Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland von 1800–1945: Band 1 Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870 [Reprint 2021 ed.] 9783112581384, 9783112581377


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German Pages 628 [629] Year 1991

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Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland von 1800–1945: Band 1 Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870 [Reprint 2021 ed.]
 9783112581384, 9783112581377

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Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870

Institut für Wirtschaftsgeschichte der Geschichte der AkademiederWissenschaftenderDDR Produktivkräfte in Deutschland von 1800 bis 1945 in drei Bänden

Herausgegeben von:

Band 1 Produktivkräfte in Deutschland 1800 bis 1870

Rudolf Berthold Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Karlheinz Fischer Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam Dorothea Goetz Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam Thomas Kuczynski Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Karl Lärmer, Leiter des Herausgeberkollektivs Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Hans-Heinrich Müller Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Elfriede Rehbein Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List", Dresden Wilfried Strenz Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Irene Strube Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Karl-Marx-Universität, Leipzig Hans Wußing Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Karl-Marx-Universität, Leipzig

Produktivkräfte in Deutschland

1800 bis 1870 Wissenschaftliche Redaktion: Karl Lärmer und Peter Beyer Mit 100 Tabellen 18 Abbildungen 25 Karten 244 Fotos

Akademie-Verlag Berlin

Gesamt - ISBN 3-05-000297-2 Band 1 ISBN 3-05-000298-0 Band 2 ISBN 3-05-000299-9 Band 3 ISBN 3-05-000300-6 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3-4, Berlin, D D R -1086 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: Ostsee-Druck Rostock Repro, Druck und buchbinderische Aufbereitung: Grafische Werke Zwickau II/29/1 Lektor: Bernd Feldmann Gestaltung und Schutzumschlag: Anke Baltzcr Karten: Kurt Kilian LSV0265 Bestellnummer: 754 175 2 (6739/1)

Vorbemerkung

io

Einleitung: Das System der Produktivkräfte - Versuch einer Begriffsbestimmung

12

0.1. 0.2. 0.3. 0.3.1. 0.3.2. 0.3.3. 0.4. 0.4.1. 0.4.2. 0.4.3. 0.5. 0.6. 0.7. 0.8.

1.

1.1. 1.2.

1.3. 1.4. 1.5.

2.

2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.1.5. 2.1.6.

Zur Problemstellung Arbeit als Naturnotwendigkeit Elemente des Systems der Produktivkräfte Arbeitskraft und Arbeitsvermögen Arbeitsgegenstand Arbeitsmittel Beziehungen innerhalb des Systems der Produktivkräfte Beziehungen zwischen Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel: Produktionsmittel, Produktionsverfahren Beziehungen zwischen Arbeitskraft und Technik: Arbeitsverfahren und technologische Betriebsweise Arbeitsbeziehungen: Kooperation, Leitung, Gesamtarbeiter Organisationsformen: Spezialisierung, Konzentration und Kombination System der Produktivkräfte in seiner historisch konkreten Gestalt System der Produktivkräfte und seine Entwicklungsbedingungen Messung von Produktivkraftentwicklung

42 43

Allgemeine Bedingungen und Tendenzen der Entwicklung

46

Zum Charakter der Epoche Kapitalistische Elemente in einer feudalen Wirtschaft . . . Charakter der Industriellen Revolution Einige Grundprozesse der Produktivkräfteentwicklung während der Industriellen Revolution Ende der Industriellen Revolution

Die Entwicklung der Produktivkräfte im produzierenden Gewerbe, in der Industrie und im Bergbau Erste Phase der Industriellen Revolution Entwicklungsniveau der Produktivkräfte um die Jahrhundertwende Gesellschaftliche Bedingungen in der Zeit der Fabrikgründungen Ersetzung der Handarbeit durch Maschinenarbeit in der Textilproduktion Einsetzen der chemisch-technologischen Umwälzung . . . Alte und neue Bewegungsmaschinen und Energiequellen . Beginnender Strukturwandel und Ansätze neuer Technik im Bergbau

13 15 18 18 20 22 27 27 30 33 34 40

47 52 56 61 72

76 77 77 82 86 96 98 107 5

Inhalt

2.1.7. 2.1.8. 2.1.9. 2.1.10. 2.1.11. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5. 2.2.6. 2.2.7. 2.2.8. 2.2.9. 2.2.10. 2.3. 2.3.1. 2.3.2.

2.3.3. 2.3.4. 2.3.5. 2.3.6. 2.3.7. 2.3.8. 2.3.9. 2.3.10.

3. 3.1. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.2.4.1. 6

Anfänge der Eisenerzeugung mittels Kokshochofen und Puddelofen Herausbildung eines eigenen Maschinenbaus Funktion und Qualifikation der Produzenten Zur Struktur der Fabrikproduktion Ergebnisse Entfaltung der Industriellen Revolution Neue Bedingungen für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte in der Industrie Entwicklung der Arbeitsmaschinerie und der stoffumwandelnden Verfahren in der Konsumgüterproduktion . . . . Übergang zur Massenförderung der Steinkohle in Tiefbauanlagen Wachsende Anwendung der neuen Technologien zur Produktion von Eisen Der Maschinenbau auf dem Wege zu einem selbständigen Industriezweig Allmählicher Übergang zur industriellen Produktion chemischer Grundstoffe Der Bedeutungszuwachs der Dampfkraft Zur Struktur der Fabrikproduktion Qualifizierung und Dequalifizierung Ergebnisse Vollendung der Industriellen Revolution Verbesserte Entwicklungsbedingungen für die Produktivkräfte in der Industrie Produktionstechnische Voraussetzungen zur Überwindung der Krise der extensiven Methoden der Produktion und Ausbeutung Die Durchsetzung der Massenproduktion im Kohlenbergbau ? Der Siegeszug des Kokshochofens und der Schritt vom Puddel- zum Bessemer-Verfahren Der beginnende Übergang zur maschinellen Produktion von Maschinen Weiterentwicklung der Konsumgüterproduktion Dampfkraft als entscheidende Energiequelle der Industrie . Zur Struktur der Fabrikindustrie am Ende der Industriellen Revolution Maschinenarbeiter und Industriebourgeoisie Ergebnisse und neue Ansätze

Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft Einleitung Herausbildung einer neuen Betriebsgrößenstruktur und eines neuen Produzententyps Der beginnende Fortschritt der Produktivkräfte Grundzüge des beginnenden Fortschritts der Produktivkräfte Die Agrarreformen Ergebnisse der Agrarreformen für die Entwicklung der Produktivkräfte Bäuerlicher Landverlust und Junkerwirtschaften in Ostelbien

110 114 120 123 127 130 130 132 140 143 146 152 154 160 164 168 172 172

175 178 180 183 187 192 198 204 210

216 217 219 220 227 231 233 233

3.2.4.2. 3.2.4.3. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.4.4. 3.5.

4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.4.2.1. 4.4.2.2. 4.5. 4.5.1. 4.5.2. 4.5.3. 4.5.4. 4.6. 4.6.1. 4.6.2. 4.7.

5. 5.1. 5.2. 5.3.

Herausbildung einer neuen Betriebsgrößenstruktur als Basis der Entwicklung der Produktivkräfte Voraussetzungen und Beitrag der Landwirtschaft für die Industrielle Revolution Entwicklung der Agrarwissenschaften Ursachen und Triebkräfte für Verselbständigung und Aufschwung der Agrarwissenschaften Verselbständigung der Agrarwissenschaften Verstärkte naturwissenschaftliche Fundierung der Agrarwissenschaften Entwicklung der landwirtschaftlichen Bildungs- und Forschungsinstitutionen Landwirtschaftliche Produktion Materiell-technische Basis Pflanzenproduktion Tierproduktion Gesamtproduktion und Gesamtleistung Landwirtschaftliche Verarbeitungsindustrie

256 260 260 276 289 299 300

Die Entwicklung der Produktivkräfte im Transport- und Nachrichtenwesen

318

Wechselbeziehungen zwischen dem Verkehrswesen und den anderen Wirtschaftsbereichen Grundtendenzen der Produktivkräfteentwicklung im Verkehrswesen Größe und Struktur der Verkehrsunternehmen Entwicklung der Verkehrsmittel Entstehen und erste Anwendungsgebiete des Dampfantriebs Herausbildung neuer Verkehrsmittel als Basis für den Massenverkehr Entwicklung der Transportmittel Entwicklung der Nachrichtenmittel Hauptrichtungen der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur Fortschritt im Straßenbau Zustandswandel der deutschen Wasserstraßen . . . . . . . Entstehung des deutschen Eisenbahnnetzes und Entwicklung seiner Anlagen Grundlagen der Infrastruktur im Post- und Telegrafenwesen Quantitative und qualitative Veränderungen der Beschäftigten Entwicklung der Beschäftigtenstruktur und-anzahl . . . . Bildungsniveau und Bildungsinvestitionen Militärische Aspekte der Produktivkräfteentwicklung im Verkehrswesen . .

Die Standortentwicklung der Produktivkräfte Standortverteilung um 1800 Grundzüge der Standortentwicklung . v Zur Standortentwicklung der Produktivkräfte

236 242 243 243 244 249

319 322 324 332 332 337 337 347 352 353 357 362 370 374 374 377 381

387 388 394 397 7

5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.3.4. 5.4. 5.4.1. 5.4.1.1. 5.4.1.2. 5.4.2. 5.4.2.1. 5.4.2.2. 5.4.2.3. 5.4.3. 5.4.4. 5.5.

6. 6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.2.4. 6.2.5. 6.2.6. 6.3. 6.3.1. 6.6.2. 6.3.3. 6.3.4. 6.4. 6.4.1. 6.4.2. 6.4.3. 6.4.3.1. 6.4.3.2. 6.5. 6.5.1. 6.5.2. 6.5.3. 6.6. 8

Bevölkerung Landwirtschaft Gewerbe Verkehr Zur regionalen Verteilung und Entwicklung der Produktivkräfte Verdichtungsgebiete entlang des Rheins Rheinisch-westfälisches Gewerbegebiet Südwestdeutsche Verdichtungsgebiete Verdichtungsgebiete im Bereich des Nord- beziehungsweise Ostrandes der Mittelgebirgszone und in deren Vorländern . Oberschlesisches Revier Sächsisch-ostthüringisches Gewerbegebiet Weitere Verdichtungsgebiete im Nord- und Ostsaum der Mittelgebirgszone Berlin und andere Einzelstandorte Gebiete mit zurückgehender gewerblicher Bedeutung . . . Zusammenfassung

Die Anteile der Naturwissenschaften und der Mathematik Allgemeines Zur gesellschaftlichen Stellung von Naturwissenschaften und Mathematik Herausbildung wissenschaftlicher Organisations- und Kommunikationsformen Mathematik Überblick Zur Entwicklung der Darstellenden Geometrie Zur Rolle der Geodäsie Entwicklung der reinen Mathematik Theoretische Mechanik und Mathematisierung der Naturwissenschaften Zur Entwicklung der praktischen Mechanik Physik Überblick Wechselwirkungen zwischen Wärmelehre und Dampfmaschinenbau Wechselwirkungen zwischen physikalischer Optik und optischem Gerätebau Wechselwirkungen zwischen Elektrophysik und elektrotechnischer Produktion qhemie Situation der Chemie zu Beginn der Industriellen Revolution Forderungen der Industriellen Revolution an die Chemie . Erfüllung der neuen gesellschaftlichen Forderungen durch die Chemie 1770 bis 1830 1830 bis 1870 Biologie Überblick Herausbildung der Biologie als wissenschaftliche Disziplin . Anwendung biologischer Kenntnisse Geologie

397 '401 402 409 413 414 414 418 420 420 421 422 424 427 427

429 430 430 432 435 435 437 438 440 441 442 445 444 445 447 449 453 453 454 455 456 460 463 463 463 464 470

7.

Ausbildung

472

7.1. 7.2.

Ausbildungswesen am Ende des 18. Jahrhunderts Wesentliche Ursachen für die Veränderungen in der Ausbildung Ausbildung im Verlauf der Industriellen Revolution Volksschulen Höhere Schulen Ausbildung an den polytechnischen Schulen Gründung polytechnischer Schulen in Deutschland . . . . Entwicklung von Organisation und Inhalt der Ausbildung an den polytechnischen Schulen Universitäten

473

7.3. 7.3.1. 7.3.2. 7.3.3. 7.3.3.1. 7.3.3.2. 7.3.4.

8. 8.1. 8.1.1. 8.1.2. 8.1.3. 8.2. 8.2.1. 8.2.2. 8.2.3.

Die Entwicklung der Bevölkerung und des Arbeitskräftepotentials Veränderungen im Bevölkerungswachstum Übergang zu neuen Reproduktionsbedingurigen der Arbeitskraft Zusammenwirken der natürlichen Komponenten des Bevölkerungswachstums Auswanderungsbewegung Grundstrukturen des Arbeitskräftepotentials Zusammenhang von Bevölkerungs-und Gewerbedichte . Verteilung der Arbeitskräfte auf die Hauptsektoren der Wirtschaft Zur Dynamik der revolutionären Umwandlung der menschlichen Produktivkraft

477 483 483 487 492 492 492 497

503 504 506 510 512 516 516 522 527

Anhang

532

Abkürzungen Quellen Literatur Verzeichnis der Tabellen, Abbildungen und Karten Autorenverzeichnis Fotonachweis Register

532 532 532 565 568 569 570

9

Vorbemerkung

. . . Es erübrigt sich, hinzuzufügen, daß die Menschen nicht freie Herren ihrer Produktivkräfte - der Grundlage ihrer ganzen Geschichte - sind: denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt seiner vorherigen Tätigkeit. So sind die Produktivkräfte das Resultat der praktischen Energie der Menschen, doch diese Energie selbst ist bedingt von den Umständen, in welche die Menschen sich durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die vor ihnen bestehende soziale Form, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist, versetzt finden. Durch diese einfache Tatsache, daß jede spätere Generation durch die frühere Generation erworbene Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, bildet sich ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, bildet sich eine Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, als die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre sozialen Beziehungen sich vergrößert haben . . . Marx an Annenkow 28. Dezember 1846.

Man sollte meinen, daß dem Werden und Wachsen der Produktivkräfte in den Überblickswerken der Geschichtswissenschaft schon längst Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Doch weit gefehlt. Zwar lieferte die Technikgeschichtsschreibung lesenswerte Darstellungen der bedeutendsten Erfindungen, und auch die Wirtschaftshistoriker informierten über wichtige Details und einzelne Seiten des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses. Aber wesentliche Ereignisse und Elemente des Entwicklungsprozesses blieben dabei ausgeklammert. So fehlen Aussagen über die Hauptproduktivkraft Mensch, das heißt über die unmittelbaren Produzenten, die wissenschaftlich und technisch gebildeten Kräfte sowie über die Leiter der Produktion, wie solche über die Wirkungsweise der Produktionsverhältnisse als Bewegungsform der Produktivkräfte. Dabei ist der Forschungsstand für das 20. Jahrhundert verglichen mit dem für das 19. Jahrhundert noch ungenügender. Insbesondere die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ist noch relativ wenig untersucht worden. Die meisten Informationen finden sich in technischen Fachzeitschriften. So ist die Notwendigkeit herangereift, diese Lücke in der Geschichtsschreibung zu schließen. Die Komplexität des Gegenstandes verlangte dabei von vornherein eine interdisziplinäre Arbeitsteilung zwischen Wissenschaftlern, deren Forschungsgebiet im Zusammenhang mit der Geschichte der Produktivkräfte steht, wie Vertretern der Wirtschaftsgeschichte, Industriegeschichte, Agrargeschichte, Verkehrsgeschichte, der geographischen Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Wissenschaften und der Bildungsgeschichte sowie der Sozialgeschichte. Auch die Geschichte der Technik und der technischen Wissenschaften hätte berücksichtigt werden müssen. Leider gelang es nicht, einen kompetenten Vertreter dafür zu gewinnen. Es war das Verdienst von Prof. Dr. habil. Wolfgang Jonas, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, seit den siebziger Jahren kompetente Fachvertreter der genannten Wissenschaftsgebiete zu einem Arbeitskreis zu vereinen, der sich vorrangig mit methodischen und konzeptionellen Fragen beschäftigte. Leider mußte sich W. Jonas aus gesundheitlichen Gründen von der Arbeit zurückziehen, noch bevor ein erster, unter seiner Schirmherrschaft erarbeiteter und von Dr. habil. Karl Lärmer 1979 herausgegebener Band mit „Studien zur Geschichte der Produktivkräfte" erscheinen konnte, der die erste Lebensäußerung einer noch jungen Wissenschaftsdisziplin darstellte. In jenem Arbeitskreis, der seit 1978 unter Leitung von K. Lärmer weiterarbeitet, entstand auch die Idee, eine Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland zu schreiben. Das bot Gelegenheit, zu überprüfen, ob die methodischen Ansätze in der Sache tragfähig und eine Zusammenführung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen möglich sind, ob die konzeptionellen Überlegungen, die zunächst vorwiegend aus theoretischen Überlegungen resultieren, zu neuen Erkenntnissen führen können. Als Forschungs- und Darstellungsobjekt bot sich die Entstehung und Festigung des noch heute die Entwicklung bestimmenden zweiten großen Produktivkraftsystems an. Dieses System war in den hundert Jahren zwischen 1770 und 1870 durch eine tiefgreifende Produktivkraftrevolution, in deren Rahmen die Industrielle Revolution die Leitfunktion besaß und die Industrie zum systembestimmenden Zweig wurde, geschaffen und bis 1945 gefestigt und ausgebaut worden. Dieser Zeitabschnitt bildet für die deutsche Geschichte eine in sich geschlossene historische Periode, in der es zwar beträchtliche gesellschaftliche Veränderungen gab, die aber weitgehend durch die kapitalistische Produktionsweise bestimmt wurde. 10

Bei der Arbeit an der dreibändigen Geschichte der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland mußte das Autorenkollektiv allerdings auch erkennen, daß es gewisse Grenzen zwar partiell überschreiten, nicht aber beseitigen konnte. So war es beispielsweise möglich, einen begründeten Überblick über den Einfluß der Produktionsverhältnisse auf die Entwicklung der Produktivkräfte zu bieten, aber das umgekehrte Wirkungsverhältnis ließ sich nur schwierig erfassen. Denn die Forschungen der Historiker zur Übergangsperiode vom Feudalismus zum Kapitalismus (Periode der bürgerlichen Revolution) hatten sich zwar mit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beschäftigt, was sich günstig für deren Darstellung in einer Geschichte der Produktivkräfte auswirkte, doch die folgenden Veränderungen waren vernachlässigt worden, wie beispielsweise der Einfluß der rasch wachsenden Produktivkräfte auf die Ausgestaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Auch die Darstellung der Wirkungsweise der Hauptproduktivkraft, des tätigen und leitenden Menschen in der Produktion, war nicht problemlos. Hier wurde versucht, über die Struktur der Arbeitskräfte, den Bildungsstand, die berufliche Qualifikation und die Gestaltung des Produktionsprozesses einen ersten Beitrag zu leisten. Das schwierigste Problem, vor das sich das Autorenkollektiv gestellt sah, war die Erfassimg der Wirkungsweise des Systems der Produktivkräfte, das heißt, der Verzahnung ihrer einzelnen Bestandteile miteinander, die Widerspiegelung der gegenseitigen Bedingtheit des Fortschritts verschiedener Teilbereiche der Produktivkräfte und der führenden Rolle der Industrie im Gesamtsystem. Ging es dabei doch um die Analyse der Dialektik jenes entscheidenden Gebietes der Gesellschaft, das sich in ständiger Veränderung befindet, mit allen anderen Gebieten eng verbunden ist, sie ständig beeinflußt und von deren Entwicklung selbst neue Impulse empfängt. Forschungen zu diesem Gegenstand lagen so gut wie nicht vor. Nicht immer konnte die Komplexität der Dialektik des Prozesses erfaßt werden. Vielfach mußte sich die Darstellung auf eine mehr lineare Einwirkung beschränken. Eine wesentliche Orientierungshilfe stellen die jeweils ersten Kapitel der einzelnen Bände dar, in denen versucht wurde, die Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb einer größeren historischen Periode in deren Gesamtzusammenhang zu stellen. Die vorliegende „Geschichte der Produktivkräfte" hatte es sich zur Aufgabe gestellt, erstmals die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte eines Landes in ihren wesentlichen Prozessen darzustellen. Jeder ihrer drei Bände wurde in acht Kapitel gegliedert und umfaßt jeweils eine historische Periode. Der einheitliche innere Aufbau der Bände und der Kapitel macht es möglich, die Geschichte der Produktivkräfte der drei großen Volkswirtschaftszweige als eine in sich geschlossene Darstellung zu studieren. Gleiches gilt für die in den übrigen Kapiteln behandelten Sachgebiete. Bei der Niederschrift der drei Bände standen die Autoren vor dem Problem einer riesigen Materialfülle, aber einer berechtigten Umfangsbegrenzung der entstehenden Bücher. Das verlangte eine gestraffte Darstellung, die es nötig machte, auf manche wissenschaftliche Kontroverse oder theoretische Erörterung zu verzichten. Die statistischen Angaben wurden entsprechend der Aufgabenstellung der Untersuchung z. T. neu geordnet und berechnet. Die „Geschichte der Produktivkräfte" wurde nicht als Lehrbuch geschrieben. Sie ist auch kein Nachschlagewerk, obwohl ein Register ihre Benutzung erleichtert. Sie stellt als Forschungsbericht einer jungen Wissenschaftsdisziplin eine erste systematische Darstellung dar, die als solche studiert werden will. Der Dank der Herausgeber und der Autoren gilt dem Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Dr. sc. Helga Nussbaum, Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, für ihre ständige Förderung der Arbeiten am Projekt. Er gilt ferner insbesondere dem Akademiemitglied Wolfgang Jonas und Prof. Dr. Siegfried Richter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die die Manuskripte kritisch gelesen haben und das Autorenkollektiv mit wertvollen Hinweisen unterstützten. Er gilt auch dem Akademie-Verlag, der die Veröffentlichung der reich illustrierten Bände übernahm. Das Herausgeberkollegium

11

Einleitung: Das System der Produktivkräfte Versuch einer Begriffsbestimmung

12

Die drei vorliegenden Bände sind in erster Linie mit dem Ziel geschrieben worden, eine Darstellung der Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland zu geben. Eine solche Untersuchung liegt bislang noch für kein Land und für keine Gesellschaftsordnung vor. Dabei ging es vor allem darum, darzustellen, warum und wie sich die Produktivkräfte entwickelt und welche Faktoren diese Entwicklung besonders stark beeinflußt haben. Demgegenüber wurde den Auswirkungen dieser Produktivkräfteentwicklung auf die anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens weniger Aufmerksamkeit geschenkt, und das nicht etwa, weil diese Wirkungen für gering erachtet werden, sondern weil deren Behandlung den Rahmen dieses dreibändigen Werkes sprengen würde - müßten doch nicht nur die Wirkungen auf die Produktionsverhältnisse, die Sozialstrukturen und die Klassenkämpfe gezeigt werden, sondern ebenso jene auf die Entwicklung von Staat und Recht, Philosophie und Kultur, Kunst und Literatur usw. Vielleicht geben aber die hier vorgelegten Untersuchungsergebnisse Anregungen zu solchen übergreifenden Forschungen. Diese Monographie ist eine räumlich (auf Deutschland) und zeitlich (vom Beginn der Industriellen Revolution bis zum Ende des zweiten Weltkriegs) beschränkte historische Darstellung. Daher beinhaltet sie nicht die logisch-systematische Darstellung der mit dem Begriff „Produktivkräfte" umfaßten Gesamtproblematik. Friedrich Engels bemerkte in einer Rezension zur „Kritik der Politischen Ökonomie" von Karl Marx, daß das Buch „auf zweierlei Weise angelegt werden" konnte: „historisch oder logisch".1 Marx wählte, seiner Aufgabenstellung entsprechend, die logische. Die Zielstellung der vorliegenden Monographie ist, wie gesagt, eine andere, und ihr entsprechend war allein die historische Darstellungsweise am Platz. Dies konnte die Autoren aber nicht der Aufgabe entheben, in einem Einleitungskapitel das in den Bänden verwendete Begriffssystem zu erläutern. Diese Erläuterungen können naturgemäß keine logische, in sich geschlossene Darlegung des Systems der Produktivkräfte beinhalten. Als nämlich Wolfgang Jonas, der Inaugurator und langjährige Leiter des Projekts „Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland", im Jahre 1963 einen Vortrag „Uber Probleme der Geschichte der Produktivkräfte" hielt, bemerkte er einleitend, er spreche „über ein Gebiet der Gesellschaftswissenschaft . . . , das von Seiten der marxistischen Forschung in der Vergangenheit stark vernachlässigt wurde und sich daher gegenwärtig noch in einem ganz jungen Anfangsstadium befindet". 2 Und obgleich die in den seither vergangenen zwanzig Jahren durch Wirtschaftshistoriker3 und Philosophen4 erzielten Resultate nicht zu übersehen sind, gilt doch auch für die Gegenwart, „daß wir von einer marxistischen Theorie der Produktivkräfte noch weit entfernt sind".5 Natürlich haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus die Rolle und Bedeutung der Produktivkräfte innerhalb der Geschichte der Menschheit vom Grundsätzlichen her in völliger Klarheit bestimmt. Die Produktivkräfte seien „die Basis ihrer ganzen Geschichte",6 bemerkte Marx in seinem bekannten Brief an Pawel Wassiljewitsch Annenkow, ein Gedanke, den er wenig später in „Elend der Philosophie" so ausführte: „Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit Kapitalisten."7 Insbesondere dieses Bild hatte Wladimir Iljitsch Lenin wohl vor Augen, als er in seinem Aufsatz „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus" vermerkte, der historische Materialismus von Marx zeige, „wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt — wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht".8 Sobald wir aber über diese - in der marxistischen Literatur allezeit9 anerkannte Grunderkenntnis hinausgehen wollen, sehen wir uns sogleich mit Problemen konfrontiert, die zumeist Gegenstand höchst kontroverser Diskussionen sind. Wir nennen hier einige dieser Probleme: - Was sind eigentlich Produktivkräfte, was sind sie als Ganzes betrachtet - im Unterschied etwa zu Produktionsverhältnissen, Klassen und so weiter - und was sind 13

0.1.

Zur Problemstellung

1 MEW, Bd. 13, 1974, S. 474. 2 Jonas, W., 1964, S. 3. 3 Wir nennen hier nur den von W. Jonas, V. Linsbauer und H. Marx verfaßten ersten Band von „Die Produktivkräfte in der Geschichte" (1969), die „Vier Revolutionen der Produktivkräfte" (1975) von J. Kuczynski (mit kritischen Bemerkungen und Ergänzungen von W. Jonas) und den Sammelband „Studien zur Geschichte der Produktivkräfte. Deutschland zur Zeit der Industriellen Revolution" (1979). 4 Vgl. z. B. die Arbeiten von G. Stiehler über „Gesellschaft und Geschichte" (1974), von • W. Eichhorn I, A. Bauer und G. Koch über „Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen" (1975) und v o n H e p p e n e r , U. Schirmerund E. -A. Wieland über „Sozialistische Produktionsweise" (1981) 5 Jonas, W„ 1964, S. 12. 6 MEW, Bd. 27, 1973, S. 452. 7 Ebenda, Bd. 4, 1974, S. 130. 8 Lenin, W. I., Bd. 19, 1968, S. 5. 9 Vgl. beispielsweise die diesbezüglichen Ausführungen in Stalins Aufsatz „Über dialektischen und historischen Materialismus" (Stalin, J., 1951, S. 665 ff.) sowie Politische Ökonomie, 1955, S. 10.

Versammlung eines Arbeiterbildungsvereins (um 1868)

10 MEW, Bd. 4,1974,S. 181. 11 Lenin, W.I., Bd. 29, 1970, S. 352. 12 Ebenda, Bd. 32, 1972, S. 239. 13 Ebenda, Bd. 29, 1970, S. 416. 14 Zum Verhältnis von Logischem und Historischem in der Darstellung vgl. Handbuch Wirtschafts' geschickte, 1981, S. 37 f., 42 ff.

ihre Bestandteile? Ist beispielsweise in der von Philosophen gern zitierten Aussage, daß „die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst" sei, 10 der Begriff im wirtschaftswissenschaftlichen oder im übertragenen Sinne verwendet, und, wenn ersteres der Fall, trifft diese Aussage dann auch auf vorkapitalistische Gesellschaftsformationen zu? Dürfen wir Lenins Aussage „Die erste Produktivkraft der ganzen Menschheit ist der Arbeiter, der Werktätige", 11 in dem Sinne interpretieren und verallgemeinern, daß der Mensch die entscheidende oder auch die Hauptproduktivkraft sei? Gehören zu den Werktätigen nur die mit der Erzeugung von Produktionsmitteln und Konsumgütern unmittelbar Beschäftigten, oder gehören zu ihnen auch die Leiter des Produktionsprozesses? Sind es nur sozialistische Betriebsleiter, die eine produktive Arbeit leisten, oder tun dies auch Kapitalisten, Sklavenaufseher und Manager? — Warum entwickeln sich eigentlich die Produktivkräfte? Gibt es „Triebkräfte der Produktivkräfte", und wo sind diese angesiedelt? Welche Rolle spielen solche Widersprüche wie die innerhalb des Systems der Produktivkräfte, zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, zwischen Produktion und Konsumtion und so weiter? Nimmt die Rolle solcher Faktoren wie zum Beispiel der natürlichen Umwelt, der Bedürfnisse, der gesellschaftlichen Formen des Bewußtseins usw. im Entwicklungsprozeß der Produktivkräfte zu oder ab? — Welche Reichweite besitzen Aussagen wie beispielsweise die, daß der „Zustand der Produktivkräfte . . . Hauptkriterium der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung" sei, 12 daß „die Arbeitsproduktivität... in letzter Instanz das allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung" 13 sei? Gelten sie von allem Anfang an oder erst bei Erreichen einer bestimmten - wodurch bestimmten? - Stufe der Entwicklung einer Gesellschaftsordnung? Und gibt es eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte, die sich nicht in einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität niederschlägt? Was verstehen wir dabei unter Arbeitsproduktivität - nur die Produktivität der lebendigen Arbeit oder auch die Effektivität der vergegenständlichten Arbeit, beziehen wir sie nur auf die Produktionsarbeiter oder auch auf in anderen Teilen des Reproduktionsprozesses Beschäftigte, wie zum Beispiel Angestellte, Vorarbeiter und Wissenschaftler? Nun konnte es nicht die Aufgabe der vorliegenden Monographie — und schon gar nicht der Einleitung — sein, diese — nur einen winzigen Ausschnitt aus der mit dem Begriff „Produktivkräfte" umfaßten Gesamtproblematik darstellenden — Probleme einer logisch-systematischen Untersuchung zu unterziehen. Die Aufgabe der vorliegenden Monographie ist, wie gesagt, eine wesentlich andere, insofern es hier um eine räumlich wie zeitlich beschränkte historische Darstellung geht, von der die Autoren zwar hoffen, daß sie auch zur Entwicklung einer Theorie der Produktivkräfte beiträgt, gleichzeitig aber wissen, daß sie eben keine logische Darstellung im Sinne von Engels ist. 14 Daher sind auch eine ganze Anzahl der oben beispielhaft angeführten Fragen erst das Resultat der in den drei Bänden vorgelegten Forschungsergebnisse. 14

0.2.

Arbeit als Naturnotwendigkeit

„ . . . der Mensch ist ein Teil der Natur." Diese Aussage des 26jährigen Marx15 ist durch Alltagserfahrung und wissenschaftliche Analyse mannigfach bestätigt worden, und zwar in fünffacher Hinsicht: Erstens ist der Jetztmensch (Neanthropus) als Vertreter der biologischen Art Homo sapiens ein Produkt der biologischen Evolution; zweitens ist die Erhaltung der Art von dem biologischen Vorgang der Fortpflanzung abhängig; drittens ist die Erhaltung des Individuums an den biochemischen Vorgang des Stoffwechsels gebunden, dessen Ausgangsstoffe aus der Umwelt aufgenommen und dessen Endstoffe an die Umwelt wieder abgegeben werden müssen - ein Aufhören des Stoffwechsels führt innerhalb kurzer Zeit zum biologischen Tod des Individuums; viertens findet der Mensch die Ausgangsstoffe dieses Stoffwechsels nur in der Natur vor, und zwar entweder unmittelbar - als das in seiner vorgefundenen Beschaffenheit unabhängig von der Tätigkeit des Menschen Entstandene - oder mittelbar, als Gegenstand, den der Mensch durch den Gebrauch seiner natürlichen Kräfte und im Einklang mit den Naturgesetzen so verändert, daß er in den Stoffwechsel des Menschen eingehen kann; fünftens tritt der Mensch im Prozeß der Umwandlung des vorgefundenen Gegenstandes in einen Ausgangsstoff des Stoffwechsels, wie Marx formuliert, „dem Naturstoffselbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen."16 Dieser Vorgang ist der Arbeitsprozeß, und zwar in seiner elementaren Gestalt. Er kann nicht außerhalb der Natur stattfinden. „Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums", wird manchmal aus Engels Bemerkungen zum „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" zitiert17 und dabei übersehen, daß er fortfährt: „ . . . sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies - neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt."18 Ganz klar formulierte auch Marx: „Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter." 19 Die Arbeit ist „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Notwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln",20 sie ist „zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur . . . , worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert."21 Die Arbeit ist also Mittel zum Zweck, wobei der Zweck zunächst ein natürlicher ist, weil der von Marx hier tatsächlich (und in Ubereinstimmung mit den Resultaten naturwissenschaftlicher Forschung) gemeinte Stoffwechsel ein biochemischer Vorgang ist und der Erhaltung von Individuum und Art dient. Der Stoffwechsel ist, wie eingangs vermerkt, Naturnotwendigkeit für jedes einzelne Individuum. Arbeit ist offensichtlich eine Naturnotwendigkeit anderer Art, denn bestimmte Menschengruppen arbeiten gar nicht oder nur unter außergewöhnlichen historischen Umständen: Kinder, Kranke, Greise, parasitäre Ausbeuter und zu deren Dunstkreis gehörige Günstlinge, parasitäre Konsumenten. Sie alle werden durch die Arbeit anderer ernährt. Dabei ist offensichtlich die Ernährung der nichtarbeitenden Kinder selbst wieder Naturnotwendigkeit im Sinne der Erhaltung der Art, die Ernährung der Kranken und Greise sich historisch herausbildende22 gesell-

Landwirtschaftliche Geräte (um 9 000 v.u.Z.) - Pflanzstock, Grabgabel, einfacher Pflug und Hacke

15 MEW, Erg.-Bd. 1, 1973, S. 516. 16 Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 192. 17 Vgl. z. B. Lehrbuch Politische Ökonomie, Vorsozialistische Produktionsweisen, 1972, S. 27. 18 MEW, Bd. 20, 1973, S. 444. 19 Ebenda, Bd. 23,1974, S. 58. Vgl. auch ebenda, Bd. 19,1976, S. 15. 20 Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 57. 21 Ebenda, S. 192. 22 Vgl. Gramsch, B„ 1980, S. 127, der dies schon für paläanthropine Jagdgesellschaften belegt.

23 Marx, K., 1974, S. 505. 24 Die Hervorhebung erscheint uns unter zwei Gesichtspunkten notwendig. Erstens sind unter bestimmten historischen Umständen Menschen gezwungen, zur Erhaltung ihrer physischen Existenz als „Natursubjekt" (Terminus ebenda, S. 426 bzw. 427) Arbeiten zu verrichten, die nicht naturnotwendig im Sinne der Erhaltung der Art sind: Diener, Huren usw. Diesem, dem Individuum rein äußerlichen Zwang gegenüber steht der innere, dem Individuum eigene Zwang, der zuweilen Berufung (in Unterscheidung zum Beruf) genannt wird. Wer, auch unter widrigsten Umständen, schreiben muß, forschen muß, dichten muß, dies aus innerster Berufung tut, der geht ohne diese Tätigkeit zugrunde. Dieser innere Zwang vollzieht sich in hohem Maße unabhängig vom Wissen und Wollen desjenigen, der ihm unterliegt, ist insofern ein Stück seiner Natur, für die er selber kaum verantwortlich zeichnet. 25 MEW, Bd. 25, 1973, S. 828. 26 Marx, K„ 1974, S. 426.

schaftliche Gerechtigkeit und die Ernährung der parasitären Konsumenten und Ausbeuter historisch vergängliche (aber noch nicht vergangene) Realität. Die Charakterisierung der Arbeit als Naturnotwendigkeit bezieht sich also—wie die Charakterisierung der Fortpflanzung als Naturnotwendigkeit—nicht auf das Individuum als einzelnes Natursubjekt, sondern, biologisch gesprochen, auf die Art, soziologisch gesprochen, auf die Gesellschaft. „Arbeit als Naturnotwendigkeit" ist daher nicht als Metapher zu nehmen, sondern im wörtlichen Sinne: Die Reproduktion des Individuums und damit der biologischen Art Homo sapiens ist an den Vorgang der Arbeit gebunden, die Arbeit ist also auch im biologischen Sinne notwendig zur Erhaltung der Art. Arbeit als Naturnotwendigkeit ist nicht identisch mit Arbeit im weiteren Sinne des Wortes. So spricht Marx über zukünftige Arbeit als „travail attractif, Selbstverwirklichung des Individuums . . w a s keineswegs meint, daß sie bloßer Spaß sei, bloßes amusement, wie Fourier es sehr grisettenmäßig naiv auffaßt. Wirklich freie(s) Arbeiten z. B. Komponieren ist grade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung."23 Aber ist Komponieren Naturnotwendigkeit im Sinne der Erhaltung der Art?24 Offensichtlich nicht, denn freies Arbeiten ist keine Naturnotwendigkeit, beide werden bei Marx streng voneinander unterschieden: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assozüerten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur (Stoffwechsel hier im übertragenen Sinne - d. Vf.) rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle zu bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gibt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann." 25 Marx unterscheidet also jene menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gibt, von jener Arbeit, die als Naturnotwendigkeit innerhalb der Sphäre der materiellen Produktion geleistet werden muß. Festzuhalten bleibt weiterhin, daß Arbeit als Naturnotwendigkeit nach Marx' Auffassung auf den Bereich der materiellen Produktion beschränkt ist, ein Bereich allerdings, der sich erweitert und daher wirtschaftshistorisch zu bestimmen ist. Das schließt die Beantwortung der Frage ein, wie sich „die Verwandlung dessen, was überflüssig erschien, in Notwendiges, geschichtlich erzeugte Notwendigkeit"26 innerhalb der Menschheitsgeschichte vollzogen hat. Arbeit als Naturnotwendigkeit vollzieht sich innerhalb der Sphäre der materiellen Produktion, konstituiert in ihrem Vollzug erst diese Sphäre, deren Umfang aber wirtschaftshistorisch bestimmt ist. Den Prozeß, in dem sich Arbeit als Naturnotwendigkeit realisiert, bezeichnen wir als unmittelbaren Arbeitsprozeß. Die Kräfte, Mittel, Gegenstände und Prozesse, die innerhalb dieses unmittelbaren Arbeitsprozesses wirken, bezeichnen wir als Produktivkräfte. Sie werden erst durch diese ihre Nutzung zu Produktivkräften, ungenutzt stellen sie lediglich Produktionspotential („potentielle Produktivkräfte") dar. Produktivkräfte „an sich", außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, gibt es nicht. Umgekehrt kann die Arbeit als Naturnotwendigkeit nicht ohne Verwandlung von Produktionspotenz in Produktivkraft realisiert werden. Es gibt keinen unmittelbaren Arbeitsprozeß „an sich", getrennt von den Produktivkräften. Im unmittelbaren Arbeitsprozeß realisiert sich die Arbeit als Naturnotwendigkeit. In ihm eignet sich der Mensch die ihn umgebende Naturpraktisch an, und zwar in der Weise, daß er als Träger der Arbeitskraft beziehungsweise als Arbeitskraft mit den 16

3 Steinzeitliche Werkzeuge

ihm zur Verfügung stehenden Arbeitsmitteln und Produktionsverfahren auf die ihn umgebende Natur als seinem Arbeitsgegenstand einwirkt. In diesem Sinne bringen die Produktivkräfte das praktisch-gegenständliche Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen und Kräften der Natur zum Ausdruck, bringt deren Entwicklung die Entwicklung dieses Verhältnisses zum Ausdruck. Das geistige Verhältnis des Menschen zu den Gegenständen und Kräften der Natur findet seinen Ausdruck hingegen nicht nur in den Produktivkräften, sondern ebenso in der Kunst, in der Ideologie und so weiter, Produkten also, die nicht notwendigerweise innerhalb, ja zumeist sogar außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses erzeugt werden. Das Resultat des unmittelbaren Arbeitsprozesses ist das materielle Produkt. Es unterscheidet sich vom geistigen Produkt, das sich ja auch materialisiert darstellen muß, dadurch, daß es in seinem Gebrauch verbraucht wird, indem es Gegenstand oder Mittel eines anderen Arbeitsprozesses wird oder in den unmittelbaren Konsumtionsprozeß eingeht. In beiden Fällen wird es verbraucht. Von seinem Resultat her betrachtet, konstituiert der unmittelbare Arbeitsprozeß die Sphäre der materiellen Produktion. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die dort geleistete Arbeit als produktive Arbeit, die außerhalb dieser Sphäre geleistete als unproduktive Arbeit. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei vermerkt, daß unproduktive Arbeit als sinnvolle Tätigkeit nützliche Arbeit und unter bestimmten Umständen für den Fortgang des unmittelbaren Arbeitsprozesses notwendige Arbeit ist.27 Begreifen wir aber erstens Arbeit als Naturnotwendigkeit, als eine dem Menschen von Natur aus zukommende Eigenschaft, und zweitens die Produktivkräfte als Existenzbedingung des unmittelbaren Arbeitsprozesses, dann können wir Natur und Gesellschaft nicht als zwei schlechterdings verschiedene Dinge betrachten, an deren „Nahtstelle" 28 die Produktivkräfte angesiedelt sind. Vielmehr ist unseres Erachtens in den Produktivkräften gerade die Einheit von Natur und Gesellschaft realisiert. Eine derartige Fassung des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft zwingt uns jedoch, die allgemeine Rede, der Mensch befreie sich im Laufe seiner Entwicklung in immer stärkerem Maße aus der Abhängigkeit von der Natur, zu präzisieren, ihren rationalen Kern zu erfassen. Zuvor muß jedoch auf eine grundlegende Einseitigkeit unseres Versuchs, das System der Produktivkräfte begrifflich zu fassen, aufmerksam gemacht werden, eine Einseitigkeit, die sich aus der isolierten Betrachtung des (unmittelbaren) Arbeitsprozesses ergibt. Marx analysiert die Elemente des Systems der Produktivkräfte an17

27 Vgl. MEW, Bd. 23, 1974, S. 531 f.; Bd. 26.1, 1974, S. 382 f. 28 Vgl. Stiehler, G„ 1974, S. 75; Heppener, SJSchlrmer, UJ Wieland, E.-A., 1981, S. 15.

29 30 31 32

MEW, Bd. 23, 1974, S. 198. Ebenda, S. 203. Ebenda, S. 209. Zu Produktionsverhältnissen im engeren und im weiteren Sinne vgl. Wagner, H., 1981, S. 67. 33 MEW, Bd. 23, 1974, S. 201.

hand des Arbeitsprozesses, stellt sie als dessen einfache und abstrakte Momente dar.29 Dieser Analyse folgt bei Marx die des Wertbildungsprozesses, zu der er ausdrücklich vermerkt, daß „die Arbeit jetzt von einem ganz anderen Gesichtspunkte zu betrachten (ist), als während des Arbeitsprozesses."30 Entsteht im Arbeitsprozeß ein Gebrauchswert, so im Wertbildungsprozeß der Wert. Dieser Prozeß liegt außerhalb unserer Betrachtung, erst recht der Verwertungsprozeß des Kapitals, der „ein über.einen gewissen Punkt hinaus verlängerter Wertbildungsprozeß" ist.31 Die Einbeziehung dieses Aspekts würde bedeuten, nicht nur das System der Produktivkräfte zu betrachten, sondern darüber hinaus das System der Produktionsverhältnisse im engeren Sinne.32 Schließlich würde eine Analyse des Produktionsprozesses als „Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß"33 zur Betrachtung der Produktionsweise als der Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen führen. Eine solche Darstellung hat Marx für die kapitalistische Produktionsweise im ersten Band des „Kapitals" vorgenommen, dessen Untertitel deshalb „Der Produktionsprozeß des Kapitals" lautet. Die Zielstellung, unter der diese Einleitung geschrieben worden ist, mußte eine wesentlich bescheidenere sein. Wir wollten durch eine genauere Betrachtung des unmittelbaren Arbeitsprozesses zu einer exakteren Bestimmung dessen, was unter Produktivkräften zu verstehen ist, gelangen; die Produktionsverhältnisse werden nur unter diesem Aspekt betrachtet. Weil es aber gerade um die exaktere Bestimmung dessen, was unter Produktivkräften zu verstehen ist, geht, muß zumindest der Ausgangspunkt dieser Bestimmung begrifflich klar fixiert sein. Diese Fixierung ist von Marx in oben angeführter Weise vorgenommen worden. Wir werden daher konsequent vermeiden, dort das Wort „Produktionsprozeß" zu verwenden, wo in der Tat der Begriff,, (unmittelbarer) Arbeitsprozeß" zu verwenden ist.

0.3.

Die- Elemente des Systems der Produktivkräfte sind schon bei der Betrachtung des unmittelbaren Arbeitsprozesses genannt worden: Arbeitskraft, Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel. Jedes dieser Elemente hat, für sich genommen, außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses keine Existenz. Die drei den Arbeitsprozeß konstituierenden Elemente werden durch ihn erst als solche konstituiert. Im folgenden seien sie einer näheren Betrachtung unterzogen.

0.3.1. Arbeitskraft und Arbeitsvermögen

Die Arbeitskraft ist, wie Marx schreibt, eine Naturkraft, 34 ist ein „in menschlichen Organismus umgesetzter Naturstoff". 35 Sie umfaßt von ihrer natürlichen Grundlage her die Gesamtheit aller physischen und psychischen (körperlichen und geistigen) Kräfte ihres Trägers, des Menschen.36 Daher können wir auch sagen, daß der Mensch im unmittelbaren Arbeitsprozeß als Arbeitskraft fungiert, und zwar in diesem der deutschen Sprache eigenen Doppelsinn: Er ist Träger der Arbeitskraft, und er ist selber Arbeitskraft, Teil einer Masse von Arbeitskräften. Zur Vermeidung von Mißverständnissen werden wir den im unmittelbaren Arbeitsprozeß als Träger von Arbeitskraft fungierenden Menschen als Arbeitenden bezeichnen; dies auch deshalb, weil der von Marx in diesem Zusammenhang bevorzugte Begriff des Arbeiters heute soziologisch festgelegt ist auf eine besondere Klasse von Arbeitenden: wo Marx bei Analyse des Arbeitsprozesses in seiner elementaren Gestalt vom Arbeiter spricht, ist auch derjenige, der beispielsweise in der Landwirtschaft als Bauer arbeitet, gemeint. Arbeitskraft als Element des Systems der Produktivkräfte ist in ihrer entwickelten Gestalt eine nur dem Menschen eigene Kraft. Tiere, die im Dienste des Menschen Leistungen erbringen (Transportleistungen durch Pferde und Elefanten, Erzeugungsleistungen durch Kühe, Schafe, Seidenspinner, Überwachungsleistungen durch Hunde), zählen nicht zu den Arbeitenden, sondern zu den Produktionsmitteln. Wir werden daher nur von Arbeitskraft sprechen, denn von ihren im Verlaufe der biologischen Evolution entstandenen Vorformen der Arbeitskraft abgesehen,37 ist der Begriff „menschliche Arbeitskraft" eigentlich ein Pleonasmus.38 18

Elemente des Systems der Produktivkräfte

34 Ebenda, S. 192. 35 Ebenda, S. 229 Anm. 27. 36 Diese Unterscheidung nach Behrens, F., 1967, S. 120. 37 Vgl. hierzu Kuczynski, Th., 1984. 38 Genauso wie aktual der Terminus „biotisches Leben" ein Pleonasmus ist und historisch das Leben nur aus unbelebter Materie entstehen konnte, also Resultat präbiotischer Evolution war.

Die Arbeitskraft verkörpert sich in den Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen der Arbeitenden, die in ihrer Gesamtheit das individuelle beziehungsweise gesellschaftliche Arbeitsvermögen darstellen. Arbeitskraft und Arbeitsvermögen sind ihrem Inhalt nach einerseits identische Begriffe.39 Wegen der oben genannten Doppeldeutigkeit des Begriffs Arbeitskraft und aufgrund der Tatsache, daß das Wirken der Arbeitskraft allein im Arbeitsprozeß — und nicht im Verwertungsprozeß — betrachtet wird, wollen wir im folgenden von Arbeitsvermögen sprechen. Die Fähigkeiten, die der Arbeitende in den unmittelbaren Arbeitsprozeß einbringt, werden Arbeits- oder Leistungsfähigkeiten genannt. Als anatomisch-physiologische und psychische Voraussetzungen für die Arbeit des einzelnen sind sie jener Teil des Arbeitsvermögens, der noch am ehesten als „natürliche" Verkörperung von Arbeitskraft verstanden werden könnte. Wenn wir aber bedenken, daß eine scheinbar so elementar-biologische Tatsache wie der ausgeprägte Sexualdimorphismus des menschlichen Skeletts — gegenwärtig ist das weibliche zumeist graziler und das männliche robuster - eine Folge der Arbeitsteilung ist,40'dann wird schon deutlich, in welchem Maße auch dieser Teil des Arbeitsvermögens gesellschaftlich determiniert ist. Durch den Arbeitsprozeß selbst wie auch durch die äußeren Arbeitsbedingungen können die Leistungsfähigkeiten des Arbeitenden in beträchtlichem Maße gesteigert, beispielsweise durch stetige Übung, und durch dauernde Überbelastung verringert werden. Die psychische Komponente der Leistungsfähigkeiten, die ihren Ausdruck in der individuellen Leistungsbereitschaft findet, ist in ganz besonderem Maße gesellschaftlich determiniert, darüber hinaus abhängig davon, wie der Arbeitende „sich fühlt" (aus psycho-physiologischer Sicht), welche Persönlichkeitsstruktur er aufweist und so weiter.41 Hieraus ist ersichtlich, daß ein Teil, und zwar ein historisch immer größer werdender Teil der Arbeitsfähigkeiten, vor Eintritt in den unmittelbaren Arbeitsprozeß im Rahmen von Erziehung, Bildung und Ausbildung übermittelt und geformt wird. Zu den Fähigkeiten im weiteren Sinne zählt, sich Wissen anzueignen und im unmittelbaren Arbeitsprozeß anzuwenden. Die Gesamtheit des Wissens, das der Arbeitende oder ein Arbeitskollektiv innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses anwendungsbereit zur Verfügung hat, sind die Arbeitskenntnisse. Einen beträchtlichen Teil davon erwirbt der Arbeitende beim Arbeiten: Er lernt es, indem er es tut (learning by doing). Hiervon zu unterscheiden ist jenes anwendungsbereite Wissen, das dem Arbeitenden vor Eintritt in den unmittelbaren Arbeitsprozeß auf dem Wege der Bildung und Ausbildung vermittelt worden ist. Es gehört als „allgemeines gesellschaftliches Wissen" zu den „geistigen Produktivkräften". 42 Sein Anteil ist durch den Ausbau des Schul- und Berufsschul- sowie des Hoch- und Fachschulwesens in den letzten 150 Jahren beträchtlich im Steigen begriffen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß das dort vermittelte Wissen - im Unterschied zur handwerklichen Lehrlingsausbildung - wesentlich auch Gebiete umfaßt, die kein im unmittelbaren Arbeitsprozeß anwendbares Wissen darstellen, insofern nicht zu den Arbeitskenntnissen zählen. Das ist kein Negativum, denn schulische Einrichtungen haben nicht die Aufgabe, nur Arbeitskräfte mit anwendungsbereitem Wissen auszustatten, sondern Menschen so zu erziehen und auszubilden, daß sie sich möglichst allseitig und nicht möglichst einseitig, allein im unmittelbaren Arbeitsprozeß, entwickeln. Ein Teil des sich nicht in Kenntnisse verwandelnden Wissens kann auch auf andere, mehr oder minder stark vermittelte Weise wirksam werden. So dürfte die Leistungsfähigkeit des Arbeitenden auch durch seine Arbeitseinstellung beeinflußt werden, die wiederum von im Erziehungs- und Bildungsprozeß angeeigneten politischen, ideologischen und moralischen Überzeugungen abhängig ist. Zwar wird dieses Wissen nicht direkt wirksam, da es weder zu den Arbeitskenntnissen noch zu den Arbeitsfähigkeiten gehört, aber es hat einen Einfluß auf den unmittelbaren Arbeitsprozeß. Das dritte Moment des Arbeitsvermögens stellen die Arbeitsfertigkeiten dar. Das sind jene durch Übung automatisierten Komponenten der Arbeitstätigkeit, die ohne die bewußte Kontrolle des Arbeitenden verlaufen, bei denen im Gegenteil die bewußte Kontrolle erst im Falle von Fehlleistungen einsetzt.43 Manifestiert sich in den Kenntnissen das Wissen des Arbeitenden, so in den Fertigkeiten sein Können. Dabei ist klar, daß Können auf Kenntnis basiert, denn im arbeitswissenschaftlichen Sinne 19

39 Vgl. Arbeitsökonomie, 1982, S. 147. 40 Vgl. Grimm, H., 1981, S. 175. 41 Vgl. Arbeitswissenschaften für Ingenieure, 1973, S. 163 ff. 42 Termini nach Marx, K., 1974, S. 594, 402. 43 Vgl. Hacker, IV., 1980, S. 317 ff.

44 Vgl. Arbeitsökonomie, S. 228 ff.

1982,

0.3.2. Arbeitsgegenstand

45 MEW, Bd. 23, 1974, S. 198. 46 Ebenda, S. 195 Anm. 5a.

automatisiert werden kann nur jene Tätigkeit, die zuvor gelernt worden ist. Jedoch kann dies ursprüngliche Wissen beim „Könner" so stark in den Hintergrund gedrängt werden, daß er im wörtlichen Sinne nicht mehr weiß, was er tut. Wer seine Arbeit „im Schlaf" beherrscht, ist ein solcher Könner, und er weiß nicht, was er tut; das aktualisierte Wissen würde hier nur störend wirken. Arbeitsfähigkeiten, -kenntnisse und -fertigkeiten (oder auch Anlagen, Wissen und Können) zeichnen die Arbeitskraft aus, die im unmittelbaren Arbeitsprozeß wirkt. Diese Elemente des Arbeitsvermögens werden inner- wie außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses entwickelt, wobei die Arbeitsfähigkeiten, die Anlagen, zum ganz überwiegenden Teile außerhalb, die Arbeitskenntnisse, das Wissen, in steigendem Maße außerhalb und die Arbeitsfertigkeiten, das Können, zum ganz überwiegenden Teile innerhalb des Arbeitsprozesses produziert werden. Ihre Reproduktion erfolgt hingegen vor allem durch ihren Gebrauch, beim Arbeiten: Ungenutzte Anlagen verkümmern, ungenutztes Wissen wird vergessen, ungenutzte Fertigkeiten gehen verloren. Sie sind für eine Geschichte der Produktivkräfte insofern von Interesse, daß die Differenz zwischen potentiellem und tatsächlich genutztem Arbeitsvermögen - von der auch auf diesem Gebiet notwendigen Reservebildung abgesehen44 - ein Gradmesser für die Vernichtung von Produktionspotenz ist.

Der Arbeitsgegenstand ist dasjenige, was im unmittelbaren Arbeitsprozeß bearbeitet wird. Ob etwas als Arbeitsgegenstand bezeichnet werden kann, hängt also allein davon ab, ob es im unmittelbaren Arbeitsprozeß bearbeitet wird oder nicht. Arbeitsgegenstände „an sich" gibt es nicht. Unter dem Gesichtspunkt, daß sich in den Produktivkräften das Verhältnis des Arbeitenden zur Natur verkörpert, gehören zu ihnen selbstverständlich jene Naturobjekte, die be- oder verarbeitet werden. Wie weit die im unmittelbaren Arbeitsprozeß erfolgende „Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse" 45 fortgeschritten ist, dafür sind die in Arbeitsgegenstände verwandelten Naturobjekte sogar ein besonders guter Indikator. So vermerkt Marx in einer Note zur zweiten Ausgabe des „Kapital", daß zwar „die bisherige Geschichtsschreibung die Entwicklung der materiellen Produktion, also die Grundlage alles gesellschaftlichen Lebens und daher aller wirklichen Geschichte" nicht kenne, man aber „wenigstens die vorhistorische Zeit. . . nach dem Material der Werkzeuge und Waffen in Steinalter, Bronzealter und Eisenalter abgeteilt" habe. 46 Ob ein Naturobjekt Arbeitsgegenstand werden kann, hängt vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte selbst ab. Ein prägnantes Beispiel hierfür stellt die Nutzung von in der Natur vorhandenen Energieträgern dar. Der erste und zunächst einzig nutzbare Energieträger, der dem Arbeitenden historisch zur Verfügung stand, war seine eigene Arbeitskraft. Noch in der Urgesellschaft kamen rezente Brennstoffe (Holz), Wasser (vorerst nur als Träger von Transportenergie) und Träger kinetischer Energie (z. B. Pfeil und Bogen) hinzu. In der Epoche zwischen agrarischer und Industrieller Revolution lernte der Arbeitende nach und nach, die folgenden Energieträger zu nutzen: Tiere, den fossilen Brennstoff Kohle, Wasser und Wind, deren Energiepotentiale in mechanische und Wärmeenergie umgewandelt wurden. In den vergangenen 200 Jahren schließlich wurden Erdöl und Erdgas sowie Kernspalt- und -fusionsstoffe als Energieträger entdeckt und - mit Ausnahme der letzteren - angewandt. Die Nutzung von Sonne und Erde als Energiequelle (Solarenergie bzw. Erdwärme) steht ebenso wie die der Gezeitenkräfte ganz am Anfang. Aber all diese Energieträger sind als Naturobjekte seit vielen Millionen Jahren, zum Teil noch länger, vorhanden. Erst durch ihre Einbeziehung in den unmittelbaren Arbeitsprozeß werden sie zum Arbeitsgegenstand. Das in ihnen enthaltene Energiepotential wird dabei durch geeignete Arbeitsmittel in nutzbare Energie umgewandelt, zum Beispiel in Elektroenergie und mechanische Energie. Vom in der Natur an sich vorhandenen Naturobjekt sind die Naturressourcen zu unterscheiden, jene Naturobjekte, die bei einem gegebenen Stand der Produktivkräfteentwicklung bekannt und potentiell nutzbar sind, aber noch nicht genutzt werden. Sie sind Teil des Produktionspotentials und nur der objektiv gegebenen Mög20

lichkeit nach Produktivkräfte, keine wirkenden, also keine wirklichen Produktivkräfte. Bekannte, aber noch nicht aufgeschlossene Erdöllagerstätten zählen heute zum Produktionspotential, während sie vor 200 Jahren bloße Naturobjekte darstellDie Naturressource wird, sofern sie ein Stoff ist, im Moment ihrer Isolierung vom Naturganzen, im Moment ihrer Erstbearbeitung zum Rohstoff.47 Hierzu zählen losgebrochene Erze, Rohhäute, gefällte Baumstämme und ähnliches. Der Rohstoff ist Gegenstand weiterer Bearbeitung. Im Prozeß der Be- oder Verarbeitung fungiert er als Material. Dabei sind Grund- und Hilfsmaterial zu unterscheiden. Das Grundmaterial macht die stoffliche Substanz des herzustellenden Produkts aus, zum Beispiel Eisen in der Stahlproduktion oder Wolle in der Garnproduktion. Hilfsmaterial ist dagegen jenes Material, das zwar zur Herstellung des Produkts notwendig ist, aber zumeist nicht in stofflicher Form in das Produkt eingeht. Brenn- und Treibstoffe, Elektroenergie, Schmiermittel und ähnliches sind solche für die maschinelle Herstellung eines Produkts notwendigen Hilfsstoffe. Die Unterscheidung zwischen Grundund Hilfsmaterialien ergibt sich also aus ihrer Rolle, die sie im unmittelbaren Arbeitsprozeß spielen. Sie ist im strengen Sinne nur bei Prozessen durchführbar, die sich auf vornehmlich physikalischer (insbesondere mechanischer) Grundlage vollziehen, bei solchen durch chemische Umwandlungen charakterisierten außerordentlich schwierig und bei biologischen Prozessen, wie sie sich etwa in der Landwirtschaft vollziehen, bedeutungslos. Zu den Arbeitsgegenständen zählen nicht nur Rohstoffe und Material, sondern darüber hinaus alle Produkte, die im unmittelbaren Arbeitsprozeß einer erneuten Bearbeitung unterzogen werden. Das Material, das weiterer Bearbeitung unterliegt, wird Halbfabrikat genannt. Hierher gehören auch die „künstlichen" (synthetischen) Werkstoffe, die in der Gegenwart eine bedeutende Rolle im unmittelbaren Arbeitsprozeß spielen. Auch Abprodukte werden heute in zunehmendem Maße als Sekundärrohstoffe genutzt. Jedoch erscheint es sinnvoll, zwischen jenen Arbeitsgegenständen im engeren Sinne zu unterscheiden, die nur nach einer weiteren Be- beziehungsweise Verarbeitung in die Konsumtionssphäre eintreten können, und jenen Arbeitsgegenständen im weiteren Sinne, die dies auch ohne eine solche weitere Be- beziehungsweise Verarbeitung können. Letztere nennen wir Stufenprodukt. Arbeitsgegenstand im weiteren Sinne kann aber auch ein ursprünglich als Arbeitsmittel fungierendes Ding sein; so sind alle reparaturbedürftigen Arbeitsmittel im Reparaturprozeß Arbeitsgegenstand des Reparateurs.

Jäger mit Pfeil und Bogen (Paläolithikum)

Steinzeitlicher

Bohrer

(um

4 000

v.u.Z.)

47 Zum Terminologischen vgl. Materialwirtschaft,

1982.

48 MEW, Bd. 23, 1974, S. 197. 4 9 Ebenda. 50 Terminus nach ebenda, Bd. 25, 1964, S. 754. 51 Zit. ebenda, S. 193. 52 Marx, K., 1974, S. 594.

0.3.3. Arbeitsmittel

53 MEW, Bd. 23, 1974, S. 194. 54 Ebenda, S. 196.

Ob also „ein Gebrauchswert als Rohmaterial, Arbeitsmittel oder Produkt erscheint, hängt ganz und gar ab von seiner bestimmten Funktion im Arbeitsprozesse, von der Stelle, die er einnimmt, und mit dem Wechsel dieser Stelle wechseln jene Bestimmungen." 48 Hieraus ergibt sich eine weitere ganz wesentliche Tatsache: So wie die Naturressource lediglich Produktionspotential ist, so ist auch das Produkt keine Produktivkraft. Der unmittelbare Arbeitsprozeß „erlischt im Produkt" und „durch ihren Eintritt als Produktionsmittel in neue Arbeitsprozesse verlieren P r o d u k t e . . . den Charakter des Produkts. Sie funktionieren nur noch als gegenständliche Faktoren der lebendigen Arbeit." 49 Das Produkt als solches ist keine Produktivkraft. Die Existenz von Naturstoffen und Naturkräften läßt die Natur als den großen Lieferanten von „Gratisproduktivkräften" 50 erscheinen. Sie ist dies allerdings mit zwei wesentlichen Einschränkungen. Erstens ist die Aneignung der Naturstoffe und -kräfte schon ein Teil des unmittelbaren Arbeitsprozesses. Wer etwa die von der Natur gratis gelieferten Kernbrennstoffe wirklich als Kernbrennstoffe nutzen will, der muß ein gehöriges Stück Arbeit investieren, und er kann dies nur tun, weil er auf der im Verlaufe der Menschheitsgeschichte geleisteten Arbeit aufbauen kann. „Die naturwüchsigen Erzeugnisse der Erde, die in geringen Mengen und ganz unabhängig vom Menschen vorkommen, scheinen", so zitiert Marx James Stuart, „von der Natur in der gleichen Art gegeben zu sein, wie man einem jungen Mann eine knappe Summe gibt, um ihn auf den Weg des Fleißes und des Reichwerdens zu führen." 5 1 Zweitens wird das einst gratis Gelieferte heute in steigendem Maße selber erarbeitet. An die Stelle der ehemals in Mitteleuropa vorhandenen Urwälder ist der vom Menschen geschaffene Forst getreten, an die Stelle des jungfräulichen Bodens der schon bearbeitete Acker und an die Stelle des in der Natur gratis vorhandenen Wildes das domestizierte Nutztier. Es ist nicht mehr nur die Natur an sich, die den Menschen umgibt, sondern in steigendem Maße die schon gesellschaftlich angeeignete, das heißt die gesellschaftlich veränderte Natur. Im übertragenen Sinne trifft auf den Arbeitsgegenstand und dessen historische Entwicklung dasselbe zu, was Marx zu den Arbeitsmitteln vermerkte: „Die Entwicklung des capital fixe (das im Kapitalismus die Gesamtheit der Arbeitsmittel umfaßt - d. Vf.) zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden i s t . . ," 52 Wer den Basaltstein als Arbeitsgegenstand für die Herstellung eines Faustkeils nutzt oder auch das Rasenerz für die Herstellung von Eisenluppen, der braucht empirisches Wissen, Erfahrung und Fertigkeiten, aber kein allgemeines gesellschaftliches Wissen, das stets Produkt der Wissenschaft ist. Wer dagegen Kernbrennstoffe und künstliche Werkstoffe zum Gegenstand seiner Arbeit machen will, der benötigt im unmittelbaren Arbeitsprozeß jenes allgemeine gesellschaftliche Wissen, das Marx mit gutem Grund weder experience (Erfahrung) noch science (Wissenschaft), sondern knowledge (Wissen) nennt, und dieses Wissen ist kein bloßes Schulwissen, sondern anwendungsbereites Wissen, das zu den Kenntnissen des Arbeitenden, zu seinem Arbeitsvermögen zählt.

Das Arbeitsmittel, so definiert Marx, „ist ein Ding oder ein Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand s c h i e b t . . . Der Gegenstand, dessen sich der Arbeiter unmittelbar bemächtigt - abgesehn von der Ergreifung fertiger Lebensmittel, der Früchte z. b., wobei seine eignen Leibesorgane allein als Arbeitsmittel dienen - ist nicht der Arbeitsgegenstand, sondern das Arbeitsmittel. So wird das Natürliche selbst zum Organ seiner Tätigkeit, ein Organ, das er seinen eignen Leibesorganen hinzufügt, seine natürliche Gestalt verlängernd . . ." 53 Marx unterscheidet Arbeitsmittel im engeren und im weiteren Sinne, auf die noch einzugehen sein wird; zu den Arbeitsmitteln im engeren Sinne zählt er die Arbeitsinstrumente (auch Produktionsinstrumente genannt) auf der einen Seite und auf der anderen die Behälter des Arbeitsgegenstandes, die in ihrer Gesamtheit das „Gefäßsystem der Produktion" 54 ausmachen. Insofern die Transportmittel als Mittel zur Ortsveränderung zumeist Transportgefäß und Antriebsmittel in sich vereinen, können sie als solche weder ganz zu den Arbeitsinstrumenten noch ganz zum Gefäßsy22

6 Bergmännische Werkzeuge - A: Keilhaue, B: Kratze, C: Schaufel, D: Schlägel (auch Fäustel), E: Eisen

8 Die „Schleife", ein Vorläufer des Wagens (10 000 v.u.Z.)

23

Bockwindmühle in Germendorf (um 1816)

10

Getriebe und Stampfwerk in Dorfchemnitz (1744 in eine Malzmühle aus dem 16. Jahrhundert eingebaut)

55 Die Transportmittel, die nicht für den innerbetrieblichen Transport gedacht sind, werden häufig auch Verkehrsmittel genannt. 56 Bei unserer Klassifikation sind wir von der bei Wüstneck, K. D., 1965, S. 233 ff., vorgelegten ausgegangen, obwohl wir ihr in vielen Punkten nicht folgen konnten. 57 MEW, Bd. 23, 1974, S. 393. 58 Ebenda, S. 396.

stem gerechnet werden; daher zählen sie zwar zu den Arbeitsmitteln im engeren Sinne, sind aber Arbeitsmittel besonderer Art. 55 Während die Entwicklung der Arbeitsgegenstände ein Gradmesser dafür sein kann, welche Teile der Natur sich der Mensch angeeignet hat beziehungsweise sich anzueignen in der Lage ist, kann man an der Entwicklung der Arbeitsmittel ablesen, auf welche Art und Weise er dies tut. Ein Versuch jedoch, die verschiedenen Entwicklungsetappen voneinander zu unterscheiden, eine historische Klassifikation der Arbeitsmittel im engeren Sinne zu liefern, ist schwierig und wird stets in mancher Hinsicht unvollständig bleiben. Das trifft auch auf die nachfolgende Klassifikation zu.56 Das Arbeitsinstrument in seiner ganz elementaren Gestalt ist das Werkzeug. Von den historischen Anfängen der Menschheitsentwicklung bis zur Gegenwart ist es der sinnfälligste Ausdruck dessen gewesen, was mit der Formulierung, der Arbeitende schiebe zwischen sich und den Arbeitsgegenstand das Arbeitsmittel, gemeint ist. Hammer, Hacke, Messer, Grabestock seien als Beispiele genannt. In seiner ursprünglichen Gestalt ist das Werkzeug ein einzelnes und wird von Hand geführt. Dieser Entwicklungsstufe der Arbeitsinstrumente entsprechen auf seiten des Gefäßsystems beispielsweise der Korb und die Grube. Als Transportmittel fungieren Floß, Einbaum und Schleife. Das Werkzeug existiert auf einem späteren Entwicklungsniveau nicht nur als einzelnes und von Hand geführtes, sondern auch als Teil eines komplexeren Arbeitsinstruments. Ein derartiges Arbeitsinstrument ist in seiner historisch ersten Gestalt das Gerät. Dem Gerät ist in seiner klassischen, zumeist mechanischen Ausprägung eigen, daß die Werkzeuge durch den Mechanismus selbst gehalten werden, während die Führung des Gerätes noch dem Menschen obliegt. Der Vergleich von Grabestock und Pflug, Furchenstock und Egge, Handspindel und Spinnrad usw. zeigt, daß das Gerät sozusagen ein potenziertes Werkzeug ist. Weil das Werkzeug schon ein Teil eines größeren Gesamtmechanismus ist, kann der Arbeitende durch das Führen eines Gerätes mehrere Werkzeuge in Bewegung setzen und so die Produktivität seiner Arbeit vervielfachen. Andere Geräte zeichnen sich dadurch aus, daß sie aus mehreren Werkzeugen zusammengesetzt sind, wie beispielsweise die Drehbank ohne Support, Hebel- und Schraubenwerke. Im Transportwesen fungieren auf dieser Stufe der Entwicklung beispielsweise Segelboote, von Tieren gezogene Wagen oder Hundeschlitten. Charakteristisch für alle Arbeitsgeräte - wie auch für die im Transportwesen verwendeten Geräte — ist, daß der Arbeitende das Gerät von Hand führt. Das ändert sich erst im Ubergang zur Arbeitsmaschine, insbesondere zu dem, was Marx die „entwickelte Maschinerie"57 nennt. Deren Ausgangspunkt bildete „jener Mechanismus, der mit einer Masse derselben oder gleichartiger Werkzeuge auf einmal operiert und von einer einzigen Triebkraft, welches immer ihre Form, bewegt wird."58 24

Daher hat Marx auch solche von Hand betriebenen Arbeitsinstrumente wie die Spinning-Jenny und den Rundwebstuhl als Arbeitsmaschinen betrachtet. 59 Das entscheidende auf dieser Entwicklungsstufe ist also, daß der Arbeitende als Halter und Führer des Werkzeugs aus dem unmittelbaren Arbeitsprozeß ausgeschieden ist. 60 Seine Stellung innerhalb dieses Prozesses hatte sich also grundlegend verändert. Zur Weiterentwicklung dieser einfachen Arbeitsmaschinen bedurfte es des Ubergangs zu anderen Energiequellen als allein der menschlichen Arbeitskraft. Der eminent wichtigen Tatsache Rechnung tragend, daß beim Betreiben derartiger Arbeitsinstrumente wie Wind- und Wassermühlen, Hammer- und Stampfwerken und der entsprechenden Transportgeräte der Arbeitende aus dem unmittelbaren Arbeitsprozeß als Hauptantriebskraft beziehungsweise Hauptlieferant von Antriebsenergie ausgeschieden ist, muß ein qualitativer Unterschied zum einfachen Arbeits- beziehungsweise Transportgerät konstatiert werden. Andererseits konnte der Arbeitende nur jene Antriebsenergien nutzen, die ihm von der Natur gratis geliefert wurden; mögliche Verbesserungen wie beispielsweise die Züchtung von Zugtieren oder die Konstruktion von Wehren für die erhöhte Ausnutzung der Energie des Wassers änderten an dieser Tatsache nicht viel. Daher bildeten diese Vorformen der Maschine auch nicht den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Maschinerie. Aber die an ihnen gewonnenen Erfahrungen konnten bei der Weiterentwicklung der einfachen Arbeitsmaschine genutzt werden. Solche Maschinen wie beispielsweise die wassergetriebene Spinnmaschine Richard Arkwrights bildeten in diesem Sinne die unmittelbare Vorstufe zur entwickelten Maschinerie. Die entwickelte Maschinerie umfaßt Arbeitsmaschinen im engeren Sinne, energieumwandelnde Maschinen („Kraftmaschinen") und hinsichtlich des Transports solche Transportmittel wie Lokomotiven, Kraftfahrzeuge, dampf- beziehungsweise dieselgetriebene Schiffe, Rohrleitungen. An dieser Stelle muß noch ein weiterer Arbeitsmitteltyp genannt werden, der eine Kombination von Arbeitsinstrument und Gefäß darstellt, die Anlage. In ihr laufen vom Arbeitenden initiierte Produktionsverfahren ab, bei denen der Arbeitsgegenstand innerhalb eines „Gefäßes" unmittelbar durch das Arbeitsmittel verändert wird. Das historisch erste Beispiel einer solchen Anlage ist wohl der Brennofen des Töpfers. Wenn Marx die Sphäre der materiellen Produktion, in der sich der unmittelbare Arbeitsprozeß vollzieht, das „Reich der Notwendigkeit" nennt, 61 so dürfen wir in diesem Sinne hinzufügen, daß mit der Anlage innerhalb dieses Reiches ein „Unterreich" existiert, das vom Arbeitenden zwar geschaffen worden ist und von ihm noch kontrolliert und geregelt werden muß, aber nicht mehr von ihm betreten werden darf: Hochöfen, Erdöldestillationsanlagen und Kernreaktoren müssen eben außer Betrieb gesetzt werden, wenn der sie Bedienende sie betreten will. Aller entwickelten Maschinerie ist eigen, daß der Arbeitende sie zu bedienen hat und daß ihre

11 Turmwindmühle in Gohlis (um 1828)

12 Innenansicht des Frohnauer Hammers (um 1657)

59 Ebenda, S. 392. 60 Vgl. Jonas, W./Linsbauer, V./Marx, H., 1969, S. 12 ff. 61 MEW, Bd. 25, 1973, S. 828.

13 Töpicrin am Brennofen (um v.u.Z.)

1200

14 Saigurhüttc in Grünthal/Sachson (1537 gegründet)

62 Vgl. ebenda, Bd. 23, 1.974, S. 445 f. 63 So Ups,./., 1953(b), S. 97.

energetische Grundlage nicht unmittelbar Naturquellen entstammt, sondern aus diesen durch Umwandlung, beispielsweise in Elektroenergie, gewonnen wird. Eine gewisse Weiterentwicklung erfährt die Maschinerie durch die Einführung solcher Kontrollmittel wie Ventile, Signalgeber, selbsttätige Meßsysteme, wodurch der Arbeitende von seiner Kontrollfunktion entbunden und seine Tätigkeit auf Bedienungs- und Steuerungsfunktionen reduziert wird. Das bedeutet zunächst, daß der Arbeitende vollends zum Anhängsel der Maschine wird, denn er muß sich ganz ihrem Arbeitsrhythmus anpassen.62 Sobald die Steuerungsfunktion einem Arbeitsinstrument übertragen wird, können wir von einem Automaten sprechen. Auf einer ersten Stufe funktioniert der Automat nach einem vorgegebenen Arbeitsalgorithmus. In dieser Form ist er als einzelnes Arbeitsinstrument sehr alt. Seine historisch erste, noch ganz unentwickelte Erscheinungsform ist die Fallgrube.63 Auch der nach einem auf Lochkarten eingestanzten Arbeitsalgorithmus tätige Webstuhl von Joseph-Marie Jacquard ist ein derartiger Automat erster Stufe, ein Steuerungsautomat. Das zur Zeit höchstentwickelte Arbeitsinstrument ist der Regelungsautomat mit einer Vielzahl elektronischer Meß- und Kontrolleinrichtungen, auf deren Basis die

Rückkopplungen in Form von Regelkreisen gesteuert werden. Der Regelungsautomat ist ohne „bewußte technische Anwendung der Wissenschaft" nicht konstruierbar, 64 ist als „vergegenständlichte Wissenskraft" Teil des „capital fixe, das als beseeltes Ungeheuer den wissenschaftlichen Gedanken objektiviert".65 Eine kurze Betrachtung des Automaten in seiner über das Dasein als Arbeitsinstrument hinausgehenden Bestimmung innerhalb des Systems der Produktivkräfte erfolgt bei der Behandlung des Gegenstandsprinzips als Organisationsform des unmittelbaren Arbeitsprozesses. Neben den Arbeitsmitteln im engeren Sinne gibt es nach Marx noch die Arbeitsmittel im weiteren Sinne. Hierzu zählt er zunächst „die Erde selbst, denn sie gibt dem Arbeiter den locus standi (Standort — d. Vf.) und seinem Prozeß den Wirkungsraum (field of employment)."66 Alle Orte und Örtlichkeiten, wo sich der unmittelbare Arbeitsprozeß vollzieht, sind Arbeitsmittel im weiteren Sinne. Dazu gehören unter anderem Werkstätten, Fabrikgebäude, Bahnhöfe, Viehställe, Kanäle, Straßen, Trassen, Acker- und Weideflächen, im Arbeitsprozeß genutzte Flüsse und Wasserflächen, schließlich solche Standorte wie Dörfer, Städte, Ballungsgebiete, sogenannte Kulturlandschaften Und deren räumliche Struktur, die Standortverteilung. Manchmal werden auch Rohrleitungssysteme, Hochspannungsleitungen und ähnliches zu den Arbeitsmitteln im weiteren Sinne gerechnet. Sie sollten aber unseres Erachtens als Arbeitsmittel im engeren Sinne gesehen werden. Der Begriff des Arbeitsmittels im weiteren Sinne umfaßt daher das, was als Standort, als der Ort, wo der unmittelbare Arbeitsprozeß stattfindet (die Standortverteilung eingeschlossen), sowie das, was als Verkehrsinfrastruktur bezeichnet wird.

64 MEW, Bd. 23, 1974, S. 790. 65 Marx, K„ 1974, S. 594, 374. 66 MEW, Bd. 23, 1974, S. 195.

In seiner Untersuchung über „Struktur und Entwicklung der Produktivkräfte in der sozialistischen Gesellschaft" hat Marachow zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß „zu den Produktivkräften . . . eine Reihe von Erscheinungen (gehören), die vom Begriff ,Element' nicht erfaßt werden." 67 Dies ergibt sich schon daraus, daß die Struktur nicht einfach durch eine Menge von Elementen charakterisiert ist, die zusammenhanglos miteinander existieren. Zur Struktur gehören ebenso die Relationen zwischen ihren Elementen. Das System der Produktivkräfte besteht daher nicht nur aus seinen Elementen; ihm zugehörig sind ebenso die Beziehungen zwischen diesen Elementen.

0.4.

Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel im engeren Sinne, summarisch zusammengefaßt, erscheinen als Produktionsmittel.68 Der Prozeß des Zusammenwirkens - also nicht das Resultat des bloßen Zusammenfassens - ist etwas von den Produktionsmitteln verschiedenes, nämlich das Produktionsverfahren. Das Produktionsverfahren als solches, ganz abstrakt gefaßt, ist ein Prozeß, der innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses abläuft, und in dessen Ablauf der Arbeitende nicht oder nur modifizierend eingreift, er also im Prinzip nicht beteiligt ist.69 Als Beziehung zwischen Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand (oder auch zwischen Arbeitsgegenständen) ist das Produktionsverfahren kein Element, sondern eine Beziehung zwischen Elementen des Systems der Produktivkräfte. In der Urgeschichte der Produktionsverfahren sind es die in der Natur selbst ablaufenden Prozesse, in der Moderne handelt es sich um auf der Basis wirkender Naturgesetze konzipierte, in der Natur an sich nicht vorhandene (oder in der von Natur aus vorhandenen Form nicht nutzbare) Prozesse, die einen wesentlichen Bestandteil des unmittelbaren Arbeitsprozesses bilden. Die Unterscheidung dieser Arten von Produktionsverfahren ist stets relativ und schließt verschiedene Ubergangsformen ein. Insbesondere muß der Mensch, der die Natur für sich arbeiten läßt,70 selber gearbeitet haben. Von der einen ihm von Natur aus eigenen Kraft, der Arbeitskraft, abgesehen, ist jede im unmittelbaren Arbeitsprozeß genutzte Naturkraft, jeder dort sich vollziehende Naturprozeß, in einem ganz bestimmten Sinne auch Resultat ver-

0.4.1. Beziehungen zwischen Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel: Produktionsmittel, Produktionsverfahren

27

Beziehungen innerhalb des Systems der Produktivkräfte

67 Marachow, W. G., 1972, S. 20. 68 Vgl. MEW, Bd. 23, 1974, S. 196. 69 Vgl. auch die unter anderem Gesichtspunkt vorgenommene Unterscheidung zwischen Produktions- und Arbeitszeit in ebenda, Bd. 24, 1963, S. 241 ff. 7 0 „Er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze: List" {Hegel, G. W. F., 1969, S. 199).

71 Dabei haben uns die Thesen von Wußing, H., 1975, S. 98 ff. als Anregung gedient. 72 Vgl. Ups, }., 1953(a), S. 15. 73 Vgl. MEW, Bd. 23, 1974, S. 196 Anm. 6. 74 Vgl. ebenda,. Bd. 26.2, 1974, S. 103. 75 Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 407. 76 Wußing, H„ 1975, S. 101. 77 MEW, Bd. 23, 1974, S. 790.

gangener Arbeit, vergegenständlichte Arbeit, denn die Natur arbeitet nur für den, der gearbeitet hat. Eine historische Klassifikation jedoch, wie sie hinsichtlich der Arbeitsmittel im engeren Sinne in aller Unzulänglichkeit vorgelegt worden ist, bezüglich der Produktionsverfahren vorzunehmen, ist nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand kaum möglich. Der nachfolgende Versuch kann nur ein erster Schritt sein.71 Anfangs ist das Produktionsverfahren der Naturprozeß selbst, und zwar in einem solchen Maße, daß Zweifel angemeldet werden können, ob er schon Produktionsverfahren ist, aber Brotfladen, die in der Sonne getrocknet werden, müssen vor ihrer Trocknung (Naturprozeß) hergestellt (Arbeitsprozeß) werden; Raubtierrisse (Naturprozeß) müssen vor ihrem Verzehr ausgeweidet (Arbeitsprozeß) werden; das Wachstum der Pflanzen (Naturprozeß) ist an sich kein Produktionsverfahren, aber bei den Erntevölkern,72 die Vorratswirtschaft betrieben, begann sich der in der Natur an sich ablaufende Prozeß in ein Produktionsverfahren zu verwandeln. Mit zunehmender Erfahrung ist der Arbeitende in der Lage, die vorgefundenen Naturprozesse in ihrem Ablauf zu modifizieren, sie auf diese Weise innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses nutzbar zu machen. Die gesaölte Pflanzenproduktion basiert auf vom Arbeitenden durch Bodenbearbeitung vorbereiteten und durch Aussaat initiierten Produktionsverfahren, deren Verlauf zwar durch weitere Eingriffe wie Bewässerung und Unkrautbekämpfung beeinflußt werden kann, die aber vom Prinzip her in den unmittelbaren Arbeitsprozeß integrierte Naturprozesse darstellen. Fortpflanzungsprozesse domestizierter Nutztiere gehören ebenso zu den Produktionsverfahren wie nach Auffassung von Marx73 der noch nicht gefangene Fisch zu den Produktionsmitteln gehört. Ist die Landwirtschaft auch jener Wirtschaftsbereich, in dem in der Natur sich vollziehende Prozesse als Produktionsverfahren fungierten und die Produktivkraft der Arbeit (Arbeitsproduktivität) in entscheidendem Maße steigern halfen,74 so finden wir doch auch außerhalb der Landwirtschaft derartige Produktionsverfahren: Die Umwandlung von Energie mittels Wasserrad, das Brennen von Tonwaren und Ziegeln, die Metallschmelze im Brennofen und der Transport mittels schiefer Ebene (Rutschen u. ä.) seien genannt. Das von der Natur übernommene Produktionsverfahren setzt auf der Seite des Arbeitenden bloß empirisches Wissen, Erfahrung, voraus, aber nicht Wissen in systematisierter Form, wie es vor allem die Wissenschaft hervorbringt. Der Prozeß muß ihm vom Resultat her bekannt sein, aber wie, auf welche Art und Weise die Natur zu diesem Resultat gelangt, weiß er im Prinzip nicht. Eine „Ersetzung . . . erfahrungsmäßiger Routine durch bewußte Anwendung der Naturwissenschaft"75 erfolgt erst sehr viel später. Auf seiner nächsten Entwicklungsstufe ist das Produktionsverfahren schon ein im wesentlichen in der Natur an sich nicht realisierter „Natur"prozeß. Energieerzeugung mittels Dampfmaschinen, Schwefelsäuregewinnung mittels Bleikammerverfahren und Stahlherstellung mittels Bessemer-Verfahren seien als Beispiele genannt. Ihnen gemeinsam ist, daß bei ihrer Konzipierung neben Erfahrung und empirischem Wissen das durch die Naturwissenschaft gewonnene Wissen in systematisierter Form eine Rolle zu spielen beginnt. Aber dieses Wissen steht als aus der Analyse der Natur an sich gewonnenes in der Tat neben der Arbeitserfahrung, es ist noch nicht das aus der Analyse des Produktionsverfahrens selbst gewonnene Wissen in systematisierter Form. Teile der Naturwissenschaften werden „unter der Devise der ,Anwendung von . . . a u f . . . ' . . . der Produktion an die Seite gestellt."76 War einmal diese Stufe erreicht, begann sich das Wechselverhältnis von Wissenschaft und Produktionsverfahren auf eigener Grundlage und in der Weise zu entwikkeln, daß nunmehr das Produktionsverfahren selbst Gegenstand wissenschaftlicher Analyse wurde. Die ehemals einheitliche Naturwissenschaft begann sich in reine und angewandte Naturwissenschaft aufzuspalten, aus letzterer gingen im steten Wechselverhältnis mit der materiellen Produktion die technischen Wissenschaften hervor. Die Energieerzeugung mittels Dampfturbinen, die Stahlerzeugung mittels Siemens-Martin-Verfahren, die Sodaerzeugung mittels Solvay-Verfahren, sie alle stellen Produktionsverfahren dar, die auf der Basis technischen Wissens in systematisierter Form konzipiert und realisiert wurden, sie waren das Ergebnis einer „bewußtein) technische(n) Anwendung der Wissenschaft".77 28

15 Die Gußstahlfabrik der Firma Friedrich Krupp auf der Walkmühle bei Altenessen (um 1815)

Von der bloßen Anwendung der Naturwissenschaft auf Produktionsverfahren zu unterscheiden ist das Produktionsverfahren, dessen Konzipierung auf unmittelbar naturwissenschaftlicher Basis erfolgt, das von seinem Ansatz her zunächst völlig außerhalb der im unmittelbaren Arbeitsprozeß gesammelten Erfahrung liegt. Die Herstellung von Elektroenergie, von „künstlichen" Teerfarbstoffen und von Ammoniak im Haber-Bosch-Verfahren sind frühe Beispiele für das naturwissenschaftlich fundierte Produktionsverfahren. Es ist nicht mehr nur das der Analyse der Natur an sich oder das der naturwissenschaftlichen Analyse vorhandener Produktionsverfahren entstammende Wissen, das angewandt wird, sondern die Naturwissenschaftler selbst arbeiten direkt an der Entwicklung derartiger neuer Produktionsverfahren. Sie entstehen auf dem Papier, außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, und werden aus dieser Sphäre in die der materiellen Produktion überführt beziehungsweise in diese eingeführt. Die Termini „Überführung" und „Einführung" zeigen sehr plastisch, daß die Resultate der Naturwissenschaft als selbständige Produktion^po/enz 78 außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses geschaffen werden und einer technischen Umsetzung bedürfen, um zu einer Produktivkraft zu werden, zum einen als Produktionsverfahren, zum anderen als wirkendes Wissen des Arbeitenden im unmittelbaren Arbeitsprozeß. Auf dieser Entwicklungsstufe des Produktionsverfahrens beginnt sich jene zukünftige Revolution abzuzeichnen, in deren Ergebnis „die unmittelbare Arbeit auf(hört), als solche Basis der Produktion zu sein, indem sie nach der einen Seite hin in mehr überwachende und regulierende Tätigkeit verwandelt wird . . ."79 Wir werden darauf im nächsten Abschnitt noch einmal zurückkommen. Hier sei festgestellt, daß auch Steuerung und Regelung zu Teilen eines automatisch funktionierenden Produktionsverfahrens werden können. Überblickt man die Geschichte der Produktionsverfahren, so steht an ihrem Anfang der in der Natur selbst schon realisierte Naturprozeß, an dessen Stelle im Laufe der Entwicklung der außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses konzipierte und in der Natur an sich in dieser Form nicht realisierte „Natur"prozeß tritt. Anfangs eignet sich der Arbeitende nur die Resultate des Naturprozesses an, während der Prozeß selbst nicht sein eigen ist; in diesem.Sinne hängt der Aneigner von der ihn umgebenden Natur ab: Liefert sie ihm nicht die Resultate, die er sich zu eigen machen kann, so kann er sich nichts zu eigen machen. Im Laufe der Entwicklung aber eignet sich der Arbeitende den Naturprozeß selbst an; wo die Natur an sich ihn nicht hervorbringt, bringt er selbst ihn hervor. In diesem Sinne befreit sich der Aneigner aus der Abhängigkeit von der ihn umgebenden Natur: Die Erkenntnis der Naturprozesse versetzt ihn in die Lage, sie dort zu realisieren, wo sie von der Natur nicht realisiert werden, oder ihre Realisierung dort zu verhindern, wo sie von Natur aus eintreten würde, mit anderen Worten: Die Erkenntnis der Naturprozesse, das heißt, der ihnen zugrundeliegenden Naturgesetze und ihrer Randbedingungen, ermöglicht ihm nicht, die Naturgesetze selbst außer Kraft zu setzen, jedoch durch Rekombination der wirkenden Naturgesetze, durch die Veränderung ihrer Randbedingungen, „Prozesse und Strukturen zu aktualisieren, ,die es in der Natur nicht g i b t ' . . . , Dinge neu

78 Terminus ebenda, S. 382. 79 Marx, K„ 1974, S. 596 f.

80 Rompe, R./Treder, H.-J., 1980, S. 69. 81 Marx, K., 1974, S. 599 f.

0.4.2.

Beziehungen zwischen Arbeitskraft und Technik: Arbeitsverfahren und technologische Betriebsweise

82 MEW, Bd. 23, 1974, S. 229 Anm. 27. 83 Ebenda, S. 198. 84 Die einfache Berechnung von dt/ha würde hier in die Irre führen, da die Qualitätsverbesserung nicht in die Berechnung einginge.

zu erschaffen, die es ,zwischen Himmel und Erde' bisher nicht gab." 80 Die Wissenschaft ist damit zur „selbständigen Produktionspotenz" geworden, das Produktionsverfahren zu „sich vergegenständlichende(r) Wissenschaft". 81 Produktionsmittel und Produktionsverfahren bilden, zusammengenommen, eine nächsthöhere Einheit, die, für sich betrachtet, als Technik, in Relation zu den Produktionsverhältnissen betrachtet, als materiell-technische Basis bezeichnet wird. Als für sich existierendes System, als bloßes Resultat (bzw. als ideelle Vorwegnahme des Resultates bei der Entwicklung neuer Systeme), ist die Technik Forschungsgegenstand der technischen Wissenschaften, die einen anderen Gegenstand als die Naturwissenschaften haben, denn sie untersuchen das in der den Menschen umgebenden Natur zwar Mögliche, aber (auf der Erde) nur durch den Menschen Realisierte beziehungsweise zu Realisierende. Sie haben einen anderen Gegenstand als die Gesellschaftswissenschaften, denn sie untersuchen nur das erreichte beziehungsweise zu erreichende Resultat, das technische System als solches, aber nicht seine gesellschaftlich bedingte Existenz. Daß die Technikwissenschaftler - wie auch die an der Entwicklung neuer technischer Systeme beteiligten Ingenieure, Konstrukteure, Techniker - in ihrer Arbeit die gesellschaftlichen Existenzbedingungen technischer Systeme, also das „ökonomisch Machbare" oder das „gesellschaftlich Vertretbare" mit zu berücksichtigen haben, diese Tatsache ändert daran soviel oder sowenig wie jene, daß jeder Gesellschaftswissenschaftler für seine Arbeit etwas über die natürlichen Existenzbedingungen der Gesellschaft wissen sollte.

Die Arbeitskraft als solche, als „in menschlichen Organismus umgesetzter Naturstoff" 82 , ist Untersuchungsobjekt biologisch-medizinischer Wissenschaften, insbesondere der Arbeitsmedizin, -physiologie und -psychologie.. Davon zu unterscheiden ist die Analyse der Beziehungen, die im unmittelbaren Arbeitsprozeß zwischen der Arbeitskraft und den von ihr mit Unterstützung anderer Naturkräfte geschaffenen und in Gang gesetzten technischen Systemen vorhanden sind. Diese Beziehung zwischen Arbeitskraft und Technik nennen wir das Arbeitsverfahren. Die Arbeitsverfahren und die Technik machen, zusammengenommen, die technologische Betriebsweise aus, die durch die Technologie (als Disziplin der technischen Wissenschaften) untersucht wird. Ein möglicher Ausgangspunkt für eine historische Betrachtung von Arbeitsverfahren ist ihre Negativbestimmung innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses: Das Arbeitsverfahren ist jene Phase des unmittelbaren Arbeitsprozesses, die aus historischer Sicht nicht mehr oder noch nicht Produktionsverfahren ist, Produktionsverfahren zum einen verstanden als der in der Natur selbst schon realisierte Naturprozeß, zum anderen als der außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses konzipierte und in der Natur an sich in dieser Form nicht realisierte „Natur"prozeß. Den historischen Ausgangspunkt des Arbeitsverfahrens bildet die Arbeit mit dem Werkzeug, das dem Arbeitenden zur Veränderung eines in der Natur vorgefundenen Objekts dient. Durch diese Veränderung erfolgt die „Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse". 83 Durch solche elementaren Bearbeitungsvorgänge wie Abschlagen, Schneiden, Stechen, Schaben wurden die Naturobjekte verändert. Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe konnte, auf Erfahrung und Können basierend, mit den vorhandenen Arbeitsmitteln nicht nur ein in der Natur vorhandenes Objekt, sondern auch ein in der Natur ablaufender Prozeß verändert werden. So konnte der in der Natur an sich ablaufende Reproduktionsprozeß der Wildpflanzen durch Kultivierung verändert und damit — in noch sehr engen Grenzen angeeignet werden. Bodenbearbeitung, sogenannte Brandrodung, Bewässerung, Unkrautbekämpfung, „Natur"düngung usw. verwandelten den ursprünglichen Naturprozeß in einen in immer stärkerem Maße von Arbeitsverfahren durchsetzten Prozeß. Durch den Einsatz der unmittelbaren Arbeit hat siel) die Effektivität des ursprünglichen Naturprozesses - ausgedrückt beispielsweise im in Kalorieneinheiten (Joule) gemessenen Ertrag pro Flächeneinheit 84 - bedeutend erhöht. Wie dem natürlichen Reproduktionsprozeß der Wildpflanzen, so erging es praktisch jedem Naturprozeß, der dem Arbeitenden zunächst gratis von der Natur gelie30

fert wurde: Um ihn effektiver zu gestalten, mußte er durch den Einsatz der unmittelbaren Arbeit angeeignet und verändert werden, wodurch er die Eigenschaft, bloßer Naturprozeß zu sein, zunächst verlor. Weder wurde er nun bloß übernommen, noch wurde er nur initiiert, um dann „von selbst"- abzulaufen, sondern der Arbeitende wurde zusammen mit der Natur tätig, beide bildeten im unmittelbaren Arbeitsprozeß eine untrennbare Einheit. Die weitere Entwicklung der Arbeitsverfahren, die im Zusammenhang mit der der Arbeitsmittel im engeren Sinne zu sehen ist, kann hier nicht näher betrachtet werden. Liegt bezüglich einer historischen Klassifikation der Arbeitsinstrumente eine Anzahl diskussionswürdiger Versuche vor, sind hinsichtlich der historischen Klassifikation der Produktionsverfahren erste tastende Schritte unternommen worden, so kann ein gleiches hinsichtlich der Arbeitsverfahren nicht behauptet werden. Erst der Übergang von der Hand- zur Maschinenarbeit bildet einen historischen Einschnitt von allerdings welthistorischer Bedeutung, der es uns ermöglicht, das vorindustrielle vom industriellen Arbeitsverfahren zu unterscheiden (wobei „industriell" hier nicht auf den von Transportwesen und Landwirtschaft unterschiedenen "Wirtschaftsbereich Industrie beschränkt ist, sondern eine besondere Klasse von Arbeitsverfahren benennt). Die entscheidende Differenz zeigt Marx in der Gegenüberstellung von Manufaktur und Fabrik: „In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen h a t . . . Durch seine Verwandlung in einen Automaten (d. h. in eine Maschine - d. Vf.) tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals vollendet sich . . . in der auf der Grundlage der Maschinerie kufgebauten großen Industrie. Das Detailgeschick .des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind und mit ihm die Macht des ,Meisters' (master) bilden."85 Die Maschine ersetzt den Arbeitenden - „Was Tätigkeit des lebendigen Arbeiters war, wird Tätigkeit der Maschine"86 —, sie ersetzt nicht einen mehr oder minder modifizierten Naturprozeß. Die Maschine ist zum beherrschenden Element des Arbeitsverfahrens geworden - der Arbeitende dient der Maschine - , aber sie ist nicht Element eines Produktionsverfahrens im oben angegebenen Sinne. Das Produktionsverfahren in moderner Gestalt verlangt noch die Kontrolle der Steuerung durch den Arbeitenden, die Maschine darüber hinaus die Bedienung. In das industrielle Arbeitsverfahren ist der Arbeitende voll einbezogen, er arbeitet an der Maschine; aus den Produktionsverfahren in moderner Gestalt, die zumeist in Anlagen stattfinden, ist der Arbeitende verdrängt, er arbeitet außerhalb der Anlage. Die Unterscheidung zwischen entwickelter Maschinerie, die im allgemeinen im Arbeitsgebäude untergebracht ist, und der Anlage, die sich meist außerhalb der Arbeitsgebäude befindet, ist im Einzelfall schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von Produktions- und Arbeitsverfahren. Ihr wesentlicher Gehalt ergibt sich aus der historischen Tendenz: Das industrielle Arbeitsverfahren kann nicht unmittelbar in ein automatisch funktionierendes Produktionsverfahren verwandelt werden. Hierzu bedarf es einer grundsätzlich neuen Organisationsform des unmittelbaren Arbeitsprozesses, auf die an anderer Stelle einzugehen sein wird. Als in den unmittelbaren Arbeitsprozeß integrierte Verfahren bedürfen gegenwärtig sowohl die Produktions- als auch die industriellen Arbeitsverfahren zu ihrer Durchführung weiterhin der Ableistung unmittelbarer Arbeit. Jene nach wie vor notwendigen Nebenarbeiten, die solche Arbeitsbereiche wie Transport und Versorgung, Einrichtung und Wartung umfassen, dienen ganz dem Kernstück des modernen unmittelbaren Arbeitsprozesses in seiner industriellen Gestalt. Ähnliches gilt für die auf industrieller Grundlage erfolgende Tier„produktion" und das industrialisierte Transportwesen. Das Arbeitsverfahren wird zunehmend aus seiner in weiten 31

85 MEW, Bd. 23, 1974, S. 445 f. 86 Marx, K„ 1974, S. 592.

16 Nadler bei der Arbeit (Ausgang des 17. Jahrhunderts)

17 Der Dampfhammer „Fritz" in der Gußstahlfabrik der Firma Friedrich Krupp in Essen (1861)

Bereichen der Wirtschaft dominierenden Stellung durch das Produktionsverfahren verdrängt, zunächst einmal in die Nebenarbeitsprozesse abgedrängt. Positiv formuliert: Die unmittelbare Arbeit wird in zunehmendem Maße von Maschine und Anlage geleistet. Die Technologie als Disziplin der technischen Wissenschaften untersucht die Arbeitsverfahren nicht nur für sich, sondern auch in ihrem gegenseitigen Bezug innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses. Die Untersuchung beispielsweise solcher 32

Organisationsformen des unmittelbaren Arbeitsprozesses wie des Werkstätten- und des Gegenstandsprinzips gehört ebenfalls zu ihren Aufgaben. Bevor wir aber auf diesen Teil der technologischen Betriebsweise eingehen, müssen wir uns einer Grundbeziehung innerhalb des Systems der Produktivkräfte zuwenden, die nicht Gegenstand der Technologie, sondern der Arbeitssoziologie ist - den Beziehungen zwischen den Arbeitenden.

Wir haben bislang den unmittelbaren Arbeitsprozeß in seinen einfachen und ab- 0.4.3. strakten Momenten dargestellt und hatten es, wie Marx formuliert, „daher nicht nö- Arbeitstig, den Arbeiter im Verhältnis zu andren Arbeitern darzustellen".87 Im Abschnitt beziehungen: über „Die Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts" wird diese elemenKooperation, tare Darstellung einleitend in der Weise weiterentwickelt, daß Marx den Gesamtarbeiter 88 als Mehrwertproduzenten einführt und auf diese Weise zu einer präziseren Leitung, Fassung dessen gelangt, was unter kapitalistischen Produktionsbedingungen unter Gesamtarbeiter produktiver Arbeit zu verstehen ist. Im Unterschied hierzu benötigen wir den Begriff des Gesamtarbeiters, um die Beziehungen zwischen den Arbeitenden, die Arbeitsbeziehungen, begreifen zu können, Beziehungen, deren Kenntnis uns in einem nächsten Schritt die Organisationsformen des unmittelbaren Arbeitsprozesses sowie deren über Jahrtausende hinweg wichtigste Erscheinungsform, die Arbeitsteilung, einsichtig werden lassen. Arbeitsbeziehungen sind so alt wie der Arbeitsprozeß selbst. Sie spielen schon in der urgesellschaftlichen Jagd- und Sammelwirtschaft eine bedeutende Rolle. Diese simpelste Form gemeinsamer Arbeit — alle tun das gleiche — ist die einfache Kooperation, die „auch in der ausgebildetsten Gestalt der Kooperation eine große Rolle spielt".89 Das entscheidende Charakteristikum schon der einfachen Kooperation ist nicht die Vielfalt der Arbeitenden, sondern ihre Einheit. Als vervielfachte Arbeitskraft ist sie mehr als die Summe ihrer Teile, sie ist „Massenkraft". 90 Kooperation, selbst einfachster Art, ist ohne Leitung undenkbar. Dabei ist schon auf relativ unentwickelter Stufe, bei den Erntevölkern,91 die Unterscheidung zwischen Leitung des unmittelbaren Arbeitsprozesses und Leitung des gesellschaftlichen Lebens (Stammeshäuptling) vorhanden. Auf dieser Entwicklungsstufe ist es noch offensichtlich, daß der den unmittelbaren Arbeitsprozeß Leitende ein Element des Gesamtarbeiters ist, daß Leitung und Kooperation in der Tat untrennbar miteinander verbunden sind, auch in dem Sinne, daß beide Arbeitsbeziehungen, Beziehungen zwischen Arbeitenden, darstellen. In auf Ausbeutung basierenden Produktionsweisen ist das nicht mehr so, weil die Leitung des Arbeitsprozesses in der Hand des Ausbeuters liegt, sofern er nicht auch diese Aufgabe an ihm Untergebene delegiert. In letzterem Falle ist die Tatsache, daß Leitung unmittelbar Arbeit darstellt, für frühe Entwicklungsstufen ebenfalls einsichtig, beispielsweise wenn wir bei Marx (unter Bezug auf Theodor Mommsen) lesen: „Der altrömische villicus, als Wirtschafter an der Spitze der Ackerbausklaven, empfing . . . , ,weil er leichtere Arbeit hat als die Knechte, knapperes Maß als diese'." 92 Leitung stellt aber auch unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen eine Arbeitsbeziehung dar: „Die Leitung des Kapitalisten ist nicht nur (! - d. Vf.) eine aus der Natur des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses entspringende und ihm angehörige besondre Funktion", vielmehr ist sie „dem Inhalt nach zwieschlächtig . . . , wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozeß zur Herstellung eines Produkts, andrer- 87 MEW, Bd. 23, 1974, S. 198. seits Verwertungsprozeß des Kapitals."93 Leitet der Kapitalist den unmittelbaren 88 Terminus nach ebenda, S. 531 f. 89 Ebenda, S. 346 f. Arbeitsprozeß selbst, so ist „seine Arbeit in den Gesamtarbeitsprozeß einbegrif- 90 Terminus ebenda, S. 345. 94 fen", und daher „verhält er sich" unter dem Gesichtspunkt der Kapitalverwertung 91 Vgl. Lips, J., 1953(a), S. 13. „als sein eigner Kapitalist zu sich selbst als Lohnarbeiter." 95 92 MEW, Bd. 23, 1974, S. 185 Anm. 43. Diese Tatsachen verdeutlichen, daß Arbeitsbeziehungen und Produktionsverhältnisse nicht identisch sind, sich in einem derartigen Widerspruch zueinander be- 93 Ebenda, S. 350 f. (Hervorhebung - d. Vf.). finden können, daß beispielsweise der Kapitalist sich selbst ausbeutet, „ . . . daß er 94 Marx, K., 1933, S. 146. als Kapitalist sich selbst als Lohnarbeiter anwendet".96 Dies trifft natürlich nur zu, so- 95 MEW, Bd. 26.1, 1974, S. 384. lange der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel, als Nutznießer der Resul- 96 Ebenda. 33

18 Drescharbeiten auf einem Gutshof (um 1705)

97 Ebenda, Bd. 19, 1976, S. 228.

0.5. Organisationsformen: Spezialisierung, Konzentration und Kombination

98 Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 372 f. 99 Guhr, G., 1981, S. 304.

täte der Kapitalverwertung, zugleich Leiter des unmittelbaren Arbeitsprozesses ist. Sobald er von dieser Funktion zurücktritt, wird er zum bloß parasitären Ausbeuter. An seine Stelle tritt der Verwalter, der Manager, er selbst ist innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses überflüssig, ja, die Bourgeoisie selbst „erweist sich als überflüssige Klasse; alle ihre gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte."97 Einfache Kooperation und Leitung stellen Beziehungen innerhalb des Systems der Produktivkräfte dar. Durch sie wird der gesellschaftliche Gesamtarbeiter konstituiert, dessen Struktur aber durchaus komplizierter und nicht auf einfache Kooperation und Leitung zu reduzieren ist. Sie ist bestimmt durch die Entwicklung spezifischer Merkmale des unmittelbaren Arbeitsprozesses, die sich aus seinen Organisationsformen ergeben.

Der unmittelbare Arbeitsprozeß war von Anbeginn ein organisierter. Seine erste Organisationsform ist die ursprüngliche Arbeitsteilung zwischen Jägern und Sammlerinnen. Schon sie ist mit den bislang eingeführten Begriffen nicht zu erfassen. Zwar setzt sie Kooperation und Leitung voraus, aber innerhalb der einzelnen Arbeitsprozesse (Jagen und Sammeln) kooperieren Jäger und Sammlerin gerade nicht miteinander. Zwar setzt sie die Anwendung beider Arbeitsverfahren voraus, aber diese obliegt verschiedenen Hordenmitgliedern. Eine Organisation des Gesamtarbeitsprozesses ist notwendig, deren erste Form eben die ursprüngliche Arbeitsteilung ist. Die ursprüngliche Arbeitsteilung ist keine gesellschaftliche Arbeitsteilung, denn diese unterstellt schon den Austausch.98 Viel eher handelt es sich um eine Arbeitszuteilung, die innerhalb der Horde (später der Gens) als der wirtschaftenden Einheit vorgenommen wird. Dies ist auch daraus ersichtlich, daß unter jeweils günstigen Bedingungen die Arbeitsteilung aufgehoben wurde, die Sammlerinnen sich an der Treibjagd beziehungsweise die Jäger sich am Sammeln (Ernten) beteiligten.99 Die ursprüngliche Arbeitsteilung bezieht sich allein auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die für Aneignung notwendigen Arbeitsmittel im engeren Sinne wurden im allgemeinen durch den Jäger beziehungsweise die Sammlerin selber hergestellt. Diese für die Organisationsform des unmittelbaren Arbeitsprozesses unter urgesellschaftlichen Produktionsverhältnissen charakteristische Eigenart ist weder durch den Begriff der ursprünglichen noch durch den der gesellschaftlichen Arbeitsteilung faßbar; sie bildet aber einen wesentlichen Ausgangspunkt für den Ubergang zu letzterer. Daher sind die Organisationsformen des unmittelbaren Arbeitsprozesses nicht identisch mit den Formen der Arbeitsteilung. 34

Gerade bei diesen nicht unmittelbar auf Nahrungsmittelbeschaffung gerichteten Arbeiten, also bei Arbeiten, die auf die Herstellung eines dauerhafteren Produkts abzielen, finden wir erste Spezialisierungen. Der zunächst weiterhin im Jagd- beziehungsweise Sammelprozeß Arbeitende wird aufgrund seiner Fähigkeiten, zu denen später infolge gesellschaftlich und individuell akkumulierter Arbeitserfahrung erworbene Fertigkeiten und Kenntnisse treten, allmählich zu einem Spezialisten beispielsweise der Werkzeugherstellung. Gesicherte Nahrungsmittelversorgung des Gemeinwesens selbst und der Spezialisten vorausgesetzt, konnten sich aus diesen Spezialistenkollektive und damit Vorformen des Handwerks („Hauswerk") 100 entwickeln. Die Nahrungsmittelversorgung dieser Spezialisten wurde durch den Produktentausch innerhalb der sich weiterhin selbstgenügsam versorgenden Wirtschaftseinheit gesichert. Die Spezialisierung innerhalb eines Produzentenkollektivs stellte als neue Organisationsform des unmittelbaren Arbeitsprozesses einen wesentlichen Fortschritt innerhalb der Entwicklung des Systems der Produktivkräfte dar. Sie war eine notwendige Voraussetzung der ersten „Arbeitsteilung im allgemeinen",101 die sich heute noch als Trennung von Industrie und Landwirtschaft darstellt. Die erste Erscheinungsform der „Arbeitsteilung im allgemeinen" ist die Arbeitsteilung zwischen Bauern und Handwerkern,102 im weiteren Fortgang treten unter Umständen die Bergleute und in jedem Falle die den Transport vermittelnden Kaufleute hinzu. Sie arbeiten in den vier Sphären der materiellen Produktion, in Bergbau, Landwirtschaft, Handwerk/Industrie und Transportwesen.103 Innerhalb dieser vier Sphären gibt es eine „Arbeitsteilung im besonderen" als gesellschaftliche Arbeitsteilung zweiter Art. 104 Hierzu gehört auch die Arbeitsteilung zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern innerhalb der Landwirtschaft als Wirtschaftszweig.105 Nach vollzogener „Arbeitsteilung im allgemeinen" gab es auch nicht den Handwerker schlechthin, sondern es gab Töpfer, Schmiede und so weiter. Diese Spezialisierungen innerhalb des Handwerks, die den klassischen Fall der vorkapitalistischen „Arbeitsteilung im besonderen" darstellen, wurden schon recht bald ziemlich weit vorangetrieben. Im Athen des fünften Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung gab es beispielsweise nicht einfach den Schmied, sondern den Kupfer-, Eisen-, Messer-, Klingen-, Helm-, Harnisch-, Sichel- und Schilderschmied.106 Der Handwerker arbeitete im Prinzip - und das ist sein Prinzip bis auf den heutigen Tag - mit wenigen Arbeitskräften zusammen, unter Umständen auch allein in seiner Werkstatt. Zwar gab es Großwerkstätten, aber sie waren vor dem kapitalistischen Manufakturzeitalter nicht die Regel. So betrug noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland der Anteil der Handwerksmeister an der Gesamtzahl der Handwerksbeschäftigten mehr als 50 Prozent, das heißt, im Durchschnitt beschäftigte jeder Meister noch nicht einmal einen Gesellen oder Lehrling in seiner Werkstatt.107 Dementsprechend war die innerbetriebliche Arbeitsteilung, die „Arbeitsteilung im einzelnen" als Arbeitsteilung dritter Art 108 innerhalb des Handwerks noch nicht sehr entwickelt, auch wenn es natürlich mehr als nur vereinzelte Beispiele für recht weit vorangetriebene innerbetriebliche Arbeitsteilung gab.109 Die Beschaffung der notwendigen Produktionsmittel erfolgte entweder am Ort oder durch den Einsatz von in den Händen der Kaufleute befindlichen Transportmitteln. (Wir wollen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich festhalten, daß die durch den Transporteur erzielte Ortsveränderung ein innerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses hergestelltes Produkt ist, wogegen der Handel selbst Teil der Zirkulation ist.) Zwischen Großstädten und ihnen vorgelagerten Häfen—beispielsweise zwischen Athen und Piräus, zwischen Rom und Ostia—haben auch schon nicht mehr mit dem Handel beschäftigte Fuhrleute ihren Dienst versehen. Daneben gab es weiterhin Bereiche innerhalb der materiellen Produktion, in denen die Kooperation eine bedeutende Rolle spielte, beispielsweise im Bergbau, im Bauhandwerk, im Schiffbau und in der Schiffahrt. In der. Landwirtschaft ist prinzipiell zu unterscheiden zwischen dem einzelnen Bauern, der seine Arbeit zumeist mit seinen Familienangehörigen selbständig leistete, und den auf landwirtschaftlichen Gütern (Latifundien, Grundherrschaften usw.) kooperativ Arbeitenden. Bezüglich der „Arbeitsteilung im besonderen" bestanden 35

100 101 102 103 104 105 106 107

Grünen, H., 1981, S. 293. MEW, Bd. 23, 1974, S. 371. Grünert, H., 1982, S. 77 f . MEW, Bd. 26.1,1965, S. 387. Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 371. Grünert, H., 1982, S. 91. Vgl. Musiolek, P., 1977, S. 105 f. Vgl. Kaußold, K. H„ 1976, S. 322 f. 108 Vgl. MEW, Bd. 23,1974, S. 371. 109 Vgl. z. B. Musiolek, P., 1977, S. 106 f.

19 Mittelalterlicher Händler mit zweirädrigem Karren, Holzschnitt von Johann Zainer (1476/77)

110 „Innerhalb" ist hier natürlich nicht räumlich zu verstehen, denn der unmittelbare Arbeitsprozeß vollzieht sich im Arbeitsgebäude, auf dem Acker usw., nicht „im" Betrieb.. 111 Vgl. MEW, Bd. 3, 1973, S. 32; Bd. 23, 1974, S. 372 f. 112 Marx, K., 1974, S. 89.

hier zumeist nur dann Fortschritte, wenn besondere natürliche Standortbedingungen vorhanden waren. Insbesondere mußte vom in der Landwirtschaft Arbeitenden, im Unterschied zum Handwerker, eine Vielzahl verschiedener Arbeiten verrichtet werden, zu denen auch handwerkliche Arbeiten zählten. Die innerbetriebliche Arbeitsteilung erscheint hier als eine zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern, etwa wenn die Ackerbestellung vor allem dem Mann, die Viehfütterung vor allem der Frau und das Viehhüten vor allem den Kindern oblag, wobei in Zeiten besonderer Anspannung, wie beispielsweise zur Erntezeit, diese Arbeitsteilung durchbrochen wurde. Die Arbeitsteilung findet - von der innerbetrieblichen abgesehen - prinzipiell außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses statt, denn nicht Arbeitende, sondern Produktionseinheiten treten miteinander in Beziehung. Der Betrieb als ökonomisch und juristisch durch Eigentum und Besitz konstituierte Produktionseinheit, innerhalb derer sich der unmittelbare Arbeitsprozeß vollzieht,110 ist Element der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Sie ist deshalb Ausdruck der bestehenden Produktionsverhältnisse und zugleich der betrieblichen und gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und (von daher) durch den Stand der Produktivkräfte bestimmt. Wir erinnern in diesem Zusammenhang daran, daß nach Marx Arbeitsteilung - von der ursprünglichen, bei ihm naturwüchsig genannten, abgesehen - stets zusammen mit Privateigentum, Warenproduktion und Handel existiert,111 wogegen im Kommunismus „statt einer Teilung der Arbeit, die in dem Austausch von Tauschwerten sich notwendig erzeugt, . . . eine Organisation der Arbeit statt(findet), die den Anteil des Einzelnen an der gemeinschaftlichen Konsumtion zur Folge hat." 112 Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen und -zweigen ist einerseits historische Voraussetzung der innerbetrieblichen Arbeitsteilung, andererseits stehen beide in diametralem Gegensatz zueinander. Diesen Gegensatz hat Marx in Auseinandersetzung mit Adam Smith am Beispiel der Manufaktur demonstriert: „Am schlagendsten scheint die Analogie (zwischen den beiden Arten von Arbeitsteilung - d. Vf.) unstreitig, wo ein innres Band verschiedne Geschäftszweige verschlingt. Der Viehzüchter z. B. produziert Häute, der Gerber verwandelt die Häute in Leder, der Schuster das Leder in Stiefel. Jeder produziert hier ein Stufenprodukt, und die letzte fertige Gestalt ist das kombinierte Produkt ihrer Sonderarbeiten. Es kommen hinzu die mannigfachen Arbeitszweige, die dem Viehzüchter, Gerber, Schuster Produktionsmittel liefern. Man kann sich nun mit A. Smith einbilden, diese gesellschaftliche Teilung der Arbeit unterscheide sich von der manufakturmäßigen nur subjektiv.. . Was aber stellt den Zusammenhang her zwischen den unabhängigen Arbeiten von Viehzüchter, Gerber, Schuster? Das 36

Dasein ihrer respektiven Produkte als Waren. Was charakterisiert dagegen die manufakturmäßige Teilung der Arbeit? Daß der Teilarbeiter keine Ware produziert. Erst das gemeinsame Produkt der Teilarbeiter verwandelt sich in Ware. Die Teilung der Arbeit im Innern der Gesellschaft ist vermittelt durch den Kauf und Verkauf der Produkte verschiedner Arbeitszweige, der Zusammenhang der Teilarbeiter in der Manufaktur durch den Verkauf verschiedener Arbeitskräfte an denselben Kapitalisten, der sie als kombinierte Arbeitskraft verwendet. Die manufakturmäßige Teilung der Arbeiter unterstellt Konzentration der Produktionsmittel in der Hand eines Kapitalisten, die gesellschaftliche Teilung der Arbeit, Zersplitterung der Produktionsmittel unter viele voneinander unabhängige Warenproduzenten." 113 Hiernach stehen gesellschaftliche und innerbetriebliche Arbeitsteilung in einem unmittelbaren Gegensatz. Die kapitalistische Manufaktur unterscheidet sich von der Werkstatt des Handwerkers zunächst nur quantitativ. 114 Die Konzentration als Zusammenballung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln innerhalb eines Betriebes ermöglichte aber die Zerlegung ursprünglich einheitlicher Arbeitsprozesse in einzelne Arbeitsgänge, die von jeweils verschiedenen Teilarbeitern getrennt voneinander verrichtet wurden. 115 Dabei konnte die Trennung anfangs sogar eine räumliche sein (heterogene Manufaktur), später wurde in einem Arbeitsgebäude gearbeitet. Aber diese Teilarbeiter stellten ein gemeinsames Produkt her, zusammengenommen präsentieren sie daher einen kombinierten Gesamtarbeiter. 116 Dieser aus spezialisierten Teilarbeitern kombinierte Gesamtarbeiter ist Ausdruck einer neuen Organisationsform des unmittelbaren Arbeitsprozesses. Wie wir bei der Betrachtung der Arbeitsinstrumente und -verfahren gesehen haben, wird dieser lebendige Organismus schließlich zum lebendigen Anhängsel des Maschinensystems. 117 Sehr viel später als im gewerblichen Bereich entstand in der Landwirtschaft der kombinierte Gesamtarbeiter. Die Masse leibeigener Bauern etwa, die auf der Gutsherrschaft Frondienste leisteten, stellten nämlich keinen kombinierten Gesamtarbeiter dar. Entweder die Bauern arbeiteten zusammen, also kooperativ, oder sie verrichteten so verschiedene Tätigkeiten wie Flurbestellung und Jagdhilfe, daß sie nie zum spezialisierten Teilarbeiter wurden. Erst mit der Entstehung kapitalistischer Großbetriebe auch in der Landwirtschaft setzten Spezialisierungen ein, jedoch war der Spezialist zumeist für die Herstellung des ganzen Produkts verantwortlich. Das ergab sich aus dem spezifischen Charakter des Arbeitsprozesses in der Landwirtschaft, der erst in neuester Zeit allmählich in Teilarbeitsprozesse zerlegt werden konnte.

113 114 115 116 117

MEW, Bd. 23, 1974, S. 375 f. Vgl. ebenda, S. 341. Vgl. ebenda, S. 362 ff. Terminus ebenda, S. 365. Ebenda, S. 445.

1 Die Entwicklung der Öfen für die Eisenerzeugung vom Windofen bis zum modernen Hochofen Quelle: Technische Denkmale in der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. v. O. Wagenbreth und E. Wächtler, Leipzig 1983, S. 98.

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«f 128 Lokomobile der Firma Georg Egestorff in Hannover (1863)

129 Dreschmaschine der Firma Heinrich Friedrich Eckert in Berlin (1867)

mußten." 216 Die Dampfdreschmaschine ausgenommen, waren die Landarbeiter im allgemeinen, aber auch wenn sie mit Maschinen arbeiteten, nicht deren Sklaven wie die Industriearbeiter. Sie waren insofern häufig Herr über die Nutzung beziehungsweise das Arbeitstempo, als sie die Pflüge, Heuwender, Exstirpatoren, Mähmaschinen führten und anhalten konnten. Darum fand auch bei ihnen, im Gegensatz zu den Industriearbeitern, eine weit geringere Entfremdung gegenüber der Arbeit durch die neue Produktionstechnik statt. Von allen Maschinen stellte die Dreschmaschine eine besonders große Gefahrenquelle für die Arbeiter dar. Abgesehen davon, daß es noch keine Schutzvorrichtungen gab und dadurch mancher Unfall verursacht wurde, führte der Maschinendrusch

216 Plaul, H., 1979, S. 162 ff.

130 Dreschmaschine und Lokomobile auf dem mecklenburgischen Rittergut Lankwitz, Gemälde von Carl Malchin (um 1870)

217 Ebenda, S. 277 f. 218 Staatsarchiv Potsdam, Rep.37, GA Arnim-Boitzenburg, Nr. 202. 219 Bentzien, U., 1965, S. 60. 220 Keller, M., 1977, S. 245. 221 Ebenda.

zu großer Staubbelästigung. Der Getreidestaub haftete oft zentimeterdick auf den Dreschmaschinenarbeitern, rief Erkrankungen der Lunge, Haut und Augen hervor. Setzte sich der Staub bei der schweren Arbeit auf die schwitzende Haut, dann entstanden unangenehmes Jucken und Brennen, wie auch verschwollene und entzündete Augen häufige Erscheinungen waren. Doch auch der Flegeldrusch war „eine der angreifendsten und ungesundesten Arbeiten" in der Landwirtschaft, die „besonders bei jungen Leuten den Keim zu gefährlichen Lungenkrankheiten legte". 2 1 7 Ehe wir das Gebiet des Geräte- und Maschinenwesens verlassen, wollen wir noch einige wenige Beispiele der Geräte- und Maschinenausstattung der Bauern- und Gutsbetriebe liefern, damit der Leser eine ungefähre Vorstellung von Art und Umfang der benutzten Produktionsinstrumente erhält. Der Gerätebestand eines Bauernhofes in Thomsdorf (Uckermark) setzte sich 1808 aus zwei Wagen mit Leitern, einem Pflug, zwei Hacken mit Eisen, drei Sensen, zwei Futterschneideladen, zwei Misthacken, einer Staakforke, zwei Wurfschippen und drei Dreschflegeln zusammen. 218 Mit Ausnahme der fehlenden Eggen war das die normale „technische" Ausstattung vieler Bauernwirtschaften in Ost und West im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Auf dem Rittergut Bibow/Hasenwinkel in Mecklenburg befanden sich 1828 an größeren Geräten: eine vierspännige eiserne' Egge, acht kleine eiserne Eggen, 16 hölzerne Eggen, acht gangfertige Haken, sieben gangfertige Pflüge, ein Kartoffelhaken, drei Eggenschleifen, eine Walze, sechs große Schneideladen mit Zubehör, eine Kornrummel mit drei Sieben. 219 Das Gut Neuhof in der Wetterau verfügte 1826 über eine eiserne Ringelwalze (Schollenwalze), eine gewöhnliche Holzzylinderwalze, einen siebenscharigen Exstirpator, einen Feldpflug (Kultivator), einen Häufelpflug, einen Sächsischen Uritergrundpflug und eine Brabanter Egge. 2 2 0 1860 bestand die Ausstattung des Gräflich Solms-Braunsfeldischen Gutes zu Obbornhofen (Wetterau), den technischen Fortschritt schon berücksichtigend, aus einem Ruchadlo, einem Bennerschen Beetpflug, einem Exstirpator, einem Kultivator, einer Furchenegge, einer Albanschen Sämaschine, einer rheinischen Getreidedrillmaschine, einer Rapssämaschine und verschiedenen Mühlen zur Zerkleinerung der Wurzelgewächse.221 Dagegen besaß das provinzsächsische, intensivst bewirtschaftete und mit einer Zuckerfabrik verbundene Gut Schianstedt 1859 folgendes Inventar: 42 zweispännige Ackerwagen zu 60 Ztr. Tragkraft, 50 vierspännige Ochsenwagen zu 80 Ztr. Tragkraft, vier Jauchewagen und einige leichte Wagen, 52 zweispännige Pflüge Wanzlebener Konstruktion (3 bis 10 Zoll Tiefgang), 30 vierspännige Pflüge (12 bis 15 Zoll Tiefgang), zehn Scabellsche Rajolpflüge (16 bis 18 Zoll Tiefgang) und Pietzpuhler und Reads Untergrundpflüge, 68 einspännige Eggen, 24 zweispännige Krümmereggen, 24 kleine Eggen, einige Graysche Grubber, drei schwere eiserne Ringelwalzen, sechs hölzerne Ringelwalzen mit Eisen beschlagen, zehn hölzerne ein- und zweispännige Glattwalzen und verschiedene Handwalzen, drei Garettsche Drillmaschinen mit einer Pferdedrillhacke, drei Albansche Sämaschinen, eine Kleesä- und eine Garettsche Dreschmaschine. Außer gewöhnlichen

131 Dampfdreschmaschine auf einem mecklenburgischen Rittergut, zeitgenössische Temperazeichnung (um 1870)

Wirtschaftsgeräten existierten noch verschiedene Kultivatoren, Rillenzieher, hölzerne und eiserne Pferderechen, sechs Turnipscleaner und diverse Kraut- und Häufelpflüge, die zur Hack- und Maiskultur verwandt wurden.222 Über die Entwicklung der Transportmittel und der Wirtschaftsgebäude (Stallungen, Scheunen, Schuppen, Kartoffel- und Rübenkeller) — wichtige Produktionsmittel, ohne die die landwirtschaftliche Produktion nicht funktionieren kann — wissen wir nur wenig. Die räumliche Ausdehnung einer jeden „Landwirtschaft", das Auseinanderfallen von Wohnstatt einschließlich Lagerräumen und Arbeitsplatz (Felder, Wiesen) erforderte schon von vornherein einen verhältnismäßig großen innerbetrieblichen Transport. Es darf angenommen werden, daß sich mit steigendem Ernteund Dunganfall das Transportvolumen vergrößerte, so daß die Zahl der Wagen (Leiter- und Kastenwagen, Jauchewagen usw.) zunahm, ohne daß Neukonstruktionen aufkamen. 1839 wurden in Preußen erneut Vorschriften für alle Provinzen erlassen, wonach gleiche Wagenspuren (4 Fuß 4 Zoll) einzuhalten waren und die Lademenge bei zweirädrigen Wagen 40 Ztr. und bei vierrädrigen Wagen 80 Ztr. nicht überschreiten durfte - Vorschriften, die noch Mitte der sechziger Jahre Gültigkeit besaßen 223 und sich kaum von denen zu Anfang des 19. Jahrhunderts unterschieden. Bei den Wirtschaftsgebäuden kann man aufgrund provinzsächsischer Güter schlußfolgern, daß etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre Erweiterungen oder Neubauten vorgenommen wurden. Es scheint, daß der Gebäudezuwachs in Abhängigkeit von den einzelnen Intensivierungswellen mit ihren deutlich wahrnehmbaren allgemeinen Ertragssteigerungen und der Getreidepreisentwicklung erfolgte,224 aber auch in dem Maße, insbesondere in Ostelbien, wie die Dienstablösungen voranschritten. Auf dem Gute Altjeßnitz (Kreis Bitterfeld) zum Beispiel wurden 1829/30,1844/45 und 1860 Stallungen und Scheunen neugebaut.225 In Preußen nahm die Zahl der Wirtschaftsgebäude in der Zeit von 1849 bis 1858 auf dem Lande um etwa acht Prozent zu. Die Zunahme war dabei größer als die der Wohngebäude,226 worin ebenfalls die Entwicklung der Produktivkräfte und die gestiegene Leistungskraft der Landwirtschaft zum Ausdruck kommen dürfte. Große Bedeutung erlangte die Drainage für die Bodenverbesserung. 1843 hatte der Engländer Parkes die Drainröhrenpresse erfunden. Entwässerung des Bodens durch Stein-, Faschinen- und Bretterdrainagen oder offene Gräben war schon bekannt, aber diese waren einem raschen Verfall oder Verfaulen unterworfen. Erst die in den Boden versenkten Tonröhren ermöglichten die Dauerhaftigkeit kostspieliger

222 Rimpau, W„ 1859, S. 27 u. 31. 223 Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 853. 224 Vgl. Henning, F.-W., 1969(b), S. 64 f. 225 Staatsarchiv Magdeburg, Rep. H., Altjeßnitz, Nr. 219, 220. 226 Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 842.

227 Vgl. Lobe, W„ 1873, S. 207, 281 ff.; ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 41 u. 42. 228 Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 535. 229 Vgl. Pruns, H., T. 1,1978, S. 45ff. 230 Denkschrift über die staatlichen Meßregeln zur Förderung der Landeskultur in Preußen, 1859, S. 12 ff. 231 Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 531 ff. 232 Vgl. ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 42, Bd. 3, Bl. 21; Lobe, W., 1873, S. 204 ff. 233 Bittermann, £., 1956, S. 115.

Drainage (15 Tlr. pro Morgen). Sie breiteten sich Ende der vierziger Jahre aus, zunächst in der Norddeutschen Tiefebene, um in den fünfziger Jahren in Bayern anzulangen. Dabei gingen von den feuchten Jahren 1852 bis 1855 besondere Impulse aus, so daß zahlreiche Maschinenfabriken Drainröhrenpressen in großer Stückzahl produzierten.227 Mit der Röhrendrainage konnte man großflächig den Wasserhaushalt durch Abführung überflüssigen Wassers, aber auch die Luftzuführung unterirdisch regulieren, ohne die einsetzende Maschinenarbeit zu behindern; sie war eine zwangsläufige Folge der Landmaschinentechnik. Die Drainage trug erheblich zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit bei, verwandelte kalte und nasse Böden in fruchtbare Acker- und Wiesenländereien, wie auch vielerorts die Feldbestellung zeitiger begonnen werden konnte. In Sachsen wurden 1852 bis 1855 bereits 1 402 Acker (etwa 776 ha?) entwässert, die preußische Oberlausitz drainierte Mitte der fünfziger Jahre 3 065 ha, braunschweigische Kammer- und Klostergüter knapp 5 000 ha. Auch zahlreiche Bauern betrieben Entwässerungsarbeiten. Seitdem war die Drainage, „dieses großartige Hilfsmittel zur Erreichung einer intensiveren und extensiveren Bodennutzung", in Deutschland in stetigem Fortschreiten begriffen.228 Eine Neubelebung erfuhren auch jene Meliorationsarbeiten, die in den Bereich der sogenannten Landeskultur fallen und vom Staat in Auftrag gegeben und ganz oder teilweise finanziert wurden, wie Eindeichungen, Urbarmachung, Flußregulierung, Bewässerung und so weiter. Nach dem Höhepunkt der großen Entwässerungsarbeiten im 18. Jahrhundert (Oder-, Warthe-, Netze-, Havelbruch, Donaumoos und anderes) war auf diesem Gebiet durch die napoleonischen Kriege, Agrarreformen, Gemeinheitsteilungen und Separationen jahrzehntelang ein Stillstand eingetreten. Erst in den vierziger Jahren wurden neue Gesetze erlassen und größere Finanzmittel bereitgestellt, die zahlreiche landeskulturelle Maßnahmen wieder in Gang brachten. 229 In Preußen wurden 1849 bis 1859 etwa 298 000 ha wertvolles, an größeren Flüssen liegendes Acker- und Wiesenland eingedeicht und vor Überschwemmungen geschützt, 160 000 ha Land ent- oder bewässert und der landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt.230 Im Großherzogtum Hessen konnten zwischen 1830 und 1843 etwa 3 625 ha Land durch Berieselung verbessert werden, wodurch sein Wert um zwei Millionen Gulden stieg. Wiesenbewässerung größeren Stils fand im Kreis Siegen und in der Provinz Lüneburg unter dem Motto „Wasser macht Gras" statt. Durch die Rheinregulierung in Baden gewann man bis 1860 nicht nur etwa 6 560 ha Kulturland, sondern verwandelte durch die Senkung des Wasserspiegels bedeutende Flächen kümmerlichen Graslandes in ertragreiches Ackerland.231 Zahlreiche Arbeiter gingen bei all diesen Meliorationsarbeiten mit Schaufel, Hacke und Spaten ans Werk, um wertvolles Land zu gewinnen, aber man machte auch schon Versuche mit Dampfbaggern und Dampfgrabenpflügen, ohne daß Näheres über Erfolg, Leistung oder Schwierigkeiten bekannt ist.232 Handgeräte blieben vorherrschend, und der Bedarf an Wiesenbeilen, Wiesenspaten, Erdstampfern, Setzlatten, Nivellierungsinstrumenten und anderem mehr stieg stark an. Zur Maschinenanwendung und zum Meliorationswesen gesellte sich die Düngung, die an Wichtigkeit gewann. Die Intensivierung des Ackerbaus, vor allem die Einführung des Hack- und Ölfruchtbaues, erzeute einen erhöhten Nährstoffbedarf. Durch die Ausdehnung der Nutzviehhaltung (vgl. 3.4.3.) vergrößerte sich der Dunganfall. Glaubhafte Schätzungen besagen, daß um 1800 je Hektar etwa 9 dt Stalldung anfielen, 1878/80 aber bereits 23 dt. 233 - Und die Viehwirtschaft deckte bis 1870 noch weitgehend den Nährstoffbedarf. Praktische Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse hatten die Bauern, mehr aber noch die Inhaber der Gutsbetriebe, gelehrt, daß die Art der Nutztiere, die Qualität und Menge des Futters und das Einstreumaterial den Wert des Mistes bedingten. Die Mistpflege war jedoch vielerorts, besonders bei Bauern, schlecht - nicht zuletzt infolge unzureichender Düngerlagerstätten. Die festen Bestandteile wurden zwar auf dem Misthaufen gesammelt, aber die Gülle ließ man im Boden versickern. Das war nicht nur ein volkswirtschaftlicher Verlust, sondern dadurch stieg nicht selten der Stickstoffgehalt des Grundwassers an, was bei Kleinstkindern zu schweren gesundheitlichen Schäden führte, deren Ursachen lange unerkannt blieben, weil erst ziemlich spät Trinkwasseruntersuchungen vorgenommen wurden. Die Mistdüngung erfolgte bei der verbesserten Dreifelderwirtschaft in der Regel 274

für das bebaute Brachfeld, das heißt jedes dritte Jahr. Auf 1 ha rechnete man bei guten Wirtschaften 16 bis 20 Fuhren zu 12 bis 13 dt, das waren 192 bis 260 dt.234 Bei stärkerem Hack- und Ölfruchtanbau düngte man jedes zweite Jahr. Auf die Dauer konnte jedoch die Getreide-Hackfrucht-Wirtschaft ihren Nährstoffbedarf nicht mehr aus der eigenen Viehhaltung decken. Es war vor allem die Agrikulturchemie, die nach 1840 die Pflanzenphysiologie und den Zusammenhang von Pflanzen und Boden komplex und nach naturwissenschaftlichen Grundsätzen erforschte (vgl. 3.3.3.) und der Landwirtschaft damit neue Perspektiven eröffnete. Ohne diese Kenntnisse war die Landwirtschaft nich mehr denkbar, und ihre Anwendung ermöglichte eine weitere Intensivierung der Produktion. Neben dem Stalldung und den den Boden bereichernden Leguminosen traten nunmehr wirtschaftsfremde, das heißt industriell hergestellte, Düngemittel stärker in Erscheinung, die in mineralische und animalische unterschieden wurden. Zu den mineralischen zählten Kalk, Kali, Gips, Phosphorit und Ammoniak, zu den animalischen Knochen, Hornmehl, Guano, Tierresidua und anderes. Kalk, Gips und Mergel fanden schon im 18. Jahrhundert Anwendung und wurden zumeist in den Höfen naheliegenden Gruben gewonnen; auch Asche wurde zum Düngen benutzt. Doch diese Mittel hatten keine spektakulären Ertragssteigerungen zur Folge, wenngleich sie nicht ohne Wirkung waren. Erst Kali, Guano und Knochenmehl erlangten größere Bedeutung und bildeten die Grundlage der entstehenden Düngemittelindustrie, weil sie die für die Pflanzenernährung wichtigen Elemente Stickstoff, Phosphor und Kalium enthielten. Der stickstoffhaltige Guano wurde aus Ubersee importiert und in den entstehenden chemischen Fabriken oder Werkstätten be- oder verarbeitet und gelangte in den vierziger Jahren in der Landwirtschaft zur Anwendung. Die Firma Albert Reinhold in Elberfeld betrieb bereits 1842 einen regen Handel mit Guano und nannte das Rheinland und Westfalen ihre größeren Absatzgebiete.235 Im gleichen Jahre wurden in Sachsen erst 2,5 dt Guano auf die Felder gestreut, 1847 waren es schon 10 000 dt und 1853 belief sich die Menge auf 60 000 dt. 236 In Königsberg/Preußen betrug der Absatz an Guano 1853 4 950 dt, 1854 6 750 dt, 1855 7 200 dt, 1856 13 000 dt und 1857 14 750 dt. 237 Der Regierungsbezirk Düsseldorf meldete 1851 einen Verkauf von 17 725 dt. 238 Die Guano-Einfuhr in Deutschland belief sich 1878 auf 116 000 t, die von Chilesalpeter 1859 auf 7 210 t und 1878 auf 59 500 t. 239 Dies war der Entwicklung der deutschen Schiffahrt, des internationalen Fernverkehrs und der Verbesserung des Binnenverkehrs zu danken. Größer war der Verbrauch an Knochenmehl, geschätzt wegen seines Gehalts an Phosphorsäure und Stickstoff. Knochen waren lange Zeit ein gewinnträchtiger Ausfuhrartikel. Großbritannien vor allem war ein Abnehmer großer Mengen von Knochen aus Deutschland. Sie wurden in Fabriken bei London zu Knochenmehl verarbeitet und als Düngemittel verkauft. In den dreißiger Jahren galt dort das Sprichwort, „daß eine Tonne deutscher Knochen zehn Tonnen deutsches Getreide erspare".240 Aber nachdem die Agrikulturchemiker den hohen Düngerwert des Knochenmehls erkannt hatten und es mit Hilfe von Schwefelsäure zu „Superphosphat" verarbeitet wurde, stieg der Absatz von Knochenmehl sprunghaft an. Mitte der sechziger Jahre bestanden im Zollverein bereits 600 größere und kleinere Knochenmühlen, die zum größten Teil Düngemittel erzeugten.241 Ungefähr zur gleichen Zeit entdeckte die Agrikulturchemie den Wert der Kalisalze für die Erhaltung und Steigerung der Bodenfruchtbarkeit und weckte damit einen Bedarf, der eine bedeutsame Düngemittelindustrie ins Leben rief. Bei Staßfurt, eine Zeitlang die einzige Abbaustätte für Kalisalze, wurden 1861 zwar erst 2 3001 gefördert, doch 1870 waren es schon 288 6001 - eine Entwicklung, die nach 1870 gewaltige Ausmaße erreichte (vgl. Bd. 2, S. 189 f.). Die Ausbringung des mineralischen Düngers geschah überwiegend mit der Hand und war gesundheitsschädlich, belästigte Hände und Augen. Schon in den fünfziger Jahren wurden daher Düngerstreumaschinen entwickelt, die die Arbeit erheblich erleichterten und gleichmäßiger streuten. Ihre Verbreitung war bis 1870 jedoch noch sehr gering und beschränkte sich auf große Güter. Die Bedeutung der mineralischen Düngung war auch zahlreichen Bauern bewußt. In der preußischen Oberlausitz zum Beispiel wurden 1857 verbraucht: an Knochenmehl 1 112 dt auf Gütern, 1 260 dt von Bauern; an Guano 4 626 dt auf Gütern, 275

234 Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 818. 235 ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 72, Bd. 1, B1.370. 236 Vgl. Berthold, R„ 1979, S. 251 f. 237 ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 77, Bd. 2, Bl. 118. 238 Ebenda, Nr. 72, Bd. 1, Bl. 191, 343. 239 Klein, E„ 1973, S. 98. 240 Staatsarchiv Münster, Oberpräsidium, Nr. 1735, Bd. 1, Bl. 98. 241 Vgl. Berthold, R„ 1979, S. 252 ff.

242 Jacobi, L., 1860, S. 336. 243 Ehrenberg, R., 1906, S. 188, 369 ff. 244 Rintelen, P., 1970, S. 372; Friedrich Aereboe, 1965, S. 20 ff.

3.4.2. Pflanzenproduktion

1 434 dt von Bauern, an Kalk 17 207 dt auf Gütern und 25 127 dt von Bauern. 242 Der Verbrauch an mineralischen Düngemitteln nahm vor allem zu, wenn Eisenbahnstrecken das Absatzgebiet erweiterten und einen kostengünstigeren Bezug ermöglichten. Das ritterschaftliche Gut Laiendorf in Mecklenburg bezog im Durchschnitt jährüch 1846/53 für 126 M und 1853/60 für 875 M künstliche Düngemittel. Im Jahre 1864 erhielt Laiendorf einen unweit vom Gut gelegenen Eisenbahnanschluß, und der Bezug belief sich 1867/74 auf 1 983 M. Seitdem nahm der Verbrauch an mineralischen Düngemitteln rapide zu.243 Die Anwendung mineralischer Düngemittel, von Landmaschinen und verbesserten Ackergeräten verlangte entsprechendes Kapital. Die Wirtschaftskraft der Betriebe bestimmte ganz eindeutig, wieviel an technischem und wissenschaftlichem Fortschritt gekauft werden konnte, insofern er als Arbeitsmittel vergegenständlicht war. Die großen Betriebe konnten sich mehr an Fortschritt leisten als die kleinen, was zur Überlegenheit des Groß- über den Kleinbetrieb führen sollte. Auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Landschaften verstärkten sich vorerst. Während bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur geringe Unterschiede zwischen Klein- und Großbetrieben in produktionstechnischer Hinsicht bestanden, bildeten diese sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker heraus und wurden nach 1870 ein wichtiges Element in der weiteren Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft. Insgesamt war der mengenmäßige Umfang an eingesetzten Landmaschinen und Kunstdünger bis 1870 noch bescheiden. Der Kunstdüngeranwendung stand noch die viele Landwirte beherrschende „Lehre von der Statik" entgegen, jene von Autarkiedenken beseelte agrarökonomische Auffassung, wonach die ganze Betriebsorganisation auf einem innerbetrieblichen Gleichgewicht beruhe: die Nährstoff- und Humusversorgung habe durch die eigene Viehhaltung und deren Ernährung durch wirtschaftseigene Futterbeschaffung auf der Grundlage eines ausgewogenen Akker-Grünland-Verhältnisses zu geschehen,244 eine Auffassung, die erst nach 1870 überwunden werden konnte. Landmaschinen und Kunstdünger mochten zwar in vielen Einzelfällen zu einer recht beträchtlichen Ertragssteigerung geführt haben, aber für die Gesamtlandwirtschaft waren sie von keiner ausschlaggebenden Bedeutung. Die Ertragssteigerung war bis 1870 vielmehr und hauptsächlich der besseren Bodennutzung und -bearbeitung, der Ausdehnung der Anbaufläche, der Einführung und Ausbreitung der Hack- und Blattfrüchte, der Drainage und besserer Viehhaltung zu verdanken. Dennoch stellte die Anwendung von Maschinen und Kunstdünger zwischen 1840/50 und 1870 einen Neubeginn in der Landwirtschaft dar. Sie war ein wichtiger Bestandteil der tiefen Veränderungen im System der Produktivkräfte des 19. Jahrhunderts, die zuerst die Franzosen als „Agrarrevolution" bezeichneten - ein Begriff, der sich langsam international durchsetzt.

Die Bodennutzungssysteme, die Art und Weise der Verwendung des Bodens zur landwirtschaftlichen Produktion, die zeitlich geregelte Folge der auf den einzelnen Schlägen des Ackerlandes anzubauenden Kulturpflanzen setzten im 19. Jahrhundert jene Veränderungen fort, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert abzuzeichnen begonnen hatten (vgl. 3.2.1.). Die Verbesserung der bisherigen Betriebsweisen oder die Einführung neuer Bodennutzungssysteme - also die Entwicklung der Produktivkräfte in der Pflanzenproduktion - verlief nicht nach den Regeln eines Fortschrittsautomatismus, sondern hing von zahlreichen natürlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren ab. Bodenverhältnisse, Klima, Kulturlandschaften waren zu berücksichtigen. Ablösungen, Gemeinheitsteilungen und Separation beeinflußten Einführung, Verlauf und Tempo. Urbanisierung, Markt, Handel und Kommunikation entschieden über Intensität und Produktionsstruktur. Entstehende agrare Nebengewerbe und industrieller Rohstoffbedarf wirkten auf das Anbaugefüge ein. Mangelnder oder ausreichender Kapitaleinsatz verzögerte oder beschleunigte die notwendigen oder wünschenswerten Verbesserungen. Krisen oder Konjunkturen schließlich konnten zu Verschiebungen im Anbaugefüge führen und über Erfolg oder Mißerfolg neuer Betriebsweisen entscheiden. So hat die Agrarkrise in 276

den zwanziger Jahren, die zu einem rapiden Sinken der Getreidepreise führte und hauptsächlich die ostelbischen Güter traf, den Getreidebau eingeschränkt und den Anbau von Kartoffeln, Tabak, Raps, Klee und Rüben gefördert, wenn nicht sogar durchgesetzt.245 Getreideüberproduktionskrisen konnten also erheblich die Produktionsstruktur verändern, zu neuen Bodennutzungssystemen führen, eine Verbesserung des Ackerbaus, das heißt eine günstige Entwicklung der Produktivkräfte bewirken, wenngleich arge soziale Folgen damit verbunden waren (Konkurse, Verschuldung usw.). Wie sich die einzelnen Bewirtschaftungssysteme bis 1850/60 durchgesetzt haben, zeigt folgender Uberblick: Die Fruchtwechselwirtschaft, „das vollendetste Wirtschaftssystem", wie es die Zeitgenossen nannten, war im ausgedehnteren Maße zu Hause im südlichen Westfalen, besonders Kreis Siegen in der Pfalz, im westlichen und nördlichen Baden und in Württemberg, in Sachsen, Südschlesien, in den Provinzen Preußen und Sachsen. Auf den meisten Böden herrschte jedoch die verbesserte Dreifelderwirtschaft. Sie dominierte in Nord- und Ostschlesien, in Ostpreußen, Hannover, Braunschweig, Hessen und Bayern. Die Koppelwirtschaft fand sich fast im ganzen Norden, in Oldenburg, Ostfriesland, Holstein, Mecklenburg und Vorpommern, ferner im nordwestlichen Teil Westfalens, in Nassau, der Eifel und im Hunsrück und Erzgebirge sowie in der Form der Egartenwirtschaft im Alpengebiet. Im südlichen Württemberg verband sich die Koppelwirtschaft mit der Dreifelderwirtschaft und in den Fruchtwechsel ging sie in der Mark Brandenburg über, hauptsächlich im Oderbruch, und in Teilen Pommerns. Darüber hinaus herrschten in einigen Gebietsstrichen sogenannte freie Körner- und Wechselwirtschaften. Die Aufeinanderfolge der Anbaufrüchte wurde nach freiem, eigenem und lokalem Ermessen geregelt. So baute man beispielsweise im nördlichen Münsterland auf den schlechten Sandböden vier bis 15 Jahre hintereinander Roggen, um im letzten Schlag Spörgel oder Rüben einzubringen, darauf Buchweizen zu säen, und begann dann die Reihe wieder mit Roggen, der jedes Jahr eine Düngung erhielt. Auch in der Ober- und Niederlausitz und im oberen Vogtland wurde vier bis fünf Jahre hintereinander der Halmfruchtbau fortgesetzt und anschließend von einem reinen Brachschlag unterbrochen.246 Nicht jede Fruchtwechselwirtschaft, die in der zeitgenössischen Literatur oder in den Quellen beschrieben wird, war in reiner Gestalt eingerichtet. Nicht selten waren in der Rotation zwei aufeinanderfolgende Getreideschläge zu finden. Und nicht alle Gegenden, die für die Fruchtwechselwirtschaft bekannt waren, wurden ausschließlich von ihr beherrscht. So existerte sie in Sachsen vornehmlich auf den größeren Gütern, während auf den Bauernwirtschaften die verbesserte Dreifelderwirtschaft in einer neunschlägigen Fruchtfolge (zum Beispiel 1. Winterweizen, 2. Hafer, 3. Kartoffeln, 4. Winterweizen, 5. Sommergerste, 6. Futterrüben, 7. Weizen, 8. Roggen und 9. Rotklee) angewandt wurde.247 Es ist schwierig, allgemeine Entwicklungstendenzen bei der Verbreitung und Durchsetzung der verschiedenen Bodennutzungssysteme zu fixieren. Aber man kann feststellen: Die kapitalaufwendigere Fruchtwechselwirtschaft wurde zumeist in Ostelbien und hier vor allem auf den größeren Gütern angewandt; auf den Domänen, die von kapitalkräftigen und intelligenten Pächtern verwaltet wurden, dabei weit eher und schneller als auf den adligen Rittergütern. Auch die Koppelwirtschaft wurde in der Regel auf den großen Gütern betrieben, die damit zugleich die Basis einer ausgedehnten, zum Teil konjunkturbedingten oder den Getreideausfall ersetzenden Viehhaltung (Schafhaltung) bildete. Die verbesserte Dreifelderwirtschaft eroberte sich überwiegend die Bauern wirtschaften, wenngleich Großbauern, die viel eher zum Fortschritt neigten, auch die Fruchtwechselwirtschaft einführten. In westlichen Gebieten Deutschlands, wo ausgedehnter, äußerst zersplitterter Bodenbesitz herrschte, dominierte, beeinflußt durch günstige Bodenverhältnisse, größere Absatzzentren und günstigere bäuerliche Abhängigkeitsverhältnisse in der Vergangenheit, eine schon mehr im Stile des Gartenbaus betriebene Fruchtwechselwirtschaft.248 Wenn die Bauern wirtschaften vornehmlich zur verbesserten Dreifelderwirtschaft übergingen, so verwundert es auch nicht, daß sie als umfangreichste Gruppe aller landwirtschaftlichen Betriebsgrößenklassen das Bild der Bodennutzungssysteme 277

245 Abel, W„ 1978(a), S. 238 f. 246 Lengerke, A. v„ Bd. 2/1, 1840, S. 332 ff.; Die Landwirtschaft in ihrer wissenschaftlichen Epoche, 1854, S. 34 f.; Viebahn, G. v., Bd. 2, 1862, S. 813 ff. 247 Klein, E., 1973, S. 94. 248 Zeitschrift für die landwirtschaftlichen Vereine des Großherzogtums Hessen, 1844, S. 4 f.

bestimmten. Die Vorherrschaft der verbesserten Dreifelderwirtschaft um 1870 äußerte sich letzten Endes in einer entsprechenden Anbaustruktur des Ackerlandes, das in Deutschland zu dieser Zeit etwa zu 60 % mit Getreide bestellt wurde.249 Mit der Einführung neuer oder verbesserter Betriebsweisen, die nunmehr auch die bisher dürftigen Weiden, Wiesen und kultiviertes Ödland zunehmend einbezogen, dehnte sich das Ackerland in ganz Deutschland zwischen 1820 und 1870 von etwa 18 Millionen ha auf etwa 25 Millionen ha aus, also um etwa 40 bis 45 %, wobei es in Preußen schon um 1860 seine größte Ausdehnung erreicht hatte. 250 In Preußen betrug der Anteil des Ackerlandes an der Gesamtfläche des Staates 1802 36,1 %, 1830 43,5%, 1852 44,6%, 1864 50,6% und 1878 52,2 % 251 Die Ausdehnung des Ackerlandes ging zugleich mit der Zurückdrängung der Brache einher. Betrug sie um 1800 noch etwa 25 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche, so waren es 1850 etwa 15 % und um 1870 noch neun bis zehn Prozent. Das waren immerhin noch 2,5 bis 3 Millionen ha Land. Doch eine weit größere Fläche wurde durch die Beseitigung der Brache gewonnen, und zwar vier Millionen ha, was zugleich einen beträchtlichen Zuwachs der pflanzlichen Produktion und eine erhebliche Intensivierung des Akkerbaus mit sich brachte. Hinzu kamen noch etwa 0,5 Millionen ha durch Meliorationen und etwa sieben Millionen ha durch Kultivierung der bisherigen Gemeinheiten, woraus ersichtlich wird, daß die Gemeinheitsteilung eine wichtige Voraussetzung für die Ausdehnung der Produktion im 19. Jahrhundert gewesen ist.252 Am stärksten war die Erweiterung des Ackerlandes in den preußischen Ostprovinzen. Von den um sieben Millionen ha neuen Ackerlandes, die in Preußen von 1815 bis in die sechziger Jahre gewonnen wurden, entfielen etwa fünf Millionen ha auf die Provinzen Preußen, Pommern, Brandenburg und Posen, eine Million ha auf Schlesien, 500 00 ha auf die Provinz Sachsen und nur 350 000 ha auf das Rheinland und Westfalen, wobei die Zunahme zwischen 1815 und 1849 am größten war und nach 1860 kaum noch ins Gewicht fiel 253 (vgl. Tab. 45). Tabelle 45 Ackerland in Preußen 1815, 1849 und 1864

Gebiet

1815

1849

1864

Preußischer Nordosten Schlesien Provinz Sachsen Rheinland-Westfalen

rund

3,2a 1,29 1,01 1,78

7,38 1,75 1,31 2,02

8,25 2,18 1,51 2,13

Preußen

rund

7,3

12,46

14,07

• Alle Angaben in Mio. ha. Gebietsstand von 1815. Quelle: Franz, G., Landwirtschaft 1800-1850, in: Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 309.

Angesichts dieser Zahlen kann oder muß man sogar von einem Landesausbau großen Stils sprechen. Ostelbien wurde in dieser Zeit zur eigentlichen Kornkammer Preußens und Deutschlands. Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Nutzfläche von 1800 bis 1878 und die Veränderung der einzelnen Anteile gibt Tabelle 46 wieder: Tabelle 46 Entwicklung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland 1800 und 1878

Jahr

LN

Ackerland

Garten-, Wiesen Reb- und Obstland

Weiden

Grünland

Acker- und Grünland zusammen

1800 1878

30 000" 36 726

18 000 25 665

541 532

5 511 4 616

11 459 10 530

29 459 36195

5 948 5 914

a

Alle Angaben in 1 000 ha. Quelle: Bittermann, E., Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland 1800-1950. Ein methodischer Beitrag zur Ernittlung der Veränderungen d«;s Umfanges der landwirtschaftlichen Produktion und der Ertragssteigerung in den letzten 150 Jahren, in: Kühn-Archiv, Bd. 70, Halle 1956, S. 22. 249 Vgl. Krzymowski, Ft., 1951, S. 270. 250 Henning, F.-W., 1978, S. 75. 251 Kellermann, W„ 1906, S. 291. 252 Henning, F.-W., 1978, S. 75. 253 Franz, G„ 1976, S. 308; Heitz, E., 1882, S. 57 ff. 254 Bittermann, E., 1956, S. 22.

Die Wiesenfläche, vor 1800 die „Mutter des Ackerlandes", weil sie über die Viehhaltung den notwendigen Dung lieferte, blieb im 19. Jahrhundert ziemlich konstant, ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche ging jedoch zugunsten des Ackerlandes zurück. Während das Verhältnis von Grün- zu Ackerland um 1800 noch etwa 1:1,57 betrug, war es 1878 nur noch 1:2,44. 254 278

Die Nutzung des Ackerlandes läßt sich schwieriger bestimmen, weil erst nach 1870 genauere Zählungen stattfanden. Bittermann berechnete für 1800 und 1883 das aus Tabelle 47 ersichtliche Verhältnis: Früchte

1800 in%

1883 in %

Weizen Spelz Roggen Gerste Hafer Sonstiges Getreide

4,6 2,4 25,1 11,6 15,6' 1,8

7,5 1,5 22,6 6,8 17,6 2,2

Getreide zusammen

61,1

55,2

Hülsenfrüchte

3,9

2,9

Kartoffeln Zuckerrüben Futter-Hackfrüchte

1,5 0,8

11,3 1,3 2,2

Hackfrüchte zusammen

2,3

14,8

Gartengewächse

-

-

0,5

Handelsgewächse

3,8

1,4

Futterpflanzen darunter Klee und Kleegras Luzerne

3,9 -

11,3 7,9 0,7

-

5,8

Ackerweide Brache Sonstiges

-

25,0 -

Tabelle 47 Nutzung des Ackerlandes 1800 und 1883

7,2 0,9

Quelle: Bitteimann, E., Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland 1800- 1950. Ein methodischer Beitrag zur Ermittlung der Veränderungen des Umfanges der landwirtschaftlichen Produktion und der Ertragssteigerung in den letzten 150 Jahren, in: Kühn-Archiv, Bd. 70, Halle 1956, S. 24.

Nach Tabelle 47 und nach zeitgenössischen Berichten können wir davon ausgehen, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Getreidebau seinen Anteil an der Gesamtackerfläche behauptet hat. Etwa 40 % der Getreideanbaufläche entfielen auf Roggen. Der Weizenanbau nahm zu, dagegen ging der Gerstenanbau spürbar zurück. Die größte Steigerung wiesen der Hackfrucht- und Feldfutterbau auf, beide dürften um 1850 etwa je zehn Prozent des Ackerlandes eingenommen haben. Hat der Anbau der Hack- und Futterkräuterkultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon eine erhebliche Veränderung in die vom Getreide beherrschte traditionelle Anbaustruktur gebracht, so verschob sich nun auch die Getreideanbaustruktur selbst - jedoch regional recht unterschiedlich. Für Sachsen zum Beispiel gibt die in Abbildung 14 (S. 282) wiedergegebene grafische Darstellung über die Entwicklung des Getreide- und Kartoffelanbaus Auskunft. Die Veränderungen im Getreideanbau, insbesondere die relativ schnellere Zunahme des Weizenanbaus und die regionalbedingte Zunahme des Gerstenanbaus im Gegensatz zur Gesamtentwicklung (vgl. Tab. 47), die durch Veränderungen in der Ernährungsstruktur, Entstehung und Entwicklung von Verarbeitungsbetrieben landwirtschaftlicher Produkte (Brauereien und Brennereien), Export von Weizen und anderes mehr beeinflußt wurde, zeichnen sich in jenen Gebieten noch stärker ab, aus denen bestimmte Kulturen - wie der Dinkel in Süddeutschland - allmählich verschwanden. So nahm zum Beispiel der Weizen- und Gerstenanbau in Bayern erheblich zu, während die Roggen-, Dinkel- und Haferanbauflächen zurückgingen. Diese Veränderungen sind aus den Karten, die die Weizen- und Gerstenanbauflächen in Bayern von 1812 und 1883 ausweisen, abzulesen. Bei der Einführung der Bodennutzungssysteme wurde schon auf gewisse soziale Abhängigkeiten verwiesen. Die Verflechtung von Sozialstruktur und dem Anbau von Hackfrüchten und Feldfutterpflanzen ist besonders eng. Der Feldfutterbau wurde von den Gutsbetrieben und großbäuerlichen Wirtschaften in stärkerem Umfange betrieben als von mittleren und kleineren Betrieben, wie auch die größeren Güter die Schrittmacher bei der Ausbreitung des Futterkräuteranbaues gewesen sind. 279

7-10 Quelle: Borcherdt, Ch., Die Innovation als agrargeographische Regelerscheinung, in: Universität des Saarlandes. Arbeiten aus dem Geographischen Institut, Bd. 6, Saarbrücken 1961, S. 36 u. 38.

Karte 7 - 1 0

Veränderungen im Getreideanbau (Weizen und Gerste) Bayerns (ohne Pfalz) zwischen 1812 und 1853 Karte 7/8 Weizenanbau in Bayern 1812

1853 Weizen in % vom Getreide I 1 < 7% r~i i - 7%

rrm 7 -12% ES

12 - 20%

rrm 20 - 29%

Wrzburg

gSä 29 - 37% 8B8 > 37%

'Nürnberg1

\

Augiburg •Münchei

100km

Karte 9/10 Gerstenanbau in Bayern 1853

1812 Gerste in % vom Getreide

cm

[ZU

k5%

11-14 Quelle: Borcherdt, Ch., Die Innovation als agrargeographische Regelerscheinung, in: Universität des Saarlandes. Arbeiten aus dem Geographischen Institut, Bd. 6, Saarbrücken 1961, S . 1 8 u . 26.

Karte 11-14

Veränderungen im Kartoffel- und Feldfutteranbau Bayerns (ohne Pfalz) zwischen 1853 bis 1883 Kartell/12 Kartoffelanbau in Bayern Kartoffeln in % des Ackerlandes I—I

21,0%

100hm

y

Karte 13/14 Feldfutteranbau in Bayern

Anteil v.H. des Ackerlandes EU 0-5% KS 5- 8% EZ3 8-12% ^ 12-15% I D U 15-18% 18-21%

SB

Würzburg.

> 21%

Nürnberg

Ras

sau),

Augsburg, München &

100hm

281

14 Die Entwicklung des Getreideund Kartoffelanbaus in Sachsen 1830-1860

uA 1830

WL 1846/50

1851/55

1856/60

Hafer Kartoffeln

255 Henning, F.-W., 1969(b), S. 58; Müller, /., 1976, S. 27 ff. 256 Schremmer, £., 1963, S. 133.

Dagegen verbreitete sich die Kartoffel vor allem in den landwirtschaftlichen Kleinbetrieben. Eine genaue kartographische Erfassung des Anbaus und Verbreitungsgebietes von Kartoffeln und Feldfutterpflanzen, die jedoch aus Materialgründen kaum durchzuführen ist, würde zugleich die sozialökonomische Differenzierung auf dem Lande widerspiegeln. Insbesondere für das entstehende ländliche Proletariat und den bäuerlichen Kleinbesitz bildete die Kartoffel eine unerläßliche Existenzgrundlage. Der Hauptwert der Kartoffeln bestand in ihrem hohen Kaloriengehalt je Hektar. Während von einem Hektar Getreide nur etwa drei Millionen Kalorien (12,5 Millionen Joule) gewonnen werden konnten, erbrachte ein Ertrag von 80 dt/ha Kartoffeln, wie er bis 1860 üblich war, mit etwa sieben Millionen Kalorien (29,3 Millionen Joule) mehr als das Doppelte. Die für die Ernährung einer Familie erforderliche Fläche fiel damit von sieben bis acht ha - unter Einschluß der zunächst noch üblichen Brachflächen — auf zwei bis drei ha. Damit wurde eine große Zahl der Klein- und Kleinstbauern wieder in die Lage versetzt, die auf dem Hofe wohnenden Menschen zu ernähren. 255 Kartoffelmißernten, wie sie in den vierziger und fünfziger Jahren auftraten, mußten daher andererseits zu katastrophalen Hungersnöten führen. In Württemberg zum Beispiel waren von der Kartoffelkrankheit, gemessen an der Ernte, 1848 14 %, 1849 16 %, 1850 3 6 % , 1851 4 4 % , 1852 11 % und 1853 fünf Prozent befallen. 256 Die Kartoffel - sie lieferte viel höhere Flächen- und Nährstofferträge (Kohlenhydrate) als das Getreide und wurde zu einer tragenden Säule der Ernährungswirtschaft - verbreitete sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Deutschland. Dabei sind deutlich regionale Unterschiede zu erkennen. Nehmen wir wieder Bayern, wo um 1840 etwa 11,3 Millionen Scheffel Kartoffeln erzeugt wurden. Karte 11/12 bietet ein differenziertes Bild vom regionalen Kartoffelanbau in den Jahren 1853 und 1883, der mit dem Feldfutterbau verglichen wurde. Die Gegenüberstellung läßt in gewisser Weise die sozialökonomische Bedingtheit der Anbauverhältnisse erkennen: Starker Kartoffelanbau (klein- und mittelbäuerlicher Besitz) vermindert den Feldfutterbau, wie auch umgekehrt starker Feldfutterbau den Kartoffelanbau beeinträchtigt. 282

Bei der geographischen Verbreitung der Kartoffel ist auch zu bemerken, daß in gebirgigen Gegenden, wie Oberschlesien, Erzgebirge, Vogtland, Fichtelgebirge, Spessart, fränkischen Jura, Rhönvorland, Westerwald, in denen die Bevölkerung ärmer war, ein starker Anbau betrieben wurde. 14 bis 18 % der Ackerfläche wurde hier mit Knollen bestellt. Die größte Ausdehnung erfuhr der Kartoffelanbau in Preußen. Er fand nicht nur in Thaer und Koppe seine eifrigsten Propagandisten, 257 sondern Bodenverhältnisse, technische Nebengewerbe und Viehmast wirkten auch als weitere fördernde Faktoren. Die Kartoffel erwies sich als eine ausgezeichnete Kultur für sandige, ärmere Böden, so daß sie in Preußen mit seinen ausgedehnten Flächen schlechter Bodengüte schnell Aufnahme fand. Die Kartoffel war zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein äußerst bedeutsamer Intensivierungshebel der ostelbischen Landwirtschaft. „Der Kartoffelbau, welcher jetzt in so ausgedehntem Umfange getrieben wird", war, wie die preußische Regierung 1843 feststellte, mit Recht „das eigentümlich Charakteristische der märkischen Landwirtschaft . . . Mergel und Kartoffelbau sind also die beiden Hilfsmittel, durch welche die Landwirtschaft auf ihren gegenwärtigen Zustande gebracht" wurde. 258 Was hier auf Brandenburg gemünzt war, galt auch für die anderen ostelbischen Provinzen. Vor allem mit der Entwicklung des Brennereigewerbes erhielt die Kartoffel auf den Junkerwirtschaften eine überragende Bedeutung (vgl. 3.5.). Im ersten Drittel des Jahrhunderts wurde auf den Gütern oft bis zu einem Drittel des Ackerlandes mit Kartoffeln bebaut. 259 Doch mit den Erkenntnissen von den Prinzipien des Fruchtwechsels und der Bedeutung des Kleebaus ging das Verhältnis auf etwa 10 bis 20 % zurück. Aber auch die Bauernwirtschaften betrieben einen regen und ausgedehnten Anbau. Im Oderbruch zum Beispiel kultivierte der „aufgeklärte und tüchtige Bauernstand", wie Koppe 1845 berichtete, „den vollen vierten Teil der Fläche seit 40 Jahren mit dem allerbesten Erfolg" mit Kartoffeln. 260 Von einem Hektar erntete er bis zu 300 dt, während sich der durchschnittliche Ertrag - natürlich abhängig von der jeweiligen Bodengüte, Düngung und Bodenbearbeitung - in Deutschland nur auf etwa 80 dt/ha belief. Dabei allerdings erzielte Bayern um 1850 bereits um die Hälfte höhere Erträge je Flächeneinheit als Preußen (etwa 40 bis 50 dt), und Sachsen lag wiederum weit über Bayern (etwa 140 dt). 261 Der Durchschnittsertrag hatte sich gegenüber 1800 kaum gehoben. Die Ursache mag darin zu suchen sein, daß zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Kartoffel häufig gartenmäßig angebaut wurde, seitdem aber große Flächen geringerer Bodengüte genutzt wurden und schließlich die verheerenden Kartoffelkrankheiten in den vierziger und fünfziger Jahren zu einem Ertragseinbruch geführt hatten. Bis 1870/80 stieg der Durchschnittsertrag auf etwa 90 dt, um Ende des 19. Jahrhunderts sprunghaft anzusteigen. Groß war die Bedeutung der Kartoffel außer für die Ernährung großer Teile der ärmeren Bevölkerung für die Brennerei, Viehfütterung und Düngerwirtschaft (Schlempe und Düngeranfall über Viehmagen), für den Fruchtwechsel und die Intensivierung der Landwirtschaft. Doch als Leitkultur der Inensivierung spielte die Zuckerrübe eine größere Rolle, obwohl ihr Anbau bei weitem nicht den Umfang der Kartoffelanbaufläche erreichte. Die Zuckerrübenfläche betrug, bezogen auf Deutschland, kaum mehr als zwei bis drei Prozent des Ackerlandes und erstreckte sich bei einem drei- bis vierjährigen Fruchtwechsel höchstens auf acht Prozent des Ackerlandes, wobei die territoriale Konzentration der Zuckerrübe (vgl. 3.5.) gebietsweise natürlich einen unvergleichlich größeren Einfluß auf die Landwirtschaft ausübte. Die Zuckerrübe konnte Leitkultur werden, weil von ihr ein ungleich größerer Intensivierungseffekt auf die Feldwirtschaft ausging als von der Kartoffel, und weil ihr die Zuckerrübenindustrie, die den Anbau der Rübenkultur immens beeinflußte, zu einem betriebs- und volkswirtschaftlichen Demonstrationseffekt verhalf, wie ihn die Kartoffel niemals erreichen konnte. Die verarbeiteten Rübenmengen, wie sie in Tabelle 56 ausgewiesen sind, entsprechen wohl zugleich der Ausweitung der Rübenkultur. Über die Vergrößerung der Anbaufläche wirkte die Zuckerrübe auf den gesamten landwirtschaftlichen Betrieb ein. Ein Hektar Zuckerrüben brachte doppelten Nutzen. Allein die Abfälle an Rübenköpfen und Blättern sowie an Naßschnitzeln und Melasse hatten in Stärkewerteeinheiten mehr Nährwert für das Vieh als das Futter von einer gleich großen Wiese. 283

257 ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 51, S. 14. 258 Ebenda, Rep. 87 B, Nr. 4. 259 Ebenda, Rep. 164a, Nr. 119, Bl. 1. 260 Ebenda. 261 Helling, G., 1977, S. 238.

262 Darstellung der RunkelrübenZuckerindustrie in der näheren Umgebung von Magdeburg, Bd. 4, 1844, S. 148 ff.; Bielefeldt, K., 1911, S. 58. 263 Koppe, J. G., Bd. 1,1841, S. 48. 264 MEW, Bd. 23, 1974, S. 581 f. 265 Koppe, J. G., Bd. 1, 1841, S. 49.

Den Zucker hatte der Landwirt als zusätzlichen Gewinn. In den Zuckerrübenanbaugebieten nahmen deshalb die Milchkuhbestände am schnellsten zu, wie überhaupt die Viehhaltung von der Rübenkultur am stärksten profitierte. Zugleich boten sich auch der Schafhaltung neue Möglichkeiten, da die auf den Feldern zurückgebliebenen Blätter und Rübenteile für fast drei Monate (Oktober bis Dezember) die Futterversorgung sicherten, sofern nicht der Winter frühzeitig einbrach. Ferner hinterließen der Rübenanbau und die entsprechende Bearbeitung den Boden in einem günstigen nährstoffmäßigen Zustand, so daß die nachfolgenden Getreidekulturen höhere Erträge lieferten. Die tiefe Bodenbearbeitung und die umfangreichen und lohnaufwendigen Pflegearbeiten begünstigten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Mechanisierung, die in der Provinz Sachsen und in Anhalt am frühesten und stärksten verlief. Die Zuckerrübe, deren Erträge sich in der Magdeburger Börde um 1850 auf 240 bis 300 dt/ha beliefen (Runkelrüben etwa 500 dt), wurde auch als erste Feldfrucht züchterisch bearbeitet (vgl. 3:3.3.) und ihr Zuckergehalt kontinuierlich gesteigert. Sie hat die Entstehung der wissenschaftlichen Pflanzenzüchtung befruchtet und ihren Aufschwung erst veranlaßt. Schließlich erlaubte die Zuckerverarbeitung eine bessere Auslastung der Arbeitskräfte und brachte den Agrarkapitalisten zusätzliche Profite. Da die Rüben als letzte Feldfrucht geerntet wurden, konnten jetzt die Landarbeiter, für die sonst die „arbeitsarme" Zeit begann, in der Zuckerfabrikation eingesetzt werden. Der Zuckerrübenanbau nahm daher in der landwirtschaftlichen Produktion gebietsweise eine Schlüsselrolle ein und hat in bezug auf Intensivierung, Organisation und Leistungsfähigkeit der agraren Produktion „kapitalistische Musterwirtschaften" entwickelt. Kartoffeln und Rüben, also die Hackfrüchte, trugen nicht nur dazu bei, daß die pflanzliche Produktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Ausmaße des Bevölkerungswachstums ansteigen konnte, sondern sie riefen auch beträchtliche Veränderungen im jährlichen Arbeitszyklus hervor, erhöhten den Arbeitszeitfonds und förderten neue Lohnsysteme, die auf die Getreidewirtschaft übertragen wurden. Die Hackkulturen erforderten viel Handarbeit und weiteten das Erntequartal aus. Sie beschäftigten beim Setzen wie beim Ernten der Kartoffeln und Rüben die Arbeitskräfte auch im Frühjahr und Herbst. Insbesondere die Rübenkultur war äußerst arbeitsaufwendig. Bis weit in die fünfziger Jahre geschah die Bodenbearbeitung mit der Hand. Auf zahlreichen Rittergütern der Provinz Sachsen, dem größten Rübenanbaugebiet Deutschlands, wurden Hunderte von Hektar mit dem Spaten gegraben. Auf diese Spatenkultur folgte ebenfalls in Handarbeit das Säen der Rübenkerne, Verziehen der Pflanzen, zwei- bis sechsmaliges Behacken der Früchte und Köpfen der Blätter. 262 Der gewaltige Arbeitsbedarf war schließlich auch Anlaß, Tiefpflüge zu konstruieren und die Mechanisierung zu fördern, die ihrerseits wiederum die Bodenbearbeitung und Rübenanbaufläche ausdehnten, ohne jedoch die Pflegearbeiten, insbesondere das Behacken, abzuschaffen. Der Kartoffel- und Rübenanbau hat zugleich die Frauen- und Kinderarbeit vermehrt, die bedeutend niedriger entlohnt wurde und die Profitaussichten der Agrarkapitalisten vergrößerte. Die hohe Arbeitsleistung erfordernde Intensivkultur zog auch intensive Arbeits- und Ausbeutungsverfahren nach sich und verbreitete vor allem die Akkordarbeit in der Landwirtschaft. Schon Koppe hatte begriffen: „Durch Anwendung dieser Mittel ist nicht ungewöhnlich, daß ein Mensch das Dreifache an Arbeit verfertigt, was in andern Gegenden, wo nur im Tagelohn oder gar im Hofedienst gearbeitet wird, das gewöhnliche Arbeitsmaß zu sein pflegt. Sind die Menschen in einer Gegend von Jugend auf zu dieser größeren und verständigeren Tätigkeit gewöhnt, so hat sie auf den ganzen Charakter der Arbeit Einfluß. Sie sind zu Arbeiten, die ihnen neu sind, anstelliger, und arbeiten auch im Tagelohn rascher". 263 Die Akkordarbeit bot, um Karl Marx zu zitieren, „einen größeren Spielraum", „die Individualität und damit Freiheitsgefühl, Selbständigkeit und Selbstkontrolle der Arbeiter zu entwickeln, andererseits ihre Konkurrenz unter- und gegeneinander". 264 Ergebnis der Akkordarbeit war nicht nur raschere Ausführung und Erledigung der landwirtschaftlichen Arbeiten, sondern sie zwang auch, wie Koppe urteilte,. zur Perfektionierung der Arbeit. 265 In den Rübenbaugebieten war die Akkordarbeit um 1860 schon allgemein verbreitet, was auch Getreideernte und -drusch einschloß, 284

und sie hat in der übrigen ostelbischen Landwirtschaft ebenfalls ziemlich schnell Fuß gefaßt. 266 Die Hackkultur im Zusammenhang mit der Akkordarbeit hat den Arbeitstag der Bauern und vor allem der Landarbeiter in der Bestell- und Erntearbeit bis auf 17 Stunden ausgedehnt und einen hohen Tribut an Arbeitskraft gefordert. Die hohen Arbeitsleistungen der Rübenarbeiter waren nicht selten mit gesundheitlichen Schäden verbunden. Pflanzen, Hacken, Säen, Fahren, Aufladen, Karren, Schippen und so weiter verursachten Muskel- und Gliederschmerzen; Rübenhacken und Rübenziehen führten zur Überanstrengung. Waden-, Arm- und Brustschmerzen waren die Folge. Mußte die Arbeit bei feuchtkalter Witterung bewältigt werden, stellten sich häufig Erkältungs- und rheumatische Erkrankungen ein. Krankheiten, Arbeitsausfall, Lohnausfall, ungenügende hygienische Einrichtungen, fehlende oder auch versäumte medizinische Betreuung haben sich in der kapitalistischen Landwirtschaft jener Zeit sehr drückend auf die Lebensverhältnisse der Landarbeiter ausgewirkt.267 Eine Landwirtschaft, die die Intensivierung auf ihre Fahnen schrieb, nutzte auch alle Möglichkeiten, um neben den anerkannten Kulturen neue Pflanzen anzubauen, die hohe Erträge versprachen. So führten zum Beispiel brandenburgische Gutsbesitzer Versuche mit Riesenstaudenroggen, amerikanischem Hafer, chilenischem, syrischem und marokkanischem Weizen, peruanischer Gerste und Guinea-Getreide durch. 268 Nicht alles gelang. Doch manche Kulturen erreichten die Akklimatisation. Zu ihnen gehörte der Mais, der in der oberrheinischen Tiefebene, im Einzugsgebiet der Oder und in Baden größere Anbaugebiete fand. Reifte er in Süddeutschland zum Korn, um als menschliche Nahrung zu dienen, so wurde er in Norddeutschland als Viehfutter (Grün- und Silofutter) geschätzt. Friedrich Wilhelm Lüdersdorf aus Weißensee bei Berlin sorgte erfolgreich für die Verbreitung. Andererseits unterlagen verschiedene traditionelle Kulturen einem starken Konzentrationsprozeß und einer Spezialisierung. Der Hopfen wurde nun hauptsächlich in Bayern (Hallertau) angebaut. Der Tabak mit seinem hohen Düngeranspruch wurde in der Uckermark, bei Schwedt/Oder und Nürnberg, im württembergischen Neckarkreis, in der oberrheinischen Tiefebene und in der Pfalz kultiviert. Der Weinbau schließlich konzentrierte sich auf die für ihn günstigsten Standorte am Rhein und an der Mosel, wo er auf intensiven Qualitätsanbau umgestellt wurde. Einstige Weinbaugebiete in Brandenburg, Sachsen, Schlesien und Bayern wurden bis auf geringe Reste (Saale, Unstrut, Elbe, Main, Donau) endgültig aufgegeben. Dagegen erfuhr der Obst- und Gartenbau eine zunehmende Ausweitung. Das Wachstum der Städte und die Zunahme der Bevölkerung erhöhten den Bedarf an Obst und Gemüse, der durch die entstehenden Eisenbahnen und die Verbesserung des Straßennetzes nun auch besser gedeckt werden konnte (vgl. 5.). Die Intensivierung der agraren Produktion hat ihre Wirkung auf die Ertragssteigerung der Pflanzenproduktion nicht verfehlt. Die Erträge je Flächeneinheit dürften in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts um etwa zehn Prozent gestiegen sein. 269 Uber die Entwicklung der Getreide- und Kartoffelerträge von 1846 bis 1870 informiert Tabelle 48 (S. 288). Die Durchschnittswerte in Sachsen waren bedeutend höher als im gesamten Deutschland; eine fortgeschrittene industrialisierte Region, wie es Sachsen fraglos war, wies bereits einen hohen Ausnutzungsgrad des Bodens auf. Fortschritte in der Industrie bedingten also entsprechende Fortschritte in der Landwirtschaft, um den höheren Nahrungsmittelbedarf zu decken. Von 1800 bis um 1870 stiegen die Erträge bei Weizen um etwa 45 Prozent und bei Roggen um etwa 40 Prozent. Weit stärker erhöhten sie sich bei Gerste und Hafer, und zwar um rund 85 und 95 Prozent. 270 Wie die Einführung neuer Kulturen, so hatte auch die Getreideertragssteigerung den Arbeitsaufwand erhöht, begleitet von einer Steigerung der Arbeitsproduktivität (vgl. 3.4.4.), und die Akkordarbeit hatte mit all ihren Vor- und Nachteilen, die bereits angedeutet wurden, größeren Eingang gefunden. Die Arbeitsverfahren in der Getreideernte, die Benutzung von Sense, Sichel oder Sichte, die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau beim Mähen und Binden sowie das Aufstellen der Garben waren regional unterschiedlich. 285

266 Vgl. Plaut, H., 1979, S. 197; Die Lage der ländlichen Arbeiter, 1875, S. 447; Bernhard, L., 1903, S. 45 ff. 267 Vgl. Plaul, H„ 1979, S. 274 ff. 268 ZStA Merseburg, Rep. 164a, Nr. 32. 269 Henning, F.-W., 1973, S. 186. 270 Bittermann, £., 1956, S. 34.

Karte 15

Verwendung von Sense, Sichel und Sicht bei Erntearbeiten in Deutschland um 1865 15 Quelle: Weber-Kellermann, I., Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts, Marburg 1965, Anlage Karte 4.

286

Karte 16

Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen beim Mähen in Deutschland um 1865 16 Quelle: Weber-Kellermann, I., Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts, Marburg 1965, Anlage Karte 5.

287

Tabelle 48 Ernteerträge und Hektarerträge im Königreich Sachsen und in Deutschland von 1846 bis 1870 in Tonnen und Dezitonnen

Jahr

Gerste

haErtrag in dt

Hafer

haErtrag in dt

Kartoffeln haErtrag (K) int in dt

Weizen ha(W) Ertrag int in dt

Roggen haErtrag (R) int in dt

1846

134 508

14,8 (17,6)

210 602

11,5 (15,6)

84 326

12,7 (15,3)

171 420

13,5 (15,3)

1850

148 336

16,5 (17,2)

243 731

13,3 (14,9)

98 631

15,1 (16,9)

214 846

16,9 (16,9)

946 255

1855

115 652

12,7 (15,9)

238 998

13,0 (15,6)

105 407

16,3 (16,6)

210 275

16,6 (16,6)

1 014 810 139,5 (123,2)

1860

165 935

18,5

317 087

17,5 (15,7)

115 195

17,9 (17,5)

265 130

20,9 (19,3)

19,6 (19,2)

328 918

18,2 (16,3)

134 017

21,1 (19,8)

301 699

18,2 (18,0)

307 622

17,0 (16,6)

121 218

18,9 (18,8)

271 936

(17,1) 1865 1870

175 991 163 451

(G) int

(H) int

23,5 (21,1) 21,4 (20,4)

999 950

828 530

129,5 (136,5) 122,5 (136,3)

107,0 (131,8)

1 314 220 170,5 (142,9) 990 807

128,5 (129,8)

Quelle: Kiesewetter, H., Bevölkerung, Erwerbstätige und Landwirtschaft im Königreich Sachsen 18151871, in: Region und Industrialisierung, Hrsg. v. S. Pollack, Göttingen 1980, S. 99. - Der Wert in den Klammern gibt den Durchschnittsertrag für die Periode, wie er bei den Erträgen für Deutschland ausgewiesen ist, an. Die Ernteerträge wurden von Kiesewetter nach den Angaben im Statistischen Jahrbuch für das Kgr. Sachsen 1877, S. 173, u. 1879, S. 91, für Deutschland nach Bittermann, E., Die landwirtschaftli-

Die Bruttoproduktion im Ackerbau hat sich etwa folgendermaßen entwickelt: Brotgetreide (Weizen, Spelz und Roggen) 1800 5,3 Millionen t, 1870/75 9,8 Millionen t (plus 85 Prozent); Futtergetreide (Gerste, Hafer, Mischgetreide) 1800 3,9 Millionen t, 1870/75 8,2 Millionen t, (plus 110 Prozent); Kartoffeln 1800 2,2 Millionen t, 1870/75 28 Millionen t (plus 1 173 Prozent); Futterpflanzen 1800 1 Million t Getreidewert, 1870/75 6,5 Millionen t (plus 550 Prozent)271 - beachtliche Zuwachsraten. Die Produktion von Getreide, Hackfrüchten und Futterpflanzen - jenen Kulturen, die besonders das Bild der deutschen Landwirtschaft formten - hat sich, gerechnet in Getreidewerten, in den Jahren von 1780/1800 bis 1870/75 etwa verdreifacht. Damit war die Steigerung der Pflanzenproduktion größer als die Bevölkerungszunahme, die 60 bis 70 Prozent betrug, so daß die Ernährung der Bevölkerung und der Arbeitskräfte auf die Dauer wesentlich verbessert und stabilisiert werden konnte. Die Verwendung der Produktion des Ackerlandes ist aus Tabelle 49 zu ersehen, die zwar nur Zahlen für 1800 und 1883 geben kann, aber geeignet ist, Entwicklungstendenzen und Veränderungen in der Anbaustruktur der deutschen Landwirtschaft deutlich zu machen. Danach rückte die Futterproduktion an die erste Stelle. Die Pflanzenproduktion trat zunehmend in den Dienst der Viehhaltung, womit also die Veredlungswirtschaft über den Tiermagen steigende Bedeutung erhielt. Als weitere wichtige Tatsache ist die Verminderung des Saatgutanteils zu nennen. Er nahm zwar absolut zu, nicht zuletzt durch die Ausweitung der Hackkultur, aber durch bessere Aussaatverfahren (Drillkultur) und die sich ständig verbessernde Relation zwischen Saatgutaufwand und Ertrag wurde der Teil der Ernte, der zur Neubestellung gebraucht wurde, immer geringer. Tabelle 49 Verwendung der Produktion des Ackerlandes in Deutschland 1800 und 1883

zur menschlichen Ernährung und als Rohstoffe Verfütterung Saatgut Schwund

i n i 000t 1800

GE a 1883

in% 1800

1883

6 479,3 3 965,8 2 245,2 77,2

13 135,6 17 757,4 4 268,6 886,6

50,8 31,0 17,6 0,6

36,4 49,2 11,9 2,5

" Getreideeinheit Quelle: Bittermann, E., Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland 1800-1950. Ein methodischer Beitrag zur Ermittlung der Veränderungen des Umfanges der landwirtschaftlichen Produktion und der Ertragssteigerung in den letzten 150 Jahren, in: Kühn-Archiv, Bd. 70, Halle 1956, S. 82.

271 Henning, F.-W., 1978, S. 83.

288

Periode

ha-Erträge in Deutschland W R in dt in dt

G in dt

H in dt

K in dt

1846-47

11,5

10,2

9,7

9,5

54,0

1848-52

12,3

10,7

11,2

10,9

65,3

1853-57

12,1

10,7

11,7

10,9

63,2

1858-62

13,0

11,2

12,1

10,9

72,6

1863-67

14,0

12,5

14,8

12,8

84,6

1868-72

15,1

12,8

'15,1

13,2

84,8

Tabelle 48 Ernteerträge und Hektarerträge im Königreich Sachsen und in Deutschland von 1846 bis 1870 in Tonnen und Dezitonnen

che Produktion in Deutschland 1800-1950. Ein methodischer Beitrag zur Ermittlung der Veränderungen des Umfanges der landwirtschaftlichen Produktion und der Ertragssteigerung in den letzten Jahren, in: Kühn-Archiv, Bd. 70, Halle 1956, S. 34, für Kartoffeln nach Hoffmann, W. G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1965, S. 278 ff., berechnet.

Die Viehhaltung diente der Lieferung von Nährstoffen für das Ackerland, der Versorgung der landwirtschaftlichen Betriebe mit Zugkräften, der Nahrungsmittel- und der Rohstoffproduktion für den Bedarf der landwirtschaftlichen Haushalte und des Marktes. Diese Aufgaben, die unterschiedlich gewichtet waren, befanden sich in Abhängigkeit von natürlichen Produktionsbedingungen und agrarverfassungsrechtlichen Ausprägungen und Fortwirkungen, sie unterlagen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlichen Entwicklungsschwankungen. Es waren Schwankungen, von denen einmal die gesamte Viehhaltung betroffen wurde und die zum anderen auch einzelne Viehzweige und Gebiete unterschiedlich erfaßten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlebte die Viehhaltung einen Rückgang der Bestände. Mißernten (1804/05), hohe Getreidepreise, Verteuerung der Futtermittel, Viehseuchen und Viehsterben rissen große Lücken. Die Napoleonischen Kriege schließlich steigerten die Verluste. In Preußen betrug der Rückgang bis 1815 bei Pferden 32 Prozent, bei Rindern 26 Prozent, bei Schafen 22 Prozent und bei Schweinen gar 49 Prozent. 272 Der Vorkriegsstand wurde erst um 1830 wieder erreicht, aber das langsame Ansteigen bis dahin war durch die Agrarreformen und die Agrarkrise der zwanziger Jahre nachhaltig beeinflußt worden. Die Agrarreformen schufen die Voraussetzungen eines allgemeinen Aufschwunges, wobei jedoch Ablösungen, Gemeinheitsteilungen und Separationen im östlichen Deutschland die Struktur der Viehbestände auf den Guts- und bäuerlichen Wirtschaften recht erheblich veränderten, während in Süd- und Südwestdeutschland die „versteinerte Grundherrschaft" kaum Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Viehbestände zeitigte. Die Agrarkrise der zwanziger Jahre, die eine Getreideabsatzkrise war, belastete jedoch die allgemeine Entwicklung. Steigende Tendenzen wurden unterbrochen oder abgeschwächt. Einzelne Viehzweige erhielten aber einen beträchtlichen Auftrieb. Tabelle 50 verfolgt diese Entwicklung am Beispiel Brandenburgs, 1816 = 100

1819

1822

1825

1828

1831

Pferde Rinder (Kühe) Schafe Schweine Ziegen

101 99 103 105 88 147

106 97 106 112 103 215

108 99 112 132 115 242

105 97 112 133 ?

102 98 111 121 104 365

296

3.4.3. Tierproduktion

272 Ucke, A„ 1887, S. 10 ff., Schmoller, G., 1870 (a), S. 642 ff.; Dieterici, C. F. W„ 1846, S. 10 ff.

Tabelle 50 Relative Entwicklung der Viehbestände in der Provinz Brandenburg von 1816 bis 1831

Quelle: Berechnet nach Beiträge zur Statistik des preußischen Staates, Berlin 1821 ff.; Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus, 1861.

289

die in vielem auch anderen preußischen Provinzen gleicht, wenngleich regionale Verschiedenheiten manche Besonderheiten erklären. Ziegen und Schafe weisen die stärkste Entwicklung auf. Erstaunlich groß ist das Wachstumgstempo der Ziegenbestände, doch im Verhältnis zur Schafhaltung und anderen Vieharten waren die Bestände sehr klein. Dagegen war die Entwicklung der Schafhaltung von größter volks- und betriebswirtschaftlicher Bedeutung. Die Schafhaltung wurde in Preußen in den Jahren der Agrarkrise zum Rettungsanker der Gutswirtschaften. Der Rückgang des Getreidehandels und das rapide Sinken der Preise,273 die nur noch selten die Produktionskosten deckten, bewogen dje Gutsherren, auf die gewinnbringende Schafhaltung auszuweichen. Die Ausfuhr der preußischen und außerpreußischen Wolle nahm um so mehr zu, je mehr England seine Einfuhren erhöhte und je größere Qualitätsverbesserungen der Wolle erreicht wurden. Die Schafzucht beherrschte in den ersten drei bis vier Jahrzehnten die preußische und deutsche Viehwirtschaft, wie die Kartoffel die Zeichen im Ackerbau des östlichen und wohl auch des übrigen Deutschlands setzte. In der Wollproduktion lagen entschieden die größten Leistungen der nord- und ostdeutschen Landwirtschaft. Diese Leistungen regelten auch das Verhältnis zu den anderen Viehzweigen. Zumindest seit 1820 war, wie Koppe feststellte, „ein ganzes Jahrzehnt hindurch die Aufmerksamkeit auf den großen Gütern im nördlichen Deutschland der Schafhaltung gewidmet und die Rindviehzucht eingeschränkt" worden. 274 Er gab auch eine ökonomische Erklärung, wenn er die widerspruchsvolle Entwicklung der Produktivkräfte jener Jahre in die Worte faßte: „Eine große Wirtschaft kann zuweilen dadurch zu einem hohen Reinertrage gebracht werden, daß man die intensive Kultur verringert und sich mehr einer extensiven zuwendet." 275 Die Hinwendung zu einer profitträchtigen „extensiven" Wirtschaftsweise, wie sie die Schafzucht darstellte, war um so stärker, je größer die Gutsherrschaften die Grundbesitzerverteilung beeinflußten. Kreise, in denen die Gutswirtschaften den größten Anteil am Grund und Boden besaßen, vernachlässigten die Rinderhaltung, um die Schafhaltung stärkstens zu entwickeln, was wir am Regierungsbezirk Potsdam exemplifizieren wollen (vgl. Tab. 51). Tabelle 51 Entwicklung der Rinder- und Schafbestände im Regierungsbezirk Potsdam von 1819 bis 1861

Kreise 1819 = 100

Gemeindebezirk" %

Gutsbezirk 3 %

1831 Rinder

Schafe

Templin Angermünde Prenzlau Oberbarnim Teltow-Storkow b Nieder-Barnim West-Havelland Ruppin Ost-Havelland West-Prignitz Ost-Prignitz Zauch-Belzig Jüterbog-Luckenwalde

35 36 41 45

65 64 59 55

67 54 55 60 65 65 66 67

33 46 45 40 35 35 34 33

91 89 102 91 100 98 88 97 94 105 106 98 112

139 145 150 116 98 109 96 111 93 114 118 97 116

1861 Rinder

Schafe

96 121 111 151

231 190 247 190

125 114 97 121 132 116 111 126

111 128 122 97 202 216 108 130

a

Nach dem Stand von 1858 (Flächenanteil) Teltow-Storkow wurde nach 1831 wieder in die ursprünglichen Kreise Beeskow-Storkow und Teltow geteilt. Teltow = 54 Prozent Gemeinde- und 46 Prozent Gutsbezirk; Beeskow-Storkow = 47 Prozent Gemeinde- und 53 Prozent Gutsbezirk. Quelle: Canstein, v., Von den bäuerlichen Erwerbs- und Wohlstandsverhältnissen in der Mark-Brandenburg, in: Landwirtschaftliche Jahrbücher, Bd. 12, Suppl. I. Berlin 1883, S. 28; Zeitschrift des königlich preußischen statistischen Bureaus, 1861. b

273 Vgl. Abel, W., 1978(a), S. 238 f. 274 Koppe, J. C., Bd. 3,1842, S. 143. 275 Derselbe, 1847, S. 20.

Die Ausdehnung der Schafhaltung, die in Preußen nur eine Fortsetzung eines feudalen Monopols der herrschenden Klasse unter veränderten ökonomischen Bedingungen bedeutete, war zugleich ein retardierendes Element bei der Durchführung der Gemeinheitsteilung und Separation. Sie behinderte und verzögerte die rasche und durchgreifende Verwirklichung des 1821 erlassenen Gesetzeswerkes, wenn sie es nicht sogar für ein Jahrzehnt verhinderte. 290

Die Ernährung der Schafe auf den Gutswirtschaften „vermöge der Gerechtsame größtenteils auf den Grundstücken anderer" 276 mußte die bäuerliche Schafhaltung weitgehend beeinträchtigen. Zahlreich waren die Dörfer, die kaum Schafe besaßen. Ihr Anteil an der Schafhaltung wuchs, je weiter wir nach dem Westen und Südwesten kommen, wo die Wanderschäferei die Fluren beherrschte. Bildeten die „Gerechtsame" auf den bäuerlichen Feldern und Wiesen eine nicht zu unterschätzende Futtergrundlage der herrschaftlichen Schafzucht, die im Osten Deutschlands überwiegend in der Form der Standschäferei betrieben worden ist, so war jedoch ihre Zunahme nach 1830 ohne die Verbesserungen im Ackerbau kaum zu begreifen. Klee- und Kartoffelanbau sowie die Verbesserungen der Wiesen waren zweifellos die wichtigsten Grundlagen der Ausdehnung und erfolgreichen Haltung auch im Winter; sie waren die Voraussetzungen für die hervorragende Qualität der preußischen Wolle, die viele „ausländische Käufer und Kommissionen" auf den preußischen Markt zog.277 Doch den eigentlichen Aufschwung und Erfolg verdankte die Schafhaltung ihrer Veredlung. Es waren die Merinos und ihre Kreuzung mit einheimischen Landrassen, jene kurzgekräuselte, weiche Wolle von höchster Reinheit tragenden Elektoralschafe und die sich ebenfalls durch gekräuselte,jedoch etwas weniger feine Wolle auszeichnenden Negrettis (Infantadoschafe), die der preußischen und deutschen Schafzucht zur Weltgeltung verhalfen. Verknüpft war dieser Aufschwung mit dem Namen Thaer. Von der preußischen Regierung als Generalintendant der königlichen Stammschäfereien eingesetzt, betreute er die von Staatskanzler Karl August von Hardenberg 1816 in Rambouillet bei Paris angekauften und unter militärischer Eskorte nach Brandenburg überführten edlen Schafe, wirkte tatkräftig im „Verein zur Veredlung der Wolle", leitete den Schafzüchter-Kongreß 1823 in Leipzig, auf dem Zuchtmethoden, Züchtungsergebnisse, Klassifizierungsmerkmale der Wolle, Schafkrankheiten und ihre Bekämpfung erörtert und verbindliche Richtlinien festgelegt wurden. Thaer hob die Schafzucht im Verein mit anderen Züchtern derartig, daß sich die feine deutsche Wolle jahrzehntelang auf dem Londoner Wollmarkt behaupten konnte und höchste Preise erzielte, bis sie in den sechziger Jahren der überseeischen Konkurrenz erlag und die Schafzüchter und Landwirte das fleischhaltige Schaf bevorzugten. Alle deutschen Länder waren am Aufschwung und an der Veredlung der Schafhaltung beteiligt, (vgl. Tab. 52) Doch nirgends war die Ausbreitung der Merinozucht, vor allem der reinen Rassen, und die Entwicklung der Bestände so groß wie in Preußen, denn hier fand sie die günstigsten klimatischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Voran schritten die Provinzen Preußen und Schlesien, gefolgt von Brandenburg, dem Ausgangspunkt der naturwissenschaftlich betriebenen Schafzucht. Dagegen zeigten sich im Königreich Sachsen schon Ende der dreißiger Jahre rückläufige Tendenzen, obwohl gerade Sachsen das erste Land war, das sich der Merinozucht bemächtigte (1765) und durch seine berühmten Stammschäfereien (z. B. Lohmen) eine erhebliche Mitgift in die preußische Merinozucht eingebracht hatte. Sachsen kannte um 1830 kaum noch grobwollige Landschafe. Aber mit der Ablösung der feudalen Hütungsrechte auf den bäuerlichen Feldern und durch die Intensivierung des Ackerbaus, die hier weit schneller vonstatten ging als anderswo, verminderte sich die überwiegend auf dem Weidegang beruhende Schafhaltung, nur kurz unterbrochen in den Konjunkturjahren 1844 bis 1847. Sie mußte sich um so mehr vermindern, je stärker die Preise für Rindviehprodukte anstiegen und die Rinderhaltung im dichter besiedelten Sachsen einen besseren und lohnenderen Absatz versprach als die der Konkurrenz ausgesetzten Schafe, deren Haltung in Preußen durch die Gemeinheitsteilung und Separation begünstigt wurde, nachdem die Gutsherren begriffen hatten, daß weniger „Gerechtsame" als vielmehr arrondierter Besitz und verbesserter Feldfutterbau von Vorteil für die Schafhaltung waren.278 Die Aufhebung grundherrlicher Weiderechte führte auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Baden, zur Abnahme der Schafbestände, doch nicht selten vernichteten auch Viehseuchen, wie beispielsweise in den vierziger und fünfziger Jahren in Württemberg und Kurhessen, ansehnliche Teile der Schafhaltung. Der Schafbestand war ein gewisser Gradmesser für den Stand der Intensivierung der Landwirtschaft. Ein hoher Schafbestand war damals nur bei überwiegend exten291

276 Derselbe, 1818, S. 55. 277 Mögliner Annalen der Landwirtschaft, Bd. 1, 1817, S. 19. 278 Koppe, J. G.t 1818, S. 54; Schmoller, G., 1870 (a),S. 812.

Tabelle 52 Zusammensetzung der Schafbestände in verschiedenen Ländern Deutschlands von 1816 bis 1873

Jahr

Merinos in 1000

Preußen 1816 719 1825 1 734 1849 4 453 1858 5 343 1861 6 551 1867 10 999 8 004 1873 Württemberg 54 1816 1830 102 1850 69 1861 71 1865 59 1868 51 1873 22 Bayern 1810 1844 136 1854 88 1863 141 94 1873 Sachsen 1800 900 1873 108

in% 9 15 27 35 38 59 48

Halbveredelte i n l 000 i n %

Landsdiafe i n l 000

in%

i n l 000

2 4 7 6 7

5 5 3 3 3

63 46 24 21 21

8 260 11606 16 297 15 362 17 428 18 806 16 692 420 582 576 684 704 637 577

367 559 943 799 192

29 39 49 44 41

174 314 901 220 686

-

-

-

-

Gesamt

13 18 12 10 8 8 4

92 289 366 520 556 522 435

22 50 64 76 79 80 75

274 191 141 93 88 83 120

65 33 23 14 13 13 21

10 7 7 7

494 438 882

35 36 43

765 688 1 036

55 57 50

60 52

-

-

-

-

-

-

1 1 1 2 1

088 395 214 059 342

1 500 207

Quelle: Mendelson, F. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Schafhaltung um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, Jena 1904, S. 33 ff; Bayerische Agrargeschichte. Die Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts, hg. v. A. Schlögl, München 1954, S. 298; Gross, R., Die bürgerliche Agrarreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jh., Weimar 1968, S. 44, 155.

279 Koppe, J. G„ 1827, S. 24; Statistik des preußischen Staates, 1845, S. 357.

siver Landwirtschaft möglich. In den landwirtschaftlich führenden deutschen Staaten stand daher die Schafhaltung ganz erheblich zurück. Die landwirtschaftliche Nutzfläche der Provinz Preußen zum Beispiel war nur viermal so groß wie die des Königreichs Sachsen, aber der Schafbestand war fast zehnmal so groß. Ausnahmen bildeten nur die beiden preußischen Provinzen Sachsen und Schlesien. Hier war um 1860 die intensive Pflanzenproduktion (Rübenanbau!) mit einer ausgedehnten Schafhaltung verbunden. Im Grunde genommen bestätigte das nur die Erkenntnis, daß das Schaf auch in einer intensiven Landwirtschaft seinen Platz hat, eine Erkenntnis aber, die erst viel später von der Agrarwissenschaft gewonnen wurde. Die Qualitätsverbesserung der Wolle war zugleich von einer Ertragssteigerung begleitet. Die Merinos (Elektoral) lieferten etwa ein Vietel mehr an Wolle als die deutschen Landschafe. Der Ertrag je Mutterschaf wurde auf 1 bis 1,4 kg und je Bock auf 1,5 bis 2 kg beziffert, während er bei den Negrettis mit 1,25 bis 1,75 kg je Mutterschaf und 2 bis 3 kg je Bock angegeben wurde. 279 Wenn im Zeitalter der ertragreichen Schafzucht die ostelbischen Gutsbetriebe die Rinderhaltung einschränkten beziehungsweise vernachlässigten, aber dennoch eine allgemeine Zunahme der Rinderbestände zu beobachten ist, so erklärt sich das nicht nur aus den Verschiebungen der Nutzvieh-Spannvieh-Relation im Gefolge der Agrarreformen, Verschiebungen, die im Westen Deutschlands auf Grund der andersartigen Agrarverfassung nur unwesentliche Bedeutung erlangten. Mit dem Wegfall der bäuerlichen Spanndienste, die die Organisation der Bauernhöfe im Feudalismus nachhaltig beeinflußt hatten, gingen die Bauernwirtschaften zur Abschaffung des überflüssig gewordenen und die Futterlage beeinträchtigenden Zugviehs über. Aber nicht nur der Fortfall der Spanndienste, sondern auch die Zusammenlegung der Grundstücke, die Separation, machte Zugvieh entbehrlich, weil sehr oft lange Anfahrtswege hinfällig wurden. Unter dem Zwang stehend, die Produktivkräfte zu entwickeln und vorhandene Produktionsmittel rationeller auszunutzen, um die Folgen der Agrarreformen zu überwinden, ja um überhaupt überleben zu können, und im Interesse der Rentabilität ihrer Betriebe, die verstärkten Fut292

Jahr

Pferde i n i 000

Preußen (1816 = 100) 1816 1243 100 1822 1 363 110 1831 1 375 111 1840 1 520 122 1849 1 583 127 1858 1 617 131 1867 1 871 150 Württemberg (1816 = 100) 1816 87 100 1830 94 108 1840 99 114 1850 104 120 105 1858 91 1865 105 121 Bayern (1810 = 100) 1810 292 100 1844 393 124 1854 347 122 1863 379 130 1873 Sachsen (1834 = 100) 1834 77 100 1840 83 108 1850 92 119 1861 99 129 1864 105 136 1867 103 134 1873 116 151 Baden (1823 = 100) 1823 71 100 1843 78 110 1855 69 97 1861 74 104 1864 Hannover (1817 = 100) 225 1817 100 102 1845/48 229 1852/53 208 92 1864 222 97 Kurhessen (1827 = 100) 1827 49 100. 1834 41 84 1842 47 96 1859 44 107 Deutsches Reich 1860 3 193 1873 3 352

Rinder i n i 000 4 4 4 4 5 5 5

Schafe in .l 000

014 247 446 976 372 487 964

100 106 111 124 134 138 149

585 789 826 850 842 975

100 135 141 145 144 168

1 828 2 5972 616 3 162 3 066

100 142 143 173 168

508 530 563 570 598 558 591 481 551 582 621

8 10 11 16 16 15 18

420 582 677 576 609 704

1 1 1 2 2 2 3

100 107 117 150 166 174 253

143 176 214 360 585 664 1 043

100 123 150 257 414 479 729

100 139 161 137 145 168

113 202 167 211 221 263

100 179 148 187 196 233

18 21 27 50 51 35

100 117 150 279 283 194

074 407 223 040 342

100 131 114 190 125

501 947 493 922 872

100 189 98 184 174

65 116 103 148 194

100 179 159 228 298

100 104 111 112 118 110 116

605 656 544 372 366 304 206

100 108 90 61 60 50 34

105 112 208 270 329 326 301

100 107 198 257 313 310 286

100 115 121 129

196

100

300 498 245 307 422

100 166 82 102 141

21

-

163 177

-

83 90

-

641 774 820 953

100 121 128 149

221 169 212 203

100 76 96 120

14 999 15 777

100 122 142 198 197 186 228

Ziegen i n i 000

494 599 736 239 466 577 785

1 1 1 2 1

260 037 752 344 297 362 806

Schweine in 1 000

1 1 1 2

-

-

100

-

67 68

319 324

-

564 983 906 364

100 127 122 151

177 81 90 662

100 46 51 774

16 111 117 164

100 694 731 1 025

563 430 541 501

100 76 96 117

150 135 151 144

100 90 101 107

34 41 50 50

100 121 147 147

28 017 24 999

6 463 7 124

1 1805 (18 T) = 100 Quelle: Bayerische Agrargeschichte. Die Entwicklung der Land- und Forstwirtschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts, hg. von A. Schlögl, München 1954, S. 239, 277, 306; Chrambach, W., Die Steigerung der tierischen Leistungen im Laufe der Jahrhunderte in Bayern, Diss. München 1953; Goltz, T.v.d., Geschichte der deutschen Landwirtschaft, Band 2, Stuttgart-Berlin 1903, S. 235; Gross, R., Die bürgerliche Agrarreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Untersuchung zum Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus in der Landwirtschaft, Weimar 1968, S. 155; Meitzen, A., Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staates, Bd. 4, Berlin 1869, S. 576 f.; Mendelson, F., Die volkswirtschaftliche Bedeutung der deutschen Schafhaltung um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, Jena 1904 = Sammlung nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu Halle, Bd. 49, S. 45 ; Viebahn, G. v., Statistik des zollvereinten und nördlichen Deutschlands, Bd. 3, Berlin 1868, S. 241,236, 303, 319,374.

terkräuter- und Hackfruchtbau und eine qualitativ bessere Düngung verlangte, ersetzten viele Bauern einen Teil des Zugviehs durch notwendiges und einträglicheres Nutzvieh. Es bestand hauptsächlich aus Kühen und diente nicht mehr ausschließlich der Selbstversorgung. 293

Tabelle 53 Entwicklung der Viehbestände in einzelnen Ländern Deutschlands von 1810 bis 1873

Da überlieferte Viehbestandszahlen der Gutswirtschaften zumindest im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum eine Zunahme der Rinder zeigen, so dürfte ihre Vermehrung auf die bäuerlichen Wirtschaften beschränkt geblieben sein. Dagegen benötigten die Gutswirtschaften durch die Aufhebung der Arbeitsrenten plötzlich Zugvieh, dessen Bestandszunahme nicht zufällig im Nordosten Deutschlands größer war als im Süden. Doch die Gutsherren haben nur ein Viertel oder die Hälfte des Zugviehs, das früher die Bauern für sie halten mußten, angeschafft, allerdings war es bedeutend leistungsfähiger. Bevorzugt wurden Pferde, die auch auf den Bauern wirtschaften die Ochsenzugviehhaltung zu verdrängen begannen. Die Ochsenziffern weisen durchweg sinkende Tendenzen auf, doch auf den Gutswirtschaften scheinen sich Zugochsen größerer Beliebtheit erfreut zu haben als auf den Bauernbetrieben, denn ihre Bestandszahlen sind recht beachtlich. Koppe zu Beispiel hielt auf Wollup im Jahre 1842 45 Zugochsen, 31 Mastochsen und 48 Arbeitspferde; die Domäne Kienitz 45 Zugochsen, 33 Mastochsen und 33 Arbeitspferde; das Rittergut Ribbeck 24 Pferde und 36 Zugochsen. 280 Zugochsen brachten doppelten Nutzen: Sie waren gute Zugkräfte (Pflügen und Wirtschaftsfuhren) und wurden als Nutzvieh vorteilhaft verwertet; insbesondere nach Ausrangierung als Arbeitsvieh wurden sie gemästet und mit gutem Erlös verkauft. Aber auch auf den Bauernwirtschaften waren Ochsen-, mehr noch Kuhgespanne schon aus Rentabilitätsgründen weit verbreitet (vgl. 3. 4. 1.). Bekannte Landwirte, zum Beispiel Thaer, Koppe und Schwerz, propagierten sie deshalb.

280 Lengerke, A. v., 1846, S. 11 ff. 281 Klein, E„ 1973, S. 91. 282 Denkschrift über die staatlichen Maßregeln zur Förderung der Landeskultur in Preußen, 1859, S. 18 ff. 283 Vgl. Viebahn, G. v., Bd. 3, 1868, S. 56, 65 ff. 284 Bayerische 1954, S. 225.

Agrargeschichte,

Seit 1830 wuchsen die Viehbestände, unterschiedliche Entwicklungen eingeschlossen, im allgemeinen stetig, wie überhaupt die landwirtschaftliche Entwicklung seit diesem Zeitpunkt günstig verlief. Von 1830 bis 1870 stiegen die Getreidepreise um etwa 50 %, die Preise tierischer Erzeugnisse dagegen viel stärker, und zwar um 80 bis 100 %, wärend die Preise für gewerbliche Erzeugnisse infolge gewachsener Arbeitsproduktivität im Zuge der Industriellen Revolution um etwa 30 % sanken. 281 Die Preisentwicklung der tierischen Erzeugnisse war natürlich ein Stimulans bei der Entwicklung tierischer Produktivkräfte (vgl. Tab. 53). Betrachten wir die Entwicklung der einzelnen Viehzweige etwas detaillierter: Die Steigerung der Pferdebestände — zusammen mit Ochsen und Kühen, soweit sie als Zugkräfte tätig waren, als wichtigste Energiequelle der Landwirtschaft, ohne die keine Pflanzenproduktion möglich war — beruhte nicht nur auf der Zunahme der tierischen Antriebskräfte in der Landwirtschaft, sondern war auf die zunehmenden Anforderungen des Handels und Transportwesens zurückzuführen (vgl. 4.). Nicht zuletzt gingen vom Pferdehandel selbst Impulse aus; er gedieh besonders in Gebieten mit gutem Dauergrünland (vgl. 3. 2. 1.). Das Königreich Hannover zum Beispiel, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen der ersten Plätze in der deutschen Pferdezucht einnahm, betrieb einen regen Pferdehandel mit Frankreich und Italien. Unterstützt wurde die Zucht durch die Regierungen, die Gestüte und Deckstationen einrichteten oder ausbauten und wertvolles Zuchtmaterial, insbesondere in England und den arabischen Ländern, aufkauften. Dabei bildeten militärische Belange kräftige Triebfedern. Bekannt für ihre Vollblutpferde und gute Leistungszucht waren zum Beispiel in Preußen die Hauptgestüte Trakehnen (300 Mutterstuten), Graditz (180 Mutterstuten) und Neustadt an der Dosse. Jede Provinz besaß ferner ein Landbeschäler-Depot, dessen Hengste gegen Bezahlung von allen Landwirtschaftsbetrieben in Anspruch genommen werden konnten. Etwa 900 bis 1200 Zuchthengste deckten jährlich rund 50 000 Stuten, die ungefähr 25 000 Fohlen gebaren. 282 Die Gestüte dienten vor allem der Versorgung der Armee mit guten Kavallerie-, Artillerie-, Reit- und Kutschpferden. Nach 1830 hörte der Ankauf von Armeepferden aus dem Ausland auf, und der militärische Bedarf, der sich 1860/70 auf jährlich 3 900 Pferde belief, wurde ausschließlich aus der einheimischen Landwirtschaft gedeckt. Allein Ostpreußen lieferte zwei Drittel der Militärpferde. Der jährliche Ankauf von Armeepferden (Remontierung) bildete fortgesetzt einen*mächtigen Hebel für die Zucht solcher Pferde, wie sie die Armee benötigte und wie sie auch den meisten gewerblichen und landwirtschaftlichen Bedürfnissen entsprachen. 283 In Bayern stieg die Anzahl der Zuchtbeschäler von 50 im Jahre 1818 auf 293 im Jahre 1842, die Zahl der gedeckten Stuten von 3 212 auf 19 281. 284 Viele Regierungen förderten die Pferdezucht durch Vollblutrennen und Tierschauen, warfen Prämien und Preise aus 294

und führten seit etwa 1820/30 den Körzwang ein, wonach die für die öffentliche Zuchtbenutzung zugelassenen Hengste, insbesondere die der Bauern, von staatlichen Kommissionen geprüft und genehmigt sein mußten. Um die Wünsche der Landwirtschaft mit denen der Armee zu koordinieren, wurden die Pferde seit der Jahrhundermitte nicht nach Rassen, sondern nach Gebrauchszweck und Schwere eingeteilt, eine Einteilung, die bis zum ersten Weltkrieg beibehalten wurde: leichter Reitschlag (300 bis 350 kg), starker Reit- und leichter Wagenschlag (350 bis 400 kg), starker Wagenschlag (450 bis 500 kg), schwerer Arbeitsschlag (Niederländer, Percherons und Suffolks - 500 bis 550 kg) und schwerster Schlag für Schwerlastfuhrwerke (600 kg). Die Zucht der ersten drei Schläge oblag zumeist den staatlichen Gestüten, während die beiden letzten Schläge überwiegend der privaten Zucht überlassen blieben. Hier gewannen die Kaltblutrassen, die größere Zugkraft entwickelten als die Warmblutpferde und sich für intensive Bodenbearbeitung und schweren Gütertransport besser eigneten, zunehmend an Bedeutung.285 Von allen Vieharten nahmen Schweine und Ziegen am stärksten zu. Das Schwein war das vorzüglichste Fleischtier, der größte Fleischlieferant und der beste Futterverwerter, dagegen war der Dunganfall gegenüber der Rinderhaltung unbedeutend und auch nicht besonders wertvoll. Trotz der raschen Zunahme waren die Schweinebestände der landwirtschaftlichen Betriebe noch niedrig. In den Großbetrieben über 100 ha galt als Regel, nicht mehr als zwei bis vier Muttersauen und zehn Läufer pro Muttertier zu halten. Das Schwein wurde aber nicht nur in landwirtschaftlichen Betrieben gehalten, sondern auch in Haushalten vieler Städte, die in jener Zeit noch vielfach einen ländlichen Charakter bewahrten. Die Vermehrung der Schweinebestände verlief ziemlich parallel mit dem zunehmenden Anbau der Kartoffel und dem Anwachsen der Landarmut und des ländlichen Proletariats. Diese „soziale" Vermehrungseigenschaft zeigte sich aber noch viel mehr in der Ziegenhaltung. Da sich die Ziege durch große Regenerationskraft, leichte Ernährbarkeit und große Produktivität auszeichnete, war die sprunghafte Bestandszunahme ein unmittelbares Ergebnis der Agrarreformen. Sie war die „Kuh der kleinen Leute", die infolge der Ablösungen und Gemeinheitsteilungen ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlagen als Bauern beraubt wurden, die soziale Rangleiter hinabklettern mußten und gezwungen waren, die „große Kuh" mit) der „kleinen Kuh" zu vertauschen. Die Entwicklung der Ziegenhaltung war ein recht genauer Gradmesser der Entwicklung der ländlichen Arbeiterklasse und der Landarmut, sie zeigte an, wann die einzelnen Reformmaßnahmen beschleunigt wurden oder die Industrielle Revolution wachsende Arbeitermassen und Handwerksgesellen zeugte, während sie für den landwirtschaftlichen Betrieb nur untergeordnete Bedeutung besaß. Die Zunahme der Viehbestände war in Ackerlandregionen, wo der Futterbau auf ehemaligem Brachland und im Fruchtwechsel betrieben wurde, größer als in natürlichen Grünlandgebieten, die sich behaupten konnten. In das Wechselspiel von intensivem Ackerbau und intensiver und expansiver Viehzucht war auch die Sommerstallfütterung, deren Anfänge schon Ende des 18. Jahrhunderts zu konstatieren sind, eingeordnet. Sie breitete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Deutschland aus. Dabei lernten die Landwirte ein ausgewogenes Verhältnis von Stallfütterung und Weidehaltung schätzen, das sowohl Düngerleistung, Arbeitserleichterung, Mästung, Kraftfutter- und natürliche Futteraufnahme und Erhöhung der Widerstandskraft im Freien berücksichtigte, als auch bessere Wartung und Pflege in den Stallungen einschloß. In Grünlandzonen, in den Marschgebieten Norddeutschlands und in den Almwirtschaften in Bayern, blieb die Weidehaltung vorherrschend. Die Intensivierung der Viehzucht erfolgte auch über die Einführung und Kreuzung neuer und leistungsfähiger Rassen aus dem Ausland oder anderen deutschen Regionen. Die Schafhaltung wurde von der Merinozucht beherrscht. In der Pferdezucht spielten das englische und das orientalische Vollblut die größte Rolle. Auch in der Schweinehaltung, die von allen Viehzweigen wohl am vollständigsten in die Ställe gedrängt wurde, fanden züchterische Bemühungen statt. Englische Rassen wurden mit den deutschen Landschweinen gekreuzt, im südlichen Deutschland versuchte man es mit kraushaarigen ungarischen Rassen. Doch größere Erfolge stellten sich zunächst nicht ein. Erst nach der Jahrhundertmitte wurden die züchterischen 295

285 Krzymowski,

R., 1951, S. 286 ff.

132 „Waldler-Vieh" - bayrischer Landschlag, Lithographie von Benno Adam (1853)

286 Ebenda, S. 292 ff. 287 Bayerische Agrargeschichte, 1954, S. 240. 288 Bittermann, E., 1956, S. 59; Henning, F.-W., 1978, S. 86.

Bemühungen verstärkt, wobei besonders die 1863 eingeführte Yorkshire-Rasse den eigentlichen Umschwung in der Schweinezucht einleitete. Sie bildete die Grundlage für die Züchtung des weißen deutschen Edelschweines und des veredelten deutschen Landschweines, die gegenüber den alten Landrassen schnellwüchsiger, fettreicher und bessere Futterverwerter waren. Aber dieser Fortschritt wurde mit einer größeren Krankheitsanfälligkeit bezahlt. 286 Die größte Aufmerksamkeit erfuhr jedoch die Rinderhaltung und Rinderzucht. Bis um die Jahrhundertmitte herrschten noch vielfach die alten Landrassen vor, die nach den jeweiligen Landschaften benannt wurden. In Bayern kannte man um 1860 noch 28 Rinderschläge, zum Beispiel Pinzgauer, Donau-, Holz-, Kehlheimer, Allgäuer, Rottaler, Altfränkisches, Heilbronner, Schwäbisch-Haller Vieh und Bayreuther und Hofer Schecken. 287 Die Züchtung wandte sich neuen Leistungsrassen zu, die nach Milchergiebigkeit, Futterverwertung und Mastfähigkeit gezüchtet wurden. Die Güter hielten eigene Zuchtbullen, während in den Bauerngemeinden meist ein Zuchtbulle allen Betrieben zur Verfügung stand, aber der Kontrolle des staatlichen Schauamtes unterworfen war. Da die Rinder in volkswirtschaftlicher Sicht (Ernährung, Dung, Rohstoffe) unter allen Viehgattungen die erste Stelle einnahmen, wurde auf die Auswahl der Zuchtbullen großer Wert gelegt. Aus der Vielzahl der Rinderschläge setzten sich nach der Jahrhundertmitte vor allem zwei Rassen durch: friesisch-holländische Schläge in Norddeutschland und die aus der Schweiz stammenden Simmentaler (Höhenfleckvieh) in Süddeutschland. Letztere vereinigten in vorzüglicher Weise Fleisch-, Milch- und Arbeitsleistung und waren daher weitgehend den Bedürfnissen der kleinbäuerlichen Wirtschafen in Süddeutschland angepaßt, während die friesischen Schläge auf hohe Milchleistung gezüchtet waren, jedoch in Zugkraft- und Fleischleistung den Simmentalern nachstanden. Die Kühe wurden im dritten Lebensjahr erstmalig gedeckt, maximal im zehnten Lebensjahr erfolgte die letzte Abkalbung. Danach wurden die Kühe gemästet und der Fleischverwertung zugeführt. Ochsen wurden bereits im fünften bis achten Lebensjahr gemästet und geschlachtet. Der Fortschritt der Produktivkräfte in der Tierproduktion bestand nicht so sehr im Anwachsen der Bestände, obwohl sich darin eine größere Leistung pro Flächeneinheit widerspiegelt, als vielmehr in den steigenden Leistungen der Tiere, da sich in ihnen Arbeitserfahrungen, Wissenschaft und Organisation der Produktion manifestierten und den höheren Intensivierungseffekt bezeugten. Die Daten über die Zunahme der tierischen Leistungen schwanken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtlich; insbesondere für die Zeit um 1800 liegen keine genauen und gesicherten Angaben vor. Die Erhöhung der Fleischleistung je Tier für die Zeit von 1800 bis 1870/80 kann daher nur geschätzt werden (vgl. Tab. 54). Die Milcherzeugung je Kuh dürfte sich von 600 bis 700 1 um 1800 über 900 1 um 1835 auf 1200 1 um 1870/75 erhöht haben, worin auch ein besserer Fettgehalt der Milch inbegriffen ist. 288

133 „Roscnsteiner Schlag" - Beispiel einer planmäßigen Krcuzungszüchtung in Württemberg, Lithographie von Friedrich Volz (1861)

Die Gesamtentwicklung (Schätzung) der tierischen Produktion kann man aus Tabelle 55 entnehmen. Die tierische Produktion hatte sich in der ersten Jahrhunderthälfte verdoppelt und bis 1870/75 fast verdreifacht. Die Bevölkerung, die nur um etwa 66 Prozent zugenommen hatte, konnte deshalb besser mit tierischen Produkten versorgt werden. Betrug 1816 der Fleischkonsum etwa 14 kg pro Kopf und Jahr, so lag er 1873 bei 29 kg, wobei zu vermuten ist, daß er in den außerpreußischen Bundesstaaten noch etwas höher war. Damit wurde noch keineswegs eine optimale Ernährung der Bevölkerung erreicht; über die Verteilung der tierischen Produkte auf die einzelnen Klassen und Schichten wird ebenfalls nichts ausgesagt. Aber die Leistung der Viehwirtschaft und die Änderung der Verbrauchergewohnheiten zugunsten tierischer Jahr

Ochsen u. Stiere

Kühe u. Färsen

Rindvieh insgesamt

Kälber

Schwcine

Schafe

1800 1838/39 1849/50 1860

164 259 266 275

103 163 167 175

113 178 180 202

19 21,5 22,5 25

50 58 70 75

15 18,5 18,5 18,7

Tabelle 54 Schlachtgewichte von 1800 bis 1860/61

Angaben in kg je Stück. Die Gewichte sind geschätzt. Quelle: Bittcrmann, E., Die landwirtschaftliche Produktion in Deutschland 1800-1950, in: Kühn-Archiv, Bd. 70. Halle 1956, S. 50.

Jahr

Viehbestände in 1 000 Stück

Fleisch in 1 000 t

Milch in 1 000 t

Wolle in 1 000 t

Zusammen in 1 000 t GWE"

Index 1800 =100

1800 1810 1820 1830 1834 1S37 1840 1844 1847 1850 1855 1858 1861 1865 1870

10 200 6 700 9 200 11 500 12 648 13 056 13 668 13 872 14 076 14 382 14 280 14 994 16 000 16 463 16 239

646 555 515 629 712 757 850 892 966 990 1 035 1 111 1 178 1 380 1 557

5 5 5 6 6 7 7 8 9 10 10 11 12 13 13

15,2 10,0 14,9 20,6 21,6 25,1 27,2 26,9 27,0 27,4 26,2 28,3 33,1 35,5 34,4

8 394 6 716 7 332 8 787 11 205 11 918 12 606 13 719 14 630 15 119 15 591 16 888 18 124 19 089 20 377

Ì 1100

243 040 150 028 560 000 400 760 800 400 900 900 784 281 812

Tabelle 55 Entwicklung der tierischen Produktion in Deutschland von 1800 bis 1870

97 116 148 158 167 181 194 200 207 224 240 253 270

11

Getreidewerteinheit Quelle: Helling, G., Nahrungsmittel-Produktion und Wcltaußcnhandcl seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin. 1977, S. 235.

297

Produkte war nur durch die beträchtliche Steigerung der Bodenproduktion möglich geworden, denn die menschliche Ernährung mit Hilfe tierischer Produkte erforderte fünfmal so große Flächen oder Erträge als die unmittelbare Ernährung mit pflanzlichen Erzeugnissen - eine Entwicklung, die nach 1870 nur noch mit Hilfe umfangreicher Futtermittelimporte gewährleistet werden konnte.289 Die Intensivierung der Viehhaltung war verbunden mit einer stärkeren Differenzierung in der Standortverteilung, die zugleich auch sozialökonomische Aspekte offenbart, das heißt, die Viehhaltung war wahrscheinlich seit der Jahrhundertmitte von den bäuerlichen Wirtschaften geprägt, im Gegensatz zum Ackerbau, wo schon die wichtigen Maschinen und die Lohnarbeiter in den kapitalistischen Betrieben konzentriert waren, wie es nach 1870 statistisch bestätigt wurde (vgl. Bd. 2, S. 168,179). Tierhaltung und Tierproduktion waren arbeitsintensiv, sie bedurften im Gegensatz zum Feldbau täglicher Arbeit (Füttern, Melken, Ausmisten, Einstreu, Pflege u. a.); sie waren es um so mehr, je mehr sich die Sommerstallfütterung durchsetzte. Für diesen hohen Arbeitsaufwand, verteilt über einen langen Arbeitstag, waren in den Bauernwirtschaften die besten Voraussetzungen vorhanden. Nach vorliegenden Berechnungen benötigten die Klein- und Mittelbäuerinnen etwa 40 Prozent der täglichen Arbeitszeit für die Hof- und Stallwirtschaft. Da die Preise für Fleisch und andere tierische Produkte seit 1830 schneller stiegen als die für pflanzliche Produkte, erhöhte sich die Rentabilität der Viehwirtschaft und dürfte Reizmittel gewesen sein, die Intensivierung zu verstärken. Die höhere Konzentration insbesondere der Rinder in den Bauernwirtschaften kann man an den regionalen Bestandsdichten ablesen. Sie waren in ausgesprochenen Bauerngebieten weit höher als in Gebieten mit dominierender Gutswirtschaft. Die Bestandsdichte je 100 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche betrug 1873 in Ost- und Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Mecklenburg 27, in Schleswig-Holstein, Hannover, Oldenburg 51 und in den Ländern südlich des Mains 65.290 Wenn wir eine Umrechnung aller Viehbestände auf Großvieheinheiten (GV) 291 je 100 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche vornehmen - auch wenn wir uns der Anfechtbarkeit dieser Einheit bewußt sind (unterschiedliche Gewichte bleiben unberücksichtigt), die sich jedoch als Vergleichsmaßstab eignet—, so belief sich der Standard für ganz Deutschland um 1860 auf 56,1 GV. Uber dem Durchschnitt lagen: Kurhessen mit 57,2, Thüringen mit 59,5, Schlesien mit 60,6, Hohenzollern mit 66,3, das Großherzogtum Hessen mit 68,7, Bayern mit 68,9, das Königreich Sachsen mit 71,0, Baden mit 71,1, die Weserstaaten mit 73,0, Nassau mit 74,2, Braunschweig mit 83,8, Luxemburg mit 84,1, Württemberg mit 85,4 und die Unteren Elbstaaten mit 145,6.292 Von diesen Staaten gehörte keiner zu den primär gutsherrschaftlichen Gebieten. Lediglich in Schlesien war der Anteil von Gutsherrschaften hoch. All die aufgezählten Länder waren ihrer Betriebsgrößenstruktur nach Gebiete mit vorwiegend bäuerlicher Bevölkerung. Vergleicht man die führenden Staaten in der tierischen Produktion mit den führenden in der Pflanzenproduktion, dann waren die thüringischen Staaten, Sachsen, Baden, Braunschweig und Württemberg auch auf diesem Gebiet führend. Es kann daher festgestellt werden, daß diese Staaten damals an der Spitze des landwirtschaftlichen Fortschritts standen. Dieser Spitzengruppe folgten in Preußen die Rheinprovinz, die Provinzen Sachsen und Schlesien, die beiden anhaltinischen Staaten, des weiteren Hessen, Hohenzollern, Nassau und Schaumburg-Lippe. Bis auf wenige Ausnahmen gehörten diese Staaten zu den industriell entwickelteren Deutschlands. Daraus kann wiederum geschlossen werden, daß sich die Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft gegenseitig bedingte und diese Wechselbeziehungen einen zusätzlichen Wachstumsfaktor darstellten.

289 Vgl. Klein, E., 1973, S. 92. 290 Rolfes, M., 1976, S. 522. 291 Großvieheinheit: 1 Stück Rindvieh = 2/3 Pferd oder 10 Schafe oder 4 Schweine oder 12 Ziegen. 292 Vgl. Viebahn, G. v., Bd. 3, 1868, S. 96 ff., 409 ff.

3.4.4. Gesamtproduktion und Gesamtleistung

0/ /« 310 290270250230210190170-

15 Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion im Verhältnis zur Arbeitskraft in Deutschland* im 19. Jahrhundert nach G. Helling

150130 110-

1800/10 21/25 31/35 41/45 51/55 61/65 71/75 81/85 91/95 11/20

Jahre

Quelle: Schissler, H., Preußische Agrargesellschaft im Wandel, Göttingen 1978, S. 157.

26/30 36/40 46/50 56/60 66/70 76/80 86/90 96/1900

Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft von 1800 bis 1870, die trotz mancher Details doch nur umrissen werden konnte, war insgesamt beeindrukkend. Bis 1851/55 verdoppelte sich die Produktion. Seit den dreißiger Jahren nahm die tierische Produktion rasch zu und überholte die pflanzliche in den fünfziger Jahren. Bis 1870/75 hat dann das landwirtschaftliche Produktionsvolumen noch einmal um etwa 70 Prozent zugenommen. Das Entwicklungstempo war dabei größer als die Bevölkerungszunahme. Die Produktion pro Kopf stieg von etwa 6,3 dt auf 8,6 dt Getreidewert an. 293 Darin spiegelt sich ohne Zweifel der Fortschritt der Wissenschaft und der Bildung ebenso wider wie die grundlegenden Änderungen in der Organisation der Landwirtschaft durch die Regulierungen, Gemeinheitsteilungen und Separation. Die Produktionssteigerung setzte große Arbeitsleistungen voraus. Der „Arbeitsaufwand" hat sich vermutlich in der preußischen Landwirtschaft bis 1834 verdoppelt, bis 1852 verdreifacht und bis 1864 vervierfacht.294 Bis 1840 erreichte jedoch die Produktivität einer männlichen Arbeitskraft nur 75 Prozent der belgischen, 65 Prozent der französischen, 43 Prozent der englischen und 35 Prozent der amerikanischen landwirtschaftlichen Arbeitskraft. 295 Erst nach 1850 wurde hier aufgeholt. Aber da sich die Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft kaum exakt ermitteln läßt, weil es keine zuverlässige Maßeinheit für die Relation zwischen Arbeit und Zeitaufwand gibt, wählte man den Ausweg, die Produktion je Arbeitskraft auf Getreidewertbasis zu errechnen. Diese hat sich danach im Verlaufe des 19. Jahrhunderts etwa verdreifacht. Die Steigerung der Produktion je Arbeitskraft zeigt die großen Veränderungen an, die sich in der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert vollzogen haben. Hierin dürfte sich die veränderte Einstellung der regulierten und separierten Bauern zu ihrem 299

293 Vgl. Schissler, H., 1978, S. 155. 294 Ebenda, S. 156. 295 Bairoch, P„ 1965, S. 1091 ff.

296 Schissler, H„ 1978, S. 155. 297 Vgl. Kuczynski, }., Bd. 2, 1962, S. 11 ff., 102 ff. 298 Bairoch, P., 1965, S. 1096, 1099; derselbe, 1976, S. 319.

3.5.

Landwirtschaftliche Verarbeitungsindustrie

299 Vgl. Wußing, H„ 1979(a), S. 61 f. Fn. 11. 300 Lenin, W. /., Bd. 5, 1955, S. 205. 301 Vgl. Müller, H.-H., 1979(a), S. 9 ff.

neugewonnenen Eigentum ebenso niederschlagen wie die rationellere und effektivere Ausbeutung der Landarbeiter auf den Gutswirtschaften und größeren Bauernhöfen. 296 Im Feudalismus war eine solche Produktionssteigerung unbekannt. Das Produktionsniveau und die Produktionsleistung waren seit dem Mittelalter bis Ende des 18. Jahrhunderts etwa gleich niedrig geblieben. Bis zur Jahrhundertmitte war die Produktionssteigerung in der Landwirtschaft beachtlich, vielleicht sogar größer, als zum Beispiel in jenen Teilen des Bergbaus und des Hüttenwesens, in denen die Arbeitsleistung noch stagnierte (vgl. 2.1.11.; 2.2.4.; 2.2.10.)297 Schon deshalb hat die Landwirtschaft eine wichtige Funktion in der Industriellen Revolution erfüllt. Die deutsche Landwirtschaft stand auch der ausländischen nicht nach, im Gegenteil, sie war manchen wichtigen Ländern voraus. Die Steigerung der Agrarproduktion war zum Beispiel sehr viel stärker als in Frankreich. Paul Bairoch hat errechnet, daß sich in Deutschland die durchschnittliche Jahreswachstumsrate der landwirtschaftlichen Produktivität zwischen 1840 und 1880 auf 1,6 belief, während sie in Frankreich nur 0,5, in Belgien 0,6, in England 0,7 und in den USA 0,8 betrug. 298 Man kann über diese Zahlen geteilter Meinung sein, aber sie zeigen, daß die deutsche Landwirtschaft seit der Jahrhundertmitte ein starkes Wachstum und eine starke Entwicklung der Produktivkräfte aufwies. Deutschland war zu jenen Ländern aufgerückt, die sich durch eine produktive Landwirtschaft auszeichneten und sich auf den Übergang zu einem Industriestaat vorbereiteten.

Mit der Entwicklung der Produktivkräfte im Ackerbau und in der Viehzucht vollzogen sich auch bedeutsame Veränderungen in den landwirtschaftlichen Nebengewerben der ersten Verarbeitungsstufe. Traditionelle Gewerbe, wie die Brennereien, wurden auf neue Rohstoffgrundlagen umgestellt; neue Kulturen, wie Zichorie und Zuckerrüben, riefen eine neue Industrie ins Leben. Bei den Mühlen und Brauereien setzte eine Verlagerung vom Land in die Stadt und damit eine Absonderung von der Landwirtschaft ein. Die Nebenindustrien, die sich teilweise zu eigenen Industrien entwickelten, waren bis 1870 und darüber hinaus gekennzeichnet durch eine fortschreitende Verbesserung der Technik, Standorterweiterung oder -Verschiebung, gefördert durch steuerpolitische Maßnahmen und Kapitalkonzentration. Daran waren die entstehende Maschinenbauindustrie und der Apparatebau ebenso beteiligt wie die naturwissenschaftlichen Disziplinen, deren Erkenntnisse zunehmend in der Produktion angewandt wurden.299 Fortschritte im Hüttenwesen und im Bergbau sowie im Transportwesen trugen ebenso dazu bei wie Veränderungen in der Arbeitsorganisation und in der Technologie. Zugleich entstanden - wenn auch unterschiedlich in den einzelnen Verarbeitungsbereichen - Laboratorien, wissenschaftliche Ausbildungseinrichtungen und Fachschulen, die den technischen Fortschritt in den Nebenindustrien begünstigten und zur Qualitätssteigerung der erzeugten Produkte beitrugen. Nicht zuletzt organisierten sich manche Nebenindustrien in Interessenverbänden, die nicht nur deren wirtschaftliche Belange vertraten, sondern erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Produktivkräfte nahmen. Die Vereinigung der Landwirtschaft mit einer verarbeitenden Industrie war ein „hervorstechendes Merkmal eines spezifischen kapitalistischen Fortschritts in der Landwirtschaft".300 Sie fand zumeist in Ostelbien und in der Provinz Sachsen statt, insbesondere auf den Gütern, die auf diese Weise ihre Landarbeiter während der arbeitsärmeren Wintermonate beschäftigten und deren Ausbeutungsgrad steigerten. Die Nebenindustrie, durch die die industrielle Produktion in die Landwirtschaft einzog, übte sowohl auf die landwirtschaftliche Produktion, Technik und Arbeitsorganisation als auch auf die ökonomische Denk- und Verhaltensweise vieler großer Bauern und Junker je nach den Umständen einen mehr oder weniger starken Einfluß aus. Von größter Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft waren die Zukkerrübenfabriken. Ihr Aufschwung setzte um die Mitte der dreißiger Jahre ein. Glichen die vor dieser Zeit (1799 bis 1820) bestehenden Produktionsstätten mehr Versuchsanstalten, die nach den Napoleonischen Kriegen und unter dem Druck des den europäischen Kontinent überflutenden Rohrzuckers ruiniert wurden,301 so entwik300

kelten sich seit 1835 die Zuckerfabriken - nicht zuletzt durch die Ausnutzung französischer Erfahrungen — als industrielle Unternehmen, die in technischer, finanzieller, ökonomischer, organisatorischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht über den Rahmen eines „landwirtschaftlichen Nebengewerbes" hinauswuchsen. Doch ehe darauf näher eingegangen wird, soll zunächst die Zichorienverarbeitung behandelt werden, weil sie ein Geburtshelfer des Zuckerrübenanbaus war. Der Anbau der Zichorie war mit der Ausbreitung des Kaffeetrinkens verknüpft, denn die gerösteten und gemahlenen Wurzeln streckten entweder den Bohnenkaffee oder verliehen dem von den ärmeren Volksklassen zubereiteten Gemisch aus Zichorie, Runkelrüben und Erbsen die Illusion von Bohnenkaffeegeschmack. Der steigende Bedarf an „Kaffeesurrogaten", wie die Zichorie genannt wurde, förderte ihren Anbau, zumal er hohen Gewinn versprach und die Zichorienblätter ein gutes Viehfutter abgaben. Ausgangspunkt des Anbaus war Braunschweig. 1769 zählte man hier fünf „Zichorienfabriken". Doch bereits um 1800 war die Magdeburger Börde die Zichorienkammer Deutschlands. 1 000 bis 1 500 ha wurden auf den Feldmarken Magdeburgs und der Umgebung mit Zichorie bebaut. Mit der Getreidekrise in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts dehnte sich der Anbau aus, und 1878 erreichte die Provinz Sachsen, in diesem Falle fast identisch mit der Magdeburger Börde, eine Zichorienanbaufläche von 4 653 ha, Schlesien von 553 ha und die übrigen preußischen Provinzen von 596 ha, während Württemberg 838 ha, Baden 1 902 ha, Anhalt 44 ha, Braunschweig 535 ha und das übrige Deutschland 401 ha auswiesen. 302 Mit dem Anbau blühte die Zichorienindustrie auf. Gab es 1821 in Magdeburg 16 „Zichorienfabriken" mit 615 Arbeitern, so zählte man 1840 in der Magdeburger Börde bereits 41 Darren und Verarbeitungsbetriebe, in denen 2 250 Arbeiter, darunter mehr als die Hälfte Frauen, beschäftigt waren. Verbesserte Technik und Kapitalkonzentration führten in der Folgezeit zur Abnahme der Zahl der Betriebe. 1846 waren im Regierungsbezirk Magdeburg nur noch 32 Betriebe mit einer Arbeiterzahl von 1 771 vorhanden, während das übrige Preußen zwar 58 Betriebe besaß, jedoch nur 906 Arbeiter beschäftigte. Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen, Thüringen und Braunschweig dagegen vereinten nur 28 Betriebe und 601 Arbeiter auf sich. Die Verringerung der Betriebs- und Beschäftigtenzahl setzte sich weiter fort. In Magdeburg zum Beispiel bestanden 1907 zwar noch 13 Fabriken, aber die Arbeiterzahl war gegenüber 1 250 im Jahre 1840 (18 Fabriken) auf 400 abgesunken. Die Anbaufläche ist hingegen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch auf 6 000 ha (Regierungsbezirk Magdeburg) angestiegen. 303 Seit Mitte der dreißiger, besonders jedoch in den vierziger Jahren erlebte die Zichorienindustrie erhebliche technische Fortschritte, die die Handarbeit und die Arbeiterzahlen verminderten. Das Trocknen und Rösten der Zichorie geschah anfänglich mit Holzfeuer, dann verwandte man zur Feuerung Braunkohle, die wiederum durch Steinkohlenkoks ersetzt wurde, bis schließlich durch Dampf erzeugte Heißluft folgte. Dampfmaschinen verdrängten die Wind- und Wassermühlen und den Pferdegöpel. Es wurden die Schneidemaschinen verbessert, welche die keilförmige Wurzel in ganz regelmäßigen, das gleichmäßige Trocknen erleichternden Schnitten lieferten, ebenso die Trocken- und Rösterapparate. Mahlgänge wurden verbessert oder ersetzten Stampfvorrichtungen. Kollergänge wurden ebenso wie in zahlreichen anderen Industriezweigen eingeführt. Sie hestanden aus zwei schweren, auf einer waagerechten Achse gelagerten Stein- oder Eisenwalzen (Läufer), die auf einer horizontalen ringförmigen Mahlbahn (Bodenstein) umliefen und dabei das daraufgegebene Gut unter mahlendem Druck zerkleinerten, wobei sie um ihre eigene Achse rotieren. All dies bewirkte, daß bis etwa 1870 die Leistungsfähigkeit sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht erheblich stieg, was sich vorteilhaft auf den Inlandverbrauch und den Export auswirkte. Der Zichorienanbau hatte auf die Entwicklung der Bodenkultur großen Einfluß. Die Zichorie war eine ausgesprochene Spatenkultur; in Verbindung mit reichen Düngergaben trug sie erheblich zur Bodenverbesserung bei und zeitigte hohe Erträge. Um 1800 wurden pro ha etwa 120 bis 160 dt grüne Wurzeln geerntet, 70 Jahre später 250 bis 280 dt. Die Anbaumethoden der Zichorie begünstigten die Kultur der Hackfrüchte; besonders für die Zuckerrübe, die hohe Ansprüche an den Boden 301

stellt, war die Zichorienkultur von Bedeutung, weil durch sie die erforderliche tiefe und aufgelockerte Ackerkrume vorbereitet worden war. Zugleich eignete sich die Zichorie gut zur Bekämpfung der Rübenmüdigkeit der Böden (Nematoden), weshalb später Zuckerfabriken vielfach auch Zichorie anbauten. Nicht zuletzt wurden viele Zuckerfabriken anfänglich aus den Kapitalien finanziert, die sich durch den Zichorienanbau, die Zichorienfabrikation und den Zichorienhandel gebildet hatten. Die Zichorienkultur stand Pate bei der kapitalistischen Rübenzuckerindustrie und der Entwicklung der hochproduktiven Landwirtschaft in der Magdeburger Börde und in der Provinz Sachsen. 3 0 4 Rüben wurden 1836 bereits in 122 Fabriken zu Zucker verarbeitet — eine Zahl, die bis 1870/71 auf 304 stieg. Im gleichen Zeitraum nahm die verarbeitete Rübenmenge um das 120fache zu, die gewonnene Rohzuckermenge sogar um das 186fache woran Züchtung, Zuckerchemie und Technik einen wesentlichen Anteil hatten (vgl. Tab. 56). Tabelle 56 Entwicklung der Rübenzuckerindustrie in Deutschland von 1836 bis 1871

Jahr

Zahl der Rüben Fabriken verarbeitet dt

1836/37 1840/41 1845/46 1850/51 1855/56 1860/61 1865/66 1870/71

122 145 96 184 216 247 295 304

2 2 7 10 14 21 30

Rohzucker erzeugt dt

253 414 227 362 919 677 726 506

461 662 546 154 899 016 386 456

14 142 151 533 873 1 265 1 856 2 629

081 051 534 489 594 260 956 867

Rüben Pro Fabrik AusRohzucker beute auf 1 dt Rüben RohzuckerRohzuc verarbeitet erzeugt dt dt dt % 2 16 23 40 50 59 73 100

077 650 200 000 550 920 645 350

1 2 4 5 6 8

115 969 575 894 044 122 294 650

5,55 5,88 6,66 7,25 8,00 8,62 8,55 8,62

18,0 17,0 14,7 13,8 12,5 11,6 11,7 11,6

Quelle: Lippmann, E . O. v., Die Entwicklung der Deutschen Zuckerindustrie von 1850 bis 1900, Leipzig 1900, S. VI; Amtlicher Bericht über die Wiener Weltausstellung im Jahre 1873, Bd. 3, Abt. 1, H. 3, Braunschweig 1877, S. 178.

304 Ebenda, S. 534, 553; Plaut, H., 1978, S. 101. 305 Reden F. W: v., Bd. 3, 1854, S. 1873. 306 Hagelberg, G./Mäller, H.-H., 1974, S. 113 ff. 307 Müller, H.-H., 1979(a), S. 39 ff., 247 ff.

Die Rübenzuckerindustrie war in Preußen konzentriert. Hier wurden schon 1851/52 fast 77 Prozent aller erzeugten Rüben verarbeitet. Allein 53 Prozent entfielen auf die Provinz Sachsen, davon die Hälfte auf die Magdeburger Börde. 3 0 5 Zusammen mit Anhalt, Braunschweig, später auch Hannover bildete die Provinz Sachsen das wichtigste Zuckerriibenanbaugebiet, das mehr als zwei Drittel der Rübenmenge lieferte. Außer in diesem relativ zusammenhängenden Gebiet, das sich durch fruchtbaren Lößboden auszeichnete, schon frühzeitig verkehrstechnisch erschlossen wurde und daher gute Voraussetzungen für Rübenanbau und -Verarbeitung bot, gab es lediglich in Schlesien eine ins Gewicht fallende Rübenzuckerfabrikation. Alle übrigen Gebiete spielten eine untergeordnete Rolle, wenngleich auch einzelne Rübenzuckerfabriken in den jeweiligen Orten Einfluß auf die landwirtschaftliche Produktion ausüben konnten. 1870 entfielen auf die Provinz Sachsen, Anhalt, Braunschweig und Hannover 70 Prozent und auf Schlesien 14 Prozent aller Rübenzuckerfabriken. Die zunächst von Kaufleuten und von bürgerlichen Gutsbesitzern, weniger von Adligen (in der Provinz Sachsen gab es bis 1870 nur sieben adlige Fabrikanten) betriebenen Rübenzuckerfabriken, die jedoch seit den vierziger Jahren zunehmend auf Kapitalgesellschaften beruhten, an denen sich auch groß- und mittelbäuerliches Kapital ziemlich stark beteiligte, 306 waren in ihrem Standort rohstofforientiert. Die Rübenzuckerfabriken lagen im unmittelbaren Einzugsbereich der Rübenproduzenten, die sich aus Bauern und Gutsherren zusammensetzten. Da jedoch das gelieferte Rohmaterial allgemein von schlechter Qualität war und dadurch die Rentabilität der Fabriken beeinträchtigt wurde, gingen letztere zum Eigenanbau über, was den Kauf oder das Pachten von Bauernwirtschaften und Rittergütern einschloß. Es entstanden größere Komplexe, die als „Fabrikwirtschaften" bezeichnet wurden und sich seit etwa 1845 ausbreiteten. Man war auch auf die Rüben der Bauern und Güter, die nicht Mitbesitzer einer Fabrik waren, angewiesen, schuf aber nunmehr strenge vertragliche Regelungen. Die Fabriken schrieben den Landwirten Düngung, Aussaat, Pflegearbeiten, Anlieferung, seit den sechziger Jahren auch hochwertiges Saatgut vor. 3 0 7 Auf diese Weise sicherten sich die Fabriken nicht nur das gewünschte Aus302

134 Rübenzuckergewinnung Gutsbetrieb (um 1810)

gangsmaterial, sondern beeinflußten erfolgreich die Qualität der Rüben. Damit stellten die Zuckerfabriken gleichzeitig eine organische Verbindung mit dem Feldbau her, und als industrielle Unternehmen, die technisch-organisatorisch auf einer höheren Entwicklungsstufe standen als die landwirtschaftlichen Betriebe, übten sie im Interesse ihres Profits auf die Betriebe der Landwirtschaft ständig Druck aus, sich den Bedürfnissen des Fabrikverfahrens anzupassen. Die vertraglichen Regelungen, in denen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Pflanzenzüchtung und -ernährung niederschlugen, und die ständige Kontrolle des landwirtschaftlichen Arbeitsprozesses seitens der Fabriken zwangen die Landwirte zum intensiven Anbau, zu rationeller Bewirtschaftung, zur Berücksichtigung kapitalistischer Wirtschaftsprinzipien. Die Fabriken und der Rübenbau schufen „zugleich die materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie". 308 Das System der „Fabrikwirtschaften" mit ihren „Eigen- und Pflichtrüben" existierte vorwiegend in Norddeutschland und in Schlesien, am ausgeprägtesten in der Magdeburger Börde, weniger oder kaum in Süd- und Südwestdeutschland. Hier dominierten die „Kaufrüben"; Eigenanbau betrieb allerdings die badische Zuckerfabrik in Waghäusel, die größte Zuckerfabrik Deutschlands bis 1870 (gegründet 1836; Gründungskapital eine Million Gulden, 1872 verdoppelt; 1850 bereits 918 Beschäftigte).309 Von den Fabriken erhielten die rübenliefernden Landwirte die Abfälle der Rübenverarbeitung (Naßschnitzel und Melasse) zurück, ein wertvolles Futtermittel und für die Viehhaltung in den Rübenbaugebieten, die nur wenig Weidewirtschaft und Futterkräuteranbau aufwiesen, von nicht unbeträchtlicher produktionssteigender Wirkung. Zugleich war der bei der Zuckerherstellung anfallende kalk- und phosphorsäurehaltige Scheideschlamm als Düngemittel sehr begehrt. Die technische Ausstattung der Rübenzuckerfabriken, die auch in der Provinz Sachsen um 1840 schon große Betriebe darstellten (bis zu 400 Arbeiter), 310 war in ihrer ersten Wiederbelebungsphase recht einfach und von viel Handarbeit geprägt. Aus dem Arbeitsschema einschließlich der Erläuterungen in Abbildung 15 ist die Funktionsweise einer Fabrik und der technische Ausstattungsgrad um 1830 zu ersehen. Im Zusammenhang mit der Besteuerung der Rübenzuckerindustrie seit 1840 setzte eine schnelle Entwicklung der Produktivkräfte ein. Wurde die Steuer zunächst als unerhörte Belastung, begleitet von Firmenzusammenbrüchen und Fabrikstillegungen, empfunden, so sollte sie, die als Materialsteuer auf eine (zeitweilig) unveränderte Rübenmenge erhoben wurde,311 bald ihre großen Vorzüge erweisen. Denn jeder aus einer bestimmten Rübenmenge zusätzlich gewonnene Zentner Zucker blieb steuerfrei. Als man diesen Vorteil begriffen hatte, wurden Wissenschaft und Technik zunehmend in den Produktionsprozeß eingegliedert, die Böden verbessert und so die Qualität der Rüben gehoben. Was der Fabrikant aus dem gleichen Gewichtsquantum Rüben mehr an Zucker herauszupressen wußte, als vorausgesetzt und für die Marktpreisbildung bestimmend war, bedeutete nicht nur einen Extragewinn, sondern auch eine Senkung der Effektivbesteuerung der Zuckerfabriken. Un-

in

einem

308 MEW, Bd. 23, 1974, S. 528. 309 Hagelberg, GJMüller, H.-H., 1974, S. 115, 128 ff. 310 Müller, H.-H., 1979(a), S. 14 f. 311 Ebenda, S. 17.

135 Rübcnzuckergewinnung (um 1810)

136 Zuckerfabrik Dobrowitz von Weinreich, Schema (1831)

Karl

Im Rübenkeller (1) lagern die Rüben auf einem hölzernen Rost. Die Luft kann durch unterirdische Kanäle, die unter dem Rost eines Windofens zusammenlaufen, nach Belieben erneuert und mit Schwefeldampf geschwängert werden. Die Rüben werden in der Rübenwäsche (2) gewaschen. Ein Ochsenöder Pferdegöpel (3) treibt die Reibmaschinen (4) an, deren Reibzylinder sich mit 600 bis 700 U/min drehen. Der Rübenbrei wird auf mit Kupferblech beschlagenen Packtischen (5) in Säcke gefüllt, und aus den hölzernen Spindelpressen (6) läuft der Saft in den Bottich (7) und dann in die Läuterungskessel (8), wo man etwas Säure und Kalk zugibt und den Saft erwärmt. Der gereinigte Saft läuft durch die Taylor-Filter (9) in den Bottich (10). Die Saftreste aus den Leinwandsäcken der Filter werden mit Spindelpressen (11) ausgepreßt. Vom Bottich pumpt man den Saft in die Eindampfkessel (12), und nach der Eindickung läuft er durch hölzerne Filtrierkästen (13) in die Abkühlpfanne (14). Den Raum erwärmt ein Ofen (15). Den abgekühlten Sirup reinigt man in den Kohlefiltern (16) und dickt ihn dann in den Kippfannen (17) weiter ein. In den Gefäßen (18) wird die abgesüßte Knochenkohle regeneriert und in den gußeisernen Töpfen (19) durch Glühen frische Knochenkohle gewonnen. Der aus den tönernen Zuckerhutformen (20) laufende Sirup kommt in Holzbottiche (21). Die gefüllten Formen deckt man mit Ton (22), der im Bottich (23) zubereitet wurde. Die leeren Formen werden gewaschen (24) und die Zuckerhüte nach der Trocknung (25) auf dem Packtisch (26) eingewickelt.

312 Cuny, J. R., 1851, S. 156; Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat, 1855, S. 1202.

ter dem Ansporn derartiger Profitchancen mußte ein unaufhörlicher Wettstreit nach der höchstmöglichen Rübenausbeute entstehen und die ganze Industrie einer raschen Veränderung ihrer Arbeits- und Betriebsverhältnisse unterliegen. Stieg bis 1860 die Zuckerausbeute der Rüben kontinuierlich, so änderte sich im gleichen Zeitraum fast ständig die technische Ausstattung und vergrößerten sich die Betriebe und ihre Leistungskraft. Bedeutendste Neuerung war die Nutzung der Dampfkraft und -wärme. 1845 hatten zwar erst 23 Fabriken in der Provinz Sachsen 30 Dampfmaschinen (341 PS/251 kW) installiert, eine Fabrik arbeitete mit Wasserkraft und 13 Fabriken wurden mit Göpelwerken (59 Zugtiere) betrieben. Doch schon 1850 gab es in Deutschland kaum mehr eine Zuckerfabrik ohne Dampfmaschinen. Beispielsweise liefen Mitte der fünziger Jahre allein in den sechs Rübenzuckerfabriken des Kreises Oschersleben 35 Dampfmaschinen (195 PS/144 kW). 1851 hieß es bereits, daß „unter denjenigen Gewerben, für welche die Anwendung des Dampfes sich eine gewisse Geltung erworben h a t , . . . unstreitig die Rübenzuckerfabriken eines der ersten" war, und daß sich fast in keinem anderen Gewerbe „schon heute mehr Dampfkessel im Gange (finden), als dies bei der Rübenzuckerfabrikation der Fall ist". 312 Das war auch wesentlich auf die Verwendung des Dampfes zum Heizen zurückzuführen. Die Koch- und Dampfstationen erfuhren grundlegende Änderungen. Kochte man bis etwa 1849/50 den aus der Rübe ausgepreßten Saft noch über freiem Feuer in offenen Kesseln oder Pfannen, so benutzte man seitdem die von Norbert Rillieux in Louisiana konstruierte mehrstufige Verdampfungsanlage. In der Form einem Lokomotivkessel ähnlich, sorgte sie für gleichmäßige Wärmeverteilung, gutes Regulieren, rechtzeitige Unterbrechung der Wärmezufuhr, beseitigte sie die bishe304

137 Rübenzuckergewinnung in einer Rübenzuckerfabrik (um 1850)

138 Rübenzuckerfabrik (1863)

rige Gefahr des Anbrennens und beschleunigte die Zuckerherstellung. Die Wärmewirtschaft der Fabriken wurde erheblich verbessert (Brennstoffeinsparung). Nicht minder wichtig war die Einführung des von Eduard Charles Howard entwickelten „Vakuumapparates", in dem das Kochen beziehungsweise Eindicken des gewonnenen Dünnsaftes bei Unterdruck geschah (bei weniger als 70 Grad Celsius). Das Eindicken des Saftes und die Kristallisation im luftverdünnten Raum beugten der Zerstörung durch hohe Temperaturen vor und waren ebenfalls von einer beträchtlichen Einsparung an Brennstoffen begleitet. 313 Mit der Massenverwendung der Dampfkraft ging die Mechanisierung der Waschtrommeln und Reiben einher, lösten die größere Saftausbeute liefernden hydraulischen Pressen die handbetriebenen Spindelpressen ab, wurde die Scheidung und Filtrierung des Saftes durch Kalk und Knochenkohle unter Einschluß ihres rationelleren Gebrauchs (Einführung von fabrikeigenen Kalköfen und Knochenkohleglühöfen) verbessert, die Trennung der Kristalle vom Sirup durch das von Karl Sebastian Schützenbach entwickelte Kastensiebsystem erleichtert und später durch die bahnbrechenden Schleuderzentrifugen ersetzt. All das schuf die Voraussetzungen für die Massenverarbeitung. 1864 wurde von Julius Robert das umwälzende Diffusionsverfahren erfunden, dessen allgemeine Einführung jedoch erst nach 1870 erfolgte.314 Die Leitung des Produktionsprozesses lag zumeist in den Händen von „Nurpraktikern", unter denen der Siedemeister eine fast allgewaltige Stellung einnahm; von ihrer subjektiven „Kunst" hing das Wirtschaftsergebnis ab. Nach 1861 trat die chemisch-wissenschaftliche Forschung stärker in den Dienst der Rübenzuckerindustrie,

313 Vgl. Baxa, JJ Bruhns, C„ 1967, S. 152 ff., 174 ff. 314 Ebenda,S. 1 7 6 . - D e n Ablauf der wichtigsten Produktionsprozesse in der Rübenzuckerindustrie und ihrer verschiedenen Varianten siehe ebenda, S. 172 ff.; Rosenberg, L„ 1976, S. 99 ff.; Müller, H.-H., 1979(a), S. 51 ff.

315 Schuchart, T., 1908, S. 101. 316 Baxa, JJ Bruhns, G., 1967, S. 173; Rosenberg, L., 1976, S. 101. 317 Vgl. Müller, H.-H., 1979(a), S. 30. 318 Bielefeldt, K„ 1911, S. 83.

die nunmehr Weltgeltung gewann. Chemiker wurden eingestellt, aus denen tüchtige Forscher hervorgingen (z. B. Carl Bernhard Friedrich Scheibler). Die Kalkscheidungsverfahren wurden verbessert, Kohlensäure, Baryt, schweflige Säure und andere Verfahren probiert und eingesetzt, um die die Kristallisation erschwerenden „Nichtzuckerstoffe" zu entfernen und die Zuckerausbeute zu erhöhen. 1866 erfolgte schließlich die Gründung des Instituts für Zuckerindustrie in Berlin. Die Verbesserung der Technik und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse hoben nicht nur die Leistungsfähigkeit der Betriebe, sondern sie reduzierten auch die Produktionszeit, in die auch die Landwirtschaftsbetriebe einbegriffen waren. Während Achard und seine Zeitgenossen etwa 180 Tage benötigten, verkürzte sich die Saisondauer von 150 Tagen um 1850 auf etwa 130 und weniger Tage um 1870.31S Trotz vieler technischer Fortschritte herrschte noch starke manuelle Arbeit vor. Die tägliche Arbeitszeit betrug um 1850 und später 14 Stunden ohne Pausen. Auch sonntags wurde gearbeitet. Erst als die Steuerbeamten in den sechziger Jahren das Verwiegen der Rüben an Sonntagen einstellten, kehrte Sonntagsruhe in der Rübenzuckerindustrie ein. Schwerstarbeit vollbrachten die Transportarbeiter, die die Rüben vom Rübenkeller zu den Waschtrommeln trugen, bis zu 75 kg vor der Brust. Viele Arbeiter waren hoher Luftwärme ausgesetzt. Bei 37 bis 50 Grad Celsius, bei der Kandiszuckerverarbeitung bis zu 62 Grad Celsius mußten sie ausharren. Amtliche Berichte in der Provinz Sachsen vermerkten, daß sich die Arbeit in der Rübenzuckerindustrie nicht allzu viel von der im Bergbau unterschied. Aber ein großer Teil der Arbeitskräfte bestand hier aus Frauen. Viele von ihnen waren mit dem Abschneiden der "Rübenköpfe nach der Reinigung beschäftigt, während ein anderer Teil schmutzige Arbeit verrichtete, indem er den Rübenbrei aus den Trögen schöpfte, in Tücher einwickelte und in die Pressen schichtete. Ebenso arbeitsintensiv, auch recht umständlich und wohl am schmutzigsten war die Filtrierung des Dünnsaftes und des Dicksaftes über Knochenkohle sowie deren Bereitung und Regenerierung.316 Auch die sanitären und hygienischen Verhältnisse in den Fabriken und in den Unterkünften der Rübenarbeiter spotteten jeder Beschreibung.317 Der steigende Rohstoffbedarf der Rübenzuckerfabriken und die Jagd nach hohen Profiten beeinflußten in entscheidender Weise auch die Bodenbewirtschaftung. Der Rübenbau beherrschte die Landwirtschaft der Fabrikwirtschaften. Man betrieb fast eine Art Monokultur. Die Fabrikwirtschaften bebauten bis in die sechziger Jahre bis zu zwei Drittel ihrer Anbaufläche mit Rüben. Dieser übertriebene Rübenanbau mußte sich auf die Dauer negativ auf die Bodenfruchtbarkeit auswirken. So kam es beispielsweise im Jahre 1868 um Staßfurt zu einem völligen Versagen des Bodens für den Rübenanbau. Auch in anderen Gebieten waren die Erträge schon in den fünfziger Jahren um ein bis zwei Drittel zurückgegangen. 1876 waren 24 Fabriken im Regierungsbezirk Magdeburg gezwungen, ihren Betrieb wegen Ertragsausfall zeitweilig oder dauernd einzustellen.318 Die Rübenmüdigkeit des Bodens, hervorgerufen durch das Auftreten von Nematoden, zwang die Rübenwirtschaften, teilweise die Fruchtfolgen zu verändern. Doch die Fabrikwirtschaften akzeptierten den systematischen Wechsel von Blatt- und Halmfrüchten nicht. Sie wendeten die von den Bedürfnissen der Rübenzuckerfabriken bestimmte „Industriewirtschaft" an, in der zwar ein begrenzterFruchtwechsel und eine verbesserte Düngung der Rübenmüdigkeit entgegenwirkten, aber insgesamt trotzdem noch ein erheblicher Teil der Anbaufläche mit Rüben bestellt wurde. Wie die Rübenzuckerfabriken blühten auch die Brennereien auf. Waren erstere jedoch im 19. Jahrhundert entstanden, so gehörten die Brennereien zum traditionellen Gewerbe, dessen betriebs- und volkswirtschaftliches Gewicht andere Züge aufwies. Beiden war die Verbindung mit der Landwirtschaft gemeinsam, beide brachten dem landwirtschaftlichen Betrieb unmittelbare Vorteile. Wie die Zuckerfabriken lieferten auch die Brennerein wertvolle Nebenprodukte. Die Schlempe war ein begehrtes Futtermittel für die Schweinemast und die Milchviehhaltung. Andererseits konnten die Brennereien auch jene Kartoffeln verwenden, die nicht für die menschliche Ernährung geeignet waren. Doch während bei den Zuckerfabriken auch die Bauern Nutzen aus den wertvollen Rückständen zogen, kamen sie bei den Brennereien nur den junkerlichen Großbetrieben zugute, die die Branntweinherstellung weitgehend monopolisiert hatten. 306

Ursprünglich wurde der Branntwein aus Korn destilliert, und die Produktion war nicht sonderlich groß. Am Ende des 18. Jahrhunderts beschränkten sich die mehr auf Qualität als auf Quantität orientierten Brennereien meist auf wenige Städte, wie Münster, Ulrichstein, Nordhausen. Anfang des 19. Jahrhunderts vermehrten sich die Kornbrennereien auf dem Lande als Nebengewerbe der größeren Gutsbetriebe, besonders in Hannover und Braunschweig. Sie fanden Abnehmer sowohl durch den steigenden Branntweingenuß als auch durch die stets wachsenden Armeen, die ihrerseits den Geschmack am Branntwein in weite Bevölkerungskreise trugen. So dehnten sich die Kornbrennereien am Niederrhein, in Brandenburg, in der Lausitz und in der Provinz Sachsen aus. Der Wendepunkt für die Brennerei war die Entdeckung, daß man Branntwein auch aus Kartoffeln herstellen konnte. Die Brennerei verlagerte sich nun stärker auf das Land. Der kornbrennende Großgrundbesitzer wurde vom kartoffelbrennenden verdrängt, die Brennerei verlagerte sich vom Kornland auf das Kartoffelland, von Nordwestdeutschland nach Ostelbien. Die erste Kartoffelbrennerei wurde zwar 1750 von dem Bauern David Möllinger in Monsheim (Rheinpfalz) begründet,319 doch als Ausgangspunkt der Kartoffelbrennereien als landwirtschaftliches Nebengewerbe kann das Jahr 1810 dienen, in dem in Preußen die allgemeine Erlaubnis für die Errichtung von Brennereien erteilt wurde. Wichtiger für ihren Aufschwung, an dem das chemische Gewerbe mitwirkte, waren wohl die Mißernte und Hungersnot von 1816, die die Kornpreise ungemein erhöhten, so daß Korn als Brennereirohstoff durch die Kartoffel ersetzt werden mußte. Beschleunigt wurde der ostelbische Brennereibetrieb durch die Ablösungen der Bauern, deren Entschädigungsgelder die Junker zum Teil in Brennereien anlegten. 1827 erzeugte Preußen bereits 125 Millionen Quart (143,175 Millionen Liter), während Hannover - 1 5 Jahre vorher noch der führende Branntweinlieferant - nur 18 Millionen Quart (20,61 Millionen Liter) lieferte. Brandenburg, Pommern, Preußen, die Altmark, das nördliche Niederschlesien und der deutschsprechende Teil Posens waren die Kerngebiete der Brennereien. Das ostelbische Preußen verfügte bis 1870 über etwa zwei Drittel der'gesamten deutschen Alkoholproduktion. Errichtete man die Rübenzuckerfabriken auf guten Lößböden, die bereits früher recht intensiv bewirtschaftet wurden, so nutzten die Brennereien vor allem die leichten Böden Ostelbiens. Die Kartoffelbrennereien waren zweifellos in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein nicht unwesentlicher Intensivierungshebel dieser vordem nur ungenügend genutzten Böden. Das kam jedoch fast nur den über die Brennereien verfügenden Junkern zugute. Die Gewinne aus den Brennereien stellten in den Bilanzen der Junkergüter zusammen mit dem Wollverkauf die größten Posten dar. 320 Diese Verquickung von junkerlichem Betrieb und Branntweinbrennerei sowie entsprechende vom halbfeudalen Staat begünstigte Preismanipulationen sicherten Preußen das Monopol an der Herstellung von Kartoffelsprit. Die Entwicklung der Brennereien und des Getreide- und Kartoffelverbrauchs in Preußen zeigt Tabelle 57 (S. 308). Die Zahlen demonstrieren die starke Ausbreitung der Brennereien auf dem Lande und die Abnahme der Kornbrennereien gegenüber den Kartoffelbrennereien. Damit ging zugleich eine kräftige Verringerung der Anzahl der Brennereien in der Zeit von 1830 bis 1870 einher, deren Ursache in der Betriebsgrößenveränderung, vor allem in einem erheblichen Wachstum des durchschnittlichen Betriebsumfanges der einzelnen Brennereien, zu suchen ist. Den Konzentrationsprozeß im Brennereigewerbe verdeutlichen einige Zahlen über die Betriebsgrößenentwicklung zwischen 1845 und 1874. Danach entwickelten sich die einzelnen Betriebsgrößen, gemessen an der staatlichen Maischraumsteuer, wie folgt: Zwergbrennereien (unter 150 M) von 591 auf 69; kleine Brennereien (150 bis 1 500 M) von 5 185 auf 402; mittlere Brennereien (1 500 bis 15 000 M) von 1 887 auf 1 815 und große Brennereien (über 15 000 M) von 115 auf 1 Oll. 321 Die Maischraumsteuer wirkte wie die Rübensteuer in der Rübenzuckerindustrie: Sie begünstigte den Fortschritt der Produktivkräfte, sie zwang förmlich, sich mit der neuesten Produktionstechnik und dem Rohstoff eingehender zu beschäftigen. Sie verbilligte den Steuersatz bei einer guten Ausbeute und kam den größeren Betrieben 307

319 Illustriertes Brennerei-Lexikon, 1915, S. 90. 320 Vgl. Müller, H.-H., 1979(b), S. 237. 321 Ehle, W., 1926, S. 29. Maischraum-Steuer, bezogen auf eine bestimmte Menge Maische.

infolge ihrer besseren technischen Ausstattung entgegen. Schließlich förderte sie die Abwanderung des Brennereigewerbes auf das Land, weil sich aus den Kartoffeln die höchsten Ausbeuten erzielen ließen. Die Alkoholausbeute, bezogen auf einen bestimmten Maischraum, stieg von 2 % 1821 auf 3,3 % 1838, auf 4 % 1854 und auf 4,8 % 1868.322 Tabelle 57 Entwicklung der Brennereien in Preußen 1831,1851 und 1865

1831

1851

1865

Gesamtzahl der Brennereien

22 969

11 343

7 711

Davon in Betrieb in den Städten auf dem Lande

13 806 4 407 9 399

7 948 1 150 6 398

6 209 1 103 5 106

Mit Getreide gebrannt (gesamt) in den Städten auf dem Lande

4 125 2 280 1 845

2 121 912 1 209

1730 756 974

Mit Kartoffeln gebrannt (gesamt) in den Städten auf dem Lande

8 654 2 002 6 652

4 509 493 4 016

3 147 194 2 953

2 604" 247 2 357

2 803 227 2 576

453a 38 415

214 33 181

Mit Dampfapparaten ausgestattet (gesamt) in den Städten auf dem Lande Ohne Dampfapparate (gesamt) in den Städten auf dem Lande An Getreide verbraucht

An Kartoffeln verbraucht

1831 1851 1865 1831 1851 1865

4 3 4 13 19 27

341 375 690 215 089 177

144 Scheffel 763 Scheffel 300 Scheffel 164 Scheffel 050 Scheffel 893 Scheffel

' Angaben beziehen sich auf 1856 Quelle: Meitzen, A., Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staates, Bd. 4, Berlin 1869, S. 552 ff.

322 Ebenda, S. 22; Laves, T„ 1887, S. 450 f. 323 Rektifikation: Wiederholte Destillation von Flüssigkeitsgemischen zur Erreichung hoher Reinheit. Dephlegmation: Ein Kondensator, in dem ein Teil des bei der Destillation anfallenden Dampfes dadurch verflüssigt wird, daß er gegen waagerechte, wasserdurchflossene Kühlrohre strömt. Er kondensiert die in den aufsteigenden Alkoholdämpfen enthaltenen Nebenbestandteile mit hohem Siedepunkt. 324 Illustriertes Brennerei-Lexikon, 1915, S. 84, 470, 565; vgl. Moni, H., 1979, S. 15, 103 f., 107. 325 Jacobi, L., 1860, S. 325.

Die folgenreichste Entwicklung im Brennereigewerbe nach der Erfindung des Destillationsapparates von Eduard Adam im Jahre 1801 war die Einführung des von Johann Heinrich Leberecht Pistorius, einem Rittergutsbesitzer in Weißensee bei Berlin, 1817 konstruierten und bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts verwendeten Destillierapparates. In ihm waren mehrere Blasen zur Aufnahme der zu entgeistenden Maische säulenförmig übereinander angeordnet. Dieser Apparat vereinte Maischvorwärmung, Rektifikation und Dephlegmation 323 und bedeutete gegenüber der einfachen, nur aus Blase und Kühler bestehenden Destillation einen großen Fortschritt. Der Apparat von Pistorius fand schnell große Verbreitung, förderte den Übergang zu Großbrennereien und wurde von den größeren Brennereien sofort bevorzugt. Seit 1830 konnte er durch eine Vorrichtung, die der bekannte Sozialkritiker Ludwig Gall entwickelt hatte, mit Dampferzeugung kombiniert werden. Der Apparat erzeugte Rohspiritus mit einem Alkoholgehalt von 85 Prozent. Dadurch konnte der preußisch-deutsche Spiritus auf dem Weltmarkt erfolgreich bestehen,324 während die Alkoholerzeugung in der einfachen Blase wesentlich niedriger lag. Die Installierung von Dampfkesseln, die in den vierziger Jahren verstärkt zunahm und Ende der fünfziger Jahre wohl abgeschlossen war, stellte einen weiteren Fortschritt im Brennereigewerbe dar. In der kleinen preußischen Oberlausitz zum Beispiel existierten 1859 bereits 68 Dampfbrennereien auf dem Lande. 325 Der erzeugte Dampf wurde sowohl für die Destillierapparate verwendet als auch für die Fässer, in denen die Kartoffeln gedämpft wurden, ehe sie in die Quetschmaschine gelangten. Die Dampfkessel verdrängten die offenen Feuer unter den einfachen Blasen. Und in dem Maße, wie man Dampfmaschinen aufstellte, machte auch die Mechanisierung verschiedener Arbeitsprozesse Fortschritte. Einen Eindruck davon vermittelt zum Beispiel die Brennerei in Siegersdorf, eine der größten in Schlesien, die Ende der fünfziger Jahre eine Dampfmaschine von 6 PS (4,4 kW) besaß und den Durch308

schnitt modern ausgestatteter größerer Brennereien in Preußen verkörperte. Die Dampfmaschine betrieb eine gußeiserne Waschtrommel, ein Paternosterwerk, mit dem die gereinigten Kartoffeln in die Dampffässer im zweiten Stockwerk befördert wurden, eine Quetschmaschine und ein Rührwerk im Vormaischbottich, wo die gemahlenen Kartoffeln zusammen mit dem gequetschten Grünmalz dem Zuckerbildungsprozeß unterlagen, sowie Windflügel im Kühlschiff, die die Maische in kurzer Zeit auf die erforderlichen Temperaturen abkühlten. Die gleiche Dampfmaschine setzte im Landwirtschaftsbetrieb auch eine Schrot- und Mehlmühle, eine Knochenstampfe und eine Siedemaschine in Bewegung. Zwei Brennapparate Pistoriusscher Konstruktion brannten in 45 Minuten ,1 000 Quart (1 145 1) Maische ab. Innerhalb der „gesetzlich vorgeschriebenen Zeit" wurden an einem Tage fünf Einmaischungen ä 60 Scheffel (etwa 3 3001) vorgenommen und täglich etwa 10 000 bis 12 000 Quart Maische (11 400 bis 13 740 1) gebrannt. Im Juli und August ruhte der Betrieb. Der Arbeitskräftebesatz der Brennerei war relativ klein. Es wurden beschäftigt: ein Brennmeister, dem auch die Hefebereitung oblag, ein Maschinenführer, der gleichzeitig das Mälzen der Gerste besorgte, ein Feuermann, ein Arbeiter auf dem Kühlschiff, ein Arbeiter im Gärungsraum und ein Arbeiter bei der Kartoffelzurichtung. 326 Die Jahreserzeugung mag etwa 150 bis 200 hl betragen haben. Kleine und mittlere Brennereien, die einen bis vier Arbeiter beschäftigten, dürften kaum mehr als 50 bis 100 hl Alkohol erzeugt haben. 327 Ein anderer Zweig der Kartoffelverarbeitung war die Stärkeindustrie, die mit wenigen Ausnahmen östlich der Elbe lag. Sie war fast ausschließlich auf den kartoffelproduzierenden Großgütern angesiedelt, ein überwiegend auf Kleinbetrieb (bis zu fünf Arbeiter) beruhendes landwirtschaftliches Nebengewerbe, das zu mehr als zwei Drittel Naßstärke herstellte. Chemiker und Pflanzenzüchter (zum Beispiel Carl Jos. Napoleon Balling, Carl Remigus Fresenius, Gottlieb Holdefleiß, Eugen Otto Franz Krocker, Scheibler und andere) waren zumindest seit der Jahrhundertmitte an ihrer Entwicklung beteiligt, indem sie die stärkehaltigsten Kartoffelsorten auswählten, entwickelten und für den Anbau propagierten, die Eigenschaften des Stärkemehls analysierten und die gewonnenen Erkenntnisse im Arbeitsprozeß verwerteten. 328 Das anfallende Waschwasser, reich an Pflanzennährstoffen, namentlich an Stickstoff, Kali und Phosphor, wurde zumindest seit den sechziger Jahren als Düngemittel auf Felder und Wiesen geleitet. Die Pülpe fand als Mast- und Milchviehfutter Verwendung, allerdings nur unter Beigabe von Ölkuchen oder anderen Futtermitteln, oder diente als Rohmaterial zur Herstellung von Knöpfen, Broschen, Tellern oder in der Papierfabrikation. 329 Die Gewinnung der Kartoffelstärke war recht einfach. Der Produktionsprozeß zerfiel in folgende Arbeiten: Einweichen, Waschen und Zerreiben der Kartoffeln, Auswaschen, Abscheiden, Reinigen und Trocknen der Stärke. Waschen und Zerreiben wurden zunächst mit handbetriebenen Vorrichtungen vorgenommen, später mit dampfgetriebenen Maschinen, wobei zuerst zumeist französische Konstruktionen (besonders Reibemaschinen) zum Einsatz gelangten, die allmählich von deutschen Fabrikaten verdrängt wurden. Die durch Siebe geleitete Rohstärke wurde anschließend in hölzernen oder gemauerten Bottichen gereinigt, indem sich die Stärke bei langsam fließendem Wasser, mitunter durch Rührwerke aufgerührt, auf dem Boden der Bottiche absetzte. Das Verfahren und die Erneuerung des Wassers wurden solange wiederholt, bis die Stärke rein und weiß war. Die mit Schaufeln abgestochene Naßstärke (Grünstärke) wurde entweder an die städtischen Trockenstärkefabriken zur Weiterverarbeitung geliefert oder in eigene Trockenräume oder Trockenöfen mit künstlicher Ventilation (bis zu 80 Grad C) getragen, um ihr die Feuchtigkeit zu entziehen. In den sechziger Jahren verringerte sich mit der Einführung von speziellen Zentrifugen (1 000 U/m) bei gleichzeitiger Reinigung und ziemlich hoher Entwässerung die Trockenheit. Bei einer täglichen Verarbeitung von 15 000 kg Kartoffeln wurden etwa 4 500 kg Naßstärke oder 3 000 kg Trockenstärke mit einem Feuchtigkeitsgehalt von 18 % erzeugt. 330 Umfangreich war das aus dem Feudalismus überkommene Mühlengewerbe, das 1870 ebenso wie 1800 zum überwiegenden Teil mit Wind- oder Wasserkraft betrieben wurde. 1875 zählte man im Deutschen Reich 59 000 Mühlen, von denen noch etwa 90 % auf diese Antriebskräfte angewiesen waren. In der Regel waren diese 309

326 Ebenda. 327 Ehle, W., 1926, S. 23. 328 Vgl. Stohmann, F., 1878, S. 22, 41 ff., 49 ff. 329 Illustriertes 1915, S. 577. 330 Vgl. Stohmann,

Brennerei-Lexikon, F., 1878, S. 68 ff.

331 Luther, G., 1909, S. 79; Linke, J„ 1931, S. 27. 332 Schmoller, G„ 1870(b), S. 402; vgl. auch Mohr, P., 1899, S. 24. 333 Luther, G., 1909, S. 79.

Mühlen mit einem Landwirtschaftsbetrieb verbunden. 1858 gab es in Preußen noch 1 893 Roßmühlen (Göpelwerke), die sich bis 1861 um 265 verminderten. Der größte Teil aller Wind- und Wassermühlen (etwa 95 %) war um 1870 wie 1800 mit einem, höchstens zwei Mahlgängen ausgestattet, jenen Anlagen, die aus zwei runden, horizontal übereinanderliegenden Mahlsteinen bestanden, von denen der untere (Bodenstein) feststand, der obere (Oberläufer) drehbar gelagert war. Das Getreide gelangte über einen Holztrichter (Rumpfzeug) und Rüttelschuh durch ein Loch in der Mitte des Oberläufers in die Mahlbahn und wurde in den Furchen der Steine mit den Schalen zerrieben. Durch ein Mahlloch fiel das Mahlgut in das in der Mehlkammer aufgehängte Beutelgeschirr, einen Wollbeutel, der durch das Schlagen des Gabelzeuges geschüttelt wurde und so das Mehl ausschied und die Schale und alle mit Schale behafteten Teile über ein Sieb, den Sauberer, der die gröberen Schalen zurückzielt, in ein Holzgefäß ableitete. Die Mahltechnologie wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Flachmüllerei beherrscht. Die Mahlsteine waren sehr eng gestellt und griffen das Korn scharf an, es wurde zerrieben, um schon in den ersten Mahlgängen möglichst viel Mehl zu erhalten. Gewonnen wurden nur ein bis zwei, höchstens drei Sorten Mehl. Unter dem Einfluß der österreichischen und ungarischen Konkurrenz und durch die steigende Nachfrage nach feineren Brot- und Backwaren setzte sich um 1860 - in Süddeutschland schon etwas eher - die Halb- und Hochmüllerei durch. Hier waren die Mahlsteine halbhoch oder hoch gestellt, und das Korn wurde nur gequetscht und zerschnitten, nicht zerrieben. Durch allmähliches Engerstellen der Mahlsteine gewann man grießige Produkte (Grieß und Dunste), sechs bis sieben Sorten und feinere Mehle. Die Qualitätsverbesserung war mit der Einführung der von Ignaz Paur schon 1810 konstruierten, seitdem ständig verbesserten Grießputzund Sichtmaschine verbunden, die unter Benutzung eines starken künstlichen Luftstromes die Kleieteilchen von den durch einen Spalt fallenden Grießen trennte und gleichzeitig sortierte.331 Zunächst aber ist festzustellen, daß die Zahl der Wind- und Wassermühlen zunahm. In Preußen zum Beispiel wurden gezählt: Windmühlen 1831 10451, 1849 13 150 und 1861 14 886; Wassermühlen 1831 13 949, 1849 14 475 und 1861 14 712. Von 1819 bis 1861 stieg die Zahl der Wind- und Wassermühlen von 23 962 auf 29 578 (123 %),332 worin sich steigende Bevölkerung und steigende landwirtschaftliche Produktion reflektieren dürften sowie eine Abnahme zahlreicher Handmühlen in den bäuerlichen Wirtschaften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. 1849 wie 1861 entfielen in Preußen auf 10 000 Einwohner acht Windmühlen und zehn Wassermühlen, im gesamten Zollverein dagegen nur fünf Windmühlen, aber elf Wassermühlen.333 Wenn die Produktionsverfahren der Wind- und Wassermühlen bis 1870 sich im Wesen kaum veränderten, so erfuhren sie dennoch einige technische und betriebswirtschaftliche Fortschritte. Unter den Wassermühlen entwickelten sich regelrecht „Großbetriebe". In Bromberg zum Beispiel bestand eine Wassermühle mit zehn Wasserrädern mit einer Leistung von zusammen 290 PS (213 kW), die 31 Mahlgänge antrieben. Aber auch die Technik selbst war Wandlungen unterworfen, nicht zuletzt angeregt von Wilhelm Beuth, auf dessen Veranlassung vom Staat Reisen zum Studium fortgeschrittener Mühlentechnik in Europa und Amerika in den zwanziger Jahren finanziert wurden. Seiner Initiative war es zu verdanken, daß Mühlen in Preußen mit englischen Kornreinigungsmaschinen und Siebwerke». und französischen Mühlsteinen, die sich gegenüber den deutschen durch geringere Abnutzung auszeichneten, ausgestattet wurden und in der Folgezeit auf andere Mühlen eine Vorbildwirkung ausübten. Seit 1840 gingen Wassermühlen zur Einführung von Wasserturbinen (Henschel-Jonval-Turbine, 1848 Radialturbinen nach Schwamkrug und seit 1863 axiale Strahlturbinen nach Charles Girard) über, die eine bedeutend größere Leistung erzielten, die Störanfälligkeit der Wasserräder infolge natürlicher Faktoren verminderten und somit die Wirtschaftlichkeit der Wasserkraft verbesserten. In den sechziger Jahren hatten zumindest in den größeren Wassermühlen die Turbinen die traditionellen Wasserräder verdrängt. Das größte technische Ereignis im Mühlenwesen war die Verwendung von Dampfmaschinen. Die erste Dampfmühle wurde 1822 in Berlin von Krauske und 310

139 Der Mühlcnbcrg mit der Aussicht über Berlin (um 1800)

Schumann errichtet. Fünfzehn Jahre später gab es in Preußen 27 Dampfmühlen mit 64 Gängen, 1846 schon 115 Dampfmühlen mit 303 Gängen, 1852 bereits 539 Dampfmühlen mit 604 Gängen, und 1861 bestanden 664 Dampfmühlen mit 1 727 Mahlgängen. 334 Die Leistung stieg im gleichen Zeitraum von 377 auf 8 101 PS (277 auf 5 958 kW). Im Durchschnitt kamen auf eine Dampfmühle 2,4 bis 2,6 Mahlgänge und 10 bis 13 PS (7,4 bis 9,6 kW) sowie 3,4 Arbeiter. Also nutzten auch kleinere Mühlen schon die Dampfkraft. 1834 wurde in Mannheim die erste badische Dampfmühle gebaut, und 1835 erlebte Leipzig die Gründung von zwei Dampfmühlen. 1861 betrug die Zahl der Dampfmühlen in Sachsen nur sieben (!), in Bayern 33, in Württemberg sieben und in Baden 19, in Thüringen sechs und in Anhalt fünf. Im gesamten Zollverein existierten 840 Dampfmühlen mit 2 608 Arbeitskräften, auf eine Dampfmühle entfielen also im Durchschnitt 3,1 Arbeiter. 335 Der Mahlgang einer Wind- oder Roßmühle verarbeitete in 24 Stunden acht bis zwölf Scheffel Korn, der einer Wassermühle 24 Scheffel und der einer Dampfmühle 48 Scheffel. Die Dampfmühlen, in der Provinz Sachsen manchmal mit Zuckerfabriken verbunden, konnten kontinuierlich produzieren und erreichten dadurch eine höhere Leistungskraft als die traditionellen Mühlen. Einige von ihnen installierten auch schon Paternosterwerke, nachdem diese sich 1825 in einer Wiener Mühle erfolgreich bewährt hatten. Sie waren vertikal angeordnet und transportierten vorwiegend die schweren Getreide- und Mehlsäcke. Seit der Jahrhundertmitte begannen Versuche mit Walzenstühlen, deren große Zeit aber erst nach 1875 kam. Nach der Zählung von 1875 gab es in Deutschland 1 053 „Großmühlen" (1,82 % aller Betriebe), und zwar 30 Betriebe mit 50 und mehr Arbeitern, 529 Betriebe mit 10 bis 50 Arbeitern und 424 Betriebe bis zu zehn Arbeitern. 336 Die mittleren und größeren Dampfmühlen siedelten sich mehr und mehr an schiffbaren Flüssen (Rhein und Elbe), in Seehäfen (Hamburg, Stettin, Danzig) oder in Großstädten an. Sie produzierten für den Markt, dessen überregionale Belieferung jedoch erst nach 1870 eine starke Expansion erlebte. In den Seestädten waren die Dampfmühlen bereits in den sechziger Jahren ganz stark in das Exportgeschäft einbezogen. Das Schwergewicht im Mühlenwesen lag bis 1870 immer noch bei den Kleinmühlen, von denen in Preußen fast die Hälfte, in Bayern und Hamburg 30 % nur von einer Person betrieben wurde. Und in den Kleinmühlen, deren tägliche durchschnittliche Produktionsleistung kaum eine Dezitonne betrug, waren Arbeit und Arbeitsbedingungen schwer und ungesund, außerdem saisonbedingt, von Wind und Wasser abhängig. Die Gesellen erhielten noch bis 1870 vielfach Natural- und Geldlohn. Die Arbeit war mit Staubeinwirkung verbunden, da es keine Absaugvorrichtungen gab. Insbesondere das Schärfen der Mühlsteine griff die Atmungsorgane an; Lungenkrankheiten, Rheuma, Gicht und Katarrhe waren weit verbreitet. Die Arbeitsräume waren dunkel, eng und oft feucht. Der Mahlraum diente auch als Lagerraum. Müller und Geselle waren Mädchen für alles. Der Geselle hatte außer den Müllerarbeiten auch Acker und Vieh zu besorgen, war Transportarbeiter und Lastenträger, da es in 311

334 Schmoller, G., 1870(b), S. 399. 335 Luther, G., 1909, S. 79 f. 336 Ebenda, S. 82; Mohr, P., 1899, S. 90.

140 Mahlwerk einer Getreidemühle der Firma Heinrich Friedrich Eckert (um 1865)

337 Luther, C„ 1909, S. 85, 158 ff. 338 Klaue, H„ 1913, S. 144; Krzymowski, R., 1951, S. 276. 339 Klaue, H., 1913, S. 143.

den Kleinmühlen kaum arbeitserleichternde Transportvorrichtungen gab. Die Arbeitszeit betrug bis zu 15 Stunden. Etwas besser war die Situation in den mittleren und größeren Dampfmühlen. Hier hatte sich schon eine gewisse Arbeitsteilung eingebürgert, die Arbeitszeit betrug „nur" noch zwölf Stunden, und die Arbeiter waren reine Lohnarbeiter. Lüftungsklappen und offene Fenster, in den Windmühlen kaum vorhanden, sorgten für frischere Luft, wenngleich der Staubgehalt damit nicht beseitigt wurde. Der hohe Getreide- und Mehlstaubgehalt in den Mühlen war in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts oft Ursache von Explosionen, so daß zahlreiche Mühlen in Flammen aufgingen. Die Leistung pro Arbeiter und Tag belief sich in den Großmühlen auf schätzungsweise 15 bis 20 dt, aber ihre Gesamtleistung hatte den Durchschnitt der allgemeinen Produktion noch nicht wesentlich beeinflußt. Das erfolgte erst nach 1870. 337 Die Mühlen stellten die bei der Mehlherstellung anfallenden Abfälle, wie Kleie, Schrot oder minderwertige Mehle, der Landwirtschaft als Futtermittel zur Verfügung. Der Anbau von Ölfrüchten (Raps, Rübsen, Lein, Mohn, Hanf, Sonnenblumen, aber auch Bucheckern oder Walnüsse) erfolgte schon von alters her auch zur Erzeugung von ö l . 1878, im Jahr der ersten zentralen statistischen Erfassung von Ölkulturen, wurden in Deutschland angebaut: 179 055 ha Raps und Rübsen, 154 247 ha Lein- und Hanfsaat und 6 334 ha Mohn. Die Gesamfläche betrug etwa 411 000 ha Ölfrüchte aller Art. 338 Der Anbau war vordem weit größer, wenn man allein an den Niedergang des Leinengewerbes denkt. Um 1800 wurden in Preußen nach Krug etwa 200 000 ha mit Lein bestellt. Der Bedarf an Pflanzenöl und ölhaltigen Produkten wurde weitgehend aus der einheimischen Produktion gedeckt. Auch von 1865 bis 1870 wurden jährlich nur 24 3611 ölsämereien vom Zollverein importiert. 339 Die ölherstellung geschah vielerorts in den bäuerlichen Wirtschaften selbst. Die Arbeitsprozesse bestanden 1870 ebenso wie Ende des 18. Jahrhunderts im wesentlichen aus Reinigen, Zerkleinern, Erwärmen der Saat, Auspressen und Reinigung des Öls. Das Zerkleinern wurde in Bauernwirtschaften mit Fußstampfen oder Tretölmühlen vorgenommen, das Erwämen der Saat über offenem Feuer und das Auspressen erfolgte mit Handschraubenpressen. Daneben gab es zahlreiche Lohnmühlen (ölschlägereien), die nach und nach der bäuerlichen Hausmüllerei den Boden entzogen. Die Lohnmühlen, mitunter auch mit Getreide- oder Sägemühlen gekoppelt, waren meist mit Wasserkraft oder Göpelwerken, nur selten mit Windkraft ausgestattet. Größere, stark lärmende Stampfwerke und Keilpressen bildeten das wichtigste Inventar. Eine Ölmühle mit acht Stampferpaaren und Keilpresse produzierte um 1800 in 24 Stunden etwa 280 Pfund Rüböl. Mit dem zunehmenden Bedarf an Speiseölen, Brenn- oder Leuchtölen und Schmierölen im 19. Jahrhundert, aber auch der Verwendung von ölen in den Seifensiedereien seit den dreißiger Jahren weitete sich die Ölmühlenindustrie aus und zum anderen unterlag sie erheblichen Änderungen in der Produktionstechnik. In Preußen stieg die Zahl der Ölmühlen (sowohl handwerkliche Kleinbetriebe als auch industrielle Betriebe) von 3 428 1816 auf 4 107 1828 und auf 4 618 1843, um dann auf 3 755 1861 zu fallen, worin sich zugleich ein Konzentrationsprozeß widerspie-

141 Presse einer Ölmühle Schweiz (1416 erbaut)

in

Baden/

142 Ölstampfmühle und Ölpresse (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts)

gelt. Über die Arbeiterzahl pro Betrieb liegen folgende Werte vor: 1846 13,3 Arbeiter, 1855 15 Arbeiter und 1861 17,1 Arbeiter. Im Jahre 1861 gab es im Gebiet des deutschen Zollvereins 9 782 Ölmühlen mit insgesamt 16 240 Arbeitern und Angestellten, die etwa 550 000 t Rohmaterialien verarbeiteten. 340 Die Änderung der Produktionstechnik, die eine Vergrößerung der Betriebe, Aussonderung aus der Landwirtschaft und Standortveränderung nach sich zog, begann mit der Einführung hydraulischer Pressen, Kollergängen (Quetschwerke oder Walzen), die viel geräuschärmer als die Stampfwerke (Rammpressen) arbeiteten, sowie der Installierung von Dampfmaschinen. Die erste hydraulische Presse stellte Johann Gottlieb Nathusius 1818 in Hundisburg (Kreis Haldensleben) auf, und 1821 folgte eine Ölmühle in Bremen. Sie erzielten weit größere ölausbeuten als die Schraubenpressen. An die Stelle des Erwärmens der Ölsaaten über offenem Feuer trat zunächst kochendes Wasser, dann Dampf. Die Beseitigung des Anbrennens war eine wichtige Folge. Eine Ölmühle in Neuß — neben Hamburg und Wittenberge eines der wichtigsten Zentren der aufstrebenden kapitalistischen Ölmühlenindustrie - hatte 1826 eine hydraulische Presse und eine Dampfmaschine installiert. Die 1839 gegründete Neußer Ölmühle H. Thywissen & Sohn besaß bereits zu dieser Zeit ein stehende hydraulische Vorpresse, vier liegende hydraulische Nachpressen und eine Dampfmaschine von 20 PS (14,7 kW) und verarbeitete in zwölf Stunden etwa 4 650 kg Rapssaat. 1864 war sie mit 13 vertikalen Vorpressen und 27 horizontalen Nachpressen zur größten deutschen ölfabrik geworden. Das Unternehmen Herz in Wittenberge, die zweitgrößte deutsche Ölmühle, verarbeitete 1864 mit 32 vertikalen Pressen täglich 40 000 kg Rapssaat. Die Produktivität dieser modernen Betriebe hatte sich gegenüber Wassermühlen oder Göpelwerken um etwa 300 % erhöht, war saisonunabhängig, und der Produktionsprozeß verlief das ganze Jahr kontinuierlich. 341 Um 1860 war der Sieg der hydraulischen Pressen und der damit vebundenen Nachfolgeeinrichtungen über die traditionelle Produktionstechnik auf dem Gebiet der Ölgewinnung entschieden. Die dampfbetriebenen Ölmühlen, öfters mit Getrei-

340 Ebenda, S. 159. 341 Ebenda, S. 69, 134.

143 Kollergang einer Ölmühle (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts)

342 Viebahn, S. 805.

G., v.,

Bd. 3,

1868,

343 Die deutsche Ölmühlen-Industrie, 1925, S. 80. 344 Vgl. Koch, H. v., 1931, S. 36 ff. 345. Droit, H„ 1958, S. 31 ff.; Brauer im Osten, 1939, S. 41; Bayerische Agrargeschichte, 1954, S. 670.

demühlen vereinigt, begannen ihre Vorherrschaft anzumelden, wobei um 1870 etwa 100 von 9 700 Betrieben die Hälfte aller Arbeitskräfte auf sich vereinten und zugleich ebenso wie in der Getreidemüllerei einen eigenen Großhandel zeugten. 342 Die Rückstände der ölsaatverarbeitung, die Ölkuchen, waren schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein wertvolles und begehrtes Viehfutter. Die Ölkuchen haben allerdings auf die Gesamtleistung der Tierhaltung bis in die sechziger Jahre noch keinen nennenswerten Einfluß ausgeübt, wenngleich im lokalen Rahmen beträchtliche Mast- und Milchleistungen erzielt werden konnten. Um 1870 wurden etwa 150 000 t Ölkuchen an ungefähr 650 000 Rinder verfüttert. 343 Für die Landwirtschaft war auch das Brauwesen von sehr großer Bedeutung. Gerste und Hopfen bilden wichtige Rohstoffgrundlagen der Brauereien, und in Bayern das typische Bierland im 19. Jahrhundert - war die Existenz vieler landwirtschaftlicher Betriebe geradezu von Gerstenlieferungen an die Brauereien abhängig. Letztere wiederum stellten Anforderungen an die Braugerste, weil diese von größtem Einfluß auf die Bierqualität war. Verbreitet war in Bayern die zweizeilige (Hordeum distichum nutana) gegenüber der vier- oder sechzeiligen Gerste in anderen Teilen Deutschlands, die seit den sechziger Jahren von Rimpau auf Keimfähigkeit und Keimungsenergie, die das Mälzen und die Verzuckerung im Sudhaus begünstigen, weitergezüchtet wurde.344 Das Brauwesen war bis zur Jahrhundertmitte handwerklichen Charakters. Zur Ausstattung der „normalen" Brauerei gehörten in der Regel ein Braukessel, eine Malzdarre, zwei bis drei Malzkufen, sechs Gärbottiche (Gärschiffe), Pumpen und verschiedene kleinere Utensilien. Der Bierausstoß war nicht groß. 35 Nürnberger Brauereien produzierten um 1800 etwa 8 800 hl Bier, je Betrieb rund 251 hl pro Jahr oder 21 hl pro Monat. 345 Daneben gab es unzählige Hausbrauereien in den Kleinstädten und bäuerlichen Betrieben, die ihren Haustrunk bereiteten, eine Einrichtung, die im Laufe der Zeit allmählich an Bedeutung verlor. Auswahl und Einsatz der Materialien, Sudhausarbeit, Gärführung und Lagerung beruhten auf empirischen Erfahrungen, und die „Kunst" der Mälzer und Brauer spiegelte sich in den jeweiligen Geschmacksrichtungen der Biere wider. Nach Aufhebung der feudalen Braugerechtigkeiten und Privilegien setzten zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste Fortschritte in den Produktionsmethoden ein. Ausgangspunkt war Bayern, das für das übrige deutsche und ausländische Brauereigewerbe vorbildlich war. Die untergärige Bräuweise verdrängte die bis dahin vorherrschende obergärige. Sie verbesserte die Qualität der Biere, beanspruchte aber auch eine längere Lagerzeit (zwei bis drei Monate) und kühlere Standorte. Es entstanden größere Felsenkellereien, die nicht selten auch Produktionsstätten waren, oder die

bisherigen Keller- oder Lagerräume wurden mit Natureis gefüllt, das im Winter gewonnen oder aus den Alpen beziehungsweise den norwegischen Seen bezogen werden mußte. Die Spatenbrauerei in München zum Beispiel benötigte 1873 bei einer Bierproduktion von 280 00 hl eine Eiseinfuhr von 175 000 dt. 346 Der erste Eiskeller wurde von dem Münchener Brauer Josef Pschorr, dem „König der Brauer", bereits fünf oder sechs Jahrzehnte früher eingerichtet. Gegen 1818 folgten Dampfdarren (Malzdarren), 1834 kamen die für die Temperaturkontrolle und -regelung wichtigen Thermometer auf, und es wurden englische Saccharometer eingeführt (Bestimmung des Zucker- bzw. Extraktgehalts der Bierwürze). 1846 stellte Gabriel Sedlmayr in seiner Spatenbrauerei die erste Dampfmaschine im Braugewerbe auf, die das Pumpen, Heben oder Rühren der Maische auf mechanischem Wege bewerkstelligte. Der erzeugte Dampf wurde zugleich zum Kochen der Würze im Sudkessel verwandt.347 Die fabrikmäßige Bierproduktion kündigte sich an. In den sechziger Jahren besaßen alle mittleren und größeren Betriebe Dampfmaschinen, was auch die Anwendung von Hebe- und Transportvorrichtungen sowie Röhrenleitungen förderte beziehungsweise Göpelwerke ersetzte.348 Die untergärige Brauart beziehungsweise bayerische Lagerbiere drangen allmählich auch nach Norddeutschland vor, woran der bekannte Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner - Berater Johann Wolfgang von Goethes in chemischen Fragen, eine Zeitlang selbst Leiter einer Brauerei und seit 1813 Inspektor der sächsisch-weimarischen Brauereien - , der sich auch eingehender mit gärungschemischen Problemen befaßte, 349 nicht geringen Anteil hatte. Mit der Einführung neuer Produktionsverfahren, Maschinen und Apparaturen ging die Ausbildung der Brauereiwissenschaften einher. Pschorr und Sedlmayr, weitsichtige Praktiker, die englische Erfahrungen aus eigener Anschauung nutzten, richteten schon in den zwanziger Jahren Unterrichts- und Praktikantenkurse ein. 1822 wurde durch Karl Nicolaus Fraas in der landwirtschaftlichen Fachschule Schleißheim der systematische Brauereiunterricht aufgenommen. Von den vierziger bis zu den achtziger Jahren empfingen zahlreiche in- und ausländische Brauer ihr wissenschaftliches und praktisches Rüstzeug von der ersten Generation international anerkannter Lehrer auf der landwirtschaftlichen Zentralschule in Weihenstephan, die auch in der Landwirtschaftswissenschaft eine große Rolle gespielt hat. Einer der ersten Technologen im Braugewerbe war Georg Cajetan von Kaiser, der mit seiner 1834 übernommenen Münchener Professur die wissenschaftliche Behandlung des Brauwesens einleitete. Er versuchte schon vor dem Auftreten Louis Pasteurs, die vitalistische Gärungstheorie von Friedrich Kützing, Theodor Schwann und Ch. Cagniard-Latour für die Brauereipraxis fruchtbringend zu verwerten. Carl Lintner, Pharmazeut und Chemiker, seit 1863 Direktor der Schule in Weihenstephan, gab 1866 das erste, weitverbreitete Brauerfachblatt heraus, förderte den Brauerunterricht und die Brauereitechnologie. Er trug nachhaltig zum Aufblühen der bayerischen Brauindustrie bei. Unterstützt wurde er von Karl Reischauer, der die Untersuchungen über Malz und Mälzen, über Würze und Biere zu einem wissenschaftlichen System entwickelt hat.350 Diesen Technologen und Wissenschaftlern, aber auch tüchtigen Brauern, wie Henninger, Lederer, Pschorr, Reif, Schmederer, Sedlmayr, Wagner, Weltrich und anderen, verdankten bayerische Biere und Brauereitechnik ihre Weltgeltung. Technik und Wissenschaft, Verbesserung des Verkehrswesens und daraus entspringende nationale Konkurrenz förderten und beschleunigten Konzentrationsprozesse und die Abwanderung der Brauereien vom Land in die Städte. In Preußen verminderte sich die Gesamtzahl der sich in Betrieb befindlichen gewerblichen Brauereien zwischen 1831 und 1865 von 12 971 auf 6 862. Davon entfielen auf die Stadt jeweils 5 484 beziehungsweise 3 581 und auf das Land 7 487 beziehungsweise 3 281. 351 Befanden sich 1831 in Preußen erst 42 % aller Brauereien in den Städten, so waren es 1851 schon 47 % und 1865 52 %. In den Städten vollzog sich die größte Konzentration. Die Zahl der städtischen Brauereien, die mehr als 2 000 Ztr. Braumalz versteuerten, stieg in Preußen in der Zeit von 1842 bis 1865 von 72 auf 200, während sie auf dem Lande nur von drei auf 28 zunahm. Umgekehrt sank in der gleichen Zeit die Zahl der Brauereien, die nur 50 dt oder weniger Braumalz versteuerten, in den Städten von 2 133 auf 1 046, auf dem Lande von 4 181 auf 2 100. Ähnliche Tendenzen zeigten sich in Bayern. In München zum Beispiel verminderte sich 315

346 347 348 349

Schmitz, J., 1930, S. 40 ff. Struve, E., 1893, S. 54. Gutmann, A„ 1906, S. 35. Illustriertes Brauerei-Lexikon, 1925, S. 242. 350 Ebenda, passim; Bayerische Agrargeschichte, 1954, S. 338, 497, 671. 351 Meitzen, A., Bd. 4, 1869, S. 548.

144 Berchtesgadener Bäuerin am Butterfaß, zeitgenössische Darstellung (um 1840)

145 Geräte für die Butterbereitung: a. Butterwippe, b./c. Drehfässer (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts)

352 Struve, E., 1893, S. 77; Droll, H., 1958, S. 22. 353 Bomann, W., 1941, S. 172 ff.; Fleischmann, W„ 1901, S. 215. 354 Martiny, B., T. 1, 1909, S. 74 ff., 98 ff., 117 ff.

die Zahl der Brauereien von 48 im Jahre 1829/30 auf 36 im Jahre 1849/50 und schließlich auf 18 im Jahre 1864/66. Dagegen stieg die durchschnittliche Bierproduktion je Brauerei von 7 854 auf 58 721 hl, in Münchens größter Brauerei sogar von 34 123 hl im Jahre 1829/30 auf 250 949 hl im Jahre 1864/65.352 Die Milchverarbeitung war bis zur Erfindung der Milchzentrifuge (Schleuderentrahmung) und der Entstehung industrieller Molkereien in den siebziger/achtziger Jahren fast ausschließlich von der Handarbeit beherrscht. Der größte Teil des Milchaufkommens wurde in den Bauernwirtschaften zu Butter und Käse verarbeitet zumeist eine Domäne der Frauen. Nach dem Melken der Kühe wurde die Milch in Milchtöpfe, hölzerne Bütten oder irdene, hölzerne, metallene oder gläserne Satten (vier bis zwölf cm hoch) durch ein weißleinenes Tuch oder ein Haarsieb geseiht. War die Milch geronnen, wurde sie mit einem hölzernen Löffel oder einer Kelle abgerahmt und der Rahm im Butterfaß mit einer durchlöcherten Holzscheibe an einer langen Stange (Stößer) auf- und niederbewegt, bis Butter entstand — eine zeitraubende und anstrengende Tätigkeit. In größeren Wirtschaften wurde diese Arbeit mitunter durch eine Hebelvorrichtung (Butterwippe) etwas erleichtert. Manche Wirtschaften besaßen sogenannte Buttermaschinen, bestehend aus einem Bottich mit einem Schaufelrad, bewegt durch ein Hundetretrad, oder es gab kleine „Buttermaschinen", meist ein rechteckiges Holzgefäßmit einem Holzflügel und Handkurbel (Drehfaß). In verschiedenen Landschaften waren auch „Butterwiegen" verbreitet, die mit den Füßen in schaukelnde Bewegungen gesetzt wurden. 353 Die Butter wurde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen auf Buttermollen gewaschen, geknetet und gesalzen, um dann entweder im eigenen Haushalt verbraucht oder verkauft zu werden. Aus der abgerahmten Milch, aber auch aus der Buttermilch oder Molke, soweit nicht zum Trinken oder zum Verfüttern bestimmt, wurden Quark oder Handkäse hergestellt und ebenfalls verkauft. Schon im 18. Jahrhundert gab es bekannte Meiereien oder Holländereien, die größere Kuhherden besaßen oder gepachtet hatten oder direkt mit einer junkerlichen Gutswirtschaft verbunden und dabei auf ausgedehnteren Fernabsatz ausgerichtet waren. Diese besaßen große Milchkeller, in denen die milchgefüllten Satten mit Brunnen- oder Quellwasser unterspült und gekühlt wurden (Milchbrunnen, Milchgruben, Milchschwemmen, Milchsteigen). Hier blieben die Satten 24 bis 36 Stunden stehen, ohne zu säuern. 354 Die Rahmverarbeitung erfolgte im wesentlichen wie auf den Bauern wirtschaften; mitunter trieben Göpel werke oder Dampfmaschinen - wie in der Provinz Sachsen um die Jahrhundertmitte - die Butterfässer an. Gegen 1865 breitete sich in verschiedenen Gegenden Deutschlands das von dem Schweden Gustav Swartz erfundene Aufrahmungsverfahren aus. Die Satten wurden auf besonderen Kühlvorrichtungen und in höheren Behältern (Milch bis zu 40 cm

,

I

146 Ältere F o r m der Hebclprcsse f ü r E m mentaler

Käse

(erste

Hälfte

des

19. J a h r u n d e r t s )

147 Inneres einer Käserei - am T u r n e r aufg e h ä n g t e r Kessel mit M a n t e l f e u c r u n g

hoch) mit Eis umpackt und fast bis zum G e f r i e r p u n k t gekühlt. Die gewonnene Süßr a h m b u t t e r (Ausrahmungsgrad 85 bis 90 %) e r o b e r t e sich bald größere Marktanteile. Die absatzorientierten Meiereien zeichneten sich gegenüber den Bauernwirtschaften in der Mehrzahl durch größere Sauberkeit und L ü f t u n g der Ställe und Milchverarbeitungsstätten aus. G u t e n R u f e s erfreuten sich im In- und Ausland wegen ihrer Verfahren, die auf wohldurchdachten, vererbten R e z e p t e n a u f b a u t e n und vorzügliche P r o d u k t e lieferten, die Meiereien in Schleswig-Holstein, in Ost- und W e s t p r e u ß e n und im Allgäu. Allgäuer P r o d u k t e zum Beispiel gelangten nach Nordund Mitteldeutschland, Belgien, in die Niederlande und nach Großbritannien. Die Qualität der Produkte, insbesondere des Käses (z. B.-Tilsiter, Limburger oder E m mentaler), hing aber auch von den standortbedingten klimatischen Verhältnissen, den Futtergrundlagen und entsprechenden Mikroorganismen ab. 3 5 5 Im Allgäu entstand auch eine der ersten „Käsereifachschulen". Karl Hirnbein, Besitzer von mehr als 100 Almen (Sennereien), Käsegroßproduzent, der zahlreiche Reisen zum Studium der Milchverarbeitung u n t e r n o m m e n hatte und sich a u ß e r d e m mit Viehzüchtung und Bodenverbesserung beschäftigte, richtete in den fünfziger/sechziger J a h r e n in Wilhams einen Käsereifachschulkursus ein. E r wurde 1864 Bundesgenosse von Wilhelm Fleischmann, einem Assistenten von Liebig in den Jahren 1862/63 und G e w e r b e l e h r e r in M e m m i n g e n , der sich nach 1870 zu einem der bedeutendsten Milchwissenschaftler und Milchwirtschaftler entwickelte. 1865 gründete Fleischmann in Memmingen das wohl erste milchwirtschaftliche Laboratorium. Hirnbein und Fleischmann organisierten Wanderversammlungen und Lehrkurse, f ü h r t e n Alpeninspektionen durch und regten Käse- und Viehprämierungen an. Sie schufen damit die ersten Grundlagen f ü r die Milchwirtschaftswissenschaft und für eine milchwirtschaftliche Organisation, 3 5 6 die nach 1870 einen erheblichen Aufschwung n e h m e n sollte und die Intensivierung der deutschen Vieh- und Milchwirtschaft entscheidend vorantrieb.

(erste H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s )

3 5 5 Hahn, C. £>., 1972, S. 6 0 ; Kirchner, W„ 1922, S. 2 2 6 ff. 356 Hahn, C. D„

1972, S. 44, 4 6 ff.;

Bayerische 1954, S. 6 3 8 ff.

317

Agrargeschichle,

4. Die Entwicklung der Produktivkräfte im Transportund Nachrichtenwesen

Wagen 3. Klasse der Breslau-Freibu ger Eisenbahn - Detail (1842)

Die theoretische Auseinandersetzung mit der Stellung des Verkehrswesens im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß und bei der Befriedigung individueller Bedürfnisse, aber auch mit seiner Bedeutung für die Lösung politischer und militärischer Aufgaben wurde notwendig seit der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise, die ihrerseits mit dem Entstehen eines modernen Massenverkehrs verknüpft war. Letzterer zwang zur Beantwortung volkswirtschaftlich so wichtiger Fragen wie der Standortbildung in der Industrie, der Marktbeziehungen der Landwirtschaft oder aber auch der Aufteilung des nationalen und internationalen Verkehrsmarktes.1 Die klassische bürgerliche Ökonomie und vor allem die bürgerliche Nationalökonomie waren die ersten wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit derartigen Fragen auseinandersetzten. Dabei schlössen sie recht ausführliche Untersuchungen zu solchen Bereichen ein, die wir heute unter dem Begriff der Produktivkräfte zusammenfassen. Vorwiegend sollten diese Arbeiten verkehrswirtschaftliche, teils auch handelswirtschaftliche Probleme klären helfen, da die bürgerliche Nationalökonomie lange Zeit von der Auffassung ausging, daß der Verkehr seit seinem Entstehen zur Zirkulationssphäre gehörte. Im Unterschied dazu definierten Karl Marx und Friedrich Engels den materiellen Verkehr, vor allem den Verkehr im Rahmen des Produktionsprozesses, als Basis für jeden sonstigen Verkehr. Marx stellte fest: „Außer der extraktiven Industrie, der Agrikultur und der Manufaktur existiert noch eine vierte Sphäre der materiellen Produktion, die auch die verschiedenen Stufen des Handwerksbetriebs, des Manufakturbetriebs und des mechanischen Betriebs durchläuft; es ist dies die Lokomotionsindustrie, sei es, daß sie Menschen oder Waren transportiert. Das Verhältnis der produktiven Arbeit, i. e. des Lohnarbeiters, zum Kapital ist hier ganz dasselbe wie in den anderen Sphären der materiellen Produktion." 2 Wenn auch in diesen Sätzen ausdrücklich auf kapitalistische Produktionsverhältnisse Bezug genommen wird, so belegten Marx und Engels durch eine Fülle von Beispielen die Richtigkeit ihrer Feststellung auch für die vorkapitalistischen Klassengesellschaften. Generell ordneten sie dabei die Transport- und Kommunikationsmittel den Arbeitsmitteln zu, die dem Ortsveränderungsprozeß für Güter, Personen und Nachrichten dienen. In Verbindung mit den Verkehrswegen, die gleichfalls zu den Arbeitsmitteln gehören, schaffen sie die allgemeinen Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, die „ä tout prix" entstehen müssen und durch die ursprünglichen Gemeinwesen beziehungsweise durch staatliche oder private Initiativen geschaffen werden, weil sie eine unerläßliche Voraussetzung nicht allein ökonomischer, sondern gesamtgesellschaftlicher Natur sind.3 Ihre Bedeutung steigt im gleichen Umfange, wie sich die arbeitsteiligen Prozesse in der Wirtschaft durchsetzen, wobei sich in diesem Zusammenhang auch enge Beziehungen zur Distributionssphäre herausbilden. Gerade unter diesem Aspekt gewinnt die Produktivkräfteentwicklung des Verkehrswesens eine besondere Bedeutung, beeinflußt und reflektiert sie doch praktisch alle Veränderungen im agrarischen und nichtagrarischen Bereich der Wirtschaft: Sie kann sie fördern, hemmen oder aber auch völlig unmöglich machen. Das Verkehrswesen spielt weiterhin eine dynamische Rolle bei der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse; denn auch hier kann sein jeweiliges Niveau sowohl als Wachstumsfaktor der gesellschaftlichen Entwicklung wirken als auch deren Fortschritt nachteilig beeinflussen. Engels schrieb unter anderem in einem Brief an Borgius, daß Marx und er in die ökonomischen Verhältnisse, die sie als bestimmende Basis der Gesellschaft ansahen, die gesamte Technik der Produktion und des Transports mit einbezogen. In Abhängigkeit davon sahen sie nicht allein die Art und Weise des Austauschs und der Verteilung der Produkte, sondern nach der Auflösung der Gentilgesellschaft auch „die Einteilung der Klassen, damit die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, damit Staat, Politik, Recht etc." 4 Deutlich zeigten sich diese Wechselwirkungen beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erreichte Stand der Produktivkräfte im Verkehrswesen hatte im wesentlichen den gestellten gesellschaftlichen Anforderungen des Feudalismus entsprochen. Die sich nunmehr anbahnenden tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen setzten jedoch ein gleichzeitiges Reagieren des Verkehrswesens voraus. Sie bewiesen erneut eindring319

4.1. Wechselbeziehungen zwischen dem Verkehrswesen und den anderen Wirtschaftsbereichen

1 Vgl. u. a. Thünen, J. H. v., 1842-1863; Weber, M. M. v., 1875. 2 MEW, Bd. 26.1, 1974, S. 387. 3 Marx, K., 1974, S. 423 ff. 4 MEW, Bd. 39, 1973, S. 205.

148 Reger

Verkehr

auf

brücke in D r e s d e n ,

der

Augustus-

zeitgenössischer

Kupferstich (um 1840)

5 Ebenda, Bd. 23, 1974, S. 405. 6 Marx, K„ 1974, S. 4 2 3 .

lieh die Verknüpfung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung mit dem Verkehrswesen. Trotzdem blieben die Fortschritte des Verkehrswesens zunächst bescheiden. Das lag vor allem darin begründet, daß keine neuen Antriebsmöglichkeiten gefunden wurden. Trotz verschiedenartiger Versuche standen nach wie vor nur natürliche Energiequellen zur Verfügung: die Kraft des Windes und des Wassers sowie die Muskelkraft von Mensch und Tier. Damit konnte jedoch — trotz einiger Verbesserungen an den Verkehrsmitteln — die Leistungsfähigkeit des Verkehrswesens sowohl hinsichtlich des Umfanges als auch der Geschwindigkeit eine objektiv gegebene Maximalgrenze nicht übersteigen. Uber einen längeren Zeitraum hinweg hatte dafür auch keine Notwendigkeit bestanden. Die gesellschaftlichen Anforderungen an das Verkehrswesen gerieten erst in dem Maße in einen Widerspruch zu den vorhandenen Bedingungen, wie die feudalen Produktionsverhältnisse zunehmend durch kapitalistische verdrängt wurden. Zu diesem Zeitpunkt verwandelten sich die „von der Manufakturperiode überlieferten Transport- und Kommunikationsmittel . . . in unerträgliche Hemmschuhe für die große I n d u s t r i e . . . die Produktion wohlfeiler Transport- und Kommunikationsmittel (wurde) Bedingung für die auf das Kapital gegründete Produktion." 6 Die anfänglichen Bemühungen, diesen Widerspruch zu lösen, wie zum Beispiel durch den Bau eines weitverzweigten Kanalnetzes in England oder den Chausseebau in Frankreich, blieben im konventionellen Rahmen, denn auch sie bewirkten nicht den notwendigen qualitativen Sprung; sie schufen lediglich bessere Voraussetzungen für die Abwicklung des Verkehrs und erleichterten damit beispielsweise territorial die Konstituierung und anfängliche Ausdehnung der kapitalistischen Produktion - wie unter anderem die Entwicklung in Sachsen deutlich belegt. Den entscheidenden Sprung brachte jedoch erst die Nutzung der Dampfmaschine als der Antriebsquelle für Wirtschaft und Verkehr des 19. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution entstand zugleich der für den Bau der neuen, komplizierten Verkehrsmittel unerläßliche Maschinen- und Anlagenbau, während die notwendige Voraussetzung für moderne Nachrichtenverkehrsmittel - zunächst in Gestalt der elektrischen Telegrafie - die Nutzung der Elektrizität bildete, vor allem auf dem Gebiet des Schwachstroms. Teile der elektrotechnischen Industrie entwickelten sich vorrangig durch den Bedarf des Nachrichtenverkehrs. Der Fortschritt der Produktivkräfte im Verkehrswesen wirkte jedoch nicht nur in diesem Bereich, sondern generell als Stimulans vor allem der industriellen Produktion, wobei im weiteren Verlauf der Entwicklung auch deutliche Auswirkungen auf den agrarischen Bereich auftraten. Beispiele dafür bieten unter anderem der massenhafte Bedarf an industriellen, vor allem schwerindustriellen Erzeugnissen seit Mitte der vierziger Jahre beim Bau neuer Verkehrswege und Verkehrsmittel. Die Verkehrszweige, unter ihnen im Untersuchungszeitraum besonders Eisenbahnen und Dampfschiffahrt, erhielten damit ein beträchtliches Gewicht für die Entwicklung vor allem der nichtagrarischen Produktionsbereiche. Neuere Forschungen prä-

320

149 Erste Lokomotive der Firma Georg Egestorff in Hannover (1846)

zisieren die direkten Wirkungen des Eisenbahnbaus auf das quantitative und qualitative Wachstum der Eisen- und Maschinenbauindustrie (vgl. 2.2.4.; 2.2.5.).7 Ähnliche Wirkungen - wenn auch zeitlich später - brachten der Ubergang zum Eisenschiffbau beziehungsweise der zunehmende Einsatz immer größerer Dampfschiffe hervor. Zugleich entstand in beiden Fällen eine weit gefächerte Zulieferindustrie, die in nicht unerheblichem Umfang früheren Handwerks- beziehungsweise Manufakturbetrieben den Ubergang zur kapitalistischen Fabrikproduktion ermöglichte. Die neuen Verkehrsmittel förderten außerdem das Entstehen von Großbetrieben sowie industrieller Verdichtungsräume, weil sie die Versorgung mit Rohstoffen, vor allem aber mit dem damals wichtigsten Brennstoff jeder maschinellen Produktion, der Kohle, sicherten und zugleich den Abtransport der Halbfertig- und Fertigfabrikate übernahmen. Sie lockerten damit die Standortbindung der Industrie auf und ermöglichten zudem die Bevölkerungswanderung. Darüber hinaus festigten sie den sich bildenden nationalen Markt und förderten das Entstehen nationaler Preise. Auf diese Weise beeinflußte das Verkehrswesen die Industrie nachhaltig, wie sein eigenes Wachstum andererseits von der zunehmenden Leistungsfähigkeit der Industrie abhängig war. Die Wirkungen des modernen Massenverkehrs auf die Landwirtschaft konzentrierten sich im Zeitraum bis zur Reichsgründung vorrangig auf die Schaffung günstigerer Marktbedingungen und die Unterstützung der kapitalistischen landwirtschaftlichen Produktion. Zugleich wurde dadurch ein interterritorialer Ausgleich in der Nahrungsmittelversorgung und der Versorgung der Ballungsgebiete erreicht. Zusätzliche Anforderungen stellten die um das Vierfache erhöhten Erträge der Pflanzenproduktion an die Transportleistungen. Unübersehbar sind bei den im Zusammenhang wirkenden Einflußfaktoren wissenschaftliche Erkenntnisse, die durch die Nutzung im Verkehrswesen produktionswirksam wurden. Dabei handelte es sich meist weniger um gezielte Forschungen als vielmehr um eine empirische Aneignung des jeweils aktuellen theoretischen Wissensstandes, wie beim Verkehrswegebau oder der Entwicklung der Verkehrsmittel. Schließlich sind in diesem Zusammenhang noch gesellschaftliche Folgen zu erwähnen. Der sich allmählich formende moderne Massenverkehr trug dazu bei, „die gesellschaftlichen Reichtümer und die gesellschaftliche Macht" in der Hand der Bourgeoisie zu konzentrieren8 und die beiden Grundklassen der kapitalistischen Gesellschaft zu formieren. Er ermöglichte eine Erhöhung des Ausbeutungsgrades, half aber zugleich auch, den Zusammenschluß des Proletariats und dessen Organisation zu erleichtern.9 In den Ländern mit noch wenig ausgeprägter kapitalistischer Produktion verursachte der moderne Massenverkehr eine Beschleunigung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung. Damit begann eine Zersetzung der bisherigen ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Eine nicht geringere Bedeutung besaß er für die Konzentration des Kapitals. Marx wies in einem Brief an Nikolai Franzewitsch

7 Vgl. u. a. Wagenblass, H., 1973; Fremdling, R., 1975. 8 MEW, Bd. 19, 1976, S. 103. 9 Ebenda, Bd. 4, 1974, S. 471.

10 Ebenda, Bd. 34,1973, S. 373.

4.2. Grundtendenzen der Produktivkräfteentwicklung im im Verkehrswesen

Danielson besonders auf die Eisenbahnen hin, die „(zusammen mit Dampfschiffen für den Ozeanverkehr und mit den Telegraphen) . . . die Grundlage für riesige Aktiengesellschaften abgaben und damit zugleich einen neuen Ausgangspunkt für alle anderen Arten von Aktiengesellschaften, angefangen bei Bankgesellschaften, bildeten". 10 Als erste Schlußfolgerung bietet sich deshalb die Feststellung an, daß der Produktivkraftfortschritt im Verkehrswesen komplex beeinflußt wurde und komplex auf die Gesellschaft zurückwirkte.

Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts brachten in Deutschland in Übereinstimmung mit der allgemeinen gesellschaftlichen Situation trotz partieller Fortschritte noch keinen grundlegenden Wandel des Verkehrswesens. Die feudalen Territorialstaaten zeigten zu diesem Zeitpunkt meist wenig Initiative zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse. Vor allem den kleineren deutschen Staaten fehlte es darüber hinaus sowohl an Mitteln als auch an den Voraussetzungen zur erforderlichen Koordination derartiger Maßnahmen mit den angrenzenden Nachbarstaaten. Die ökonomischen Hemmnisse der traditionellen Verkehrsmittel waren unübersehbar. Im Landtransport dominierten die seit langer Zeit kaum veränderten schwerfälligen Wagen, die beim Gütertransport erheblicher Zugkräfte bedurften. Massenguttransporte wurden deshalb, sofern die Möglichkeit bestand, der Binnenschiffahrt übergeben. Mit ihr konnten zum Beispiel die Versorgung Berlins mit Getreide aus den Provinzen gesichert oder Hölzer für den Schiffbau vom Schwarzwald in Flößen in die Niederlande gebracht werden. Weitaus problematischer waren dagegen mit wenigen Ausnahmen die Versorgung der abseits der Wasserstraßen entstehenden Industrien mit Rohstoffen sowie der Abtransport der dort erzeugten Waren, was zum Beispiel die sich herausbildende Textilindustrie im Chemnitzer Raum zeigte. Für ihr weiteres Wachstum und das der übrigen Industrie in diesem Gebiet spielten günstigere Verkehrsverhältnisse eine wichtige Rolle, auch wenn beispielsweise durch billige Antriebsenergie in Gestalt der Wasserkraft und die langjährige Erfahrung der Arbeitskräfte die industrielle Entwicklung des Chemnitzer Raumes gefördert wurde. Einen partiellen Fortschritt brachte im Landverkehr nach 1814 die Verbesserung der Straßenverhältnisse, die den Einsatz von Wagen leichterer Bauart erlaubten, wodurch besonders bei der Personen- und Postbeförderung größere Geschwindigkeiten möglich waren. Nach den Befreiungskriegen profilierten sich in den deutschen Staaten im Zusammenhang mit dem beschleunigten kapitalistischen Ausbau von Bergbau, Eisenindustrie und Leinenproduktion allmählich regelrechte kontinuierliche „Verkehrsströme", die sich sowohl an den Zentren des inneren als auch den Schwerpunkten des äußeren Marktes orientierten. Noch immer wurden dabei mit traditionellen Verkehrsmitteln zum Teil beträchtliche Entfernungen zurückgelegt. Deren technische Konzeption beruhte nach wie vor auf der Nutzung natürlicher Antriebskräfte. Ihre spezifische Leistungsfähigkeit war lediglich innerhalb sehr enger Grenzen zu erhöhen. Die verstärkte Transportnachfrage konnte deshalb zunächst nur mit einer quantitativen Reaktion beantwortet werden, das heißt mit der steigenden Transportmenge vermehrten sich die Zugtiere, Wagen oder Schiffe. Die Grenzen dieser extensiven Erweiterung wurden in den einzelnen Aufgabenbereichen zu unterschiedlichen Zeitpunkten erficht. Sie wurden - im Zusammenhang mit der sehr niedrigen Arbeitsproduktivität und den hohen Transportpreisen — im Landverkehr zuerst und am empfindlichsten spürbar, während sie sich im Seeverkehr als für längere Zeit recht flexibel erwiesen, weil hier die Arbeitsproduktivität auch der traditionellen Segelschiffe durch technische Verbesserungen beachtlich stieg und der Transportpreis schon immer konkurrenzlos niedrig war. Es war deshalb kein Zufall, daß sich die ersten entscheidenden Veränderungen zum modernen Massenverkehr im Landverkehr vollzogen. Mit der Dampfeisenbahn wurde die Verkehrsrevolution des 19. Jahrhunderts eingeleitet, auch wenn die Nutzung der Dampfkraft für den Verkehr in der Schiffahrt zeitlich früher lag. Marx bezeichnete die Eisenbahn als ,,'couronnement de l'ouevre' in jenen Ländern, in de322

150 Binnenschiffahrt und Eisenbahn erschließen gemeinsam das obere Elbtal - Blick von Copitz auf Pirna, zeitgenössische Lithographie (um 1870)

nen die moderne Industrie am weitesten entwickelt war, in England, den Vereinigten Staaten, Belgien, Frankreich usw.", weil „sie endlich (zusammen mit Dampfschiffen für den Ozeanverkehr und Telegraphen) die Kommunikationsmittel waren, die den modernen Produktionsmitteln adäquat sind . . .' l 1 1 In allen Ländern, in denen die Eisenbahn entstand, beherrschte sie sehr bald den gesamten Landverkehr und verursachte einen Strukturwandel in den Verkehrsaufgaben der anderen Bereiche; der Straßenverkehr konzentrierte sich fortan auf den Nahbereich; die Binnenschiffahrt wurde seit den vierziger/fünfziger Jahren vorübergehend mehr und mehr durch die Konkurrenz der Eisenbahn beeinträchtigt; die Seeschiffahrt konnte mit Hilfe der Eisenbahn ihr Hinterland und damit den möglichen Umfang ihres Verkehrs beträchtlich erweitern; auch die Post war imstande, durch Nutzung der Eisenbahnen ihre Beförderungsaufgaben wesentlich besser zu erfüllen. Trotzdem standen die anderen Verkehrszweige keineswegs nur im Schatten dieses raschen Aufschwungs. Die kapitalistische Entwicklung verlangte vielmehr nach einem aufgefächerten, sich immer mehr differenzierenden Verkehrsmarkt. Neben der Eisenbahn gewann, besonders seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, die durch die Dampfkraft revolutionierte Seeschiffahrt an Bedeutung - auch wenn bis zu den neunziger Jahren der Umfang der Segelschiffahrt noch überwog. Es war eindeutig die Seeschiffahrt und besonders die sich ausbreitende Dampfschiffahrt, die das zunehmende Volumen und die territoriale Ausdehnung des kapitalistischen Welthandels, aber auch die umfangreichen Importe von Industrierohstoffen erst ermöglichte. Die wirtschaftliche Expansion der kapitalistischen Staaten beruhte deshalb von 1800 bis 1870 vor allem auf der Eisenbahn und der Seeschiffahrt. Sie wurde auf dem Gebiet des Nachrichtenwesens ergänzt durch die Einführung des Telegrafen, zunächst des optischen, später des elektrischen. Vor allem der elektrischen Telegrafie — zu der im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das Telefon und die Anfänge des Funkverkehrs traten - kam eine ähnliche Bedeutung zu wie der Nutzung der Dampfkraft für das Transportwesen. Die sich immer mehr ausdehnenden geschäftlichen Beziehungen der Bourgeoisie setzten einen zuverlässigen, schnellen und sicheren Nachrichtenverkehr voraus. Deshalb bemühten sich die deutschen Länderposten auch intensiv, den gestiegenen Anforderungen an die Beförderung von Postsendungen durch Nutzung der Eisenbahn beziehungsweise der Dampfschiffe zu entsprechen. In der Förderung der Produktivkräfte im Verkehrswesen überwogen in der Zeit bis zur Reichsgründung zweifellos ökonomische Aspekte. Die Leistungskennziffern der Verkehrsträger (soweit sie statistisch zu belegen sind) zeigen eindeutig die kontinuierlich wachsenden Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaft an das Verkehrswesen, die ihrerseits Rückschlüsse auf das erhöhte Produktivkraftniveau des Transport- und Nachrichtenwesens gestatten.

11 Ebenda, S. 372.

Außerdem wurden auch bereits typische militärische Anforderungen gestellt, die in erster Linie die Eisenbahn, die Seeschiffahrt, die Telegrafie und den Straßenbau betrafen. Allerdings dominierte in der Mehrzahl der Fälle eine weitgehende Identität zwischen beiden Entwicklungslinien.

4.3. Größe und Struktur der Verkehrsunternehmen

12 Deutsche Eisenbahn-Statistik für das Betriebsjahr 1850, 1851, Kolumne 165.

Der Umfang und die betriebliche Struktur der Verkehrsunternehmen standen in dialektischer Wechselwirkung zum Produktivkraftfortschritt im Verkehrswesen, zum gegebenen beziehungsweise nicht gegebenen Zwang zur Konzentration der Betriebstechnik sowie zur räumlichen Ausdehnung des Verkehrs. Damit waren in erster Linie objektive Ursachen Ausgangspunkte für die äußere und innere Organisation der Verkehrsunternehmen. Von Anfang an zeigte sich der Trend zum Großbetrieb bei den Verkehrszweigen, die im Interesse der Effektivität ihres Betriebes gezwungen waren, die von ihnen genutzten Verkehrsmittel, -anlagen und -wege ständig zu verbessern und zugleich ihren Aktionsradius zu erweitern, um den steigenden Anforderungen der kapitalistischen Wirtschaft gerecht zu werden. Die Voraussetzungen dafür boten allein hohe und kontinuierliche Kapitalanlagen, die weder ein Einzelkapitalist noch ein Kleinunternehmen aufbringen konnten. Das herausragende Beispiel dafür bot im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, weil sie im Zeitraum bis zur Reichsgründung unter allen Verkehrszweigen die umfassendsten Kapitalaufwendungen erforderte: Sie mußte nicht nur die Betriebsmittel beschaffen, sondern auch die Verkehrsanlagen und -wege selbst bauen. Eine ähnlich umfassende Aufgabenstellung hatten im Verlaufe der späteren Entwicklung nur noch die Telegrafie beziehungsweise der Fernmeldebereich der Post zu verzeichnen. Aufgrund ihrer anfangs geringeren Ausdehnung blieben allerdings im Untersuchungszeitraum die Aufwendungen noch im vergleichsweise bescheidenen Rahmen. Aus der erheblichen Kapitalkonzentration bei der Eisenbahn — aber ebenso wegen eines effektiven Betriebes - ergab sich fast gesetzmäßig der Drang zur ständigen betrieblichen Vergrößerung. Er war zugleich mit der weiteren Produktivkraftentwicklung verknüpft, weil der Anschluß anfangs isolierter Einzelstrecken, das Zusammenführen mehrerer Bahnen in großen Knotenpunkten, der Bau zweiter und weiterer Gleise sowie der Ausbau des Netzes die Lösung vieler technischer und betrieblicher Probleme verlangten. Das erweiterte und leistungsfähigere Netz stimulierte seinerseits dessen intensivere Nutzung durch mehr und leistungsfähigere Verkehrsmittel, die unter anderem zur Verbesserung des Sicherungswesens, zum Ausbau betrieblicher Anlagen und zu Hochbauten führten. Alle diese Maßnahmen hatten mit logischer Konsequenz Schritt für Schritt eine Vergrößerung der Eisenbahngesellschaften zur Folge und förderten die Konzentration der Betriebsabwicklung, wobei politische und militärische Gründe unterstützend wirkten. Verdeutlicht wird dieser Trend auch durch die Kapitalsituation der Eisenbahnen. Im Vergleich zur Industrie beziehungsweise zur Landwirtschaft stellten selbst die ersten kleineren Eisenbahnunternehmen schon beträchtliche Kapitalanlagen dar. Beispielsweise weist die Eisenbahnstatistik des Jahres 1850 für die Hamburg — Bergedorfer Eisenbahn mit nur 14,52 km Streckenlänge ein Anlagekapital (für Verkehrswege, -mittel und -anlagen) von fast 6,5 Mio Mark aus, weil unter anderem durch schwierige Strekkenbedingungen je Kilometer der Bahnlinie ein Kapitalaufwand von mehr als 408 000 Mark erforderlich war. Die Eisenbahn Köln - Minden beanspruchte bei rund 277 km Streckenlänge mehr als 60,5 Mio Mark und die Thüringische Eisenbahn von Halle nach Gerstungen bei rund 189 km 40,5 Mio Mark.12 Hoffmann errechnete aus diesen und anderen Unterlagen (in Preisen von 1913) für die Periode von 1850/54 einen Kapitalbestand der Eisenbahnen von 3,2 Milliarden Mark, während er für das Gewerbe (das er als Sammelbegriff für die Bereiche Bergbau und Salinen, Industrie und Handwerk, Handel, Banken, Versicherungen, Gaststätten und Verkehr außer Eisenbahn und Post benutzt) 15,2 Milliarden Mark, also nur das 4,75fache, auswies. Im weiteren Verlauf verschob sich das Verhältnis noch weiter zugunsten der Eisenbahn: In der Periode 1870/74 betrug der Kapitalbestand des Gewerbes mit 17,3 Milliarden Mark nur das rund Zweifache der 8,3 Milliarden 324

Mark der Eisenbahnen. 13 Außerdem stellte Hoffmann eine weit höhere Kapitalintensität, das heißt das in der Industrie beziehungsweise deren einzelnen Zweigen erforderliche Bruttoanlagenkapital je Beschäftigten, bei der Eisenbahn seit ihrem Entstehen fest. Zwar wurde die Differenz zwischen ihr und der Gesamtwirtschaft im Laufe der Entwicklung bedeutend geringer — 1-850 war die Kapitalintensität der Eisenbahn 36,3mal so hoch wie die der Gesamtwirtschaft, 1870 14,5mal 1 4 -, weil der technische Ausstattungsgrad vor allem der Industrie bedeutend wuchs; doch sie unterstreicht auch unter dem Kapitalaspekt die bei der Eisenbahn von Anfang an vorhandene Tendenz zum Großbetrieb, weil er allein imstande war, die erforderlichen Entwicklungsarbeiten zu finanzieren und zu leiten. In der Seeschiffahrt läßt sich der Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Produktivkräfte und dem der Betriebsgröße gleichfalls belegen. Bei diesem Verkehrszweig wirkten sich besonders der Übergang zur Dampfschiffahrt, die Ablösung des Holzes durch Eisen und Stahl im Schiffbau sowie die Aufnahme des Linienverkehrs fördernd auf die Unternehmensgröße aus. Der Linienverkehr konnte durch die mit Hilfe der Eisenbahn erfolgte Erweiterung des Hinterlandes der Seeschiffahrt nicht unwesentlich ausgedehnt werden. Obgleich einzelne Linien mit Segelschiffen schon seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts eröffnet worden waren (die .bekannteste deutsche Linienreederei jener Zeit war die von Sloman), prägte der Linienverkehr erst seit dem umfangreicher werdenden Einsatz von Dampfschiffen das Verkehrsangebot der Seeschiffahrt, weil diese weit besser imstande waren, die Voraussetzungen hinsichtlich Pünktlichkeit, Kontinuität und höherer Reisegeschwindigkeit zu erfüllen. Der Linienverkehr, besonders der mit Dampfschiffen, verlangte eine Vergrößerung der Reedereien, weil zu seiner betrieblichen Absicherung eine wachsende Zahl von gut ausgestatteten, modernen Schiffen erforderlich war, für die der Einzelreeder traditioneller Prägung das erforderliche Kapital nicht aufbringen konnte. Der Weg zum Großunternehmen führte über die Aktiengesellschaft. Das erste derartige Unternehmen in der deutschen Seeschiffahrt war die Hamburg-Amerikanische-Paketfahrt-Aktiengesellschaft (Hapag). Sie begann 1847 ihren Betrieb mit einem Kapital von 450 000 Mark, stellte allerdings zunächst nur drei Segelschiffe mit zusammen 18411 in Dienst. 15 Der Norddeutsche Lloyd, 1857 aus dem Zusammenschluß einiger Bremer Unternehmen entstanden, setzte von Anfang an nur Dampfschiffe ein, hatte aber dementsprechend auch mit einem vorgesehenen Gründungskapital von 12 Mio Mark eine weit höhere Ausgangsposition. 16 Im weiteren Verlauf der Entwicklung stieg durch den Einsatz von Dampfschiffen auch das Anlagekapital der Hapag rasch an. 1870, zu einem Zeitpunkt, als ihre Flotte 13 Ozeandampfer und 21 Hilfsschiffe umfaßte, basierte sie auf einem Aktienkapital von 7,5 Mio Mark und 3,8 Mio Mark Anleihen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ein Teil der HapagSchiffe dem Gütertransport diente und demzufolge zunächst im Durchschnitt kleiner, aber auch weniger aufwendig gebaut war, während der Norddeutsche Lloyd durch seine weitgehende Spezialisierung auf die Personenbeförderung von vornherein einen höheren Kapitalbedarf aufwies. Die Entwicklung der beiden größten deutschen Schiffahrtsgesellschaften veranschaulicht den prinzipiellen Trend, daß der Standard in der Seeschiffahrt von den Unternehmen bestimmt wurde, die den damals erreichten Stand der Produktivkräfte nutzten und zugleich weiter förderten. Außer ihnen existierten bis zur Reichsgründung nur relativ wenige größere Unternehmen, obgleich die deutsche Tonnage rasch zunahm. Umfaßte sie 1829 265 000 NRT, so war schon bis 1850 mit 500 000 NRT 1 7 fast eine Verdoppelung erreicht und bis 1870 938 000 NRT eine Steigerung auf das 3,5fache. Allerdings blieb der Anteil der Dampfschiffe an dieser Tonnage noch recht bescheiden. Er stieg von 0,78 Prozent im Jahre 1850 auf 7,2 % 1870. Daraus folgte besonders für die Segelschiffsreedereien eine meist begrenzte Betriebsgröße. So wurden beispielsweise Anfang 1859 in Hamburg 74 Reedereien registriert, die mehr als ein Schiff von über 100 RT besaßen. Ihre Tonnage umfaßte zusammen 100 000 RT (davon Sloman 10 500 RT und Hapag 10 000 RT). 152 Reedereien verfügten nur über je ein Schiff von mehr als 100 RT und zusammen über 32 000 RT. 18 Ähnlich gestalteten sich die Verhältnisse in anderen deutschen Häfen. Ein genereller Wandel zum Großbetrieb vollzog sich erst mit dem zu325

13 14 15 16 17 18

Hoffmann, W. G., 1965, S. 44. Ebenda, S. 50. Wätjen, H., 1932, S. 47 ff. Ebenda, S. 66. Hoffmann, W. G., 1965, S. 409. Peters, M., Bd. 2, 1905, S. 159. Der Begriff der Registertonne (RT) stammt aus der Hansezeit. Damals wurde die Zahl der zu stauenden Tonnen (Fässer) als Maß der Ladefähigkeit in das Schiffsregister eingetragen. Mit den RT sind die Nettoregistertonnen (NRT) vergleichbar, die den Inhalt des für Ladung beziehungsweise Fahrgäste kommerziell nutzbaren Raumes determinieren. Mit einer Umstellung in der Statistik begann ab 1895 eine Neuvermessung aller Schiffe, in deren Ergebnis sich der Begriff der Bruttoregistertonne (BRT) durchsetzte, die den Bruttoraumgehalt ausdrückt.

151 Das Vollschiff „Deutschland" der HAPAG, das bereits 1850 200 Zwischendeckpassagiere und 20 Kajütpassagiere befördern konnte und damals zu den größten Passagierschiffen im Überseeverkehr zählte

19 Eckert, C„ 1900, S. 284 f. 20 Ebenda, S. 287.

nehmenden Anteil der Dampfschiffe nach 1870. Die auch nach dieser Zeit noch recht zahlreichen Kleinbetriebe übernahmen dann Aufgaben der Trampschiffahrt mit Segelschiffen beziehungsweise kleinen Dampfern. In der Binnenschiffahrt wurde die Betriebsgröße gleichfalls deutlich durch die Nutzung der Dampfkraft beeinflußt. Während in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der ausgesprochene Kleinbetrieb dominierte, der angesichts des geringen Kapitalbedarfs der Verkehrsmittel und der typischen Verkehrsstruktur am geeignetsten war, bildeten sich sowohl für die Personenbeförderung als auch für den Gütertransport seit dem Einsatz von Dampfschiffen beziehungsweise -Schleppern auch größere Unternehmen — naturgemäß deutlich abgestuft gegenüber der Seeschiffahrt und erst recht der Eisenbahn. In diesem Zusammenhang ist die grundsätzliche Feststellung notwendig, daß in der Binnenschiffahrt kapitalistischer Länder der Kleinbetrieb bis heute seine Berechtigung nicht verloren hat, weil die mögliche Trennung von Transportgefäß und Antrieb dem weniger kapitalintensiven Kahnraum des Kleinunternehmers nach wie vor ein bestimmtes Tätigkeitsfeld einräumt. Im Untersuchungszeitraum zeigten sich Anfänge einer Unternehmensvergrößerung in der Binnenschiffahrt seit der Mitte des Jahrhunderts. So wurden zu Beginn des Jahres 1857 für den Rhein fünf deutsche Gesellschaften mit zusammen 33 Schiffen (Ladefähigkeit insgesamt 1 738 t) für Personen- und Güterbeförderung ausgewiesen sowie 15 deutsche Gesellschaften mit zusammen 43 Schiffen (Ladefähigkeit insgesamt rund 2 625 t) für Güterbeförderung. 19 Uber deren Kapitalbedarf liegen leider keine Angaben vor. Nachweisbar ist jedoch zur gleichen Zeit das auch in der Binnenschiffahrt noch vorhandene Übergewicht der Segelschiffahrt und damit des Kleinbetriebes. Zwar schlössen sich die Kleinschiffer zu Schifferverbänden zusammen, jedoch fungierten diese ausschließlich als Interessenvertretungen, die an der eigentlichen Betriebsgröße nichts änderten. Anfang 1857 zeigt eine Ubersicht der zur Rheinschiffahrt berechtigten Segelschiffer und Segelschiffe vom Rhein und dessen Nebenflüssen 1 747 Schiffer mit 2 582 Schiffen (mit insgesamt 227 154 t Ladefähigkeit). 20 Keine Veränderungen ergaben sich - in Übereinstimmung mit dem außerordentlich geringen Produktivkraftfortschritt - hinsichtlich der Größe und Struktur der Unternehmen im Straßenverkehr. Obgleich zahlenmäßig Belege fehlen, kann, man davon ausgehen, daß dieser Bereich größtenteils durch den Kleinstbetrieb mit einem Fahrzeug und dem erforderlichen Vorspann repräsentiert wurde, den der Eigentümer, gegebenenfalls ergänzt durch Fuhr- und Pferdeknechte, führte. Ausgeprägten Großbetrieben stehen wir bis zum Ende der Industriellen Revolution bei der Post gegenüber. Allerdings waren die Länderposten nicht das unmittelbare Ergebnis des erreichten Fortschritts jener Jahrzehnte, sondern vorwiegend Ausdruck des staatlichen Regals für die Errichtung von Posten. Jedoch ist auch in

diesem Fall für die Zeit des 19. Jahrhunderts und den sich herausbildenden Massenverkehr ein Zusammenhang zwischen der Unternehmensgröße und dem betrieblichen Aufgabengebiet sowie letztlich der Entwicklung der Produktivkräfte gegeben; denn die Länderposten konnten den vielfältigen Anforderungen der Nachrichtenund Personenbeförderung - letztere gehörte seit dem 17. Jahrhundert zu ihren Vorrechten - nur dann mit steigender Qualität und Quantität nachkommen, wenn sie von einer ökonomisch effektiven Betriebsgröße ausgingen. Die kleineren deutschen Staaten hatten deshalb in der Regel keine eigenen Posteinrichtungen, sondern wurden von den Posten der größeren Länder mit versorgt. Dabei verschob sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß der kapitalistischen Entwicklung die Effektivitätsgrenze immer weiter nach oben, gefördert durch den Zwang zu einem zunehmenden Nachrichtenaustausch über das Gebiet der einzelnen Bundesstaaten hinaus. Die Länderposten, deren Größe verständlicherweise entsprechend dem jeweiligen Territorium stark differenziert war, leiteten deshalb (nach den Eisenbahnen, die sich schon 1847 im Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen zusammengeschlossen hatten) auf vertraglicher Basis eine überregionale Zusammenarbeit ein, beispielsweise ab 1850 im Deutsch-österreichischen Postverein, dem Preußen, Österreich, Bayern, Sachsen, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Schleswig-Holstein angehörten. Rund 35 300 Postbeamte arbeiteten bei den Postbehörden der Mitgliedsstaaten und versorgten im Vereinsgebiet immerhin etwa 72 Mio Einwohner.21 Einen weiteren Schritt auf diesem Wege bedeutete die Bildung der Norddeutschen Bundespost, die ab 1. Januar 1868 ihre Tätigkeit aufnahm. Ihr oblag die Nachrichten- und teilweise auch noch die Personenbeförderung in einem rund 428 000 km2 großen Gebiet. Verursachten bei den rein postalischen Einrichtungen vorwiegend ökonomische Gründe die starke Betriebskonzentration, waren es bei der Telegrafie in erster Linie militärische Interessen, die eine Zusammenfassung des Betriebes in der Hand des Staates bewirkten. Die anfängliche Trennung zwischen Post und Telegrafie blieb bis in die Zeit nach der Reichsgründung erhalten, wurde dann jedoch im Zusammenhang mit der Ausdehnung des Fernmeldebereichs der Post aufgehoben. Damit bildete sich im Nachrichtenwesen das von seinem territorialen Wirkungsbereich her größte Verkehrsunternehmen der damaligen Zeit. Es umfaßte - mit Ausnahme Bayerns und Württembergs - das gesamte übrige Reichsgebiet. Neben erheblichen Unterschieden in ihrer Größe wiesen die Verkehrsunternehmen eine differenzierte betriebliche Struktur auf. Wenn sich auch letztere erst unter dem Einfluß der zunehmenden nationalen und internationalen Arbeitsteilung im 20. Jahrhundert vervollkommnete, so führten Eisenbahn, Dampfschiffahrt und Telegrafie doch schon Jahrzehnte früher nicht nur zu einer Verschiebung traditioneller Aufgabengebiete, sondern darüber hinaus zur typischen Betriebsstruktur der Verkehrszweige. Sie offenbarte sich sehr deutlich in Verbindung mit den Verkehrsleistungen, weil der moderne Massentransport zugleich mit einem nachhaltigen Leistungszuwachs den Verkehrsmarkt profilierte. Bei einer Einschätzung der einzelnen Bereiche ergibt sich folgendes Bild: Der Verkehr mit Pferdefuhrwerken hatte für die gewerbliche beziehungsweise industrielle Produktion vor dem Aufkommen der Eisenbahnen erhebliche Bedeutung überall dort, wo keine Wasserstraßen zur Verfügung standen. Er mußte deshalb zusätzlich zu seinen früheren Aufgaben in großem Umfange den Transport industrieller Rohstoffe, von Kohle und Fertigwaren übernehmen. Die Problematik dieses Verkehrs lag in der völlig ungenügenden Kapazität und Qualität der eingesetzten Verkehrsmittel. So mußten doch beispielsweise für die Kohleversorgung einiger preußischer Fabriken in den westlichen Provinzen Anfang des 19. Jahrhunderts Jahresmengen von mehr als 20 000 t transportiert werden - mit Fahrzeugen, die maximal vier bis fünf Tonnen aufnahmen. Im Zeitraum von 1833 bis 1836 wurden zwischen Magdeburg und Leipzig jährlich 40 bis 50 000 t Güter befördert, etwa zum gleichen Zeitpunkt zwischen Leipzig und Altenburg jährlich rund 20 000 t, wobei es sich in den beiden letztgenannten Fällen nicht um spezialisierte Massenguttransporte handelte.22 Die Anforderungen an den Transport waren dadurch jedoch nicht geringer, setzten doch die sogenannten Kaufmannsgüter andere Bedingungen für Transportqualität und -geschwindigkeit voraus. 327

21 Koch, A., 1972, S. 158. 22 Beyer, P., 1973, S. 163.

152 Auszug aus dem Gütertarif der Leipziger-Dresdner Eisenbahn-Compagnie (um 1850)

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Bremer Telegraphenverein gemeinsam über sechs Linien mit Entfernungen zwischen 7,5 und 238 km.138 Der Netzcharakter ergab sich unter anderem daraus, daß zum Beispiel die sächsischen mit den bayrischen Linien in Hof, die preußischen mit den österreichischen Linien in Oderberg verbunden waren. Am stärksten entwickelte sich - beschleunigt durch militärische Interessen - das preußische Telegrafennetz, dessen Zentrum von Anfang an Berlin war. Die Linien Preußens, beispielsweise Berlin - Frankfurt/M., mußten durch verschiedene fremde Staatsgebiete geführt werden. Dabei wurden auch Bahnanlagen von Privateisenbahnen mit benutzt. Das erforderte den Abschluß von Verträgen mit zahlreichen Regierungen und Eisenbahngesellschaften.139 Die Erweiterung des preußischen Telegrafennetzes resultierte auch aus dem preußischen Expansionsstreben. So gingen zum Beispiel die Staatstelegrafenlinien Sachsens infolge des Sächsisch-Preußischen Friedensvertrages von 1866 an Preußen über. 140 Die Gesamtentwicklung des preußischen Telegrafennetzes verdeutlicht Tabelle 67. Tabelle 67 Länge der Linien und Leitungen der preußischen Telegraphenverwaltung

Jahr

Länge der Linien in km

Länge der Leitungen in km

Ende 1849 1850 1855 1860 1865 1867

2 2 4 7 14 22

2 2 10 22 45 72

152 444 544 703 149 005

152 648 228 174 484 440

Quelle: Löser, W., Die Entstehung der elektrischen Telegraphie und ihre Entwicklung in Preußen bis 1867, Diss. Dresden 1964, Anlagen Tabelle IV (in km umgerechnet).

138 Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Cours-Buch, Nr. 19, T. 2, 1853, S. 77 ff. (umgerechnet in km). 139 Ortmann, W., 1950, S. 134. 140 Schaefer, G., 1879, S. 226.

Erkennbar ist, daß bereits 1855 die Länge der Leitungen doppelt so groß wie die Länge der Linien war. Ab 1860 ergibt sich dann jedoch ein Verhältnis von Linien zu Leitungen wie 1:3. Der Telegrafenverkehr auf verschiedenen Linien hatte derart zugenommen, daß die Zahl der Leitungen beachtlich erhöht werden mußte, um den gestiegenen Anforderungen nach Übermittlung von Telegrammen gerecht zu werden. 372

Staat

Länge der Linien in km

Länge der Leitungen in km

Länge der Telegraphenlinien pro 100 km2

England Frankreich Preußen Osterreich

25 855 29 669 14 160 19 129

124 99 45 48

8,245 5,471 5,400 3,324

624 574 500 400

Tabelle 68 Vergleich der Telegraphenlinien nach der Flächenausdehnung 1865/66

Quelle: Löser, W., Die Entstehung der elektrischen Telegraphie und ihre Entwicklung in Preußen bis 1867. Diss. Dresden 1964, S. 183.

Bei einem Vergleich zwischen nach Bevölkerungszahl und Flächenausdehnung ähnlichen Staaten ergibt sich 1865/66 das in Tabelle 68 ersichtliche Bild. Bis 1865/66 hatte Preußen den Abstand zur Länge der Telegrafenlinien Großbritanniens und Frankreichs erheblich vermindert und - bezogen auf die Fläche — sogar die gleiche Dichte des Telegrafennetzes erreicht wie Frankreich. Auch in der Auslegung der Strecken (Anzahl der Leitungen pro Linie) bestand kein wesentlicher Unterschied (Großbritannien: 4,82, Frankreich: 3,36, Preußen: 3,2 Leitungen pro Linie). 141 Auf dem Gebiet des Norddeutschen Bundes standen am 1. Januar 1868 22 763 km Telegrafenlinien und 72 887 km Telegrafenleitungen zur Verfügung. 142 Dabei führten zu diesem Zeitpunkt fast 12 700 km Telegrafenlinien an Straßen und mehr als 10 000 km an Eisenbahnlinien entlang. 143 Die bei der optisch-mechanischen Telegrafenlinie von Berlin nach Koblenz erwähnten 61 Stationen stellten allerdings keine Zugangsstellen dar, sondern waren unabdingbarer Bestandteil dieser Linie, um die 750 km Entfernung bei Beachtung der Sichtweite überbrücken zu können. Anders war es beim elektrischen Telegrafen, der im Regelfall für eine Linie nur zwei Stationen an den Endpunkten erforderte. In der Praxis wurden jedoch, meist an bedeutenderen Orten, Telegrafenstationen eingerichtet, die die Zugangsstellen für den öffentlichen Verkehr bildeten. So wies zum Beispiel die preußische Linie von Berlin nach Frankfurt am Main 14 Stationen auf. Insgesamt gab es nach dem „Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Cours-Buch" von 1853 im Gebiet des Deutsch-Österreichischen Telegraphenvereins 116 Stationen bei den staatlichen Telegrafenlinien. 144 Ihre Zahl stieg bis 1860 auf 475 an. Unter ihnen befanden sich 88 Stationen mit permanentem Nachtdienst. 145 Im Gebiet des Norddeutschen Bundes gab es Ende 1868 insgesamt 993 Telegrafenstationen. Davon waren 682 mit Ortspostanstalten vereinigt; 73 Stationen wurden durch Privatpersonen verwaltet. 146 Besonders in der Anfangszeit gab es beim Bau von Telegrafenlinien noch zahlreiche Probleme. Die Leitungen wurden sowohl ober- als auch unterirdisch verlegt. Für die unterirdische Leitungsführung war die Frage der Isolierung technisch noch nicht gelöst. Allgemein hatte sich die oberirdische Leitungsführung bewährt, obwohl auch hier zunächst eine Anzahl technischer Probleme gelöst werden mußte, die sich auf die Stützpunkte für die Leitungen beziehungsweise die Stangen, auf den Leitungsdraht und die Isolatoren bezogen. Vor allem mußten die verwendeten hölzernen Stangen — ähnlich wie die Eisenbahnschwellen - vor Fäulnis geschützt werden. Nach zahlreichen Versuchen setzte sich die Tränkung mit Kupfervitriol durch, so zum Beispiel in Preußen und in Bayern. Eiserne Stangen sind in Preußen lediglich versuchsweise verwendet worden. Für den Leitungsdraht benutzte Preußen anfangs Kupferdraht von verschiedener Stärke. Bereits 1852 ging man zur Verwendung von Eisendraht über, der eine größere Festigkeit aufwies, billiger war und einen - wie man betonte — geringeren Anreiz zum Diebstahl bot. Eine Behandlung des Drahtes mit heißem Leinöl oder ein Überzug mit Asphaltlack sollte die Lebensdauer erhöhen. Auch in Bayern und in Württemberg wurde zuerst Kupfer-, später Eisendraht verwendet. Für die Isolation der Leitungen an den Stützpunkten wurden anfangs Mittel wie Glas, Ton, Steingut, Porzellan — und zwar in den verschiedensten Formen — verwendet. Durchgesetzt hat sich eine Porzellandoppelglocke, die allmählich die anderen Formen verdrängte und für den Norddeutschen Bund 1867 eingeführt wurde. Auch Württemberg und Bayern entschieden sich für diese Doppelglocken.147 373

141 Löser, W., 1964, S. 183 f. 142 Zeitschrift des deutsch-österreichischen Telegraphen-Vereins, 1869, S. 50 (umgerechnet in km). 143 Dieselbe, 1868, S. 259 (umgerechnet in km). 144 Eisenbahn-, Post- und Dampfschiff-Cours-Buch, Nr. 19, T. 2, 1853, S. 77 ff. 145 Dasselbe, Nr. 1, 1860, S. 226 f. 146 Zeitschrift des deutsch-österreichischen Telegraphen-Vereins, 1869, S. 51. 147 Vgl. Kunert, A., T. 1, 1931, S. 135 ff.

148 50 Jahre elektrische Telegraphie, 1899, S. 92.

4.6. Quantitative und qualitative Veränderungen der Beschäftigten 4.6.1.

Entwicklung der Beschäftigtenstruktur und -anzahl

149 Am Rhein waren z. B. die bedeutendsten Schifferzünfte die von Köln und Mainz, am Main dife von Bamberg und Würzburg. Für das östliche Deutschland liegen exaktere Angaben über Schifferzünfte nur für Berlin („Kurmärkische Elbschiffergilde", gegründet 1716) und Magdeburg („Schifferbrüderschaft", gegründet im 16. Jh.) vor. Vgl. Teubert, O., Bd. 1, 1912, S. 51 ff.

Nachteile der oberirdischen Leitungen, die überdies der Witterung stark ausgesetzt sind, konnten erst in den siebziger Jahren mit dem Aufbau eines Kabelnetzes nach und nach vermindert werden. Bei der Entwicklung oder Weiterentwicklung verkehrsinfrastruktureller Anlagen, insbesondere beim Bau von Telegrafenlinien, hat es oft zahlreiche praktische Versuche gegeben, um auftretende Schwierigkeiten zu überwinden. Vielfach wurden die verschiedensten Mittel erprobt, im Bereich der Telegrafie zum Beispiel auch Versuchsstrecken angelegt, um die durch die Praxis gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen. Beamte wurden ins Ausland geschickt, so nach Großbritannien und Frankreich, um Anlagen und Einrichtungen zu studieren, die dort gewonnenen Erfahrungen zu sammeln und in Deutschland zu verwerten. Zur Erzielung von Fortschritten, beispielsweise im Linienbau, wurde aber auch Wert darauf gelegt, daß die hier eingesetzten Beamten naturwissenschaftliche Kenntnisse zu nutzen verstanden und mit den wesentlichsten Eigenschaften der Elektrizität und des Magnetismus vertraut waren. 148 Eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit im Bereich der staatlichen Telegrafie gab es dagegen noch nicht.

Der im Vergleich zum Ende der sechziger Jahre relativ niedrige technische Ausstattungsgrad des Verkehrswesens zu Beginn des 19. Jahrhunderts widerspiegelte sich auch in einer zumeist auf jahrhundertealten Traditionen beruhenden Beschäftigtenstruktur. Entsprechend der Aufgliederung in die Bereiche des Landverkehrs, der Binnen- und Seeschiffahrt sowie des Postverkehrs teilten sich die Beschäftigten in nur wenige, innerhalb der einzelnen Verkehrszweige gering untergliederte Gruppen auf. Die wichtigste Rolle im Landverkehr spielten der Fuhrmann und seine Hilfskräfte, die sich untereinander kaum durch ihre Tätigkeit, sondern fast ausschließlich durch ihre soziale Stellung nur insofern unterschieden, als die Hilfskräfte (Fuhr- und Pferdeknechte) meist Lohnarbeiter waren. Zu ihren Obliegenheiten zählten neben der Durchführung der Transporte und zumeist auch der Umschlagsarbeiten die ständige Pflege der Pferde sowie die Wartung der Wagen und des Geschirrs. Eine differenziertere Tätigkeit erforderte die Schiffahrt, und zwar die Seeschifffahrt in ausgeprägterem Maße als die Binnenschiffahrt. In der anfangs meist noch zunftmäßig organisierten Binnenschiffahrt waren auf dem Schiff neben dem Schiffsführer Schiffsknechte, Gehilfen und Lehrlinge beschäftigt.149 Sie übernahmen Teilaufgaben beim Laden und Löschen der Waren sowie deren Transport. Der Schiffsführer wurde durch den Steuermann bei seinen navigatorischen Aufgaben unterstützt beziehungsweise vertreten. Außerdem arbeiteten Lotsen mit ihnen zusammen, die nicht zur ständigen Schiffsbesatzung gehörten. Sie kamen an bestimmten Stromabschnitten entweder an Bord oder fuhren in einem Kahn dem Schiff voraus, um die Fahrrinne zu weisen. Ihre Tätigkeit war angesichts des schlechten Zustands der Wasserstraßen für die Sicherheit von Schiff, Besatzung und Ladung unerläßlich. Wegen der sich häufig verändernden Beschaffenheit des Fahrwassers mußten sie sogar von Station zu Station gewechselt werden. Zum Bereich der Binnenschiffahrt gehörten außerdem die Beschäftigten in den Binnenhäfen beziehungsweise an den Anlegestellen, die kleinere Schiffe mit geringem Tiefgang aufsuchen konnten. Sie besorgten den Warenumschlag meist ausschließlich manuell, in größeren Häfen auch mit mechanischen Hebezeugen. Unerläßlich waren bis zum Aufkommen der Dampfschiffahrt auch die Treidler, die die Schiffe in der Regel mit tierischer Muskelkraft, bei ungünstiger Uferbeschaffenheit mit eigener Muskelkraft, bergwärts schleppten. Längs der Wasserstraßen übernahmen sehr oft Fuhrunternehmer diese Aufgabe, während in den meisten Binnenhäfen dafür eigene Arbeitskräfte eingesetzt wurden, die das Schiff an langen Leinen aus den Hafenanlagen heraus bis zu den Stellen schleppten, wo der Pferdezug angeschirrt werden konnte. Die Seeschiffahrt war in noch ausgeprägterem Maße auf günstige Hafenbedingungen angewiesen, wobei zu dieser Zeit bereits einfache Krananlagen und andere mechanische Hilfsmittel das Laden und Löschen beschleunigen halfen. Zu ihrer Bedienung wie zur Leitung und Organisation des umfangreicheren Warenumschlags in 374

den Häfen differenzierten sich allmählich auch die Tätigkeiten der dort Arbeitenden. Die Besatzungen der Seeschiffe gliederten sich seit längerem in drei Gruppen; das nautische Personal - Kapitän, Steuermann, Bootsmann, Matrosen und Schiffsjungen —, die Schiffshandwerker und alle die, die für das leibliche Wohl von Offizieren und Mannschaft sorgten. Vor allem die Anforderungen an das nautische Personal waren hoch, und der körperliche Einsatz der Matrosen auf den großen Segelschiffen war hart und gefahrvoll. Prinzipiell hatte sich jedoch an ihrer Tätigkeit seit Jahrhunderten nur wenig geändert, während Kapitän und Steuermann sich den immer umfangreicheren mathematischen und naturwissenschaftlichen Anforderungen gewachsen zeigen mußten. Traditionell bedingt war zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Beschäftigtenstruktur der Post. Sie teilte sich in die Bereiche der eigentlichen postalischen Aufgaben (Brief-, Paket- und Geldsendungen) und die der Personenbeförderung auf, denen die Posthaltereien und die Postillone zugeordnet waren, die sowohl für die Pferde als auch die Postkutschen zu sorgen hatten. Die optischen Telegrafen spielten anfangs eine sehr geringe Rolle. Erst nach der Eröffnung der ersten ständigen Linie 1832 in Preußen waren Beschäftigte zur Bedienung der optischen Telegrafen erforderlich. Die auffälligsten Einflüsse auf die Beschäftigtenstruktur des Verkehrswesens ergaben sich im Zusammenhang mit dem Entstehen des modernen Massenverkehrs durch die Nutzung der Dampfkraft für die Schiffahrt und besonders durch den Bau der Eisenbahnen, auf dem Gebiete der Nachrichtenübermittlung durch das Einführen der elektrischen Telegrafie. Im Ergebnis dieser revolutionierenden Veränderungen erhielten mit wenigen Ausnahmen - darunter der Fuhrmann — im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte auch traditionelle Verkehrsberufe, wenngleich differenziert, ein neues Profil. Bedeutungsvoller, weil das damalige und künftige Leistungsniveau des Verkehrswesens bestimmend, waren allerdings die außerordentlich zahlreichen und völlig neuartigen Berufe, die die Eisenbahn, die Dampfschiffahrt sowie Post und Telegrafie erforderten. Dabei ist eine deutliche Wechselwirkung zwischen dem Umfang der technischen Ausrüstung sowie deren Kompliziertheit im Betrieb und den Veränderungen bei den Beschäftigten zu beobachten. Als völlig neue Komponente wirkte bei der beruflichen Struktur außerdem die Tatsache, daß Eisenbahn und Telegrafie erstmalig Bau, laufende Unterhaltung, Reparatur und Erneuerung der von ihnen genutzten Verkehrswege selbst übernahmen. Für diese Aufgaben — wie auch für den Straßen- und Wasserbau - entstanden zahlenmäßig umfangreiche Beschäftigtengruppen,-die sich allerdings in der Mehrzahl aus ungelernten Arbeitskräften mit geringem Qualifikationsniveau zusammensetzten. Ausnahmen bildeten das ingenieurtechnische Personal sowie Beschäftigte für spezielle Aufgaben. Beispielsweise wurden beim Eisenbahntunnelbau teilweise erfahrene Bergleute herangezogen, während für den Streckenbau Feldbemesser, Geodäten und ähnliche Berufsgruppen erforderlich waren. Eisenbahn und Telegrafie hatten aber auch in viel größerem Umfange als die anderen Verkehrszweige für die laufende Unterhaltung und Reparatur der von ihnen genutzten Verkehrsmittel zu sorgen. Die Eisenbahnen nahmen zusätzlich den gesamten Güterumschlag in eigene Regie. Das bedingte das Entstehen zahlenmäßig starker neuer Berufsgruppen, die im Unterschied zur Schiffahrt Teil der Beschäftigten von Eisenbahn und Post waren. Die bedeutendste Entwicklung vollzog sich verständlicherweise bei der Eisenbahn. Bereits die ersten statistischen Erhebungen des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen im Jahre 1850 wiesen unter den Beschäftigten—einschließlich aller Verwaltungskräfte - nicht weniger als 118 Berufe aus. 150 Deren Aufgliederung auf die einzelnen Bahnen läßt interessante Rückschlüsse hinsichtlich des jeweiligen technischen Niveaus zu. Während beispielsweise die größeren Bahngesellschaften zum Teil mehrere Ingenieure beschäftigten, meldeten von 37 Bahnverwaltungen, die statistisches Material übersandten, neun Bahnen keinen Ingenieur. Signalwärter wiesen nur fünf Bahnen aus — ein Zeichen für die noch relativ geringe Dichte des Verkehrs auf einigen Bahnen, die ein getrenntes und ausgebildetes Signalsystem 375

150 Deutsche Eisenbahn.Statistik f ü r

das Betriebs-Jahr Kolumnen

1-122.

¡850,

1851,

172 Sächsische Eisenbahner auf dem Bahnhof Flur-Gittersee (um 1870)

151 Ebenda. 152 Deutsche Eisenbahn-Statistik für das Betriebs-Jahr ¡869, 1871, S. 135, 137. 153 Ebenda, S. 128 ff.; bestimmte statistische Angaben wurden von den Eisenbahnen nur im Mehrjahresturnus erhoben; Personalangaben alle fünf Jahre. Als Stichjahr wurde 1869 gewählt, weil es für den Untersuchungszeitraum aussagekräftiger ist als 1874. 154 Eckert, C., 1900, S. 211. 155 Vgl. dazu Kap. 3.

nicht unbedingt erforderte. Diese Feststellung unterstützt die Tatsache, daß nur acht Bahnen Telegrafisten meldeten, obgleich die elektrische Telegrafie seit dem Ende der vierziger Jahre erfolgreich für die Zugsicherung der Eisenbahnen genutzt wurde. 151 Bis 1869 wuchs die Zahl der Telegrafisten allerdings sehr rasch auf 647 an. 152 Interessant ist weiterhin, daß erstmals 1852 von 17 Bahn Verwaltungen insgesamt 315 Bremser ausgewiesen wurden. Es ist aus den Unterlagen nicht mit Exaktheit zu bestimmen, ob dies Ausdruck fehlender Meldungen war oder ob tatsächlich nur eine so geringe Anzahl von speziellen Bremsern beschäftigt wurde. Deutlich wird jedoch in jedem Falle die zunächst ungenügende Lösung dieser für Sicherheit und Geschwindigkeit des Eisenbahnverkehrs unerläßlichen Probleme. Sehr klar wird andererseits aus der Beschäftigtenstruktur der Eisenbahnen die erhebliche Bedeutung des Verkehrsweges und des operativen Dienstes, also der Durchführung des Zugverkehrs. Sowohl 1850, dem Zeitpunkt der ersten Erhebung, als auch 1869, am Ende des Untersuchungszeitraumes, dominierten zahlenmäßig die Bahnwärter und Weichensteller sowie das Zugpersonal. 1869 entfielen zum Beispiel bei insgesamt 80, allerdings vielfach untergliederten Berufsgruppe auf die Bahnwärter und Weichensteller fast 41 % der Gesamtbeschäftigten der deutschen Eisenbahnen (ohne Tagelöhner) und auf das Zugpersonal fast 28 %. 153 Einschneidende Veränderungen bewirkte die Nutzung der Dampfkraft aber auch in der Schiffahrt. Ohne eine zusätzliche Ausbildung war es nahezu unmöglich, das nautische Personal und auch einen Teil der Schiffshandwerker für die Dampfschiffe der Binnen- und Seeschiffahrt zu übernehmen. Die Bedienung der Maschinenanlagen mußte vielmehr gelernten Mechanikern übertragen werden, und auch die Kapitäne und Steuerleute mußten vor ihrem Einsatz eine zusätzliche Ausbildung erhalten. Anfangs fehlte es besonders an fachlich geeignetem Maschinenpersonal. Das wird unter anderem dadurch sehr deutlich, daß Ende der zwanziger Jahre der Maschinist eines niederrheinischen Dampfschiffes ein rund 80 % höheres Gehalt als der Kapitän bezog. Selbst sein Gehilfe erhielt mehr Geld als der Kapitän, und auch die Heizer wurden besser entlohnt als die ausgebildeten Matrosen. 154 Natürlich änderten sich diese Verhältnisse in dem Maße, wie ausreichend ausgebildete Kräfte zur Verfügung standen. Auch der erste Lokführer der Nürnberg-Fürther Eisenbahn hatte ein höheres Gehalt als der Direktor der Eisenbahngesellschaft bezogen, jedoch widerspiegelt diese Tatsache zugleich auch die damals noch geringe Dampfkraftnutzung in der Wirtschaft, 155 in deren Ergebnis es an geeigneten Fachkräften fehlte. Eine ähnliche Umprofilierung wie die Besatzungen der Binnenschiffe erfuhren auch die der Seeschiffe. Neben die traditionellen Seemannsberufe traten die der Maschinisten und Heizer, während Kapitän und Steuermann die veränderten navigatorischen Eigenschaften von Dampfschiffen kennenlernen mußten. Die Matrosen wurden trotz der zusätzlichen Betakelung der Schiffe auf Dampfschiffen im Gegensatz zu Segelschiffen mehr und mehr entbehrlich, sie mußten neue Aufgaben über-

nehmen. Allerdings vollzog sich diese Entwicklung allmählich, da in der deutschen Seeschiffahrt bis zum Ende der Industriellen Revolution die Zahl der Segelschiffe bei weitem überwog. Im Nachrichtenwesen zeigten sich die Verschiebungen der Berufsstruktur in zweierlei Hinsicht: Der stark wachsende Nachrichtenverkehr erforderte einmal eine zunehmende zahlenmäßige Erweiterung und Differenzierung der Beschäftigten entsprechend ihrem Aufgabenbereich. Unter anderem wirkte sich hier die Nutzung der Eisenbahn und des Dampfschiffes für die Postbeförderung aus. Völlig andersartige Anforderungen als die optische Telegrafie stellte die elektrische Telegrafie, die - wie erwähnt — durch die Notwendigkeit, gleichzeitig Betrieb, Bau und Unterhaltung zu übernehmen, verschiedene neue Berufe erforderte. Bei einer Gesamtwertung der geschilderten Prozesse ergibt sich die Schlußfolgerung, daß die Differenzierung der Beschäftigten des Verkehrswesens nach unterschiedlichen, durch die Veränderungen im Produktionsprozeß bedingten Tätigkeiten umfangreicher war als im Bereich der Industrie, weil die Produktion im Zusammenhang mit der Ortsveränderung zusätzliche Anforderungen stellte. Allerdings konzentrierte sie sich anfangs auf bestimmte Bereiche, unter denen die Eisenbahn einen hervorragenden Platz einnahm. Ausgeprägter als in Industrie und Handwerk war jetzt auch der Zuwachs an Beschäftigten, deren Zahl sich im Zeitraum zwischen 1846 und 1867 etwas mehr als verdoppelte. Das rascheste Wachstumstempo ist bei den Eisenbahnen festzustellen, die rund eine Verzehnfachung ihres Personals verzeichneten, während das der Post auf das 4,3fache, das der Schiffahrt auf das 1 ,lfache und das des Land- und sonstigen Verkehrs rund auf das Zweifache wuchs.156 Die extrem hohe Steigerung bei der Eisenbahn ist dabei vor allem auf das sich rasch ausdehnende Netz zurückzuführen.

Wie in anderen Berufen dominierten auch im Verkehrswesen über Jahrhunderte hinweg die praktische Erfahrung und die praktische Ausbildung. Eine gewisse Ausnahmestellung nahmen lediglich die Kapitäne und Steuerleute der Seeschiffahrt ein. Schon die Hanse hatte im Interesse der Sicherheit von Schiff und Ladung spezielle Formen der Unterweisung gekannt. Verwendet wurden Segelhandbücher, die zum Beispiel über die Beschaffenheit bevorzugter Fahrtgebiete, Sandbänke und Klippen, der Häfen informierten. Sie waren bis in das 19. Jahrhundert hinein in Gebrauch. Zur Ergänzung dienten Veröffentlichungen zum See- beziehungsweise Handelsrecht, die juristische Fragen bei Frachtabschluß, Aufnehmen eines Lotsen, bei Havarie, Verlust der Ladung und ähnliches behandelten. Schließlich fanden sich in der nautischen Literatur jener Zeit noch Bücher zur „Steuermannskunst", die Grundlagen der Navigation klärten. Gemessen am damaligen Bildungsstand stellten diese Schriften relativ hohe Anforderungen. Sie behandelten unter anderem die Kulminationen von Sternen, die Mißweisung des Kompasses, Mißweisungen und Fehler auf Seekarten, Berechnung von ebenen und sphärischen Dreiecken, Besteckrechnung, astronomische Probleme, die mit Hilfe von Sinus-, Tangens- und Sekantentafeln zu lösen waren, wie Amplituden bei Sonnenauf- und -Untergang, Deklination, Azimut einiger Himmelskörper und Errechnen der Breite durch „Schießen" von Himmelskörpern. 157 Ähnliche Probleme wurden in den Navigationsschulen einiger Nord- und Ostseeanliegerstaaten gelehrt, die bereits seit dem 16. Jahrhundert entstanden waren. Die Niederlande spielten unter ihnen die führende Rolle. Niederländische Lehrbücher bildeten deshalb auch die Grundlage des noch im 19. Jahrhundert meist privat erteilten Navigationsunterrichts in den deutschen Küstenstaaten. Er wurde in dem Maße unentbehrlich, wie sich die Fahrtgebiete der Seeschiffahrt ausdehnten und über die bekannten heimatlichen Gewässer der Ost- und Nordsee hinausgingen. Art und Umfang, auch die zeitliche Dauer dieses Unterrichts, waren dabei sehr unterschiedlich, wie auch sein wissenschaftliches Niveau lange Zeit ausschließlich von den Fähigkeiten der jeweiligen Lehrer geprägt wurde. Eine Änderung im Hinblick auf eine Systematisierung der Ausbildung und der Prüfungen für die Schiffsführung setzte sich mit dem gestiegenen Wert der größeren 377

156 Hoffmann,

W. G., 1965, S. 200.

4.6.2.

Bildungsniveau und Bildungsinvestitionen

157 Günther, R. K., 1971, S. 32.

158 Ebenda, S. 96. 159 Ebenda, S. 23. 160 Eckert, C„ 1900, S. 236.

Schiffe und ihrer Ladungen im 19. Jahrhundert durch. In den deutschen Küstenstaaten zeigte sich das in staatlichen Festlegungen seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, teilweise schon früher. Um die Mitte des Jahrhunderts hatten lediglich Mecklenburg, Holstein und Schleswig noch keine staatlichen Navigationsschulen; die Mecklenburgs entstand 1846 in Wustrow auf dem Fischland. Die Navigationsschulen waren noch lange ausschließlich auf nautische Probleme orientiert, wie aus dem zu den Prüfungen geforderten Wissen hervorgeht. In der Prüfung wurden im einzelnen verlangt: 1. von einem Steuermann: trigonometrische Rechnungen nach platten und anwachsenden Seekarten; Flutberechnungen; Gebrauch der Seekarten bei Berechnungen des Kurses; Anwendung nautischer Instrumente (Oktant, Kompaß); Berechnung der Breite aus beobachteten Sonnenhöhen; Feststellung der Abweichung der Magnetnadel; Finden der wahren Zeit; Führen des Schiffsjournals; die Fähigkeit, nach richtigen Grundsätzen ein Schiff auch bei schwerem Wetter zu manövrieren; Aufund Abtakeln eines Schiffes; Kenntnisse in der Seegeographie (Ost- und Nordsee); die Befähigung, über die verladenen und gelöschten Güter genaue Rechnung halten zu können; Kontrolle der Stauung beim Laden sowie die notdürftigste Vertretung des Schiffers bei dessen Verhinderung. 2. von einem Schiffer: über die vorgenannten Kenntnisse hinaus die Takelung eines neuen Schiffes und die Bestimmung der Länge und Stärke des Takelwerkes; sichere Beherrschung der kaufmännischen Belange bei Abschluß und beim Löschen der Fracht; richtiges Verhalten bei Havarien; Kenntnisse aus dem Seerecht, Führung der Schiffsrechnung und umfangreiches Wissen in der nautischen Seegeographie.158 Lediglich einige dieser Schulen sahen im Lehrplan Unterricht zum Maschinenwesen vor. Erst 1889 wurde in Preußen aufgrund ministerieller Verordnung das Fach Maschinenkunde an den Navigationsschulen eingeführt und von Ingenieuren erteilt. Das leitende Maschinenpersonal erhielt seine Ausbildung deshalb in verschiedenen technischen Lehranstalten. Die Untermaschinisten, Heizer und Kohlenzieher wurden für ihren Einsatz auf dem Schiff nur unerheblich vorgebildet und waren leicht durch beliebige andere Arbeitskräfte ersetzbar. Auch bei den Seeleuten, deren höchste „Charge" der Bootsmann war, dominierte die praktische Berufsbildung. „Um Seemann zu werden, bedurfte es in Deutschland keines bestimmten Alters. Wenn die Jungen im allgemeinen auch erst nach der Konfirmation zur See fuhren, so waren es keineswegs Ausnahmen, daß schon 11 bis 12jährige ihre erste Seereise machten. Zumeist heuerten sie auf Schiffen von Verwandten oder Bekannten an und dienten als Unterkajütswächter. . . . Sobald sie glaubten, mit der Schiffsarbeit vertraut zu sein, d. h. mit den Segeln umgehen, Spleißen, Knotenschlagen und einen Riemen im Boot führen zu können, bestand für sie die Chance, nach entsprechenden Fahrtzeiten als Oberkajütswächter, Jungmatrose und Matrose gemustert zu werden. Der Seemann wurde also an Bord im täglichen Handwerk unterwiesen, durch die handelnde Ausübung seines Berufes." 159 Schlußfolgernd ergibt sich daraus, daß das Aufkommen der Dampfschiffahrt bis zum Ende der Industriellen Revolution noch keine grundsätzliche Umgestaltung der seemännischen Ausbildung bewirkte. Zwar wurden veränderte navigatorische Probleme beim theoretischen Unterricht der Steuerleute und Kapitäne nach und nach berücksichtigt; im übrigen kam jedoch das Maschinenpersonal gewissermaßen zusätzlich an Bord, ohne die traditionellen Beschäftigungsstrukturen zunächst zu beeinflussen. In der Binnenschiffahrt wurden alle Fertigkeiten und Kenntnisse zur Führung eines Schiffes während des gesamten Untersuchungszeitraumes ausschließlich durch die praktische Tätigkeit erworben. Beispielsweise mußte ein Patentanwärter für die Rheinschiffahrt entsprechend den Festlegungen von 1832 neben „hinlänglicher Fertigkeit im Lesen, Schreiben, Rechnen" eine „untadelhafte Aufführung" und das Vertrauen „des Handelsstandes in dem betreffenden Hafenplatz, welchen die Landesregierung bestimmte", nachweisen. Vor allem aber mußte er eine mindestens vierjährige praktische Übung und Ausbildung im Rheinschiffergewerbe absolviert haben. 160 In einer Prüfung, die jeder Rheinanliegerstaat nach eigenem Ermessen gestaltete, mußte er Kenntnisse zur Führung eines Schiffes, zur sachgerechten Behandlung der Ladung und über die von ihm künftig zu befahrende Strecke besitzen. In der 378

Rheinschiffahrtsakte von 1868 wurden diese Bestimmungen mit wenigen Ausnahmen bestätigt. Ergänzend wurde lediglich festgelegt, daß mindestens die Hälfte der vierjährigen praktischen Tätigkeit auf Schiffen absolviert werden mußte, die den gesamten Rhein befuhren. Patentanwärter zum Führen eines Dampfschiffes mußten glaubwürdig beweisen, daß sie wenigstens ein Jahr die Dampfschiffahrt praktisch erlernt hatten. Auf offizielle Prüfungen der Kenntnisse verzichtete man dagegen völlig. Diese geringeren Anforderungen erklären sich sowohl aus den wesentlich einfacheren navigatorischen Bedingungen in der Binnenschiffahrt als auch aus dem vorübergehenden Rückgang beziehungsweise der Stagnation der Binnenschiffahrt infolge der Eisenbahnkonkurrenz. Die temporäre scheinbare Perspektivlosigkeit dieses Verkehrsträgers hinterließ hier ihre deutlichen Spuren.161 Der bedeutendste Verkehrsträger des modernen Massenverkehrs zu Lande, die Eisenbahn, nahm hinsichtlich der Ausbildung des Personals eine besondere Stellung ein. Angesichts seiner komplizierten Technik sowie der bereits erwähnten Vielschichtigkeit der Beschäftigtenstruktur sollte man annehmen, daß hier zuerst und in großem Umfange ein differenziertes, aber in den Grundsätzen übereinstimmendes Bildungswesen entstand, um den völlig neuartigen Anforderungen des Eisenbahnbaus und -betriebs gerecht zu werden. Tatsächlich begann sich jedoch eine annähernd einheitliche Berufsausbildung besonders für die mittleren und unteren Beamten sowie teilweise für die Arbeiter erst im Zusammenhang mit dem Entstehen von Ländereisenbahnen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchzusetzen. Die Ursache für die zuvor herrschende Vielfalt der Ausbildungsformen und -möglichkeiten resultierte aus dem Vorherrschen der Privatbahnen. Natürlich mußten unter dem Zwang des praktischen Eisenbahnbetriebs nach dem Zusammenwachsen der einzelnen Linien zu einem Netz bestimmte einheitliche Normen im Wissensstand der Beschäftigten gegeben sein, auch mußte eine weitestgehende Einheitlichkeit der Personenbeförderung sowie der Gütertransporte garantiert werden; aber beides setzte sich angesichts des deutschen Partikularismus wie auch des unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstandes der deutschen Länder mit ausgeprägter Differenzierung durch. Lediglich die „Administration" folgte annähernd gleichen Richtlinien. Die leitenden Beamten der Staatsbahnen beziehungsweise die Mitglieder der Direktorien der Privateisenbahnen setzten sich fast ausnahmslos aus Juristen, Technikern und kaufmännisch Gebildeten zusammen, die bereits mit einer abgeschlossenen Ausbildung zur Eisenbahn kamen und sich hier zusätzlich praktische Kenntnisse erwarben, bevor sie ihre leitende Tätigkeit aufnahmen. Das Technikstudium war auch die Grundlage für leitende Tätigkeiten beim Eisenbahnbau, -betrieb und im Sicherungswesen. Dabei wurde von den technischen Lehranstalten vorwiegend allgemeines Wissen vermittelt. Eine Spezialisierung auf Besonderheiten der Eisenbahnen erfolgte nur an wenigen Hochschuleinrichtungen Deutschlands, weit häufiger kam sie erst durch die praktische Arbeit zustande. Diese überwiegend sporadische Wissensvermittlung wurde in dem Maße als immer unbefriedigender empfunden, wie sich das Eisenbahnnetz ausdehnte und dabei zugleich die •Verbindungsstrecken zwischen den einzelnen deutschen Ländern zahlreicher wurden. Trotzdem wurde erst nach der Reichsgründung der Plan einer Eisenbahnakademie diskutiert, die in erster Linie künftige leitende Beamte des Eisenbahnbetriebes ausbilden sollte, während der Eisenbahnbau Teil der Ausbildung an den Technischen Lehranstalten bleiben sollte. Dieses Projekt wurde nicht realisiert, unseres Erachtens hauptsächlich wegen des stark ausgeprägten Partikularismus der nach der Verstaatlichung der Eisenbahnen entstandenen Länderbahnen. Die berufliche Ausbildung der nicht in leitenden Funktionen tätigen Eisenbahner erfolgte ausschließlich in der Praxis. Diese Arbeitskräfte kamen teilweise aus dem Handwerk, vielfach aber auch - wie die Mehrzahl der schon erwähnten Eisenbahnbauarbeiter - ohne spezifische Voraussetzungen zur Eisenbahn. Beide Gruppen wurden während ihrer Tätigkeit mit den bei der Eisenbahn geltenden Dienstvorschriften intensiv vertraut gemacht und eigneten sich die ansonsten erforderlichen Kenntnisse gleichfalls während des Arbeitsprozesses an. Eine Ausnahme bildeten die Lokomotivführer; die unter den im operativen Dienst Tätigen zweifellos die kompliziertesten Aufgaben zu erfüllen hatten. Die ersten Lokomotivführer waren 379

161 Ebenda, S. 357.

162 Flachat, E./Petiet, )., 1842, S. 5. 163 Ebenda. 164 Geschichte der deutschen Post, Bd. 1, 1928, S. 492 ff.

erfahrene englische Maschinisten, die zusammen mit den Lokomotiven „importiert" wurden. Sie übernahmen zumeist die vertragliche Verpflichtung zur Ausbildung geeigneter deutscher Kräfte, die in der Weise erfolgte, daß der Anzulernende drei Monate als Heizer auf der Lokomotive mitfuhr. Von dem künftigen Lokomotivführer wurden bei der Einstellung als Lehrling keine besonderen Kenntnisse gefordert, aber er mußte ein „geschickter, thätiger, aufmerksamer, fleißiger und muthiger Arbeiter. . . und von Lernbegierde beseelt... (sein)".162 Während seiner Arbeit als Heizer wurde er vom Lokführer mit praktischen Erfahrungen der Bedienung der Lokomotive, aber auch mit dem gültigen Reglement sowie den Vorschriften über den Dienst bei Güterzügen vertraut gemacht. Nach Ablauf der dreimonatigen Lehrzeit wurde er jedoch noch nicht zur vorgeschriebenen Prüfung zugelassen, sondern erst nach mindestens einem Jahr Praxis. Im Rahmen der Prüfung war je eine Probefahrt vor dem Maschinenmeister und vor einem leitenden Ingenieur des Maschinenamtes zu absolvieren. Zur Unterstützung der Ausbildung stand seit Anfang der vierziger Jahre ein „Handbuch für Lokomotivführer" zur Verfügung.163 Mit dem rasch steigenden Betriebsumfang der Eisenbahnen gestaltete sich die Ausbildung in den folgenden Jahrzehnten zwar immer komplizierter, blieb aber prinzipiell Teil der praktischen Arbeit. Weit einheitlicher als bei der Eisenbahn gestaltete sich die Ausbildung der Beschäftigten bei der Post, vor allem deshalb, weil die Post schon am Anfang des 19. Jahrhunderts vorwiegend in den Händen der deutschen Staaten lag. Unterschiede in der Ausbildung ergaben sich deshalb nur von Land zu Land. Sie waren außerdem lange Zeit nicht so gravierend wie bei der Eisenbahn, weil die Post- und Personenbeförderung vorwiegend administrative Tätigkeiten verlangte. In Preußen begann die Ausbildung beim Postschreiber, der zunächst eine entsprechende Schulbildung (ab 1836 Abiturientenexamen bei einer dazu berechtigten Realschule oder Reife für die Prima eines Gymnasiums), die geistige und körperliche Eignung, die „sittliche Würdigkeit" und die Fähigkeit zur Sicherheitsleistung nachzuweisen hatte. Letztere bestand darin, daß der künftige Postschreiber 300 Taler Kaution zu stellen und die Verpflichtung einzugehen hatte, sich während der ersten Dienstjahre so lange selbst zu unterhalten, bis er aus der Postkasse eine auskömmliche Bezahlung bezog.164 Die Posteleven hatten in der Regel, besonders nach dem preußischen Reglement vom 20. August 1849, vor ihrem Eintritt in den Postdienst ihrer Militärpflicht zu genügen. Ihre Beschäftigung bei der Post begann mit einer einjährigen Probezeit als Aspirant, danach folgten zwei Ausbildungsjähre als Posteleve. Prüfungen über den erreichten Wissensstand waren in Preußen schon seit 1825 üblich. Ab 1849 wurden mindestens zwei Prüfungen als Voraussetzung für das weitere berufliche Aufrücken erforderlich, die praktisch, mündlich und schriftlich zu absolvieren waren. Neben der Lösung posttypischer Aufgaben (Prüfung von Postanstalten, Kassen, Posthaltereien, Anfertigung von Gutachten darüber) waren dabei Allgemeinwissen (z. B. Geschichte, Geographie, Arithmetik und lebende Sprachen) und umfassende Kenntnisse des Postdienstes in seinem technischen und verwaltungsdienstlichen Teil, einschließlich der wichtigsten Rechtsgrundsätze sowie der Organisation des Staates und ähnliches nachzuweisen. Nach Bildung des Norddeutschen Bundes wurden diese Bestimmungen zwischen den Ländern - soweit sie nicht schon übereinstimmten - noch weiter angeglichen, wobei sich oft die preußische Organisation durchsetzte. Interessant ist, daß die Bedingungen für die Auswahl, die Ausbildung und die dienstliche Stellung der Postbeamten in der Folgezeit als Vorbild für gleiche Regelungen hinsichtlich der Eisenbahnbeamten der deutschen Staaten dienten. An die Arbeitskräfte für einfachere Aufgaben des Postdienstes wurden - ähnlich wie bei der Eisenbahn - weit geringere Anforderungen gestellt. Die Verwaltungen stellten sie oft zunächst nur auf Probe an, bis sie ihre Eignung nachgewiesen hatten. Die optische Telegrafie Preußens war - wie schon erwähnt - dem Militär unterstellt und das Telegrafenkorps demzufolge dem Generalstab zugeordnet. Die Beschäftigten setzten sich aus versorgungsberechtigten Militärpersonen zusammen, der Telegrafendirektor kam aus den Reihen der Stabsoffiziere. Entsprechend dem relativ einfachen Betrieb der optischen Telegrafen waren die Anforderungen an das fachliche Wissen gering. 380

Bei Einführung der elektrischen Telegrafie in Preußen wurden die Beschäftigten (wie übrigens auch in großem Umfange bei Post und Eisenbahn) anfangs wiederum aus den Versorgungsanwärtern ausgewählt, teilweise auch aus geeignet erscheinenden Beamten der Post. Die Einstellungsprüfung ging über das allgemeine Schulniveau nicht hinaus. Spezielle Kenntnisse mußten im praktischen Einsatz erworben werden, da auch keinerlei Lehr- oder Handbücher zur Verfügung standen. Ein derartiges Vorgehen war möglich aufgrund des geringeren Betriebsumfanges. 1850 bestanden in Preußen nur 38 Staatstelegrafenämter mit insgesamt 310 Beschäftigten. Sie arbeiteten an 90 Zeigertelegräfen und 17 Mörse-Apparaten. Die tägliche Leistung aller Ämter bestand in 97 Telegrammen (davon 42 % gebührenfreie Staatstelegramme), die lediglich tagsüber abgesetzt wurden, weil der Dienst wegen fehlender Nachfrage nachmittags vier Uhr eingestellt wurde.165 Der anwachsende Verkehr verlangte eine Systematisierung der Ausbildung. Zuerst richtete Preußen 1859 alljährliche Kurse von drei- bis viermonatiger Dauer als „Schule zur Unterweisung angehender sowie bereits angestellter Telegraphisten" ein. Beamte der Telegrafendirektion vermittelten dort Elementarwissen der Telegrafentechnik (Magnetismus und Elektrizität), anderer physikalischer Gebiete sowie Grundprobleme der Chemie. Sie erläuterten die üblichen Apparate, Apparatesysteme und Stromläufe und speziell für den Telegrafenbaudienst Anlage und Unterhaltung der Telegrafenleitungen.166 Der theoretische Unterricht wurde durch praktische Übungen und Betriebsbesichtigungen ergänzt. Der Kurs schloß mit einer Prüfung ab. Diese Form der Ausbildung bewährte sich. Sie wurde in den folgenden Jahren entsprechend der technischen Weiterentwicklung vervollkommnet und im Prinzip auch von den anderen deutschen Telegrafenverwaltungen bis zur Vereinheitlichung nach der Reichsgründung ähnlich durchgeführt.

Die napoleonischen Kriege und insbesondere der Befreiungskrieg 1813/14 wirkten sich auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsanlagen und -mittel sowie auf die Produktivkraftentwicklung im Verkehrswesen in verschiedener Hinsicht aus. Über viele Jahre hinweg wurden beispielsweise Organisation und Betrieb der Post nicht nur schwer gestört, sondern deren Funktionsfähigkeit auch durch Beschlagnahme von Pferden und Wagen, kaum noch befahrbare Straßen und zerstörte Brücken sehr stark gemindert. Die damit verbundene Reduzierung der Fahrzeuge, die selbst Befehle Napoleons zum Schutze der Posten im Interesse der Kriegführung nicht verhindern konnten, kam einer Vernichtung von Produktivkräften gleich.167 Die genannten Kriege hatten zugleich die Notwendigkeit rascher Truppenverlagerungen und der Bewegung größerer Waffen-, Munitions- und anderer Vorräte bei Kampfhandlungen verdeutlicht. Durch eine größere Mobilität konnte die Schlagkraft einer Armee um ein Vielfaches erhöht werden. Das betraf zunächst entsprechend den vorhandenen Verkehrsmitteln und der Ausrüstung der Truppen die Verbesserung des Zustandes der Straßen. Derartige Erkenntnisse wurden in den Bereichen des Verkehrs in Deutschland mit unterschiedlicher Intensität als staatliche beziehungsweise unmittelbar militärische Aktivitäten realisiert. Im Straßenwesen ist zunächst ein zunehmendes staatliches Interesse festzustellen, durch Verbesserung der Verkehrswege die notwendigen Verlagerungszeiten einzelner Heeresverbände zu verkürzen. Dabei konzentrierten sich die Bemühungen auf den Ausbau und die Erweiterung des Straßennetzes. Aufbauend auf den Erfahrungen des vorwiegend nach militärischen Gesichtspunkten durch Napoleon geförderten Kunststraßenbaus in Zentraleuropa wurde nach 1815 in den deutschen Ländern der Straßenbau intensiviert. Dabei entsprach die Baudurchführung in den meisten Fällen durch Übernahme der bei den napoleonischen Routes nationales gebräuchlichen Dreiteilung unmittelbar strategischen Zielvorstellungen.168 Die führende Rolle beim Ausbau des Straßennetzes innerhalb des Deutschen Bundes nahm Preußen ein, das - neben der Verbesserung der verkehrsinfrastrukturellen Gegebenheiten in den einzelnen Landesteilen aus ökonomischen und militärischen Gründen — besonders dem Ausbau der Fernstraßen zwischen den östlichen und westlichen Landesteilen auch aus strategischen Überlegungen Auf381

165 Noebels, 1883, S. 696. 166 Ebenda, S. 697 f.

4.7.

Militärische Aspekte der Produktivkräfteentwicklung im Verkehrswesen

167 Geschichte der deutschen Bd. 1, 1928, S. 283 ff. 168 Speck, A„ 1950, S. 24.

Post,

169 Kellermann, R./Treue, W., 1970, S. 66. 170 Z. B. Friedrich List in seinem Bericht über die Verhältnisse der Eisenbahn in Kriegszeiten (Allg. Militär-Zeitung, Nr. 82 u. 83 v. 11. und 15. Oktober 1834) oder in seinem Aufsatz über „Deutschlands Eisenbahnsystem in militärischer Beziehung" (Allg. Militär-Zeitung, Nr. 25 v. 26. März 1836). Ferner Harkort, F., 1833; Camphausen, L., 1835. Vgl. dazu Meinke, B., 1918, S. 921 ff.; 1919, S. 46 ff. 171 Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 7, 1915, S. 279. 172 Eichholtz, D., 1962, S. 104 ff. 173 Vgl. dazu Meinke, B., 1938, S. 293 ff., 679 ff. 174 Elbertzhägen, W. O., 1959, S. 38. 175 Zitiert in Meinke, B., 1918, S. 921. 176 Wernekke, 1912, S. 930 ff. 177 Helmert, H., 1964, S. 37.

merksamkeit schenkte, so daß bei derartigen Verbindungen von einem regelrechten „Militärstraßenbau" gesprochen werden kann. 169 Da in den Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes - freilich entsprechend den ökonomischen Möglichkeiten des jeweiligen Fiskus und der politisch-militärischen Bedeutimg des Landes differenziert - Anstrengungen zur Erweiterung und Verbesserung des Straßenwesens unternommen wurden, schritt die Erschließung der einzelnen Landesteile und die Herstellung von militärisch relevanten Fernstraßenverbindungen trotz der nationalen Zersplitterung im Untersuchungszeitraum relativ rasch voran. Mit der Entwicklung der Eisenbahnen zum Massenverkehrsmittel eröffnete sich in zunehmendem Maße die Möglichkeit, deren wachsende Leistungsfähigkeit für militärische Zwecke zu nutzen. Pioniere und Förderer des Eisenbahngedankens in Deutschland hatten bereits auf die militärisch-strategischen Potenzen des neuen Verkehrsmittels hingewiesen, noch bevor in den deutschen Ländern überhaupt eine Eisenbahnlinie vollendet war.170 Im wesentlichen suchten sie damit den Staat zu veranlassen, den Eisenbahnbau zu gestatten, zu fördern oder sich an ihm zu beteiligen. Auch der spätere preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke hatte 1836 eine Arbeit „Über die militärische Benutzung der Eisenbahn" verfaßt, der 1848 eine ausführlichere Veröffentlichung folgte!171 Die vorgebrachten Argumente spielten doch beim Bau der ersten bedeutenden Linien in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren eine* untergeordnete Rolle. Der Eisenbahnbau dieser Zeit lag in den Händen privater Aktiengesellschaften, die sich ausschließlich unter dem Rentabilitätsprinzip um die staatliche Konzession bewarben. Bemühungen des Staates, militärische Zielvorstellungen in die Gestaltung der Netzstruktur, zunächst vor allem bei der Herstellung von einzelnen Verbindungen zwischen strategisch wichtigen Punkten einzubeziehen, sind zwar erkennbar, dürfen aber selbst für Preußen nicht überschätzt werden. Die ökonomischen Interessen der Bourgeoisie an einer Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen den Wirtschaftszentren Preußens bestimmten die Ausbreitung der Eisenbahnen. Die dabei entstandenen strategisch bedeutsamen Relationen (z. B. Berlin - preußische Rheingebiete) sind als sekundärer Effekt zu betrachten.172 Selbst vom Staat aus vorwiegend militärischen Überlegungen für erforderlich gehaltene Bauvorhaben blieben zunächst zum Scheitern verurteilt, sofern die Gewinnaussichten für die Bourgeoisie zu gering waren, wie das zum Beispiel bei der von Berlin ausgehenden Ostbahn der Fall war. Eine stärkere Orientierung der Infrastrukturentwicklung bei den Eisenbahnen auf militärische Aspekte wäre in Süddeutschland möglich gewesen, wo bereits in den vierziger Jahren mit dem aus ökonomischen Gründen resultierenden starken staatlichen Engagement in der Eisenbahnpolitik (Bayern, Baden) auch strategische Erwägungen bei Investitionsentscheidungen hätten einbezogen werden können.173 Jedoch ist auch in diesen Ländern eine primär strategisch ausgerichtete Streckenpolitik nicht nachweisbar.174 Daß andererseits selbst in Kreisen des Militärs die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen für Kriegsoperationen skeptisch betrachtet wurde, beweist die Tatsache, daß noch 1847 von einem maßgebenden deutschen Militärschriftsteller behauptet wurde, „die bestorganisierte Eisenbahn (könne) nicht 10 000 Mann Infanterie innerhalb 24 Stunden 20 Meilen weit befördern . . . , der Transport von Reiterei und Artillerie aber (sei) ganz unmöglich . . ." 17S Der erste Einsatz der Eisenbahnen für die Kriegführung ist im Jahre 1840 nachweisbar. Im Mai dieses Jahres verhinderte ein sardinischer General bei Vicenza durch einen schnellen Eisenbahntransport seiner Truppen die beabsichtigte Vereinigung von zwei Heeresteilen der Österreicher. 1848 wurden außerdem bei der Belagerung Venedigs einige Bögen der großen Eisenbahnbrücke über die Lagunen gesprengt, um eine militärische Nutzung dieser Strecke zu verhindern. Generell wurden die Eisenbahnen seit 1848 in verschiedenen kriegerischen Auseinandersetzungen in Mitteleuropa genutzt.176 In Deutschland wurden 1849/50 erstmalig größere Truppentransporte auf den deutschen Eisenbahnen abgewickelt.177 Aber ein deutlicher Wandel in der Meinung zur militärischen Nutzung der bestehenden Eisenbahnverbindungen ist erst nach 1850 erkennbar. So bemühte sich zum Beispiel die Bundesmilitärkommission, die wesentlichsten Mängel der Verkehrsverhältnisse in bezug 382

auf die militärische Nutzbarkeit zu erfassen und zu beseitigen. Als wichtigste Aufgaben wurden die Verbesserung des rollenden Materials, der Ausbau der vorwiegend eingleisigen Linien zu zweigleisigen Strecken und die Herstellung von Verbindungsund Ergänzungslinien entsprechend militärischer Bedürfnisse angesehen.178 Darüber hinaus wurden—vom preußischen Generalstab initiiert — exakte Anordnungen zur Abwicklung von Militärtransporten für sämtliche deutschen Bahnverwaltungen erlassen. Diesen Bemühungen kam die gleichzeitige Ausweitung des Staatsbahnsystems in vielen deutschen Ländern entgegen. Bereits seit den sechziger Jahren hatte Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke die Vorbereitung der preußischen Eisenbahnen auf die zu erwartenden militärischen Auseinandersetzungen sowie die Mitwirkung der Militärverwaltung bei der Festlegung neu zu bauender Eisenbahnstrecken und deren Linienführung, der Konzessionsbedingungen für Privatbahnen unter militärischem Aspekt, der Ausrüstung und Betriebsgestaltung der einzelnen Strecken veranlaßt. Im preußisch-österreichischen Krieg 1866 wurden dann die nach dem Kriegsschauplatz führenden Linien annähernd zwei Monate in den Dienst des Truppentransports gestellt. Auf diesen Strecken verkehrten täglich etwa 40 Militärzüge, wobei der regelmäßige Zivilverkehr erheblich eingeschränkt wurde.179 Nach dem preußisch-österreichischen Krieg 1866 drängte Moltke auf die Schaffung von speziellen Eisenbahntruppen, die jedoch erst im Ergebnis des deutschfranzösischen Krieges von 1870/71 zustandekamen. Die Vorteile der Einbeziehung der Eisenbahnen in die Strategie der preußischen Heeresleitung waren allerdings so offensichtlich, daß der in der Folge des Krieges von 1866 unter der politischen und militärischen Hegemonie Preußens entstehende Norddeutsche Bund die verfassungsrechtliche Verpflichtung aller Eisenbahnverwaltungen in den Mitgliedsländern fixierte, in Kriegszeiten den gesamten Betrieb entsprechend militärischer Zielsetzungen einer Zentralverwaltung zu unterstellen. Darüber hinaus eröffnete diese Verfassung zugleich die Möglichkeit der Netzerweiterung nach strategischen Gesichtspunkten - auch gegen den Widerspruch betroffener Bundesstaaten.180 Die damit erreichte unmittelbare Unterstellung der Eisenbahn unter die Entscheidungsgewalt des Militärs bildete die Voraussetzung für die intensive Nutzung des Eisenbahnwesens im deutsch-französischen Krieg, in dem Militärtransporte über eineinhalb Jahre das Bild der Strecken, Bahnhöfe und Umschlageinrichtungen bestimmten. Damit war die Eisenbahn zum integrierten Bestandteil der Strategie des preußisch-deutschen Militarismus geworden. Die Reichsverfassung von 1871 dehnte die Bestimmungen des Norddeutschen Bundes über Betrieb und Netzentwicklung unter militärischen Gesichtspunkten schließlich auf das ganze Deutsche Reich aus. Im Zusammenhang mit der Produktivkraftentwicklung im Eisenbahnwesen standen zugleich militärische Anforderungen, die sich nach und nach, gestützt auch auf die Erfahrungen der Kriege in den sechziger Jahren, herausgebildet hatten und zu berücksichtigen waren. Dabei sind besonders hervorzuheben: - Netzcharakter der Eisenbahnverbindungen, um einen ungehinderten Truppentransport zu gewährleisten, - günstige Neigungs- und Krümmungsverhältnisse auf den Strecken, um einen ungehinderten Truppentransport zu ermöglichen, - Ausstattung der strategisch wichtigen Verbindungen mit einem zweiten Gleis, - bei eingleisigen Strecken die Schaffung ausreichender Kreuzungs- und Ausweichstellen, - Bau spezieller Laderampen, die einen raschen Umschlag von Truppen, Pferden, Geschützen, Munitions- und Proviantwagen sowie sonstigem Kriegsgerät und -material erlaubten, - Bau ausreichender Wasserstationen, die eine schnelle Versorgung der Lokomotiven garantierten, - Bereitstellung ausreichender Betriebsmittel (Lokomotiven und Wagen), wobei im Untersuchungszeitraum keine speziellen Betriebsmittel für militärische Zwecke gebaut wurden; natürlich verwendete man die leistungsstärksten Lokomotiven, vor allem Güterzuglokomotiven; denn die Geschwindigkeit der Militärzüge lag nicht über 30 km/h, in der Regel darunter, so daß die Zugkraft vor der Schnelligkeit rangierte. Bei den Wagen wurden die damals vorhandenen genutzt; die bereits erkenn383

181 Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 7, 1915, S. 279 f. 182 Schnabl, W., 1966, S. 48; vgl. auch Friedrichson, ]., 1890, S. 146 ff. 183 Andres, H., 1862, S. 18 f. 184 Mathies, O., 1924, S. 79. 185 Geschichte der deutschen Post, Bd. 1, 1928, S. 521 f. 186 Vgl. Löser, W„ 1964, S. 63 ff.

bare Spezialisierung der Güterzugwagen (Plattformwagen, gedeckte und offene, Pferdetransportwagen usw.) genügte zunächst den Ansprüchen, - gut ausgebildetes diszipliniertes Personal, - erste Anfänge eines „Kriegsfahrplanes" in dem Sinne, daß Überlegungen hinsichtlich der Streckenbelegung mit Militärzügen angestellt wurden, die den zivilen Verkehr möglichst wenig oder gar nicht beeinträchtigen sollten.181 Die genannten militärischen Anforderungen waren zumeist identisch mit den Anforderungen, die an den Betrieb der Eisenbahnen im öffentlichen Verkehr gestellt wurden, so daß mit deren Realisierung die militärischen Belange als sekundärer Effekt verwirklicht wurden. In den herkömmlichen Bereichen des Verkehrs wie Postwesen und Schiffahrt sind keine nennenswerten militärischen Einwirkungen festzustellen. Bei der preußischen Feldpost zum Beispiel, die in posttechnischer Hinsicht dem Generalpostamt unterstand und in Organisation und Betrieb unter den deutschen Staaten am weitesten entwickelt war, gab es keine bemerkenswerten Veränderungen an den im Kriegsfall verwendeten Arbeits- und Beförderungsmitteln. Bei der Schiffahrt war die Tendenz, Verkehrsmittel und -anlagen in die militärische Strategie und Taktik einzubeziehen, in den deutschen Ländern im allgemeinen nicht vorhanden. Eine Ende der vierziger Jahre zum Schutze der deutschen Handelsschiffe geschaffene „Reichsflotte" von mehreren Dampfschiffen wurde, da es an Geld mangelte und die Bundesversammlung ihre Kompetenz für die Flotte eindeutig abgelehnt hatte, Anfang der fünfziger Jahre liquidiert; die Einheiten wurden versteigert.182 Die politische Zersplitterung des Deutschen Bundes und die unterschiedlichen Interessen der am Seehandel beteiligten deutschen Küstenstaaten und -Städte machten eine militärische Abstimmung unmöglich, wenn auch unter der Flagge des Nationalismus mehrfach der Aufbau einer deutschen Kriegsflotte gefordert wurde.183 Vereinzelt sind allerdings dem öffentlichen Verkehr dienende Dampfschiffe für militärische Zwecke genutzt worden. So wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Krimkrieg ein im Jahre 1855 für die Hapag gebauter Dampfer kurzzeitig an die britische Regierung für Truppentransporte verchartert. 184 Auch ein im Jahre 1841 für die Seepostverbindung mit Schweden in Großbritannien gebautes und zur Schnellfahrt bestimmtes Postdampfschiff wurde 1849 zum Teil bewaffnet und in der Auseinandersetzung Preußens mit Dänemark eingesetzt. Ein ganz besonderes Beispiel bietet der damals größte preußische Postdampfer, der zur Verbindung von Stettin und Kronstadt eingesetzte „Preußische Adler". Das Generalpostamt hatte diesen Dampfer im Jahre 1846 nach einem speziellen Plan in Großbritannien bauen lassen. „Die Herstellung", so wird hervorgehoben, „war um so schwieriger, als das Schiff zugleich für militärische Zwecke benutzbar gemacht und in der Weise eingerichtet werden mußte, daß es im Notfall mit zwei 68pfündigen Paixhans und vier 32-Pfündern ausgerüstet, auch mit den Pulverkammern und der Kriegsbesatzung von 160 Mann versehen werden konnte." Das Dampfschiff besaß bereits einen eisernen Schiffskörper und war noch zusätzlich mit Segeln versehen. Im Jahre 1848 wurde der „Preußische Adler" der Kriegsmarine übergeben, bestückt und im Krieg mit Dänemark eingesetzt. Nach dem Friedensschluß stand er wieder im Dienst der preußischen Post.185 Der Telegraf als neues Nachrichtenmittel stand, wie schon dargelegt, unter der Leitung von Militärs. In Preußen war die optische Telegrafie dem Chef des Generalstabs unterstellt. Als Direktor fungierte ein Stabsoffizier. Die Telegrafisten waren ausgediente Unteroffiziere. Trotz ihrer Mängel brachte die optische Telegrafie einen Fortschritt in der Nachrichtenübermittlung. In Preußen kam er jedoch nicht zum Tragen, weil die Linie von Berlin nach Koblenz viel zu spät errichtet worden war, sie die einzige blieb, mit ihren Apparaturen nicht weiterentwickelt wurde und überdies nach verhältnismäßig kurzer Zeit bereits technisch veraltet war.186 Als der Direktor der optischen Telegrafie im Jahre 1837 einen elektrischen Telegrafen kennenlernte, erkannte er seine weitaus größeren Vorteile für die Armee und die Polizeiorgane. Er empfahl in den folgenden Jahren mehrfach dem Generalstab, Versuche mit dem neuen Nachrichtenmittel durchführen zu lassen. Ausschlaggebend war jedoch erst die Eingabe eines Unternehmers im Jahre 1844 an das Kriegsministerium. Diese führte letztlich zum Bau einer Versuchslinie von Berlin nach 384

173 Prcußischcr Militärtransport im Krieg gegen Österreich (1866)

Potsdam.187 Dieser im Jahre 1846 erfolgreich abgeschlossene Versuch, dem weitere folgten, zog seit 1848 den beschleunigten Aufbau eines Telegrafennetzes in Preußen, die Freigabe des Telegrafen für die Öffentlichkeit und die Unterstellung der Staatstelegrafie unter das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten im Jahre 1849 nach sich. Die unmittelbare Leitung der — jetzt elektrischen — Staatstelegrafie blieb in den Händen der Militärs. Im Kriegsfalle nahmen die Leiter der Staatstelegrafie zugleich die „Kriegs-Telegraphengeschäfte" wahr. „Durch diese Doppelstellung war einerseits die Möglichkeit gegeben, der Kriegsführung Personal und Material der Staatstelegraphie in ausgedehntem Maße dienstbar zu machen..., andererseits Gelegenheit geboten, das im Frieden Geschaffene mit größerer Sicherheit zu erproben und die entdeckten Mängel schnell zu verbessern." 188 Nach Meinung der Militärs müsse die Feldtelegrafie ein spezieller Teil der Staatstelegrafie sein, die damit die Basis der Militärtelegrafie sein sollte.189 Ausgehend davon, daß „schon vor Ausbruch des Krieges die Vervollständigung des Telegraphennetzes im eigenen Land bewirkt" werden muß und dabei „die Kriegszwecke im Auge zu behalten und zu verfolgen" sind,190 wurde der Aufbau des Netzes von Berlin nach den bedeutenden Grenz- und Küstenstädten beziehungsweise Festungen betrieben. Gleichzeitig wurden telegrafische Verbindungen zwischen großen Städten ohne Zwischenstationen hergestellt, aber auch angestrebt, besondere Leitungen bereit zu halten, und dabei einkalkuliert, daß sie ebenso wie internationale und Transitleitungen im Kriegsfall sofort zur Verfügung stünden.191 Wenn auch nach außen hin nicht sichtbar, wird hier doch deutlich, daß die treibenden Kräfte beim beschleunigten Aufbau und der Gestaltung des Telegrafennetzes die Militärs waren. Anfänglich versuchte man aus militärischen Erwägungen, die Leitungen unterirdisch zu verlegen. Deren ungenügende Isolierung, unter anderem hervorgerufen durch Informationsmangel und fehlende Erfahrung, führte jedoch zu 385

187 Ebenda, S. 74 ff. 188 Chauvin, v., 1884, S. 3. 189 Ebenda, S. 17; Fischer-Treuenfeld, R. v„ 1884, S. 91. 190 Chauvin, v., 1884, S. 6,47. 191 Ebenda, S. 47; vgl. auch Löser, W„ 1964, S. .99, 123 ff.

192 50 Jahre elektrische Télégraphié, 1899, S. 40 f. 193 Löser, W., 1964, S. 82. 194 Chauvin, v., 1884, S. 23 f. 195 Ebenda, S. 17. 196 Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Bd. 7, 1915, S. 279. 197 50 Jahre elektrische Télégraphié, 1899, S. 63. 198 Chauvin, v„ 1884, S. 109. 199 Ebenda, S. 98. 200 Handwörterbuch des elektrischen Fernmeldewesens, Bd. 1, 1929, S. 378. 201 Chauvin, v„ 1884, S. 100.

so schweren Störungen im Telegrafenverkehr, daß 1851 der Übergang zur oberirdischen Leitungsführung beschlossen wurde.192 Derartige, die Entwicklung hemmende Faktoren waren zunächst auch bei der Auswahl der zu verwendenden Apparate und beim Einsatz des Personals wirksam. Bei der Auswahl geeigneter Telegrafenapparate entschied sich die „Kommission für Versuche elektro-magnetischer Telegraphen" im Jahre 1848 für den einfacher zu bedienenden Zeigertelegrafen, obwohl die größere Leistungsfähigkeit des Schreibtelegrafen von Morse längst bekannt war. Die Kommission gab leistungsschwächeren Telegrafen den Vorzug, weil das Personal keine besondere Ausbildung benötigte.193 Auch weiterhin sollten vorwiegend langgediente Militärs als Telegrafisten angestellt werden, da „nur der für den Krieg als Soldat vorgebildete" oder zumindest „eine starke militärische Ader besitzende Beamte" der Kriegstelegrafie von besonderem Nutzen war. Ihre ungenügende Qualifizierung führte jedoch zu Mißständen und Klagen über die Telegrafie.194 Sehr bald schon wurden deshalb in der Staatstelegrafie die Zeigertelegrafen durch den Morseschreiber ersetzt und der noch schneller arbeitende Drucktelegraf beschafft, der das Abschreiben des Telegramms entbehrlich und besonders „das Mitlesen (Auffangen) der Telegramme durch feindliche Personen unmöglich"195 machte. Die immer stärker auch im Interesse der Bourgeoisie zunehmende Orientierung auf technische Neuerungen wie auch die schnell voranschreitende Erweiterung und Verdichtung des Netzes bewirkten, daß der Rückstand gegenüber England und Frankreich aufgeholt und der Bourgeoisie wie auch den Militärs ein modernes Nachrichtenmittel zur Verfügung stand. Die umfangreichste Bewährungsprobe für die neuen Verkehrsträger Eisenbahn und Telegrafie war der deutsch-französische Krieg 1870/71. Die Mobilmachung konnte mit Hilfe der Eisenbahn innerhalb von zehn Tagen durchgeführt werden. In acht Tagen wurde eine Armee mit der Stärke von fast 500 000 Mann samt der umfangreichen Ausrüstung zum Teil über eine Entfernung bis zu 1 500 km an die französische Grenze transportiert.196 Geht man von einer geschätzten Durchschnittsentfernung von nur 500 km für jeden Soldaten aus, so bedeutete das - verglichen mit der Personenverkehrsleistung des Jahres 1870 — eine Verkehrsbelastung im Personenverkehr während der Tage des Aufmarsches, die fast dreimal höher als normal lag. Für den Güterverkehr liegen keine entsprechenden Vergleichswerte vor. Berücksichtigt man dabei, daß während dieser Zeit auch der zivile Verkehr weiter abgewickelt wurde und in der Folgezeit der gesamte Nachschub von der Eisenbahn getragen wurde, so ergibt sich tatsächlich für die Eisenbahnen die erste umfangreiche Belastungsprobe über einen längeren Zeitraum. Die Staatstelegrafie des Norddeutschen Bundes hatte während der Mobilmachung ebenfalls Aufgaben zu lösen, die für den Kriegsfall vorbereitet waren. So baute sie noch erforderliche Verbindungslinien zur Vervollständigung des Netzes, bereitete die Beförderung und Verbreitung der Kriegsnachrichten vor und stellte Personal und Material für die Feld- und Etappen-Telegrafenabteilungen zur Verfügung.197 Während des Krieges legte sie mehr als 17 000 km Gestänge und Drahtleitungen mit 162 Telegrafenstationen an. Die Feldtelegrafie erreichte bis Ende des Krieges eine Länge von 10 830 km mit 407 Stationen.198 Außerdem mußte das Staatsnetz im Norden Deutschlands erweitert werden, „um etwaige Landungen feindlicher Truppen an der Nordsee- und Ostseeküste sofort melden" zu können. Dazu gehörte auch die Einrichtung von 44 Telegrafenstationen mit permanentem Dienst.199 Durch das Wirken der Staatstelegrafie in Verbindung mit der Kriegstelegrafie war es zum Beispiel möglich, daß bis auf wenige Ausnahmen die Armeeoberkommandos mit dem Hauptquartier und der Heimat täglich verbunden waren, mit den Generalkommandos dann, wenn sie mehrere Tage an einem Orte blieben.200 Schließlich waren von der Staatstelegrafie auch noch die im Großen Hauptquartier verfaßten offiziellen Kriegsnachrichten sofort an 1 860 Stationen des norddeutschen Telegrafengebiets, an die Residenzen Süddeutschlands und an 37 Stationen auf dem Kriegsschauplatz zu befördern. 201 Wenn die Armee-Oberbefehlshaber die Leistungen der Kriegstelegrafie besonders würdigten, dann hatte auch die Staatstelegrafie als deren Basis die an sie gestellten Anforderungen bei der Realisierung expansionistischer Ziele erfüllt. 386

5. Die Standortentwicklung der Produktivkräfte J'rftiat \rk»U*

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387

5.1.

Standortverteilung um 1800

Die Ostsee weist wegen ihrer starken Vereisung im Winter diese ausgleichende Wirkung in so hohem Maße nicht auf. Sanderflächen sind wenig fruchtbare Sand- oder Schottergebiete vor Gletschern und Inlandeismassen. (Vgl. Das Gesicht der Erde, 1956, S. 874 f.)

Die Standortentwicklung der Produktivkräfte während der Industriellen Revolution vollzog sich aus einer Ausgangssituation heraus, die durch eine räumliche Differenziertheit der Wirtschaft aufgrund unterschiedlicher natürlicher und gesellschaftlicher Bedingungen gekennzeichnet war. Die Zugehörigkeit zu den drei Großlandschaften - der Norddeutschen Tiefebene, dem Mittelgebirgsland der Rumpfschollengebirge und Schichtstufenlandschaften als mittlere Zone und dem Hochgebirge im äußersten Süden - , mehr noch deren orographische Feingliederung gaben differenzierende Impulse für die räumliche Entwicklung der Produktivkräfte. Obwohl das Klima - Ubergangstyp von der maritimen zur kontinentalen Form fast überall für die Land- und Forstwirtschaft ausreichende Bedingungen schuf, traten durch die Längen- und Breitengraderstreckung sowie vor allem durch die unterschiedliche Oberflächengestaltung regionale und lokale Klimaabweichungen auf, die über die Standorte produktionswirksam wurden. Die Nordsee1 wirkte ausgleichend auf den jährlichen Temperaturgang der Küstenregion - mit einer längeren Vegetationsperiode, aber geringer sommerlicher Sonneneinstrahlung —, wodurch der Reifeprozeß der Kulturpflanzen verzögert wurde. Die hohe Luftfeuchtigkeit begünstigte den Graswuchs und damit die Viehhaltung (Rinderzucht). In den östlichen, durch stärkere Kontinentalität gekennzeichneten Gebieten führten die hohen Sommertemperaturen zu einem schnelleren Reifeprozeß. Auch in den Gebirgen bestanden differenzierte Bodennutzungsbedingungen, die durch die abnehmende Gesamtwärmemenge pro Jahr bei zunehmender Höhenlage gegeben waren. Bekannt sind auch die Auswirkungen der Gebirge auf die Niederschlagshöhen in den umliegenden Gebieten (z. B. das östliche und nordöstliche Harzvorland als Regenschattengebiet) und die Temperaturbegünstigung von Graben- und Beckenlandschaften (u. a. Oberrheingraben und Thüringer Becken). Die Vielfalt der lithologischen und klimatischen Bedingungen führte zu sehr heterogenen Bodenverhältnissen. Für den Anbau anspruchsvoller Kulturpflanzen (Weizen, Zuckerrüben und andere Spezialkulturen) waren die in einem Saum nördlich, ferner in verschiedenen Becken inmitten der Mittelgebirgszone vorkommenden Lößböden, daneben die braunen Waldböden der Mittelgebirge von großer Wichtigkeit. Weniger günstige Voraussetzungen für die Landwirtschaft boten die gebleichten Waldböden der Norddeutschen Tiefebene, wo besonders in den Sandergebieten2 der nährstoffarme Boden weitgehend nur eine Waldnutzung zuließ (Masuren, Tucheier und Lüneburger Heide als Beispiele). Das hydrographische System bot nur zum Teil günstige Bedingungen für die Verkehrserschließung des Territoriums. Durch die vorwiegend von Süden nach Norden gerichtete Fließrichtung der größeren Flüsse konnte die Schiffahrt von Nord- und Ostsee aus weite Teile Deutschlands erreichen, wenn auch sehr ungleichmäßige Wasserführung und lange Vereisungszeiten in den östlichen Gebieten, so bei Oder und Weichsel, zu zeitlichen Einschränkungen führten. Der wachsende Verkehr mit größeren Schiffen erforderte die Regulierung der zahlreichen verwilderten Flußstrecken. Während zwischen Elbe und Weichsel, im Bereich der Urstromtäler, günstige Querverbindungen durch Nebenflüsse und Kanäle bestanden, fehlten diese zwischen Rhein, Weser und Elbe. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der Produktivkräfte war die Nutzungsmöglichkeit der Wasserkraft an den Oberläufen der Flüsse in verschiedenen Mittelgebirgen. Besonders das westliche Erzgebirge und das Bergische Land mit hohen Niederschlägen und kräftigem, aber nicht zu steilem Gefälle, boten dafür gute Voraussetzungen. Die Ausstattung mit Bodenschätzen bot unterschiedliche Bedingungen für das verarbeitende Gewerbe und damit für die Industrialisierung in den einzelnen Gebieten. Die Steinkohlenvorkommen entlang des Nordrandes und in einigen Becken in der Mittelgebirgszone dienten als Brennstoffersatz für die schwindenden Holzreserven . Besonders die Lagerstätten im Ruhrgebiet waren entscheidende Voraussetzung für die. Entstehung der Schwerindustrie in dieser Region. Die Nutzung der vor allem im zentralen Deutschland gelegenen Braunkohlenlagerstätten begann im nennenswerten Umfang dagegen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von besonderer Bedeutung waren die Steinsalzvorkommen in Oberbayern sowie ini nördlichen und östlichen Harzvorland, während das Kalisalz im Harzvorland und 388

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Karte 20 Politisch-administrative Gliederung des rheinisch-westfälischen Gebiets um 1789 20 Quelle: Ringel, H., Bergische Wirtschaft zwischen 1790 und 1860, (Remscheid) 1966, S. 15.

Hzm.| I W o / f o / w / / Limburg | ^(Mw/gzO

Preußen

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Kleines geistl. Gebiet U_U Gebiet der Niederlande t>

Kleines weit!. Gebiet

1 fs/77. Dillenburg

im Werragebiet weitgehend ungenutzt blieb beziehungsweise noch nicht bekannt war. Ungünstiger für die Entwicklung der Produktivkräfte war die Versorgungsmöglichkeit mit einheimischen Erzen. Deutschland besaß zwar eine Vielzahl meist kleinerer Vorkommen in den Mittelgebirgen, die aber über Jahrhunderte hinweg genutzt worden waren und deshalb in der Ergiebigkeit der steigenden Nachfrage vielfach nicht mehr entsprachen. Wesentliche Bedingungen für die unterschiedliche Standortentwicklung in den einzelnen Gebieten erwuchsen aus den Produktionsverhältnissen und den ihnen entsprechenden Überbauerscheinungen. Zwar herrschten überall die feudalen Kräfte eine Ausnahme bildeten nur die.bis 1815 Frankreich einverleibten linksrheinischen Gebiete, in denen die hemmenden feudalen Schranken stärker abgebaut waren - , doch gab es verschiedene Ausprägungen des Feudalismus, die aus der Vielzahl selbständiger Staaten und ihrer historischen Entwicklung hervorgingen. Ebenso unterschiedlich wie die Feudalbindung der Bauern war die Einstellung führender Vertreter der herrschenden Klassen zu den neuen kapitalistischen Entwicklungsformen. Am Anfang des 19. Jahrhunderts, besonders durch den Reichsdeputationshauptschluß (1803) und die Rheinbundakte (1806), konnten im Untersuchungsgebiet3 die hauptsächlich in West- und Süddeutschland vorherrschende Klein- und Zwergstaaterei weitgehend abgeschafft und damit für die kapitalistische Entwicklung bessere Bedingungen erreicht werden. Doch die im Ergebnis der Verhandlungen auf dem Wiener Kongreß 1815entstandenen Staaten unterschiedlichster Größe - die sich bis 1870 auf 25 verringerten (vgl. Karte 21, Tab. 69) - brachten nicht sofort ökonomische Erleichterungen für das Gesamtterritorium und die einzelnen Regionen. Die aus der Vergangenheit erwachsenen wirtschaftspolitischen Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten — zum Beispiel der zwischen Preußen und Sachsen — blieben noch lange bestehen; die Ersetzung der innerstaatlichen Binnen- durch Grenzzölle führte besonders für die kleineren Länder zu neuen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.4 Die aus Teilen verschiedener Vorgängerstaaten 1815 entstandenen Länder über389

Deutschland umfaßt hier das Gebiet des Deutschen Bundes - ausschließlich des Kaiserreichs Österreich, des Großherzogtums Luxemburg, des Fürstentums Liechtenstein und des 1839 bis 1866 zum Bund gehörenden niederländischen Herzogtums Limburg - und die preußischen Besitzungen, die nicht Bundesterritorium waren (außer Fürstentum Neuenburg). Vgl. Karte 1. Zu den staatlichen Veränderungen Anfang des 19. Jahrhunderts vgl. Berghaus, H„ Bd. 1-3, 1861-62. Mottek, H„ Bd. 2, 1978, S. 68 ff.

Tabelle 69 Deutsche Staaten von 1815 bis 1870/71

1815 Fläche (km 2 ) Kgr. Preußen 273 648 Kgr. Bayern 76 409 Kgr. Hannover 38 476 Kgr. Württemberg 19 511 Ghzm. Baden 15 076 Kgr. Sachsen 14 993 Ghzm. MecklenburgSchwerin 13 127 Hzm. Holstein/Hzm. Lauenburg (dän.) 9 925 Kfsm. Hessen 9 581 Ghzm. Hessen 8 357 Ghzm. Oldenburg 6 429 Hzm. Nassau 4 705 Hzm. Braunschweig 3 692 Ghzm. Sachsen-WeimarEisenach 3 611 Ghzm. MecklenburgStrelitz 2 930 Hzm. Sachsen-GothaAltenburg 2 738 Hzm. SachsenMeiningenHildburghausen Hzm. Anhalt Hzm. Sachsen-CoburgGotha Hzm. Sachsen-Altenburg Hzm. Sachsen-Coburg1697 Saalfeld Fsm. Lippe 1215 Fsm. Waldeck 1 121 Hzm. SachsenMeiningen 1083 Fsm. SchwarzburgRudolstadt 940 Fsm. HohenzollernSigmaringen 906 Fsm. SchwarzburgSondershausen 862 Fsm. Reuß jüngere Linie 827 Hzm. Anhalt-Dessau 819

1864 Fläche (km 2 )

Einwohner

1871 Fläche (km 2 )

10 3 1 1 1 1

275 76 38 19 15 14

327 409 476 511 076 993

19 264 000 4 807 440 1 923 492 1 748 328 1 434 754 2 343 994

339 605 24 239 970 75 871 4 863 450 [1866 zu Kgr. Preußen] 19 511 1 818 539 15 076 1 461 562 14 993 2 556 244

13 127

552 612

519 000 350 000 320 000 340 000 102 000 180 000 333 000 375 552 590 202 290 210

000 000 000 000 000 000

194 000 70 000 180 000

-

-

83 000 68 000 48 000 55 000 54 000

3 611

602 745 853 301 483 293

914 063 315 812 311 388

[1866 zu Kgr.,Preußen] [1866 zu Kgr. Preußen] 7 680 852 894 6 429 314 591 [1866 zu Kgr. Preußen] 3 692 313 170

280 201

3 611

2 930 99 060 2 930 [1826 Erbteilungsvertrag u. staatliche Neuordnung]

2 468 2 299

178 065 193 046

1 977 164 527 1 323 141 839 [1826 Erbteilungsvertrag u. Neuordnung] 1 215 111 336 1 121 59 143 [1826 Erbteilungsvertrag u. Neuordnung] 940

73 752

286 183 96 982

2 468 2 299

187 957 203 437

1 977 1 323 staatliche

174 339 142 122

1 215 1 121 staatliche

111 135 56 224

940

75 523

44 000 55 000 53 000

862 862 67 191 66 189 827 86 472 827 89 032 [1863 Zusammenschluß der anhaltinischen Herzogtümer] [1826 Erbteilungsvertrag u. staatliche Neuordnung] [1863 Zusammenschluß der anhaltinischen Herzogtümer] [1863 Zusammenschluß der anhaltinischen Herzogtümer]

33 000 36 000

Hzm. Anhalt-Köthen

716

29 000

Reg.-bez. Schleswig (preußisch)

925 581 357 429 705 692

557 707

[1849 zu Kgr. Preußen]

787 764

414 340 316 298 275

9 9 8 6 4 3

13 127

Einwohner

38 500

Hzm. SachsenHildburghausen Hzm. Anhalt-Bernburg

Freie Hansestadt Hamburg Fsm. Schaumburg-Lippe Fsm. Reuß ältere Linie Freie Hansestadt Lübeck Lgft. Hessen-Homburg Freie Hansestadt Bremen Fsm. HohenzollernHechlingen Freie Stadt Frankfurt a. M.

sehen Reiches für das Jahr 1878,1878, März-Heft, S. 40-50; Bevölkerungszahlen: Wagner, H., Die territoriale Gliederung Deutschlands in Länder seit der Reichsgründung, in: Studien zur territorialen Gliederung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Hannover 1971, S. 112 f.; Preußische Statistik, Bd. 30,1875, S. 6 f.

Einwohner wohner

124 24 20 41 20

000 000 000 600 000

414 340 316 298 275

229 31 43 50 27

256

47 700

256

104 091

236

14 000

101

47 000

101

91 180

517 181

22 741 800

517 181

37 386 559

941 382 924 614 374

414 338 974 340 32 059 316 45 094 298 52 158 [1866 zu Kgr. Preußen] 256

122 402

[1849 zu Kgr. Preußen] [1866 zu Kgr. Preußen] 517 181

39 058 939

8 864

403 653

526 045

39 462 592

Quellen: Flächengröße: Grundlage ist Vermessungsstand von 1905 nach: Die Volkszählung am 1. Dezember 1905 im Deutschen Reich, in: Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reiches 1907, H. 3, 1908, S. 90 ff., umgerechnet auf den Territorialstand der einzelnen Staaten in den jeweiligen Stichjahren unter Verwendung von: Wagner, H., Die territoriale Gliederung Deutschlands in Länder seit der Reichsgründung, in: Studien zur territorialen Gliederung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Hannover 1971, s. 112f.; Hassel, G., Lehrbuch der Statistik der Europäischen Staaten für höhere Lehranstalten, Weimar 1822; Ungewitter, F. H., Neueste Erdbeschreibung und Staatenkunde oder geographisch-statistisch-historisches Handbuch, Bd. 1, 4. verb. Aufl., Dresden 1858; Monatshefte zur Statistik des Deut-

390

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9 s ausgehenden Impulse antinomisch waren ("fj},^). Der Staat anerkannte zwar die Notwendigkeit der Verbesserung der Lehrerbesoldung. Er war aber nicht in der Lage, durch eine höhere Besoldung die Rechte des für die Besoldung zuständigen Adels spürbar einzuschränken. Im Gegensatz dazu wurden bei von Rochow, der die Schulen auf seinen Gütern 481

73 74 75 76 77 78 79

Ebenda, S. 631. Grumbach, H„ 1898, S. 7. Simon, O., 1902, S. 603. Ebenda. Ebenda, S. 606. Menzel, K. A„ 1833, S. 75. Müller, C„ 1914, S. 152 f.

unterhielt, die produktionsbedingten Bedürfnisse nach besserer Ausbildung unmittelbar sichtbar und in wirksame Impulse umgesetzt. Auch die aus von Rochows philanthropischen Anschauungen resultierenden kulturbedingten Impulse (1^) wirkten lfkpr,

80 Geschichte der Erziehung, 1973, S. 182. 81 Ebenda. 82 Simon, O., 1902, S. 853. 83 Ebenda, S. 850 f. 84 Dehen, F., 1928, S. 8. 85 Priester, E„ 1949, S. 331. 86 Ebenda. 87 Geschichte der Technischen Universität Dresden, 1978, S. 20.

l?Kk, T ? K p ,

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-?Fpr; k. ps) konnten letztlich nicht die aus dem produktionsbedingten Bereich kommenden Impulse längerfristig zurückdrängen ( I pr—»Av). Das im Jahre 1815 entstandene Wiener polytechnische Institut entwickelte sich zu einer beispielgebenden Einrichtung aus eben diesen Gründen und nicht, weil diese Neuerung durch Kunstgriffe „in das Gewand alter Bildungsgrundsätze"87 gekleidet war. Natürlich dürfen bei der Entstehungsgeschichte des Instituts die auf die Gründung einer solchen Einrichtung gerichteten Aktivitäten des liberalen Teils des Adels und des aufgeklärten Bürgertums, also für die Gründung wirkende Impulse aus dem politischen, sozialen und kulturellen Bereich ( I p> s, 0» n 'cht übersehen werden. 482

Die vom Pietismus und später vom Rationalismus ausgegangenen Bestrebungen (I K ) hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielen deutschen Staaten die Vorstellung gefestigt, daß die Volksschule zu erziehen und auf den Beruf vorzubereiten habe. Diese Vorstellungen fanden sich in den verschiedenen Plänen, Programmen und Anordnungen, ohne allerdings zu wesentlichen Veränderungen zu führen. Nach einem preußischen Schul-Reglement aus dem Jahre 1801 8 8 waren die Volksschulen „solche Unterrichts-Anstalten in den Städten und auf dem platten Lande", „die ganz eigentlich zur Bildung für den Bürger und den Gemeinen Landmann bestimmt sind, und wo ihm die Kenntnisse, deren er in seinem Wirkungskreise und zur Betreibung seines Gewerbes bedarf, beigebracht werden." 89 Aber nicht allein die Forderung nach inhaltlicher, auf zukünftige gewerbliche Tätigkeit gerichtete Erweiterung des Lehrstoffes blieb bis weit in das 19. Jahrhundert hinein unerfüllt, sondern auch die bessere Ausbildung der Lehrer, Aufwertung ihrer sozialen Stellung und regelmäßiger Schulbesuch der Kinder. Mit der Forderung nach „tauglichen Schullehrern" wurde in Preußen zur Ausbildung der Volksschullehrer übergegangen. Dazu sahen das' „General-Land-SchulReglement" von 1763, das „in allen Landen Sr. Königlichen Majestät von Preußen" 90 galt, und das von 1765 für das „souveraine Herzogthum Schlesien" vor, daß der Schulmann sich „nebst hinlänglicher Geschicklichkeit im Singen und Orgelspielen, um zugleich den nöthigen Kirchendienst hierin mit zu versehen, sich in der Kunst, die Jugend in der teutschen Sprache zu unterrichten, . . . die erforderliche Geschicklichkeit erworben hat." 92 Um diese „erforderliche Geschicklichkeit" zu vermitteln, wurden Schulen bestimmt, in denen auch Erwachsene angeführt werden sollen, wie sie sich beym Unterricht der Jugend weißlich verhalten können." 93 Die Gründung dieser ersten Einrichtungen zur Volksschullehrerausbildung war typisch für das ausgehende 18. Jahrhundert. Fortschritt auslösende Impulse kamen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts häufig von Einzelpersönlichkeiten ( S F k —» I k ), also auch von einzelnen Fürsten bzw. ihren Regierungen (Ip s ). Um diese94 durch wirksamere, auf breiterer gesellschaftlicher Grundlage beruhenden Kräfte abzulösen, „bedurfte (es) der Erschütterungen der Französischen Revolution und des Zusammenbruchs des altpreußischen Staats friderizianischer Prägung in den Jahren 1806/07, ehe in Preußen gesellschaftliche Umgestaltungen, eingeleitet durch die Stein-Hardenbergschen Reformen, beginnen konnten". 95 Während dieser neuen Etappe nahm besonders der preußische Staat stärkeren Einfluß auf die Volksschulen. Er sah in Schule und Bildung geeignete Mittel zu seiner Stärkung. In den Jahren des Heranreifens des Befreiungskrieges wurde die Nationalerziehung96 gefördert. Das „Vaterländische in Sprache, Geschichte und Weltkunde"97 spielte neben Turnen und Gesang eine besondere Rolle (B lt s — > p T , . p —> Av). Aus dieser Entwicklung resultierte eine veränderte Form der Lehrerausbildung. Nachdem schon Stettin und Kloster Berge Lehrerseminare hatten (vgl. 7.1.), entstanden von 1810 bis 1825 zwischen Braunsberg und Trier 15 neue Seminare.98 Unter den Lehrern dieser Einrichtungen waren jene Männer, die im Auftrage der preußischen Regierung bei Johann Heinrich Pestalozzi in Iferten seine Methode studiert hatten99 und die sich bemühten, die künftigen Lehrer mit Ergebnissen der sich entwickelnden Wissenschaften vertraut zu machen. Nach den Befreiungskriegen wurde diese neue Qualität in der Lehrerausbildung zunehmend ihres progressiven Gehalts beraubt. Die Furcht vor dem Rationalismus fand schließlich 1822 ihren Ausdruck in einem „Allerhöchsten Erlaß", durch den diese positive Entwicklung unterbrochen wurde. Die Ausbildung der Seminaristen durfte „nicht über die Schranken hinausgehen . . ., die ihre Stellung als Elementarschullehrer bedingt . . ." 10 °; Bip, s ,k T p ,s,k Av. Auch die Jahre vor der Revolution von 1848 waren durch regressive Haltungen der Regierungen gekennzeichnet (^Tp s). 1845 forderte der preußische Staatsminister Johann Albrecht Friedrich Eichhorn vom König, „die in den bestehenden Schullehrer-Seminaren vorherrschende formelle Verstandesbildung durch Hervorhebung der Herzens- und Gemütsbildung unter Berücksichtigung der künftigen Lebensverhältnisse und Wirksamkeit der Zöglinge zu mäßigen". 101 Diese Auffassung wurde im Zusammenhang mit einer durch Eichhorn vorgenommenen Einschätzung des 483

7.3.

Ausbildung im Verlauf der Industriellen Revolution 7.3.1. Volksschulen

88 Menzel, K. Ar, 1833, S. 59 ff. 89 Ebenda. 90 Ebenda, S. 1 ff. 91 92 93 94

Ebenda, S. 26 ff. Ebenda, S. 27. Ebenda. Hemann, F. 1911, S. 357.

95 Mittenzwei, l, 1980, S. 205. 96 Jachmann, R. B„ 1812, S. 62; Fichte, J. G., 1808, S. 50, 363. 97 Müller, C., 1914, S. 129. 98 Ebenda, S. 126. 99 Ebenda. 100 Ebenda, S. 147 f. 101 ZStA Merseburg, Geheimes Zivilkabinett, 2.2.1., Nr. 22 491, Bl. 39.

213 Adolph Dicstcrwcg

102 103 104 105 106 107 108

Ebenda, Bl. 36. Ebenda, Bl. 39. Menzel, K. A , 1833, S. 72. Ebenda, S. 60. Ebenda, S. 67. Müller, C„ 1914, S. 152. Menzel, K. A„ 1833, S. 75 f.

Seminardirektors Adolph Diesterweg gegeben, der mit seinen „dem Ideen-Kreise des modernen Liberalismus angehörigen Ansichten . . . nicht wenig dazu beigetragen (hätte), die aus der Seminarbildung entsprungene Unzufriedenheit des Lehrerstandes zu steigern und allgemeiner zu machen". 102 Um dem entgegenzuwirken, mußte die Wissensvermittlung auf das Elementarwissen reduziert und die Ausbildung für die Landschullehrer eingeengt werden, denn „so zweifele ich (Eichhorn—d. Vfs.) z. B. nicht, daß in manchen Gemeinden Pfarrer und Schullehrer mit Hülfe eines dritten methodologisch gebildeten Lehrers eine solche Vorbildungs-Anstalt für 4 bis 6 Schulamts-Aspiranten mit gutem Erfolge einzurichten Lust und Geschick haben würden". 103 Gleich zu Beginn des Jahrhunderts forderte der preußische König: „Der nothdürftige Unterhalt eines zur Bildung Unserer Unterthanen so wesentlichen Mannes, als ein tüchtiger Schullehrer ist, muß durchaus nicht mehr von der ungerechten Laune und Verzögerungen der Gutsbesitzer oder der Gemeine abhängen." 104 Wie wurde dieser Forderung, die auf die soziale Aufwertung der Volksschullehrer gerichtet war und praktisch darauf hinauslief, die Lehrer „über die drückenden Nahrungssorgen zu erheben" 105 , entsprochen? 1801 sollte der „Schullehrer auf dem Lande . . . Fünfzig Reichsthaler baar Geld" im Jahr haben. 106 1819 betrugen die durchschnittlichen monatlichen Bezüge der Landschullehrer etwa 7 Taler, und 1825 gab es im Raum Merseburg noch Lehrer, die neben dem traditionellen Reihetisch nur sechs bis acht Taler im Jahr hatten. 107 Die finanzielle Besserstellung der Lehrer war nur eine Absicht des Königs. Eine andere war, das Ansehen der Lehrer zu heben. Es kann aus dem, was durch eine Anordnung wie dem Schul-Reglement von 1801 untersagt wurde, geschlossen werden, was um die Jahrhundertwende überwunden werden sollte: „Die Herrschaften so wenig als die Gemeine müssen den Schullehrer als einen Lohndiener betrachten und behandeln . . . Herrschaften und Pfarrer müssen ihn nie zu ihren Privat-Geschäften während den Schulstunden gebrauchen . . . Den Pfarrern machen Wir besonders zur Pflicht, den Schul-Lehrer . . . nicht pöbelhaft zu behandeln." 108 Obwohl die Volksschule der jahreszeitbedingten Landarbeit durch reduzierten Unterricht im Sommer Rechnung getragen hat, war der Schulbesuch so schlecht, daß sich der Staat veranlaßt sah, empfindliche Strafe für jene Eltern zu verhängen, die ihre Kinder nicht zur Schule schickten. Vier Groschen mußten die Eltern für jede versäumte Woche Unterricht in die Schulkasse zahlen, und, wenn sie das Geld nicht

aufbringen konnten, dafür einen Tag Gemeinarbeit leisten.109 Wie unzureichend der Schulbesuch trotz aller Strafandrohungen 1818 selbst in Berlin noch war, wurde an anderer Stelle gesagt.110 Sicher ist aber auch, daß der Schulbesuch auf dem Lande, besonders in den nördlichen Territorialstaaten, noch schlechter war. So wundert es nicht, wenn selbst Besitzer gewerblicher Betriebe geringere Kenntnisse hatten als der Volksschulstoff vorsah.111 Unter Berücksichtigung der realen Ergebnisse des Volksschulunterrichts wurde die Pflicht zum Besuch der Sonntagsschule und damit zur Wiederholung des Lehrstoffs wiederholt formuliert und blieb bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen. 112 Welche Erfolge erzielte die Volksschule des 19. Jahrhunderts bei der Vermittlung des Lehrstoffs? Noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wandelte sich die preußische Volksschule zur Staatserziehungsanstalt, die unter neuer Verwaltung (1817) mehr und mehr die vom Staat gesehene Hauptaufgabe, die Erziehung zu gehorsamen Staatsbürgern, zu erfüllen hatte. Auch in anderen deutschen Territorialstaaten verlief die Volksschulentwicklung ähnlich. Überlegungen, Pläne, Anordnungen führten zu keinen Fortschritten. Die Volksschule reagierte weder auf die großartigen Erfolge, die die Naturwissenschaften seit 1800 erzielt hatten, noch spiegelten sich die Veränderungen in der gewerblichen und industriellen Produktion 113 in der Mehrzahl der Volksschulen wider. Um die Situation in den dreißiger Jahren zu zeigen, sollen Beispiele aus dem Großherzogtum Hessen gewählt werden. Auch hier wurde das Ziel der Erziehung durch zwei Hauptfaktoren geprägt, „die Sitte und die Religion, aus beiden folgt die echte Sittlichkeit als Resultat... Zucht, Ehrfurcht vor der Autorität, Pietät gegen alles Heilige und völliger Gehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit sind die Momente, worauf die Sitte zunächst zu gründen ist". 114 Auf dieser Basis trat die Regierung jenen Lehrern entgegen, die die „weltbürgerliche und gewerbliche Seite" 115 des Schülers herausbilden wollten. Ihnen wurde bedeutet, daß die „Religion" . . . „als die Grundlage der Volksschule betrachtet werden" müsse und daß „ . . . dem religiösen Zwecke der Schule . . . jeder andere Zweck untergeordnet" 116 sei. So gehörten Naturgeschichte und Naturlehre nur zu den „bedingt nothwendigen Lehrgegenständen" 117 , und das in jenen Jahren, in denen in Deutschland die Eisenbahnen zu fahren begannen118, die Zahl der Fabriken zunahm119 und die „Anwendung der Mechanik, Chemie usw., kurz der Naturwissenschaften . . . überall bestimmend" 120 wurde. Als Begründung für diese regressive Haltung wurde von der hessischen Oberschulbehörde gesagt: „Wollte man . . . Naturlehre, Naturgeschichte . . . durchlehren, . . . der Luxus ungehörigen Wissens würde Oberflächlichkeit und Vielwisserei, Eitelkeit und Dünkel schulmäßig fördern; es würde dadurch . . . der freie Aufschwung des Geistes gehemmt, und die Sphäre des bürgerlichen Seyns und Wirkens überschritten" 121 Daß in Sachsen die Verhältnisse nicht anders waren, konnte aus der Analyse eines in Sachsen viel verwendeten Lehrbuches abgeleitet werden.122 Aber auch mit dem neuen Schulgesetz von 1835 wurde viel altes konserviert. Die Neuerungen lagen vor allem auf schulorganisatorischem Gebiet (Einführung von Schulvorständen, Zurückdrängung der Geistlichkeit).123 Dem Schulneubau setzten die Rittergutsbesitzer in Sachsen, wie in anderen deutschen Staaten, großen Widerstand entgegen.124 So wurden zwischen 1800 und 1835 nur 32 Schulen gebaut.125 Gemessen an der Zahl der in Sachsen um 1835 schon vorhandenen Fabriken, nämlich rund 190126, war das sehr wenig. Erst in den Jahren nach 1843 nahm der Schulbau erheblich zu.127 Eine spürbare Besserung trat jedoch erst nach 1873 ein.128 Schon vor der Revolution von 1848 waren die staatlichen Entscheidungen extrem konservativ. Dje regressive Haltung ließ keine Anpassung des Volksschulunterrichts an die neuen gesellschaftlichen Bedingungen zu. Die aus dem produktionsbedingten Komplex kommenden Anforderungen verlangten noch keine besser ausgebildeten Volksschüler. Bestehende Bedürfnisse wurden mit Hilfe der Frauenarbeit, der Kinderarbeit und den damit verbundenen Fabrikschulen gelöst. Nach der Revolution schlugen die konservativen Haltungen in extrem reaktionäre 485

109 Ebenda, S. 78. 110 Grumbach, H., 1898, S. 7. 111 Goldschmidt, F. und P., 1881, S. 35. 112 Menzel, K. A., 1833, S. 78. 113 Grundriß der deutschen Geschichte, 1979, S. 199 ff. 114 Linde, J. T. B., 1839, S. 5 f. 115 Ebenda, S. 6. 116 Ebenda, S. 9. 117 Linde, J. T. B., 1839, S. 14. 118 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 231 ff. 119 Kuczynski, J„ 1961, S. 158. 120 MEW, Bd. 23, 1974, S. 485. 121 Linde, J. T. B„ 1839, S. 24. 122 Volksschulenfreund, 1829, S. 76 ff. 123 Hoffmann, 1. A. L., 1832, S. 70, Anm. 1. 124 Richter, }., 1930, S. 621; Landtagsakten 1836/1837, 3 Abt., III, S. 265 f. 125 Richter, J., 1930, S. 621. 126 Forberger, R., Bd. 1, 1. Halbbd., 1982, S. 479. 127 Ramming, K., 1913. 128 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, 1873, Verordnung vom 3. April 1873, S. 258.

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214

Titelblatt einer Verfügung Friedrich Wilhelm I.

129 130 131 132 133 134

135 136 137 138 139 140 141

Müller, C., 1914, S. 195 f. Maß, Th., 1905, S.1122f. Ebenda. Müller, C„ 1914, S. 153. Ebenda, S. 158. ZStA Merseburg, Geheimes Zivilkabinett, 2.2.1., Nr. 22176, Bl. 52. Ebenda. Ebenda, Bl. 75. Schneider, K./Bremen, £., 1887, S. 292. Sächsische Schulzeitung, 1866, S. 197, 215. Heman, F., 1911, S. 385. ZStA Merseburg, Rep. 120, BB, VII, 3, 1, Bd. 2, Bl. 202 f. Ebenda.

um. Der preußische König bezeichnete 1849 in einer Rede 1 2 9 das durch Unterricht in den Realien vermittelte Wissen als „Afterbildung" und „irreligiöse Massenweisheit", das zu einer zu fürchtenden „modernen frivolen Weltweisheit" führe. Unter Berücksichtigung dieser Weg Weisung erscheinen die drei preußischen Regulative aus dem Jahre 1854 1 3 0 als logische Fortführung der reaktionären Entwicklung zu ihrem Höhepunkt. Vaterlands- und Naturkunde durften dort, wo die Verhältnisse es gestatteten, mit drei Stunden in der Woche unterrichtet werden. 131 Doch nicht nur der Inhalt des Unterrichts war unzureichend, oft waren, wenn über 200 Schüler auf einen Lehrer kamen 132 , die Lehrer überfordert. Ihre Wirksamkeit wurde zusätzlich durch die vielen die Schule nicht besuchenden Kinder (20 %) 1 3 3 gemindert. In die starre Haltung der preußischen Regierung den Volksschulen gegenüber kam erst in den sechziger Jahren Bewegung. 1865 forderte das Haus der Abgeordneten die Königlische Staatsregierung auf, die äußeren Verhältnisse der Volksschule gesetzlich zu regeln. 134 Die Vorlage des Entwurfs erfolgte 1867. Der überarbeitete Entwurf wurde 1868 dem König vom zuständigen Staatsministerium zugestellt, dann, 1869, in den Landtag eingebracht. Eine erneute Beratung wurde für 1871 angekündigt, und schließlich bewirkten 1872 reaktionäre Kräfte, daß wiederum Abstand von seiner Behandlung genommen wurde. Welche Forderungen enthielten diese Entwürfe, die sich in fast einem Jahrzehnt nicht durchsetzen ließen? Dazu gehörte im Paragraph 1 die Forderung, daß der Lehrplan Unterricht in Geschichte, Erdbeschreibung und Naturkunde und Übungen im für das bürgerliche Leben notwendigen elementaren Rechnen, Messen und Zeichnen enthalten müsse. Auch der Hinweis auf geordnete Leibesübungen der Jungen war neu. Außerdem hieß es im Paragraph 3: „Soweit es die Mi ttel der Gemeinde gestatten und ein Bedürfniß dazu vorhanden ist, sind mehrklassige Volksschulen mit einem erweiterten Lehrplan einzurichten, nach welchem die deutsche Sprache, die Geschichte, die Erdbeschreibung und die Naturkunde selbständige Unterrichtsgegenstände bilden, der Unterricht in Zeichnen, Rechnen und in der Geometrie vorzugsweise die Bedürfnisse des gewerblichen Lebens zu berücksichtigen hat. . . " . 1 3 s Noch deutlicher wurde in den „Motiven" zu diesem Entwurf hervorgehoben, daß in Städten und größeren Dörfern ein „im Allgemeinen erforderlich gewordenes größeres Bildungsbedürfniß der Bevölkerung zu befriedigen" sei. 136 Durch einen erweiterten Lehrplan wurden die Volksschulen an die wenigen vorhandenen Bürger-, Mittel- oder Rektorschulen herangeführt. Der Druck der bourgeoisen Kräfte, der der gesellschaftlichen Notwendigkeit nach umfassender Ausbildung der Volksschüler entsprang, konnte zwar in den sechziger Jahren das neue Volksschulgesetz nicht mehr durchsetzen. Er führte aber zu Beginn der siebziger Jahre zur Aufhebung der drei Regulative. Weiterhin wurden jedoch „Herz und Sinn der Schüler mit Liebe zum König und mit Achtung vor den Gesetzen und Einrichtungen des Vaterlandes erfüllt". 137 Daß in Sachsen die Verhältnisse ähnlich wie in Preußen waren, geht aus einer Forderung aus dem Jahre 1866 in der Sächsischen Schulzeitung hervor, 138 die auf Kosten des Religionsunterrichts Platz für Physik, Chemie und Zeichnen schaffen wollte, aber auch in den folgenden Jahren noch unerfüllt blieb. Erst 1873 traten in Sachsen wesentliche Veränderungen ein. 139 Bei der Darstellung der Volksschulausbildung müssen die vielen Kinder erwähnt werden, die, in Fabriken beschäftigt, kaum Zeit fanden, die elementarsten Kenntnisse zu erwerben. Besonders seit Beginn der Industriellen Revolution wurden billige ungelernte Arbeiter in großer Zahl gebraucht. Die Kinderarbeit, die mit der Erfüllung der Schulpflicht nicht zu vereinbaren war, wurde in zahlreichen Fabriken zum Regelfall. So sahen sich die Territorialregierungen veranlaßt, Festlegungen „über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken" 1 4 0 zu treffen. Der Inhalt des entsprechenden Regulativs der preußischen Regierung von 1839 1 4 1 soll hier zusammengefaßt werden: Regelmäßig dürfen nur Kinder mit dreijährigem Schulbesuch arbeiten, frühestens ab neun Jahre. Sie müssen nachweisen, daß sie lesen können und „einen Anfang im Schreiben gemacht" haben. Ausnahmen sind dort erlaubt, „wo die Fabrikherren durch Errichtung und Unterhaltung von Fabrikschulen den Unterrricht der jungen Arbeiter sichern". Da in den Fabriken „die Wahl der Unterrichtsstunden den Betrieb derselben so wenig als möglich störe", die Kinder 486

und Jugendlichen aber zehn Stunden am Tage arbeiteten (zwischen, fünf und 21 Uhr), konnte der Unterricht oft erst nach 21 Uhr stattfinden (vgl. 2.2.9.). Es bedarf keines Kommentars, zu welchen Ergebnissen die Fabrikschulen geführt haben. Mit der sich dennoch durchsetzenden Erkenntnis von der Bedeutung allgemeiner und fachlicher Bildung besonders für die industrielle Entwicklung wurden aus vielen Sonntagsschulen allgemeine Fortbildungsschulen, deren Hauptaufgaben aber weiterhin in der Förderung der Religiosität und der Wiederholung des Volksschulstoffes bestanden. Seit den dreißiger beziehungsweise vierziger Jahren stellten sich einzelne Fortbildungsschulen daneben das Ziel, die Jugendlichen über verschiedene Gegenstände ihres Berufs zu belehren. 142 Auch die staatsbürgerliche Erziehung spielte eine Rolle. Die wenigen Stunden der Fortbildungsschule wurden sonntags oder an einem Abend in der Woche abgehalten, allerdings regelmäßiger und genauer kontrolliert als bei der Sonntagsschule. Wie weit die Fortbildungsschulen um die Mitte des Jahrhunderts noch von einer berufsvorbereitenden Ausbildung entfernt waren, geht aus der preußischen Allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 hervor. Danach hatte die Ortspolizeibehörde darauf zu achten, daß den Lehrlingen, die des Schul- und Religionsunterrichts noch bedürfen, Zeit dazu gelassen wird. 143 Diese Aufgabe zu erfüllen, wurde in der Gewerbeordnung von 1869 den nach den Landesgesetzen zuständigen Behörden übertragen. Als wesentliche Neuerung wurde eingeräumt, daß Lehrlinge und Gesellen bis zu 18 Jahren durch Ortsstatut zum Besuch einer Fortbildungsschule verpflichtet werden könnten. 144 Dadurch kam es zwar noch nicht zu einer allgemeinen Berufsschulpflicht, sie wurde aber in den Mittelpunkt zukünftiger Diskussionen gerückt. Allerdings entstand bereits 1844 die erste Werkschule in Deutschland, jener besondere Fortbildungsschultyp, der es sich zur Aufgabe machte, Facharbeiter in die Lage zu versetzen, ihre praktischen Kenntnisse in geeigneter Weise durch die Theorie zu unterstützen. 145 Dieser ersten Gründung sollten jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lediglich 16 weitere folgen. 146 Erst nach der Jahrhundertwende wuchs ihre Zahl schneller, und in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts existierten in allen Industriezweigen Werkschulen. Die Ausbildungszeit betrug in der Regel drei Jahre 147 , die Zahl der Wochenstunden lag zwischen vier und acht. 148 Den Sonntagsunterricht, wie er in dfen kommunalen Fortbildungsschulen bis in das 20. Jahrhundert hinein erteilt wurde, kannten die Werkschulen im allgemeinen nicht. Im deutschen Volksschulwesen kam es im Verlauf des 19. Jahrhunderts kaum zu einer inhaltlichen Erweiterung des Lehrstoffes, obwohl dieser Schultyp für die unmittelbaren Produzenten in allen Teilen der materiellen Produktion die entscheidende schulische Ausbildung vermittelte 149 und auch beachtliche Teile der Leiter der Produktion die Volksschule besucht hatten. Wie im 18. Jahrhundert konzentrierte sich der Unterricht auf Religion, Lesen, Schreiben und etwas Rechnen. Naturwissenschaftliche Fächer wurden nur in den städtischen Bürger-, Mittel- oder Rektorschulen gelehrt, die nach einem erweiterten Volksschullehrplan arbeiteten. Progressive Ansätze in der Lehrerausbildung wurden dagegen in der Mitte des Jahrhunderts rückgängig gemacht. Die soziale Stellung der Lehrer blieb niedrig.

Im 19. Jahrhundert wurden zwei Schulgruppen als höhere Schulen bezeichnet, die Gymnasien und die Realschulen. Jene Lateinschulen, deren Schüler nach bestandener Reifeprüfung (ab 1788) an Universitäten studieren durften, wurden seit 1812 Gymnasien genannt. 150 Die Lehrfächer dieser Schulen veränderten sich bis 1870 kaum. Lediglich in der Stundenverteilung gab es, wie Tabelle 85 zeigt, geringfügige Verschiebungen, die in der Praxis aber sehr langsam realisiert wurden. Auch in so bekannten Gymnasien wie in Grimma151 und Zwickau152 wurden beispielsweise Mathematiklehrer, die meist auch Physik zu unterrichten hatten, erst nach 1825 eingestellt. Die Stundenverteilung zeigt die starke Benachteiligung der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Fächer. Der Wunsch nach einem naturwissenschaftlichen Studium wurde an diesen Schulen nur selten geweckt. Eine Auswertung der Berufswünsche der Abiturienten der Jahrgänge 1860,1865 und 1870 153 zeigt, daß nur ein 487

142 143 144 145 146 147 148 149

Simon, O., 1903, S. 3 f. Derselbe, 1902, S. 192. Ebenda, S. 426. Ebenda, S. 23. Dehen, P., 1928, S. 46. Ebenda. Ebenda, S. 47. Geschichte der Erziehung, 1973, S. 363.

7.3.2. Höhere Schulen

150 151 152 153

Brockhaus, Bd. 8, 1884, S. 660. Oemm, A„ 1900, S. 22. Fabian, E., 1900, S. 22. Lexis, W., Bd. 2,1904, S. 187.

215 Krcuzschule in Dresden - Gymnasium (1864/65 erbaut)

sehr geringer Teil mathematisch-naturwissenschaftliche Studienfächer wählte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß von diesen wenigen Studenten der größere Teil das höhere Lehramt anstrebte (vgl. Tab. 86). Tabelle 85 Gesamt-Wochenstundenzahl für die 9 Klassen Sexta bis Oberprima entsprechend des Lehrplans von 1837,1856 und 1882

Lehrgegenstand Latein Griechisch Deutsch Französisch Rechnen u. Mathematik Religion Physik Naturbeschr./Naturkunde Gcsch./Geographic Phil. Propädeutik Zeichnen Schönschreiben Gesang

Lehrplan 1837

Lehrplan 1856

Lehrplan 1882

86 42 22 12 33 18 6 10 24 4 6 7 10

86 42 20 17 32 20 6 8 25

77 40 21 21 34 19 8 10 28

-

-

6 6

6 4

280

268

-

-

268

Quelle: Zusammenstellung unter Verwendung von Angaben in: Kubier, O., Wiese's Sammlung der Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulcn in Preußen, Berlin 1886, S. 65,67 und 117.

Tabelle 86 Anteil der Abiturienten mit mathematischnaturwissenschaftlichen Studienwünschen von 1860 bis 1870

154 In Preußen gab es 1820 96 Gymnasien, 1850 118 Gymnasien, 1860 139 Gymnasien und mit den Schulen in den neuen Provinzen 204 Gymnasien.

Jahr

Anzahl der befragten Abiturienten

davon mit math.-naturwiss. Studicnwünschcn in %

1860 1865 1870

1 794 1 981 3 221

4,2 5,0 3,9

Quelle: Lexis, W., Das Untcrrichtswesen im Deutschen Reich, Bd. 2, Berlin 1904, S. 187.

Die Zahl der Gymnasien und die ihrer Schüler stieg in Deutschland während des gesamten 19. Jahrhunderts an. 154 Dabei veränderte sich der Anteil der an den Naturwissenschaften interessierten Schüler wenig. Da 1860 noch 53 % der Absolventen der Gymnasien Theologie, Jura und Staatswissenschaften studierten und in den folgenden Jahrzehnten überwiegend als Staatsbeamte tätig waren, konnte von diesen auch im letzten Drittel des Jahrhunderts noch keine durchgreifende Lösung des Gymnasialproblems erwartet werden. Dieses bestand im Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung einerseits und der vor allem auf Kenntnis von alten Sprachen gerichteten humanistisch orientierten Gymnasialausbildung andererseits. Die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie und im Verkehrswesen überschritt in immer neuen Bereichen jene Stufe, bis zu der Handwerker und Kaufleute Fabriken leiten konnten.

Die Produktion von Maschinen hatte schon in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts begonnen.155 Es kam zu wesentlichen Veränderungen im Verkehr156, im Nachrichtenwesen157, zur Entwicklung neuer Antriebsmaschinen158, zur Entstehung der chemischen und elektrochemischen Industrie159 und vielem anderen mehr. Dadurch wurde auch in Deutschland eine gründlichere mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung unumgänglich. Zu den Faktoren, die gegen neue Ausbildungsformen und -inhalte wirkten, gehörte die vor allem in Preußen vertretene Auffassung, daß Staatsbeamte, Mediziner und Theologen nur an den Universitäten ausgebildet werden könnten, weil nur dort die notwendige humanistische Bildung möglich sei: Die Vorbereitung darauf dürfe nur an den Gymnasien erfolgen, das heißt, nur dort könnten die Abiturienten die Berechtigung zum Universitätsbesuch erwerben. Der an den Gymnasien vermittelte „Neuhumanismus war . . . durchaus aristokratisch, die Bildung, die er bringen wollte, war keine allgemeine Volksbildung, sondern das ausschließliche Eigentum geistig bevorrechteter Menschen, sie war keine soziale sondern eine individuelle".160 So waren bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die Abiturienten, die deutsche Gymnasien verließen, nicht darauf vorbereitet, Aufgaben in Naturwissenschaft und Industrie zu übernehmen. Die Gymnasien, „durch zahlreiche Abhängigkeiten vom Staatsapparat und von halbfeudalen Rudimenten in den Produktionsverhältnissen" 161 in ihrer Entwicklung gehemmt, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Positionen der herrschenden Klasse zu sichern. Sie blieben die alleinige Ausbildungsstätte für die gesellschaftliche Führungsschicht, indem „Geist" und Lehrstoff möglichst unverändert beibehalten wurden. Von den Gymnasien konnten keine Impulse für naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt ausgehen. Die Zahl der in Wissenschaft und Produktion zu lösenden Probleme wuchs jedoch. Sie verdichteten sich zu einer gesellschaftlichen Aufgabe, durch die die Schule immer stärker bedrängt wurde. In den verschiedensten Städten vor allem Mittel-, Süd- und Westdeutschlands waren bis 1806 Realschulen entstanden, die in den folgenden Jahrzehnten eine unterschiedliche Entwicklung nahmen. Unter den Realschulen gab es solche, in denen die achtjährige Schulzeit um ein oder zwei Jahre erweitert wurde, um Realien und Mathematik verstärkt zu behandeln. Sie ähnelten den Bürgerschulen mit verstärktem Mathematik- und Französischunterricht beziehungsweise den Höheren Bürgerschulen mit neunjährigem Lehrgang. Der Besuch dieser Realschule brachte den Schülern zwar erweiterte Kenntnisse in den Realien, aber keinerlei Rechte. Die Ausbildung auch in diesen Fächern erreichte keinen hohen Stand, weil der in den vorangegangenen Volksschuljahren vermittelte Lehrstoff (vgl. 7.3.1.) kaum die Grundlage für eine weiterführende Ausbildung bot. Ausreichende staatliche bzw. kommunale Unterstützung fanden die Realschulen im allgemeinen nicht. Deshalb lösten sich die lateinlosen Realschulen in Preußen in der Mitte des Jahrhunderts entweder auf oder führten Lateinunterricht ein (44 Wochenstunden in sechs Klassenstufen). In Württemberg dagegen gab es lateinlose Realschulen noch längere Zeit. 162 Als in Stuttgart 1867 in einer Schule mit verstärktem Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften 91 Stunden Latein eingeführt wurden, begann die Entwicklung der Realgymnasien.163 Nach intensiven und langen Bemühungen der Vertreter der Realschulbewegung erhielten 1832 zunächst in Preußen die Abiturienten der sechsjährigen Realschule, der vier Volksschuljahre vorausgingen, das Recht, sich zum einjährig-freiwilligen Militärdienst zu melden, das Post-, Forst- oder Baufach zu studieren oder sich für den Staats- und Verwaltungsdienst ausbilden zu lassen, um in den Provinzialbehörden zu arbeiten.164 Bald danach wurde unter dem Einfluß der einseitig überhöhten Bildungsabsichten des Staates von den Realschul-Absolventen, die in den Staatsdienst eintreten wollten, die Kenntnis der lateinischen Sprache verlangt, die nun auch an Realschulen über vier Jahre bei vier Wochenstunden vermittelt werden mußte. 165 Diese Schulen mit Lateinunterricht wurden wie schon vorher in Stuttgart Realgymnasien genannt. 166 In den Jahren nach der Revolution von 1848 wirkte die politische Reaktion 489

155 Brentjes, BJRichter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 246 ff. 156 Feldhaus, F. A4., Bd. 1, 1924, S. 254, 256. 157 Neuburger, A., o. J., S. 153. 158 Müller, H.-H./Rook, H.-J., 1980, S. 100; Feldhaus, F. M., Bd. 1, 1924, S. 153. 159 Feldhaus, F. M., 1924, S. 152; Müller, H.-H./Rook, H.-J., 1980, S. 226; Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 216. 160 Ziegler, Th., 1895, S. 208 f. 161 Lärmer, K„ 1979, S. 22. 162 Ziegler, Th., 1895, S. 340. 163 164 165 166

Ebenda. Heman, F., 1911, S. 403. Ebenda. Ebenda.

216 Annenrealschule in Dresden (1868 bis 1870 erbaut)

217 Realschule in Halberstadt (1835)

167 Vgl. hierzu auch die offizielle Haltung zu den Realien, dargestellt an Beispielen aus dem Volksschulwesen (7.3.1.). 168 Heman, F., 1911, S. 403. 169 Kubier, C., 1886, S. 70 f. 170 Rethwisch, C„ 1893, S. 50. 171 Ein Jahrhundert Friedrich- Werdersche Oberrealschule zu Berlin, 1924, S. 53. 172 Lautenschläger, K.-H., 1963, S. 27 ff.; Rethwisch, C„ 1893, S. 50.

bis weit in das Realschulwesen hinein.167 Den Realschulen wurden die meisten Berechtigungen entzogen.168 Seit 1859 wurden wieder Fortschritte in der Realschulentwicklung erzielt. Die neunjährigen Realschulen, an denen es Lateinunterricht gab, wurden nun als Schulen I. Ordnung bezeichnet, die Schulen ohne Lateinunterricht als Schulen II. Ordnung. Ihre Zahl ging wegen der nicht zu erringenden Berechtigungen schnell zurück. Die Schulen I. Ordnung bekamen für ihre neun Klassen den aus Tabelle 87 ersichtlichen Stundenplan. Bemerkenswert ist der Hinweis zum Lehrplan (1859) für die Realschule I. Ordnung: „ . . . die Stundenzahl für Naturwissenschaften kann erhöht werden, wenn Charakter der Industrie sowie die Natur und Bodenbeschaffenheit einer Gegend begründeten Anlaß geben".169 Zu den Schulen, in denen der Chemieunterricht stärker betont wurde, gehörte die Friedrich-Werdersche Oberrealschule in Berlin, die aus der Berliner Gewerbeschule hervorgegangen war. Sie führte ebenso wie später die Realschulen I. Ordnung zu allen höheren Berufsfächern, die kein vollständiges Universitätsstudium erforderten. 170 Dort hatten die Schüler praktischen Laborunterricht. Auch technologische Exkursionen fanden häufig statt. 171 Unmittelbar nach Einführung des neues Lehrplanes wurden vor allem in der Rheinprovinz und in den Großstädten anderer preußischer Provinzen praktische Schülerübungen als Bestandteil des Chemieunterrichts durchgeführt.172 Das zeigt, daß die Realschulen begannen, dem produktionsbezogenen Bedürfniskomplex, den Bedürfnissen der Industrie, zu entsprechen. Conrad Rethwisch kam in seiner Analyse der Stellungnahmen der deutschen Staatsregierungen von 1830 zum Realschulwesen zu folgenden Ergebnissen: Die Regierungen hätten sich in der Vergangenheit 490

Realschulenl.-Ordng. Realgym. (ab 1859) Religion Deutsch Latein Französisch Englisch Geograph./Gesch. Naturwiss. Mathem./Rechnen Schreiben Zeichnen Griechisch

20 29 44 34 20 30 34 47 7 20

19 27 54 34 20 30 30! 44 4 18

Tabelle 87 Gesamt-Wochenstundenzahl für alle 5 Klassen der höheren Schulen Preußens um 1860

Gymnasium 20 20 86 17 25 14" 32 6 6 42

a

12 Stunden Naturbeschreibung, 12 Stunden Physik, 6 Stunden Chemie 8 Stunden Naturkunde, 6 Stunden Physik Quelle: Zusammenstellung unter Verwendung von Angaben in: Kubier, O., Wiese's Sammlung der Verordnungen und Gesetze für die höheren Schulen in Preußen, Berlin 1886, S. 70,126. b

auf die unmittelbar notwendige Errichtung von Fachschulen beschränkt. Nach der Julirevolution gingen sie „von der Erwägung aus, daß der mit erneuter Gefährlichkeit von Frankreich her sich verbreitende politische Ansteckungsstoff am besten durch eine Förderung der wirtschaftlichen Wohlfahrt unwirksam'gemacht werden möchte. . . . und so kam man nun auch den lebhaften Wünschen des Bürgertums nach kräftigerer Unterstützung der ihm unentbehrlichen neueren Bildungsanstalten eifriger entgegen." 173 In Bayern wurden Gewerbeschulen errichtet, in Württemberg zusätzlich viele Lateinschulen in Realschulen umgewandelt. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Volkswirtschaft und einer angemessenen Ausbildung bestätigt auch Ludwig Wiese. Er bemerkte zu den Aussprachen zur Unterrichts- und Prüfungsordnung mit dem Kultusminister Theobald Friedrich Alfred von Bethmann-Hollweg 1858/59: „Man verständigte sich darüber, daß nach der Entwicklung der Wissenschaften und der Industrie, sowie nach vielen Anforderungen des bürgerlichen Lebens ein unabweisliches Bedürfnis vorhanden sei, . . . auch solche Schulen als berechtigt anzuerkennen, welche nicht den alten Sprachen, sondern vielmehr der Mathematik und den Naturwissenschaften eine zentrale Bedeutung im Kreise ihrer Unterrichtsgegenstände gewähren und unmittelbar für praktische Berufsarten vorbereiten." 174 Die nun eingetretene schnelle Entwicklung des Realschulwesens führte bis 1873 in Preußen zu 179 Realschulen neben 247 Schulen gymnasialer Richtung. 175 Dieser Prozeß vollzog sich in Deutschland nicht einheitlich. Während in Preußen trotz des Rückganges 1864 noch 16 lateinlose Realschulen II. Ordnung bestanden, wurde seit 1860 in allen sächsischen Realschulen die lateinische Sprache gelehrt. In Kurhessen, Baden, Württemberg blieben die lateinlosen Realschulen bestehen. In Preußen waren die Realschulen I. Ordnung 1859 den Gymnasien als ergänzende Anstalten zur Seite gestellt worden. Sie hatten alle Berechtigungen mit Ausnahme des Rechts zum Universitätsstudium erhalten. Ihrem seit 1868 verstärkt geführten Kampf um volle Gleichberechtigung wurde 1870 mit Einschränkung entsprochen. Durch die Verfügung vom 7. Dezember 1870 erhielten die Abiturienten der Realschulen I. Ordnung das Recht, neue Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften an den Universitäten 176 und alle Disziplinen an den Technischen Hochschulen zu studieren. Vom Medizin- und Theologiestudium und vom Studium für den höheren Staatsdienst blieben sie dagegen bis 1900 ausgeschlossen. 1871 gab es in Deutschland 1071 höhere Schulen mit 177 000 Schülern. Davon entfielen auf Preußen 400 höhere Schulen mit 97 000 Schülern. Von den 9 943 611 Kindern und Jugendlichen in Preußen zwischen fünf und 25 Jahren besuchten 1871 4 127 417 allgemeinbildende Schulen, 16 903 Fachschulen und 12 922 Hochschulen. 177 173 174 175 176 177

491

Rethwisch, C., 1893, S. 51 f. Ziegler, Th., 1895, S. 338 f. Heman, F., 1911, S. 404 f. Kubier, O., 1886, S. 70. Leschinsky, A., 1976, S. 484.

7.3.3.

Ausbildung an den polytechnischen Schulen 7.3.3.1. Gründung polytechnischer Schulen178 in Deutschland

178 Der Terminus „Polytechnische Schule" bezeichnet verallgemeinernd jene Bildungseinrichtungen, die sich zur technischen Hochschule entwickelten. Im gleichen Sinn findet der Begriff auch in der Fachliteratur des 19. Jahrhunderts Verwendung. Die Benutzung dieses Terminus erscheint um so berechtigter, als er sich auch in der Bezeichnung der einzelnen Bildungseinrichtungen durchgesetzt hatte. 179 Lärmer, K., 1979, S. 13 f. 180 Jonas, W., 1974, S. 273. 181 Buchheim, G., 1978, S. 113f.; Guntau, M„ 1978, S. 65 ff.; Schreier, W., 1978, S. 57 ff.;5irube, /., 1978, S. 39 ff.; Wußing, H., 1979, S. 55 ff.; Schreier, W., 1979, S. 125 ff.; Strube, /., 1979, S. 69 ff. 182 Sonnemann, R., 1979. 183 Es werden nur die polytechnischen Schulen in die Untersuchung einbezogen, die zum 1871 gegründeten Deutschen Reich gehörten. 184 Dyck, W. v., 1904, S. 9 it.-,Zöller, E., 1891, S. 56. 185 Goldschmidt, F./Goldschmidt, P.; 1881, S. 141.

7.3.3.2. Entwicklung von Organisation und Inhalt der Ausbildung an den polytechnischen Schulen

186 Auf die Entwicklung der 1799 gegründeten Berliner Bauakademie wird nicht eingegangen. Die Technische Hochschule BerlinCharlottenburg entstand 1879 aus der Vereinigung des Königlichen

Innerhalb von 15 Jahren erfolgte in Deutschand die Gründung jener acht naturwissenschaftlich-technischen Bildungseinrichtungen, die im Verlaufe eines Jahrhunderts zu technischen Hochschulen wurden (vgl. 2.2.9.; 2.3.9.). Die Koinzidenz dieses Aufstiegs mit der Entfaltung und Vollendung der Industriellen Revolution 179 weist im besonderen auf die Dialektik zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und Elementen des Uberbaus hin, die in der Zeit der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse eine qualitativ neue Form gewannen. Ein direkter Zugang zur wechselseitigen Beeinflussung im Verhältnis von Inhalt und Form gesellschaftlicher Ausbildung zur revolutionären Umwälzung des Gesamtsystems der Produktivkräfte ergibt sich, wenn die Industrielle Revolution nicht ausschließlich als der zur eigentlichen materiell-technischen Basis des Kapitalismus führende Prozeß begriffen wird, sondern wenn sie als ein „umfassender, alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens berührender sozialer Umwälzungsprozeß" 180 aufgefaßt wird. In diesem Zusammenhang gewinnt nicht nur die Bereitstellung neuen Wissens durch die beschleunigte Entwicklung der Naturwissenschaften und die Entstehung spezieller Technikwissenschaften eine entscheidende Bedeutung 181 , ebenso tritt das Problem der Bewahrung und Weitergabe dieses Wissens durch geeignete Ausbildungsinstitutionen in den Vordergrund. Das Bemühen um die Lösung dieses Problems manifestiert sich bereits zu Beginn der Industriellen Revolution in Deutschland, wie die Reformierung der Universitäten (vgl. 7.3.4.), aber auch, wenngleich vorerst auf entschieden niedrigerem Wissenschafts- und Forschungsniveau, das Entstehen der polytechnischen Schulen zeigt.182 Die Gründung jener naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungsstätten, aus denen die ersten technischen Hochschulen Deutschlands 183 hervorgingen, erfolgte184: 1821 in Berlin (Königliches Gewerbeinstitut) 1825 in Karlsruhe (Polytechnische Schule) 1827 in München (Polytechnische Zentralschule) 1828 in Dresden (Technische Bildungsanstalt) 1829 in Stuttgart (Höhere Gewerbeschule) 1831 in Hannover (Höhere Gewerbeschule) 1835 in Braunschweig (Reorganisation des 1745 gegründeten Collegium Carolinum im Sinne einer polytechnischen Schule) 1836 in Darmstadt (Höhere Gewerbeschule). Die Errichtung solcher Schulen war Bestandteil einer nach den Befreiungskriegen einsetzenden liberalen Gewerbepolitik, die von fortschrittlichen Staatsbeamten getragen wurde. Ziel der Gründung der polytechnischen Schulen war die Hebung des Gewerbe- und Fabrikwesens durch eine verbesserte Ausbildung. Man hatte die Notwendigkeit erkannt, „im Interesse der vaterländischen Industrie Schulen einzurichten, in denen der künftige Gewerbetreibende eine den Anforderungen seines Berufs entsprechende höhere allgemeine Bildung erlangen könne". 185 Die polytechnischen Schulen verkörperten den neuen Typ der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungsstätte.

Mit der Durchsetzung der modernen Produktivkräfte und der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im nationalen Maßstab verloren die territorialen wirtschaftlichen Interessen, die bei der Gründung dieser Schulen ausschlaggebend waren, an Bedeutung. Auf wachsendem Niveau in der Organisation und im Inhalt der Ausbildung näherten sich die polytechnischen Schulen einander an. Einige Beispiele der Organisation polytechnischer Schulen unmittelbar nach ihrer Gründung lassen erkennen, wie weit diese von dem wenige Jahrzehnte später erreichten Status einer technischen Hochschule entfernt waren. 1821 wurde das Königliche Gewerbeinstitut in Berlin gegründet. 186 Der Initiator der Gründung war Peter Christian Wilhelm Beuth. 187 1821 hatten die Bewerber folgende Aufnahmebedingungen zu erfüllen: 188 Ein Alter von 12 bis 16 Jahren, inländische Geburt oder Wohnort des Vaters im Inlande und als hinreichende Qualifikation eine gute Handschrift, den fehlerfreien 492

Gebrauch der deutschen Sprache und Schrift, die Fähigkeit, mündlichen Vorträgen zu folgen und schließlich die Beherrschung des Einmaleins und der sogenannten vier Spezies. 1826 wurden die Anforderungen erhöht. Das Aufnahmealter wurde auf 18, in Ausnahmefällen auf 16 Jahre festgesetzt. Zu den oben genannten Voraussetzungen traten „ . . . gute sittliche Aufführung, hervorstechend natürliche Anlagen, Fassungskraft und praktische Anstelligkeit; Besitz der gewöhnlichen mechanischen Fertigkeiten in dem gewählten Gewerbe" hinzu.189 Die Schule nahm am 1. Oktober 1821 den Unterricht mit der unteren, am 1. Oktober 1822 mit der oberen Klasse auf. Die Ausbildung der ersten 13 Schüler wurde mit vier Lehrkräften begonnen. 1822 waren es bereits 43 Schüler und sieben Lehrer. 1845, als Beuth die Leitung der Schule abgab, betrug die Zahl der Schüler 101 und die der Lehrer elf. Gelehrt wurden in der unteren Klasse: Geometrie, geknüpft an Zeichnen mit Lineal und Zirkel, ohne Beweise (vier Wochenstunden); Rechnen, gemeine Arithmetik, Proportionalrechnung, Dezimal- und gemeine Brüche (vier Wochenstunden); Naturkunde, Physik und Chemie in gemeinschaftlichem Kursus, erstere bezogen auf Mechanik (vier Wochenstunden); Zeichnen und Linearzeichnen ohne Perspektive (sechs Wochenstunden); freies Handzeichnen nach Körpern (sechs Wochenstunden). Die obere Klasse teilte sich in zwei Halbjahreskurse. Im ersten Halbjahr wurden in den mathematischen Wissenschaften gegeben: Arithmetik, Algebra bis einschließlich Gleichungen 2. Grades, Geometrie mit Beweisen, Stereometrie, Perspektive ohne Rechnung (zehn Wochenstunden); im zweiten Halbjahr: Trigonometrie (zwei Wochenstunden); Statik, Mechanik, praktische Maschinenlehre ohne Beweise verbunden mit Technologie (acht Wochenstunden). Weitere Fächer waren im ersten Halbjahr die theoretische Chemie einschließlich der Kenntnis der Reagenzien und der gebräuchlichen Mittel der Analyse für die Arbeiten der Fabrikanten; im zweiten Halbjahr spezifische Kenntnisse in einzelnen Gewerben unter Berücksichtigung der Eigentümlichkeit des Gebrauchs ihrer Produkte; die Theorie der Fabrikation (vier Wochenstunden); Zeichnen, Maschinenzeichnen und freies Handzeichnen (acht Wochenstunden).190 Die Einrichtung eines chemischen Laboratoriums 1827 unterstreicht den hohen Stellenwert, den der chemische Unterricht an der Schule besaß. Der praktische Unterricht wurde den Schülern nach Abschluß des wissenschaftlichen Kursus in einer der Schule angeschlossenen mechanischen Werkstatt erteilt. Die Organisation des Königlichen Gewerbeinstituts fand bei der Gründung der Dresdener Technischen Bildungsanstalt Berücksichtigung.191 Im Unterrichtsprogramm der polytechnischen Schule in Karlsruhe wurden nach dem Vorbild der Pariser École Politechnique Mathematik und Naturwissenschaften besonders beachtet und nach dem Vorbild des 1815 gegründeten Polytechnischen Instituts in Wien die technischen Wissenschaften als Einheit gesehen und in Lehrgebäude untergliedert.192 Der Vorzug der Karlsruher Polytechnischen Schule bestand somit in der Lehre der technischen Disziplinen auf einer breiten mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlage. Auf diesem Wege wurde es möglich, die abgesteckten Grenzen unmittelbarer Anwendungszwecke, die in der ersten Entwicklungsphase der polytechnischen Schulen dominierten, zu überschreiten und die technischen Disziplinen in der Theorie zu erweitern. Die Lösung von einer empirisch fundierten Lehre der Technik machte zugleich die Forschung in den technischen Disziplinen möglich und notwendig.193 Die institutionelle Basis der polytechnischen Schulen sollte sich dabei in der Folgezeit als überaus geeignet erweisen. Die Ausbildungsstätte in Karlsruhe kann als Beispiel für die angestrebte prinzipielle Struktur der polytechnischen Schulen bis etwa zur Jahrhundertmitte betrachtet werden.194 Bedingt durch das Fehlen eines geeigneten Mittelschulwesens (Realschulen) wurde der polytechnischen Schule eine Vorschule vorangestellt, die die zum Eintritt in das Institut notwendigen Kenntnisse vermittelte. Die allgemeinen mathematischen Grundlagen für alle technischen Ausbildungszweige wurden in zwei mathematischen Klassen, die für alle Schüler unabhängig von ihrer Fachrichtung verbindlich waren, gegeben. Es schlössen sich die fünf Fachschulen des Instituts an: die Ingenieurschule, die Bauschule, die Höhere Gewerbeschule, die Handelsschule (1844 aufgelöst) und die Forstschule. Die Lehrkurse wurden auf fünf Ausbildungsjahre nach folgendem Muster aufgeteilt195: 493

Gewerbeinstituts und der Bauakademie. Die inhaltliche Orientierung des Gewerbeinstituts auf Natur- und Technikwissenschaften und ihre Anwendung in der Produktion, speziell im Maschinenbau, rechtfertigt in dieser kurzen Darstellung die Zurücksetzung der Bauakademie. 187 P. C. W. Beuth hatte bereits 1810 im Büro des Staatskanzlers K. A. v. Hardenberg gearbeitet. 1813 schloß sich Beuth dem Lützowschen Freikorps an. 1814 trat er als geheimer Oberfinanzrat in die Abteilung für Handel und Gewerbe im Finanzministerium ein. 1821 erfolgte seine Berufung zum Mitglied des preußischen Staatsrates. 1828 übernahm Beuth die Leitung der Ministerialabteilung für Gewerbe, Handel und Bauwesen. Dem Königlichen Gewerbeinstitut in Berlin stand Beuth seit seiner Gründung bis zu seiner Pensionierung 1845 als Direktor vor. 188 Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 2, S. 1048 f.; Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin, 1899, S. 75 f.; Zöller, E., 1891, S. 54; Auf Deutschlands hohen Schulen, 1900, S. 454. 189 Encyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 2, 1878, S. 1048. 190 Ebenda, S. 1049. 191 Klein, F., 1927, S. 6; Wußing, H., 1958, S. 647, 653 ff. 192 Zöller, E„ 1891, S. 59. 193 Buchheim, G., 1978, S. 1161. 194 Zöller, E., 1891, S. 60 f.; Lexis, W., 1904, S. 268; Holz, J., 1972, S. 18; Nebenius, C. F., 1833, S. 31, 133,163,199 f. 195 Nebenius, C. F., 1833, 199 f.

196 Ebenda, S. 197. 197 Ebenda, S. 198. 198 Holz, /., 1972, S. 18; Zöller, £., 1891, S. 68 f.; Lexis, W., 1904, S. 268 f. 199 Sonnemann, R., 1979. 200 Ebenda.

1. Ausbildungsjahr: Arithmetik, Algebra, Geometrie, ebene Trigonometrie, geometrisches Zeichnen. 2. Ausbildungsjahr: Niedere Analysis und höhere Gleichungen, Kurvenlehre, Trigonometrie (2. Kurs), Polygonometrie; darstellende Geometrie (1. Kurs), praktische Geometrie (1. Kurs), Elementarstatik (1. Kurs der mechanischen Wissenschaften). 3. Ausbildungsjahr: Höhere Analysis, Integral- und Differentialrechnung (1. Kurs), analytische Geometrie, darstellende Geometrie (2. Kurs); praktische Geometrie (2. Kurs), Elementarmechanik und Hydraulik (2. Kurs), allgemeiner Kurs der Baukunst. 4. Ausbildungsjahr: Integral- und Differentialrechnung (2. Kurs); praktische Geometrie (3. Kurs), höhere Mechanik; Maschinenkunde und Maschinenbau (1. Kurs), allgemeiner Kurs des Wasser- und Straßenbaus; Baukunst (Spezial-Kurs, Baustile). 5. Ausbildungsjahr: Höhere Geodäsie, Maschinenkunde und Maschinenbau (2. Kurs), Wasser- und Straßenbau (2. Kurs), Baukunst, Prachtbauten. Der Lehrkurs „Maschinenkunde und Maschinenbau" wies neben anderen auf die enge Verbindung der Entwicklupg der Polytechnischen Schule mit der Entfaltung der Industriellen Revolution hin. In dem zweijährigen Kurs (1832) wurden zum Beispiel behandelt: „Die Wassersäulenmaschinen, - Die Dampfmaschinen; Maschinen von niederem Druck, Wattische Maschinen von einfacher und doppelter Wirkung, ohne und mit abgespanntem Dampf.; Hochdruckmaschinen."196 Auf den zweijährigen Kursus „Maschinenkunde — Maschinenbau" wurde während eines weiteren Jahres ein „Uberblick des gesamten technischen Maschinenwesens" gegeben.197 Die Struktur der Schule veränderte sich innerhalb weniger Jahre. 1842 wurde eine dritte mathematische Klasse eröffnet. Der Ausbau des höheren Schulwesens, insbesondere des Realschulwesens, gestattete es, 1863 die allgemeinen Klassen aufzugeben. Als Kernstück des Instituts erwiesen sich, wie an anderen polytechnischen Schulen, die Ingenieurwissenschaften. Deutlich machten sich hier die gewachsenen Bildungsansprüche, die sich aus dem industriellen Sektor ergaben, bemerkbar. Auf Initiative des hervorragenden Hochschullehrers, Gelehrten und Wissenschaftsorganisators Ferdinand Redtenbacher, der dem Lehrkörper der Karlsruher Polytechnischen Schule seit 1841 angehörte und 1857 zu ihrem Direktor berufen wurde, hob man 1847 die höhere Gewerbeschule auf. An ihre Stelle traten eine mechanischtechnische (ab 1860 Maschinenbauschule) und eine chemisch-technische Schule.198 Die Reform der Karlsruher Polytechnischen Schule von 1847 reihte sich in einen allgemeinen, sich um die Jahrhundertmitte intensivierenden Reorganisationsprozeß ein, der alle polytechnischen Schulen erfaßte. Seine Ursachen waren komplexer Natur; sie hatten ihr gemeinsames Agens in dem nunmehr auf alle gesellschaftlichen Bereiche wirkenden Prozeß der Industriellen Revolution. „Eine verstärkt einsetzende Differenzierung zwischen Naturwissenschaften und Technikwissenschaften und innerhalb der beiden Wissenschaftsbereiche" wurde durch das Bemühen um eine wissenschaftliche Erfassung des Produktionsprozesses verursacht.199 Jetzt bildeten sich nicht nur eindeutig bestimmte Gegenstände der Technikwissenschaften in Abgrenzung von den Naturwissenschaften heraus, es entwickelten sich ebenso spezifische Methoden der technikwissenschaftlichen Forschung.200 Das zog Konsequenzen in Inhalt und Methodik der technischen Lehre nach sich und verlieh der technikwissenschaftlichen Forschung in den polytechnischen Schulen neue Impulse. Mit dem Erfassen der technischen Fächer auf höherem wissenschaftlichem Niveau war die Beibehaltung der Ausbildung niederer technischer Berufe nicht mehr vereinbar. An die Vorbildung der in die polytechnischen Schulen Eintretenden wurden erneut neue Maßstäbe gelegt. Die Vorschulen verschwanden. Zur Aufnahme in eine' polytechnische Schule berechtigte nun in der Regel der Abschluß einer Realschule, einer Gewerbeschule oder die Versetzung in die Obersecunda eines humanistischen Gymnasiums. Auch das Niveau der Allgemeinbildung der Absolventen polytechnischer Schulen mußte sich verändern, sollten sie führende Positionen in der Produktion oder im Staatsdienst übernehmen. Die berufliche Praxis konfrontierte sie mit Problemen, die mit naturwissenschaftlich-technischen Kenntnissen allein nicht zu 494

218 Chemisches Laboratorium des Polytechnikums Dresden (1874-1875 erbaut)

219 Hauptgebäude der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg (1878 bis 1884 erbaut)

lösen waren. Die Ansiedlung sprachlicher und musischer Fächer, die Ausweitung des naturwissenschaftlichen Unterrichts und schließlich die Gründung gesonderter Abteilungen201 für diese „bildenden" Fächer stand auch im Zeichen der angestrebten gesellschaftlichen Aufwertung der Ingenieure.202 Das gewachsene politische Bewußtsein der Bourgeoisie erfaßte mehr und mehr auch die Angehörigen der polytechnischen Schulen. An einzelnen von ihnen, wie in Wien und Dresden, beteiligten sich Mitglieder der Schule am bewaffneten Kampf während der revolutionären Ereignisse von 1848/49. An allen polytechnischen Schulen wurde in dieser Zeit von Studenten und Lehrern gegen restriktive Maßnahmen der Behörden, um die inhaltliche und strukturelle Verbesserung der Ausbildung und um die Durchsetzung demokratischer Verwaltungsprinzipien gerungen.203 In der Folgezeit setzte sich die weitgehende Selbstverwaltung der polytechnischen Schulen durch die Organe der allgemeinen Lehrerkonferenz, der engeren Lehrerkonferenz (Lehrerrat, Senat) und des gewählten Direktors (Rektors) durch. Die in Organisation und Bildungsinhalt einer Hochschule zustrebende polytechnische Schule wuchs über die Möglichkeiten hinaus, die schulischer Zwang und Aufsicht der Lehre boten. Die an den Universitäten geübte Lernfreiheit griff auf die Studenten an den polytechnischen Schulen über. So erzwangen in Berlin und Karlsruhe die Studenten in den sechziger Jahren die Lernfreiheit.204 Die genannten etwa seit der Jahrhundertmitte wirkenden Entwicklungslinien bestimmten den Fortschritt der polytechnischen Schulen bis zum Beginn der siebziger Jahre. Mit der tieferen Ausprägung dieser Tendenzen gewann der Anspruch nach Anerkennung als Technische Hochschule an Gewicht. Franz Grashof, Direktor des

201 Die Gründung der Allgemeinen Abteilungen als selbständige und mit den anderen Fachabteilungen gleichberechtigte Teile der polytechnischen Schulen erfolgte erst gegen Ende der sechziger bzw. in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Wichtige Anregungen erhielten die polytechnischen Schulen Deutschlands dabei von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, die seit ihrer Gründung 1855 über eine Allgemeine Abteilung verfügte. 202 Geschichte der Technischen Universität Dresden, 1978, S. 30. 203 Ley, H., 1953, S. 34 ff.; Veesenmeyer, E., 1929, S. 8 f. 204 Chronik der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin, 1899, S. 88 f.; Zöller, E., 1891, S. 73.

220 Plan für die Schaffung der technischen Bildungsanstalt in Dresden

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