht bedenklichen Zugeständnissen für Ostberlin bereit gewesen. Alles in allem war jedenfalls das Ergebnis der Außenpolitik von Eisenhower und Dulles nicht sehr positiv. Dies gilt nicht zuletzt für die Entwicklung in Indochina. Allzu spät war die amerikanische Regierung bereit, die Franzosen in ihrem Krieg in den dortigen Kolonien zu unterstützen, so daß die militärische Katastrophe unvermeidlich wurde. Nidit ohne eine gewisse Berechtigung hat de Gaulle den Amerikanern ihre schwankende Haltung nie verziehen. In der Tat lag der Beginn des Verhängnisses, in das die USA in Vietnam geraten sollten, bereits in dieser Zeit. Die in Genf getroffene Regelung konnte keinen Bestand haben. Eisenhower war schon damals entschlossen, unter keinen Umständen zuzulassen, daß Südostasien unter den beherrschenden Einfluß der Sowjetunion geriet. Ähnliches gilt auch für Kuba; die Absicht, Gegner Fidel Castros zu bewaffnen und mit ihnen von außen her eine Intervention zu versuchen, bestand bereits in der Eisenhowerzeit. Nach dem Abschuß der U 2 über der Sowjetunion, deren Spionagefunktion zunächst abgeleugnet wurde, mußte Eisenhower eine persönliche Demütigung hinnehmen. Für Chruschtschow war es eine günstige Gelegenheit, die Pariser Gipfelkonferenz auffliegen zu lassen, Eisenhower zu beschimpfen und dessen geplanten Besuch in Moskau brüsk abzusagen. Die amerikanische Regierung beging auch den Fehler, Ägypten finanzielle Hilfe für den Bau des Assuandammes zu verweigern und diesen Staat dadurch zwangsläufig in die Arme der Sowjetunion zu treiben. Dabei hatten die USA nach ihrem Eingreifen in der Suezkrise in den arabischen Ländern erheblich an Ansehen gewonnen. Infolge des Aufbaues eines starken Verteidigungssystems war die militärische Überlegenheit über die Sowjetunion nodi so groß, daß der Frieden nicht ernstlich bedroht werden konnte. Deshalb hätte gerade nodi in dieser Zeit mandies im Interesse einer Koexistenz erreicht werden können, was dann später, als sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Sowjetunion ver-

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schoben hatte, schwerer durchzusetzen war. Ähnliches gilt für die innere Politik. Auch ihr fehlte eine Gesamtkonzeption, ein großzügiges Reformprogramm, der Versuch zur Lösung des Negerproblems. Das unheilvolle Treiben des Senators von Wisconsin, Joseph McCarthy, hatte bereits 1950 begonnen, aber Eisenhower hat es noch zwei Jahre lang geduldet. Diese zwiespältige Persönlichkeit benützte eine besonders im Mittelwesten vorherrschende Stimmung, die als nationalistisch, antiintellektuell und unterschwellig auch als antisemitisch zu analysieren ist, um zahlreiche Repräsentanten des politischen und kulturellen Lebens prokommunistischer Gesinnung oder zum mindesten einer wohlwollenden Haltung gegenüber der kommunistischen Ideologie anzuklagen. Unter McCarthys Führung wurden die Verdächtigungen geradezu eine Art von „Hexenjagd", sie bedeuteten eine Bedrohung der persönlichen Freiheit. McCarthys Einfluß war zeitweise so dominierend, daß selbst aufrichtige Demokraten keinen offenen Protest wagten. Er brachte die USA im In- und Ausland in Mißkredit. Schließlich hat sich Eisenhower, unterstützt von einigen mutigen Senatoren, öffentlich gegen McCarthy ausgesprochen. Seit 1955 war dessen Einfluß endgültig gebrochen. Gegen Ende der Regierung Eisenhowers herrschte jedenfalls viel Unzufriedenheit und Enttäuschung im Lande, besonders bei der liberalen Intelligenz, die sich vernachlässigt fühlte, aber auch bei einem großen Teil einer kritisch gewordenen Jugend. Trotzdem bestand eigentlich kein Anlaß zu einem Umbruch. Die Wirtschaftslage war im allgemeinen noch gut, die dominierende Stellung der USA in der Welt noch unangefochten. Alle Versuche der kommunistischen Staaten, ihre Einflußsphäre zu erweitern, waren gescheitert, nur von Fidel Castro in Kuba drohte Gefahr. Die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten im Jahre 1960 erfolgte unter Voraussetzungen, wie sie für die USA ungewöhnlich waren. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der USA war es nicht schwierig, Kandidaten für das höchste Amt zu finden, da es außer Washington genügend Persönlichkeiten gab, die sich um Unabhängigkeit und die Verfassung große Verdienste erworben hatten. Da seit 1815 für längere Zeit die

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Außenpolitik keine entscheidende Rolle mehr spielte, wurden oft Präsidenten gewählt, die nur über mittelmäßige Qualitäten verfügten. Bedeutende Persönlichkeiten sind häufig durch besondere Verhältnisse, durch die Gunst der Stunde emporgetragen worden, wie das für Lincoln, Theodore Roosevelt, Wilson und Franklin D. Roosevelt zutrifft. Bei John F. Kennedy fehlten solche Vorbedingungen. Sein rascher Aufstieg gehört eher in den Bereich des Unvorhersehbaren, des Irrationalen. Er verdankte seine Wahl vornehmlich der Faszination, dem Charme, der von seiner Persönlichkeit und von seiner Jugend ausging. Vor den Augen der Öffentlichkeit vollzog sich ein erregendes, seltenes Schauspiel: Eine Familie irischer Herkunft, erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in die reichen Familien von Massachusetts eingedrungen, entsdiloß sich, einen ihrer Angehörigen an die Macht zu bringen. Zur Erreichung dieses Zieles wurden nicht nur die unerschöpflichen Finanzmittel des Vaters eingesetzt, auch jedes Familienmitglied fühlte sich dieser Aufgabe verpflichtet. Das irische Erbe eines ausgeprägten Clanbewußtseins fiel dabei stark ins Gewicht. Der Vater Joseph hatte seine Kinder noch ganz im patriarchalischen Geist erzogen, einen offenen Widerspruch gegen seinen Willen durfte es in seiner Familie nicht geben. Joseph Kennedy war allerdings seiner politischen Vergangenheit nach keine sonderliche Empfehlung für eine ähnliche Laufbahn seiner Söhne. Noch bis zum Kriegseintritt der USA war er ein entschiedener Anhänger einer neutralistischen Politik. Er machte sich als amerikanischer Botschafter in England unmöglich, als er in einem Interview den Untergang der englischen Demokratie prophezeite. Nach dem Kriege war es nicht viel anders, er sprach sich u. a. gegen den Koreakrieg aus, auch seine Geschäftsusancen förderten nicht gerade seinen Ruf. Es war ursprünglich beschlossen worden, den ältesten Sohn Joseph in den politischen Kampf zu schicken, als dieser im Kriege fiel, trat der zweite Sohn, John Fitzgerald, an dessen Stelle. John F. Kennedy, geboren am 29. 5.1917 in Boston, war bereits weiteren Kreisen der Bevölkerung bekannt, als er nach Studien die politische Karriere einschlug. Mit 23 Jahren schrieb er das Buch „Why England slept", das sehr beachtet wurde,

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später u. a. „Profiles in Courage", ein Budi, das gleichfalls viele Leser fand. Kennedy wurde 1947 in den Kongreß, 1953 f ü r Massachusetts in den Senat gewählt. Es war eine beachtliche Leistung, daß es ihm in so jungen Jahren gelang, einflußreiche Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Mit seinen Reden kam er im Wahlkampf gut an; allerdings verhalf auch das Geld des Vaters zum Erfolg. Die Wahrscheinlichkeit war gering, daß Kennedy 1960 zum Präsidenten gewählt werden würde. Als Gegner stand ihm Richard Nixon gegenüber, der als der bedeutend Ältere über weit mehr praktische Erfahrungen verfügte. Eisenhower hatte seinen Vizepräsidenten gezielt als Nachfolger aufgebaut und ihm mehrfach die Gelegenheit zur persönlichen Profilierung gegeben. Das Haupthindernis f ü r die Wahl Kennedys war seine katholische Konfession. Der hochbegabte katholische Kandidat der demokratischen Partei, Al Smith, hatte 1928 keine Chance gewählt zu werden. Gewiß hatten inzwischen die konfessionellen Gegensätze an Bedeutung verloren, der Anteil der katholischen Bevölkerung war erheblich — auf fast 40 Millionen gegenüber gut 60 Millionen Protestanten — gewachsen. Aber f ü r orthodoxe Protestanten war ein katholischer Präsident immer noch kaum vorstellbar; dieser Faktor hat im Wahlkampf eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Das Geheimnis seines Erfolges lag nicht zuletzt in einer wirkungsvollen Wahlpropaganda. Kennedy vertrat ein anderes Programm als seine Vorgänger. Auch bei ihm fehlte es nicht an Versprechungen einschneidender sozialer Reformen, und besonders nachdrücklich forderte er die Durchführung der gleichen Bürgerrechte f ü r die Neger. Aber er warf vor allem das Schlagwort von der „neuen Grenze" in die Diskussion. Er verlangte von seinen Landsleuten die Rüdsbesinnung auf den alten Pioniergeist. Es gelte, sich zum zweitenmal auf Neuland zu begeben, und zwar auf allen Gebieten. Unter der neuen Grenze, die erreicht werden müßte, verstand Kennedy nicht nur die Bewältigung der Gegenwart, sondern auch der Zukunft, auf deren unabsehbare Gefahren er eindrucksvoll in seinen Reden hinwies. Er forderte jeden Bürger zur Mitwirkung auf, nur durch Mut und Opferbereitschaft jedes einzelnen

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könne das Ziel erreicht werden. Es gelte, die große Bewährungsprobe zu bestehen. Die »neue Grenze", erklärte er einmal, sei nicht ein Bündel von Versprechungen, sondern eine Forderung an das amerikanische Volk. Er sage nicht, was er zu bieten habe, sondern was er verlangen wolle. Er wende sich nidit an seinen Stolz, nicht an seine Brieftasche. „Die Grenze verspricht große Opfer, nicht größere Sicherheit." Es gehe ums Überleben. Kennedy beeindruckte mit dieser Mahnung vor allem einen großen Teil der jüngeren Generation, die, der alten Schlagworte überdrüssig geworden, nach einer neuen Sinngebung des Lebens suchte. Er verstand es, seine Gedanken klar und überzeugend zu formulieren. Gewiß stießen sich so weit gespannte Ziele an den nüchternen Realitäten des Tages. Man hat deshalb Kennedy einen Utopisten, einen Romantiker genannt. Sein politischer Stil war vielleicht romantisch, im Grunde aber war Kennedy ein überzeugter Rationalist, der sich durchaus keine Illusionen über menschliche Unzulänglichkeiten machte und sich in der praktischen Politik nüchtern verhielt. Kennedy gewann die Wahl im November 1960 mit einer äußerst knappen Mehrheit, der Unterschied zu Nixon betrug nur 300 000 Stimmen. Von einem Durchbruch, einem überzeugenden Sieg ließ sich nicht sprechen. Er umgab sich mit einer engeren Gruppe von Mitarbeitern, die aus der Intelligenzschicht kamen und ihm bedingungslos persönlich ergeben waren. Als Kennedy 1960 das Amt antrat, war er nicht frei von einer gewissen jugendlichen Überheblichkeit. Um so mehr mußte es sein Selbstgefühl verletzen, als er schon wenige Monate später eine politische Niederlage hinnehmen mußte, die seinem Image schweren Schaden zufügte. Es ging dabei um Kuba. Die amerikanische Regierung hatte zunächst den Widerstand gegen die dortige Diktatur unterstützt. Als dann die Macht an Fidel Castro überging, zeigte es sich, daß dieser einen immer radikaleren Linkskurs einschlug. Keiner amerikanischen Regierung konnte eine solche Entwicklung gleichgültig sein; Kuba lag im karibischen Sicherheitsgürtel, von dieser Insel aus war eine gefährliche Wirkung auf einige mittel- und südamerikanische Staaten zu erwarten. Auch die Eisenhower-Regierung war daher schon entschlossen, keine 12

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kommunistische Regierung in Kuba zu dulden. Heimlich wurden Exilkubaner militärisch ausgebildet, die zur gegebenen Zeit in den Kampf gegen Castro eingesetzt werden sollten. Kennedy ließ sich durch den von seinem Vorgänger übernommenen Geheimdienst völlig über die Stimmung in Kuba täuschen, der die Opposition gegen Castros Herrschaft weit überschätzte. Nach dessen Berichten sollte es nicht schwierig sein, einen Umsturz durch bewaffnete Freiwillige herbeizuführen. Doch die Invasion in der sogenannten Schweinebucht scheiterte. Mühelos konnte Castro mit den eingedrungenen Kubanern fertigwerden. Kennedy war zu keiner Luftunterstützung bereit. Das Unternehmen war ein schwerer Fehler, der Kennedys Unbesonnenheit und Unerfahrenheit unter Beweis stellte. Es machte jedoch in der Öffentlichkeit einen guten Eindruck, daß er die uneingeschränkte persönliche Verantwortung für den Fehlschlag übernahm. Sein Selbstvertrauen hatte einen Stoß erlitten, er gab freimütig zu, daß er die Last der Verantwortung für schwierige Entscheidungen unterschätzt habe. Im allgemeinen hielt er die Linie seiner Vorgänger ein, eine Erweiterung der kommunistischen Einflußsphäre in der Welt nicht zuzulassen, jedoch die durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Machtverhältnisse anzuerkennen. Nur glaubte er nicht an den Nutzen einer starren Konfrontation, er war überzeugt davon, daß der Weltfrieden in einem aufgelockerten Klima eher gesichert werden könne. Kennedy kam von seiner ersten Begegnung mit Chruschtschow in Wien (Juni 1961) sehr peinlich berührt zurück, da er den Eindruck gewonnen hatte, daß dieser zu keinen Zugeständnissen in der BerlinFrage bereit war. Das zeitlich befristete Ultimatum blieb in Kraft. Es läßt sich vermuten, daß Chruschtschow wegen der Sdiweinebuchtaffäre und der Hinnahme des Berliner Mauerbaus Kennedy als Gegenspieler nicht recht ernst nahm und daher das Risiko einging, eine Raketenbasis auf Kuba aufzubauen, die die USA unmittelbar bedrohte (Oktober 1962). Allzu spät über die Größe der Gefahr unterrichtet, hat dann auch Kennedy mit seinem streng geheim gehaltenen Entschluß

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die Russen überrumpelt. Er entschied sich für eine Flottenoperation größten Ausmaßes, für eine Blockade, die jede weitere Zufuhr von Raketenmaterial nadi Kuba unterbinden sollte. Chruschtschow gab nach, die schon unterwegs befindlichen Schiffe drehten ab. Das Verhalten Kennedys in dieser Krise ist scharf kritisiert worden; man habe, so ist gesagt worden, durch seine Schuld am Vorabend eines dritten Weltkrieges gestanden. Nach den heutigen Kenntnissen war die Kriegsgefahr nicht allzu groß. Bei einem Rückblick auf die vergangenen 25 Jahre tritt deutlich in Erscheinung, daß die Machthaber in der Sowjetunion stets vor dem äußersten Risiko zurückscheuten. Dies gilt insbesondere für Chrusditsdiow. Kennedy war durch den amerikanischen und deutschen Geheimdienst davon unterrichtet, daß die Russen keine militärische Konfrontation wünschten. Chruschtschow wurde eine allzu auffällige persönliche Demütigung erspart. Der Preis für einige Zugeständnisse war nicht allzu hoch. Am Sturz dieses Mannes, der trotz seines bizarren Verhaltens in der Öffentlichkeit nüchternen Erwägungen zugänglich blieb, konnte dem Westen nicht gelegen sein. Trotzdem ist er, allerdings neben seinem Versagen in der Agrarpolitik, über Kuba gestürzt worden. Alle Augenzeugen stimmen darin überein, daß sich Kennedy in einer Nervenprobe ohnegleichen mit großer Selbstbeherrschung bewährt hat, vor allem in der Stunde, als sich auf dem Höhepunkt der Krise ein amerikanisches Flugzeug über dem Raum der Sowjetunion verflogen hatte. Kennedy mußte sich mit zahlreichen anderen Problemen in Europa, Afrika, Lateinamerika und Asien befassen. Der von ihm ins Leben gerufenen „Allianz für den Fortschritt" traten auf der Konferenz von Punta del Este im März 1961 alle lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme Kubas bei. Die größte Sorge und Enttäuschung bereitete ihm Vietnam. Da die Situation in Vietnam erst unter seinem Nachfolger Johnson in ein äußerst kritisches Stadium geriet, empfiehlt es sich, das Thema erst im Rahmen der Darstellung dieser Zeit zu behandeln. In der inneren Politik bemühte sich Kennedy darum, die Versprechungen des Wahlkampfes zu erfüllen, das Problem der 12»

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Bürgerrechte zu lösen sowie Reformen in der Sozial- und Krankenversicherung durchzuführen. Mit anerkennenswertem Mut ging John F. Kennedy gemeinsam mit dem von ihm zum Justizminister ernannten Bruder Robert an das heiße Eisen der „Bürgerrechte" heran. Trotz der Entscheidung des Obersten Bundesgerichts gegen jede Diskriminierung war offener und passiver Widerstand, vornehmlich im Süden, gang und gäbe. Die Auseinandersetzung um die Integration der Neger erreichte seit den 50er Jahren ihren Höhepunkt. Von einer Gleichberechtigung der schwarzen mit der weißen Bevölkerung konnte keinesfalls im Süden, aber auch im Norden nur mehr oder minder formal die Rede sein. In den Südstaaten war man vor allem bestrebt, die Neger an der Ausübung des Wahlrechts zu hindern. Es läßt sich statistisch nachweisen, daß sie in geringerer Anzahl als in früheren Zeiten zu den Wahlen zugelassen wurden. Beim Intelligenztest mußten sie Fragen beantworten, die auch viele Weiße nicht hätten beantworten können. Auf die Frage nach der Hautfarbe war die einzige zulässige Antwort „black", schon „dark" genügte nicht. Die Neger waren jedoch immer weniger bereit, sich die Diskriminierung gefallen zu lassen. Seit dem Zweiten Weltkrieg war ihr Selbstbewußtsein gestiegen; sie waren als Soldaten gebraucht worden und forderten immer entschiedener die gleichen Rechte wie die Weißen. Einer ihrer Führer, Martin Luther King, der später ermordet wurde, proklamierte wie Gandhi den passiven Widerstand. Aber die radikalen Gruppen gingen zur offenen Gewalt mit dem Ziele über, die Weißen die Macht der Schwarzen spüren zu lassen. Die Führungsschichten in den meisten Südstaaten waren nicht zum Verzicht auf ihre Vorherrschaft bereit oder gar dazu, die volle Integration der Farbigen in die bürgerliche Gesellschaft zuzulassen. Es ging in erster Linie um die Schulfrage, um die Zulassung der Negerkinder zu den öffentlichen Schulen und Universitäten. Viele Eltern lebten noch ganz in der Furcht, ihre Kinder könnten durch einen näheren Verkehr mit Kindern der anderen Rasse gefährdet werden; auch das Bildungsniveau würde damit sinken; sie suchten auf jedem Wege die Entscheidung der Gerichte zu hintertreiben oder zu umgehen. Der Präsident

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setzte viel aufs Spiel, unter Umständen sogar seine Wiederwahl. Die Reaktion im Süden steigerte sidi bis zu persönlichem Haß gegen Kennedy und seinen Bruder Robert, den Justizminister. Auf beiden Seiten sind Fehler begangen worden. Allzu rasch und allzu mechanisch wurde versucht, die Gesetze durchzusetzen, anstatt einige Geduld zu üben und Zeit zur Gewöhnung an die neue Situation zu lassen. Die militante Einstellung des radikalen schwarzen Bevölkerungsteils, die blutigen Unruhen und Gewalttaten, waren noch viel weniger zur Lösung des Problems geeignet. Die neuerliche Tendenz bei einem Teil der Farbigen, sich auf das eigene Wesen zu besinnen, zum Selbstverständnis zu gelangen und alle Bildungsmöglichkeiten in den eigenen Schulen und Universitäten auszunützen, verspricht mehr für die Zukunft. Allerdings sind bisher die sozialen Ungerechtigkeiten nicht beseitigt worden; die Quote der Arbeitslosen bei den schwarzen Amerikanern liegt prozentual noch immer viel höher als bei den Weißen. Armut, Hoffnungslosigkeit und zunehmende Kriminalität in den Slums bleiben eine ständige Gefahr, jederzeit können neue schwere Unruhen ausbrechen. Kennedy ist mit den starken Widerständen im Kongreß gegen seine Reformbestrebungen nicht fertig geworden. Ζ. T. mag das damit zusammenhängen, daß sein Aufstieg zu schnell erfolgte, so daß er nicht genügend Zeit hatte, im Kongreß und im Senat den menschlichen Kontakt zu pflegen. Aber er war nicht anpassungsfähig genug, um sich in den Körperschaften der Legislative Freunde zu gewinnen und politische Gegner zu überzeugen. Es war für ihn eine bittere Enttäuschung, daß sein guter Wille auf so geringes Verständnis stieß. Weder das Gesetz über die Bürgerrechte, noch die Reformgesetze zur Alters- und Krankenversicherung fanden im Kongreß eine Mehrheit. Kennedy wurde am 22. November 1963 in Dallas (Texas) von einem Scharfschützen, Lee Harvey Oswald, erschossen; einer nicht einmal dreijährigen Regierungszeit wurde damit ein jähes Ende bereitet. Über diesen Mord, seine Begleiterscheinungen und seine Hintergründe ist viel gerätselt und geschrieben worden. Viele Amerikaner hielten es für unglaub-

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würdig, daß es sich nur um die Tat eines kleinen kommunistischen Psychopathen handeln sollte. Die erste polizeiliche Bestandsaufnahme war unzulänglich; wichtige Zeugen waren nicht gehört, manche Indizien nicht beachtet worden. Alle Versuche jedoch, eine längst vorbereitete Verschwörung nachzuweisen, sind gescheitert. Der offizielle Warren-Beridit enthält trotz mancher Mängel im wesentlichen die Wahrheit. Es war die Tat eines Einzelnen. Höchstens läßt sich sagen, daß der Mord kein reiner Zufall, sondern nur in einer Atmosphäre überhitzter Emotionen möglich war. Kennedy besaß so viele haßerfüllte Gegner, daß ein Attentäter hoffen konnte, sich mit einer solchen Tat einen Namen zu machen, sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Die Nachricht von der Ermordung Kennedys wurde in der ganzen Welt mit ungewöhnlicher Anteilnahme aufgenommen; dies gilt selbst für viele Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs. Sie hatten sich von Kennedys Anschauungen und Zielen angesprochen gefühlt und große Hoffnungen auf ihn gesetzt, die mit seinem Tode begraben werden mußten. Selbst Amerikaner, die seiner Politik skeptisch gegenüberstanden, waren bestürzt. Die Trauer ging besonders tief bei einem großen Teil der jungen Generation sowie in Kreisen der Intelligenz. John F. Kennedy hatte ein Gespür dafür besessen, daß in der Gegenwart, und damit für die Zukunft, Aufgaben zu erfüllen waren, zu deren Bewältigung die üblichen Methoden nicht mehr ausreichten. So verstand er es, die Nation von der Notwendigkeit einer Forcierung des Raumfahrtprogramms zu überzeugen. Seine Vorhersage, daß noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein Amerikaner auf dem Mond stehen werde, wurde im Juli 1969 mit der Mondlandung von Apollo XI Wahrheit. Ob er in der Lage gewesen wäre, seine Zeit und damit auch die Zukunft wirklich entscheidend mitzubestimmen, ist eine andere Frage, die sich nicht entscheiden läßt. Es widerspricht dem Gebot der Fairneß, nach einer knapp 3jährigen Regierungszeit über Kennedy ein endgültiges Urteil zu fällen. Es bleibt bestehen, daß er schon die große Unruhe der sechziger Jahre vorausgeahnt hat, die sich, von den USA ausgehend, auch in Europa der akademischen Jugend bemächtigen sollte,

Epilog

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eine Unruhe, die zunächst ihre Hauptursache in einer als unbefriedigend empfundenen Gegenwart und in der Angst vor einer ungewissen Zukunft hatte. Die Anhänger Kennedys hatten das Gefühl, mit seinem Tode ihren Lebensinhalt oder wenigstens den Orientierungspunkt verloren zu haben, deshalb betrachteten sie es als einen besonders harten Schlag, als auch Robert Kennedy kurz vor der Wahl von 1968 ermordet wurde. Es sind inzwischen beinahe zehn Jahre seit der Ermordung Kennedys vergangen, aber offenbar ist die von ihm ausgegangene Wirkung audi in der Gegenwart immer noch überraschend stark. Der Name Kennedy bedeutet in den USA nodi immer mehr als nur eine wehmütige Erinnerung, er ist eine Realität, mit der die politische Welt rechnen muß.

Epilog Kennedys Nadifolger wurde Lyndon B. Johnson, den er aus taktischen Gründen zum Vizepräsidenten gemacht hatte, da er aus dem Süden, aus Texas, stammte und nur so zu hoffen war, die wegen der Rassenfrage unzuverlässig gewordenen Stammwähler der Südstaaten zu halten. Johnson war eine anders geartete Natur als sein Vorgänger, sehr nüchtern, ein Mann des praktischen Verstandes. Als Politiker war er erfahrener und damit audi geschickter in der Behandlung von Menschen. Er kannte die meisten Mitglieder des Repräsentantenhauses und des Senats persönlich, er wußte sie zu nehmen. Viele Amerikaner waren sichtlich erleichtert, nun wieder einen typischen Amerikaner, den sie zu verstehen vermochten, an der Spitze des Staates zu wissen. Kennedys politischer Stil, sein Verhalten in der Öffentlichkeit waren als fremd und unamerikanisch empfunden worden. Dies galt übrigens audi für Kennedys junge schöne Frau Jacqueline, die dadurch Anstoß erregt hatte, daß sie sich darum bemühte, das Weiße Haus vornehmlich für fremde Besucher attraktiver und repräsentativer zu gestalten, wofür sich einiges aus Prestigegründen sagen ließ. Andererseits wurde gerade Jackie zum Idol vieler Frauen,

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jeder ihrer Sdiritte aufmerksam verfolgt; der „Jackielook" wurde nadigeahmt. Johnson war in den ersten Jahren seiner Regierung überraschend erfolgreich. Die Wahlen von 1964 gewann er haushoch gegen den Republikaner Barry Goldwater, der seine Kandidatur in erster Linie nur hochgepeitschten Emotionen verdankte, im Grunde war er als Politiker kaum ernst zu nehmen. Es fiel Johnson nicht sdiwer, die Annahme des Biirgerreditsgesetzes durdizubringen; angesichts des allgemeinen Schocks nach der Ermordnung seines Vorgängers konnten sich Senat und Kongreß einen weiteren Widerstand kaum mehr leisten. Aber der neue Präsident bradite audi die anderen Sozialgesetze zu befriedigendem Absdiluß. Nach diesen Anfangserfolgen wurde Vietnam Johnson zum Sdiicksal. Seit der teilweisen Veröffentlichung der sogenannten PentagonPapiere ist die Öffentlichkeit verhältnismäßig gut über die amerikanische Vietnam-Politik unterrichtet. Meistens erfolgt die Aufklärung über geheimste Vorgänge erst in einer sehr viel späteren Zeit. Auch die Pentagon-Papiere erlauben kein endgültiges Urteil. Noch ist unbekannt, welche letzten Absichten die Regierung von Nordvietnam verfolgt hat und noch verfolgt. Aus den veröffentlichten Pentagon-Papieren geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß schon die Regierung Eisenhower entschlossen war, die ehemaligen französischen Kolonien nicht unter kommunistisdxe Herrschaft fallen zu lassen. Sie hat jedoch zu spät und nur zögernd den Franzosen im indonesischen Krieg Unterstützung angeboten, so daß die große Katastrophe der französischen Armee in Dien Bien Phu nidit mehr zu vermeiden war. Aus dieser Niederlage sind zwangsläufig alle späteren Verwicklungen hervorgegangen. Eisenhower begnügte sich damit, Südvietnam durdi Militärberater, Waffenlieferungen und Geld zu unterstützen, er hielt sidi dagegen aus direktem militärischem Eingreifen heraus. Dies wurde schon unter Kennedy anders. Nicht nur war die Zahl der Militärberater erheblich verstärkt worden, es wurden auch schon amerikanische Truppen nach Südvietnam gebradit, aber nur einige tausend Mann, so daß von einer unmittelbaren amerikanischen Beteiii-

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gung am Vietnamkrieg nodi nidit gesprodien werden kann. Auch Kennedy war abgeneigt, ein allzu großes Risiko einzugehen, immerhin handelte es sich, wie es formuliert worden ist, um eine Erweiterung der amerikanischen Verpflichtungen in Vietnam. Es ist keineswegs ausgemacht, daß es schon unter Kennedy zu der gleichen Eskalation des Krieges gekommen wäre wie unter seinem Nachfolger. Denn für Kennedy bestand noch die Alternative, durch Verhandlungen zu einem annehmbaren Kompromiß zu kommen, während dies später angesichts der inzwischen verfahrenen Situation immer schwieriger wurde. Auch Johnson hatte zunädist die Absidit, die Vietnampolitik seines Vorgängers fortzusetzen, aber immer mehr verstrikte er sich in das Engagement für Südvietnam, so daß die USA in den eigentlichen Krieg hineingeschlittert sind. Schließlich kämpften hunderttausende von Soldaten auf dem dortigen Kriegsschauplatz, ohne daß es zu einer militärischen Entscheidung kam. Es war nicht nur ein opferreicher Krieg, der mit der Zeit ungeheure Summen verschlang, er schädigte auch das politische und moralische Ansehen der Vereinigten Staaten in der Welt. Die Pentagon-Papiere enthüllen, in welchem Ausmaße politische, militärische wie auch psychologische Fehleinschätzungen den Verlauf der Ereignisse mitbestimmt haben. Es ist unverständlich, daß die Lehren des Koreakrieges so wenig beachtet wurden. Die Amerikaner hatten bereits in Korea die Erfahrung gemacht, wie schwierig es ist, gegen Guerillas kämpfen zu müssen, und wie anders die Bedingungen sind, in einem wenig übersichtlichen Gelände zu operieren. MacArthur, der es wissen mußte, hat nachträglich davor gewarnt, sich in Asien in einen Landkrieg einzulassen. Truman hatte sidi richtig entschieden, als er die Bombardierung des chinesischen Territoriums untersagte; er war nicht bereit, das damit verbundene Risiko zu verantworten. Die begangenen Fehler wurden in Vietnam wiederholt. Johnson setzte in die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit militärischer Gutachten und der jeweiligen Lagebeurteilung zu lange ein unbedingtes Vertrauen, er mißachtete die Warnungen vor einer ständigen Eskalation des Krieges. Am verhängnisvollsten wirkten sidi die Unsicherheit und die

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Unwahrhaftigkeit in Johnsons Vietnampolitik aus, da sie die Einheit der politischen wie strategischen Kriegführung gefährdeten. Washington schwankte zwischen übertriebenen Hoffnungen und zunehmenden Bedenken hin und her. In der öffentlichen Meinung trat in den sechziger Jahren ein Meinungsumsdiwung ein, da kein Ende abzusehen war, Anfänglich hatte die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung die Unterstützung Südvietnams für richtig und notwendig gehalten; die sogenannte Dominotheorie hatte viele Anhänger. Nadi dieser würde ganz Südostasien für die freie Welt verlorengehen, wenn Südvietnam nicht zu halten war. Mit der Zeit trat eine Ernüditerung ein. Keineswegs nur die politische Linke, sondern audi viele nachdenklich werdende Menschen im Inwie im Auslande beobachteten mit steigendem Unbehagen oder sogar mit offener Ablehnung die blutige Auseinandersetzung. Das Argument überzeugte nicht mehr, daß in Südvietnam die Freiheit und die Demokratie im westlichen Sinne verteidigt werden müsse, da es sich als immöglich erwies, ein autokratisches Regime in dem asiatischen Staat zu beseitigen. Die Leiden der dortigen Zivilbevölkerung wurden unerträglich. Es kam zu sensationellen Enthüllungen über unerhörte Grausamkeiten, deren sich amerikanische Soldaten schuldig gemacht hatten (My Lai). Der Krieg verlor seinen ursprünglichen Sinn; die Sorge um das Prestige einer Weltmacht schien wichtiger zu werden als der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Der Riß ging mitten durch beide Parteien, die sogenannten Falken und Tauben verfolgten verschiedene Wege zur Beendigung des Krieges. Am leidenschaftlichsten und kompromißlosesten reagierte in vielen Ländern ein erheblicher Teil der Jugend gegen die amerikanische Vietnampolitik, ohne freilich zu beachten, daß audi auf der anderen Seite Verbrechen begangen wurden. Johnson versuchte es mit einer weltweiten Friedensoffensive, die zu nichts führte, da die Sowjetunion und China hinter Nordvietnam standen und es mit Waffen versorgten. Da der amerikanische Präsident schließlich keinen Ausweg mehr sah, leistete er sozusagen den Offenbarungseid, indem er auf eine Wiederwahl 1968 verzichtete; Rücksichten auf seine Gesundheit hatten nur zweitrangige Bedeutung.

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Die Wahlen von 1968 gewann der Republikaner Richard Nixon, der sein come back wohl kaum noch erwartet hatte. Der demokratische Vizepräsident Hubert Humphrey war kein redit überzeugender Gegenkandidat. Nixons Mehrheit war allerdings gering. Er hatte sdion im Wahlkampf versprochen, die in Vietnam stehenden amerikanischen Soldaten so bald als möglich zurückzubringen; er gebrauchte das Schlagwort von der Vietnamisierung des Krieges, obwohl er wissen mußte, daß die Vietnamesen ohne amerikanische Unterstützung den Krieg nicht erfolgreich beenden konnten. In den ersten vier Jahren seiner Regierung hat Nixon insofern bereits „Geschichte" gemacht, als er aus der Einsicht einer veränderten Weltlage die Konsequenzen zog, indem er das Tabu im Verhältnis zu China brach und die Aufnahme dieses großen Staates 1971 in die UNO nicht mehr verhinderte. Zum mindesten wurde damit erreicht, daß die Vereinigten Staaten außenpolitisch wieder größere Bewegungsfreiheit erlangten. Die Zukunft wird erweisen, wohin die Politik globaler Entspannung führen wird. Den Vietnamkrieg zu beenden, gelang audi Nixon während seiner ersten Legislaturperiode nicht. Nach seiner Wiederwahl — gegen den Demokraten McGovern — im November 1972 waren noch längere Verhandlungen notwendig, bevor im Januar 1973 ein Waffenstillstand vereinbart werden konnte. Die letzten amerikanischen Truppen verließen Südvietnam; alle amerikanischen Kriegsgefangenen kehrten in die Heimat zurück. Ob damit endgültig der Frieden in Südostasien gesichert ist, wird die Zukunft erweisen. Noch dauern in Laos und Kambodscha die mit amerikanischer Unterstützung gegen kommunistische Aufständische geführten Kämpfe an. Audi wichtige Probleme der inneren Politik sind nach wie vor ungelöst. Hier sind besonders die soziale Integration der rassischen Minoritäten, die chronische Arbeitslosigkeit und die inflationäre Preisentwicklung der jüngsten Zeit zu nennen. Wirtschaftliche Probleme belasten auch das Verhältnis der USA zu Europa, das noch einer für beide Seiten befriedigenden Regelung bedarf. Eine Zusammenfassung der Geschichte der Vereinigten Staaten mußte sich notwendig auf die eigentlichen Schwerpunkte

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besdiränken. Im engeren Sinne beginnt diese Geschichte erst mit dem Jahre 1776, mit der Unabhängigkeitserklärung. In wenigen Jahren werden die Amerikaner das zweihundertjährige Jubiläum feiern können. Wird jedoch in den Zeitraum die gesamte Kolonialperiode miteingeschlossen, was sich durchaus rechtfertigen läßt, gibt es bereits eine Geschichte von 400 Jahren. Es handelte sich zunächst um ein großes und risikoreiches Experiment. Es ging um den einmaligen Auftrag, aus Millionen von Einwanderern der verschiedensten nationalen und sozialen Herkunft eine Nation zu bilden, so groß audi immer die Unterschiede zunächst gewesen waren. Im großen und ganzen ist dieses Experiment geglückt. Die Amerikaner dürfen stolz darauf sein, vielen in der alten Heimat benachteiligten oder verfolgten Menschen eine gesicherte Existenz sowie Zuflucht und Schutz geboten zu haben. Es läßt sich wohl ohne Übertreibung sagen, daß sie zum mindesten seit dem Zweiten Weltkrieg in anderer Hinsicht vor einem nochmaligen und vielleicht noch schwierigeren Experiment stehen. Als die weitaus größte westliche Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft sehen sich die USA vor die Aufgabe gestellt, alle Lasten und Verantwortlichkeiten zu übernehmen, die mit der Stellung einer Weltmacht verbunden sind. Sie haben einen solchen geschichtlichen Auftrag nicht angestrebt, er fiel ihnen durch den Verlauf der Weltgeschichte zu, und sie mußten bereits die bittere Erfahrung machen, welche Last eine solche Macht, eine solche Mitverantwortung für das Schicksal der Menschheit eigentlich bedeutet und daß damit mehr Feinde als Freunde erworben werden. Jedoch bleibt zu hoffen, daß sie auch dieses zweite Experiment bestehen, wenn sie mit dem gleichen Mut, mit dem gleichen Selbstvertrauen an das Werk herangehen, ohne falsche Illusionen an ihren besten Überlieferungen festhalten und am Ende unter Beweis stellen, daß selbst eine Supermacht mit Freiheit und Frieden in der Welt vereinbar ist, wenn sie nicht, wie so oft in der Geschichte, mißbraucht wird sondern zur Selbstbeschränkung fähig bleibt.

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Die Präsidenten der Vereinigten Staaten 1 7 8 9 - -1797 1 7 9 7 - -1801 1 8 0 1 - -1809 1 8 0 9 - -1817 1 8 1 7 - -1825 1 8 2 5 - -1829 1 8 2 9 - -1837 1 8 3 7 - -1841 1841 1 8 4 1 - -1845 1 8 4 5 - -1849 1 8 4 9 - -1850 1 8 5 0 - -1853 1 8 5 3 - -1857 1 8 5 7 - -1861 1 8 6 1 - -1865 1 8 6 5 - -1869 1 8 6 9 - -1877 1 8 7 7 - -1881 1881 1 8 8 1 - -1885 1 8 8 5 - -1889 1 8 8 9 - -1893 1 8 9 3 - -1897 1 8 9 7 - -1901 1 9 0 1 - -1909 1 9 0 9 - -1913 1 9 1 3 - -1921 1 9 2 1 - -1923 1 9 2 3 - -1929 1 9 2 9 - -1933 1 9 3 3 - -1945 1 9 4 5 - -1953 1 9 5 3 - -1961 1961—-1963 1 9 6 3 - -1969 1969

George Washington John Adams Thomas Jefferson James Madison James Monroe John Quincy Adams Andrew Jackson Martin van Buren William H. Harrison John Tyler James K . Polk Zadiary Taylor Millard Fillmore Franklin Pierce James Budianan Abraham Lincoln Andrew Johnson Ulysses S. Grant Rutherford B. Hayes James A. Garfield Chester Α. Arthur Grover Cleveland Benjamin Harrison Grover Cleveland William McKinley Theodore Roosevelt William H. Taft Woodrow Wilson Warren Harding Calvin Coolidge Herbert C. Hoover Franklin D. Roosevelt Harry S. Truman Dwight D. Eisenhower John F. Kennedy Lyndon B. Johnson Richard M. Nixon

Parteilos Föderalist Republikaner* Republikaner Republikaner Republikaner Demokrat Demokrat Whig Demokrat Demokrat Whig Whig Demokrat Demokrat Republikaner Republikaner Republikaner Republikaner Republikaner Republikaner Demokrat Republikaner Demokrat Republikaner Republikaner Republikaner Demokrat Republikaner Republikaner Republikaner Demokrat Demokrat Republikaner Demokrat Demokrat Republikaner

* Die ursprüngliche Republikanische Partei war Vorläuferin der heutigen Demokraten. Die Republikanische Partei im modernen Sinne entstand erst 1854.

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