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German Pages 504 Year 2023
Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917/18
Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland von 1800 bis 1945 in drei Bänden
Institut für Wirtschaftsgeschichte der AkademiederWissenschaftenderDDR
Herausgegeben von:
Band 2 Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917/18
Rudolf Berthold Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Karlheinz Fischer Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam Dorothea Goetz Pädagogische Hochschule „Karl Liebknecht", Potsdam Thomas Kuczynski Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der D D R Karl Lärmer Leiter des Herausgeberkollektivs Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Hans-Heinrich Müller Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Elfriede Rehbein Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List", Dresden Wilfried Strenz Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR Irene Strube Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Karl-Marx-Universität, Leipzig Hans Wußing Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Karl-Marx-Universität, Leipzig
Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917/18 Wissenschaftliche Redaktion: Hans-Heinrich Müller Mit 122 Tabellen 15 Abbildungen 13 Karten 153 Fotos
Erschienen im Akademie-Verlag, D D R — 1086 Berlin, Leipziger Straße 3 © Akademie-Verlag Berlin 1985 Lizenznummer: 202 • 100/221/85 • P 72/84 Printed in the German Democratic Republic Lichtsatz: Karl-Marx-Werk Pößneck V15/30 Repro, Druck und buchbinderische Aufarbeitung: Grafische Werke Zwickau, I I I / 2 9 / 1 Lektoren: Bernd Feldmann, Günter Hertel Gestaltung und Schutzumschlag: Anke Baltzer Hersteller: Sigrid Cuneus Graphische Abbildungen: Wally Schaefer, Anneliese Ernst Karten: Kurt Kilian Redaktionsschluß: Januar 1984 LSV: 0265 Bestellnummer: 754 213 0 (6739/2) 04800
1.
Allgemeine Bedingungen und Tendenzen der Entwicklung
1.1. 1.2. 1.3. 1.4.
Zum Charakter der Epoche Ausgangssituation und „Gründerjahre" Die Große Depression Grundlegende Wandlungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise Der Zyklus Produktion • Technik • Wissenschaft • Bildung Mechanisierung Konzentration Die Bilanz vor und nach dem ersten Weltkrieg
26 30 34 36
2.
Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie
40
2.1.
Die Produktivkräfte in der Phase der Herausbildung des Monopolkapitalismus Ergebnisse der Industriellen Revolution Die allgemeinen Bedingungen der Fortentwicklung der Produktivkräfte in der Industrie Die Verbesserungen der Arbeitsmaschinen, des Röhrenund Gefäßsystems und der technologischen Verfahren . Eisen-und Stahlproduktion Bergbauliche Produktion Maschinenbau Konsumgüterproduktion Vervollkommnung der Dampfmaschine und Entwicklung neuer Bewegungsmaschinen Die wissenschaftlichen Industrien Die produktive Nutzung der Elektrizität Eine neue Phase der Anwendung der Erkenntnisse der Chemie Zu den Wirkungen des produktionstechnischen Fortschritts auf die Produzenten Die Entwicklung der Produktivkräfte von den neunziger Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges Einwirkungen des Monopolkapitalismus Umfang und Konsequenzen der beginnenden Elektrifizierung Der Wandel in den Arbeitsmitteln, Arbeitsgegenständen und technologischen Verfahren in den bestimmenden Industrien Die Stabilisierung der materiell-technischen Basis des Monopolkapitalismus Die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl Der Maschinenbau Das Bauwesen Die Konsumgütererzeugung Die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen der Produktionstechnik und der Produktivkraft Mensch Die Produktivkräfte im Dienst der Vernichtung 1914 bis 1918 Veränderte Anforderungen und Produktionsbedingungen Produktion zur Destruktion
1.5. 1.6. 1.7. 1.8.
2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.3.1. 2.1.3.2. 2.1.3.3. 2.1.3.4. 2.1.4. 2.1.5. 2.1.5.1. 2.1.5.2. 2.1.6. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3.
2.2.3.1. 2.2.3.2. 2.2.3.3. 2.2.3.4. 2.2.3.5. 2.2.4. 2.3. 2.3.1. 2.3.2.
8 9 12 13 20
41 41 47 51 51 62 65 72 76 80 80 88 96 100 100 104
114 114 122 130 133 137 141 146 146 148
Inhalt
2.3.3.
Die Bilanz des ersten Weltkrieges im Hinblick auf die Produktivkräfte der Industrie
158
Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft
162
3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7.
Einleitung Der Boden und seine Bebauer Wissenschaft und Ausbildungswesen Die Fortschritte der Mechanisierung und Düngung . . . Bodennutzung, Anbauverhältnisse und Produktion . . . Die landwirtschaftliche Verarbeitungsindustrie Die agraren Produktivkräfte im ersten Weltkrieg . . . .
163 164 170 178 191 202 218
4.
Die Entwicklung der Produktivkräfte im Transport-und Nachrichtenwesen . . .
222
3.
4.1. 4.1.1.
4.1.2. 4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.6.1. 4.6.2.
5. 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.2.1. 5.2.2.2. 5.2.2.3. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.3.4. 5.3.5. 5.3.6. 6
Die Stellung des Verkehrswesens im System der gesellschaftlichen Produktivkräfte Die gesellschaftliche Bedeutung des Verkehrswesens und seine Beziehungen zu anderen Zweigen der materiellen Produktion . . . Größe und Struktur der Verkehrsunternehmen Die Entwicklung der Verkehrsmittel Empirie und Theorie Die Antriebe Die Verkehrsmittel Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur Die Entwicklung der Verkehrsleistung Die Entwicklung der Arbeitskräfte Militärische Aspekte Die Bedeutung des Verkehrswesens für die Vorbereitung des ersten Weltkrieges Die Auswirkungen des ersten Weltkrieges auf das Verkehrswesen
Die Standortentwicklung der Produktivkräfte Grundtendenzen der Entwicklung Regionale Verteilung Bevölkerung Wirtschaftsbereiche Industrie/Handwerk, Landwirtschaft, Handel/Verkehr Industrie/Handwerk Landwirtschaft Handel/Verkehr Zur Entwicklung der Regionen Das Rheinisch-Westfälische Gebiet Areale in Südwestdeutschland Das Erzgebirge mit Vorland Weitere Gebiete am Nordrand der Mittelgebirgsschwelle Das Oberschlesische Revier Isolierte großstädtische Agglomerationen
223
223 227 231 231 232 239 242 252 256 263 263 266
270 271 273 274 277 277 281 282 282 286 292 295 297 298 299
5.3.7. 5.4.
Regionen disperser Produktivkräfteverteilung Zusammenfassende Betrachtung
302 304
6.
Die Anteile der Naturwissenschaften und der Mathematik
306
6.1. 6.2. 6.3. 6.3.1
6.4. 6.5.
Allgemeines Mathematik Physik Starkstromtechnik und wissenschaftliche Elektrotechnik Die Entstehung der Funktechnik Von der Gasentladungsphysik zu den Anfängen der Elektronik Thermodynamik und technische Wärmeprozesse . . . . Wellenoptik und optischer Gerätebau Zur Rückwirkung der Industrialisierung auf die Organisationsformen und die materiell-technische Basis der Physik Chemie Biologie
331 331 349
7.
Ausbildung
356
7.1. 7.2. 7.3. 7.4.
Vorbemerkung Die Volksschulen Die Entwicklung der höheren Schulen Zur Entwicklung der Fortbildungs-, Gewerbe- und Fachschulen Die Gründung der Technischen Hochschulen und deren Entwicklung Zur naturwissenschaftlichen Ausbildung an den Universitäten
357 357 361
6.3.2. 6.3.3. 6.3.4. 6.3.5. 6.3.6.
7.5. 7.6.
8. 8.1. 8.1.1. 8.1.2. 8.1.3. 8.2. 8.2.1. 8.2.2. 8.3.
Arbeitskräfte-, Beschäftigten- und Berufsstrukturen Allgemeine Züge der Entwicklung der Bevölkerung und des Arbeitskräftepotentials Das Wachstum der Bevölkerung und des Arbeitskräftepotentials Die Entwicklung der Frauen-und Kinderarbeit Zyklische Arbeitslosigkeit und Auswirkungen des ersten Weltkrieges Arbeitsteilung und Beschäftigtenstrukturen Beschäftigtenstrukturen nach der Teilung Stadt — Land Beschäftigtenstrukturen nach der Teilung körperliche — geistige Arbeit Arbeiterklasse: Qualifikations- und Berufsstrukturen . .
Abkürzungsverzeichnis Quellen- und Literaturverzeichnis Verzeichnisse der Tabellen, Abbildungen und Karten Fotonachweis Autorenverzeichnis Register
307 310 318 318 324 325 327 328-
371 376 384
387 388 388 389 393 396 396 399 410 427 427 447 450 450 452 7
1. Allgemeine Bedingungen und Tendenzen der Entwicklung
Die E i n f ü h r u n g des T h o m a s v e r f a h r e n s der S t a h l p r o d u k t i o n f ü h r t e zu einer vollständigen U m w ä l z u n g der m e c h a n i s c h e n u n d motorischen G r u n d l a g e n des H ü t t e n w e s e n s
8
DerZeitraum, fürdenim vorliegenden Band die Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland dargestellt wird, ist — welthistorisch betrachtet — durch zwei entscheidende Zäsuren gegeben: 1871 fand die erste proletarische Revolution der Weltgeschichte, die Pariser Kommune, statt und 46 Jahre später, 1917, die erste siegreiche proletarische Revolution im Weltmaßstab — die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Rußland. Kaum eine nationalhistorische Untersuchung, schon gar keine eines hochentwickelten kapitalistischen Landes, kann diese welthistorischen Zäsuren außer acht lassen. Das trifft insbesondere auf die deutsche Geschichte zu, sind doch „Geburt und Tod des deutschen Kaiserreiches" auf das Engste mit diesen welthistorischen Ereignissen verbunden: Fand seine Geburt „im Zeichen eines räuberischen Annexionskrieges und der unmittelbaren Teilnahme an der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune" statt, 1 so bereiteten 47 Jahre später „die besten Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung . . . , inspiriert durch die siegreichen Klassenbrüder im Sowjetland, die revolutionäre Erhebung vor", 2 die ihm seinen Tod brachte — die Novemberrevolution von 1918. Hatte mit der Pariser Kommune „die Epoche des Sieges und der Festigung des Kapitalismus, in der die Bourgeoisie die historisch führende Klasse war, ihren Abschluß gefunden" und der „historische Niedergang der Bourgeoisie und der Aufstieg des Proletariats" eingesetzt, 3 so hatte dieser Aufstieg des Proletariats zur historisch führenden Klasse in der siegreichen Oktoberrevolution mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats eine welthistorisch neue Qualität erreicht. Und wenn es auch nicht gelang, die Novemberrevolution „in eine siegreiche sozialistische Revolution überzuleiten", sie mithin „eine echte antiimperialistische Volksrevolution" blieb, gilt für sie ebenso, was für den Betrachter der Oktoberrevolution in Rußland selbstverständlich ist: „ . . . ihre Haupttriebkraft war die Arbeiterklasse". 4 Die Politik ist „der konzentrierteste Ausdruck der Ökonomik". 5 Konzentriertester Ausdruck welcher ökonomischen Prozesse sind die politischen Revolutionen von 1871 und 1917/18? Was waren das für Erscheinungen im Wirtschaftsleben, die die Basis für die Revolutionen im Überbau darstellten? Im Entwurf des Programms der KPR(B) von 1919 spricht Lenin von der „Ablösung der freien Konkurrenz durch den staatsmonopolistischen Kapitalismus". 6 Inwieweit stellte dieser Prozeß die reale Grundlage nicht nur für die Revolutionen von 1871 und 1917/18, sondern auch für die „,friedliche' Epoche" 7 von 1871 bis 1914 und den nachfolgenden Weltkrieg dar? Lenin faßte „die wichtigsten Ergebnisse der Geschichte der Monopole" so zusammen: „1. In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts — die höchste, äußerste Entwicklungsstufe der freien Konkurrenz; kaum merkliche Ansätze zu Monopolen. 2. Nach der Krise von 1873 weitgehende Entwicklung von Kartellen, die aber noch Ausnahmen, keine dauernden, sondern vorübergehende Erscheinungen sind. 3. Aufschwung am Ende des 19. Jahrhunderts und Krise von 1900 bis 1903: Die Kartelle werden zu einer der Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens. Der Kapitalismus ist zum Imperialismus geworden." 8 Die wirtschaftliche Entwicklung nach 1873, von vielen Ökonomen durch den Begriff „Große Depression" charakterisiert, war für Engels der „Beweis der vollständigen Erschöpfung der kapitalistischen Produktionsweise". 9 Aus der Sicht des 100 Jahre später Lebenden können wir diese Feststellung in der Hinsicht konkretisieren, daß die Große Depression der Beweis der vollständigen Erschöpfung des Kapitalismus der freien Konkurrenz war, der Beweis für die ökonomische Notwendigkeit des Übergangs zum Imperialismus. Natürlich wäre es platter Ökonomismus, die Ursachen der Pariser Kommune in dem kurze Zeit später beginnenden Übergang zum Imperialismus zu sehen, war sie doch in erster Linie Ausdruck dessen, was wir als „historisch überschnelle Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins" in Frankreich 10 bezeichnen können — historisch überschnell, also politisch eine Situation vorwegnehmend, deren ökonomische Basis in noch nicht zureichendem Maße gegeben war: In noch nicht zureichendem Maße, aber doch in Ansätzen vorhanden, denn schon die den Krimkrieg 1853/56 finanzierenden französi-
1.1. Zum Charakter der Epoche
1 Geschichte der SED, 1978, S. 20. 2 Ebenda, S. 36. 3 Klassenkampf — Tradition — Sozialismus, 1974, S. 278. 4 Verner, P., 1978, S. 3. 5 Lenin, W.I., Bd. 32, 1971, S. 15. 6 Lenin, W. /., Bd. 29,1970, S. 106 7 Lenin, W. /.,Bd.21,1972, S. 206. 8 Lenin, W. /., Bd. 22, 1971, S. 206. 9 MEW, Bd. 36,1967, S. 27. 10 Kuczynski, J., Bd. 33,1967, S. 1.
11 Ebenda, S. 15. 12 Lenin, W.I., Bd. 22,1971, S. 247. 13 Kuczynski, J., Bd. 33,1967, S. 71. 14 Vgl. MEW, Bd. 21,1972, S. 433. 15 Ebenda, S. 331. 16 Lenin, W. /., Bd. 29, 1970, S. 155. 17 Lenin, W. /., Bd. 22,1971, S. 270. 18 Nussbaum, H., 1978, S. 77. 19 Vgl. MEW, Bd. 19, 1972, S. 228. 20 Vgl. ebenda, S. 29. 21 Vgl. Lenin, W. /., Bd. 26, 1970, S. 387. 22 Lenin, W. /., Bd. 25, 1970, S. 370. 23 Lenin, W. /., Bd. 27, 1972, S. 332.
sehen Bankiers waren „keine einfachen Kapitalisten der Freien Konkurrenz' mehr. Imperialistische Züge sind ihnen eingeprägt"," Züge, in denen sich schon die dem späteren französischen Imperialismus eigene Besonderheit ankündigte, die Lenin veranlaßte, ihn Wucherimperialismus zu nennen. 12 Die Pariser Kommune war die politische Ankündigung des ökonomischen Niedergangs der Bourgeoisie: „1871 beginnt der Verfall des Kapitalismus, der um 1900, mit dem Eintritt des Stadiums des Imperialismus so intensiv wird, daß wir mit Lenin von sterbendem Kapitalismus sprechen." 13 Scheinbar ganz anders ist die Situation im Deutschland von 1871 gewesen. Die Reichseinigung war zwar auch eine Revolution — aber eine Revolution von oben. 14 Zwar war auch sie Ausdruck eines spezifisch nationalen Bewußtseinsstandes — aber sie war, um im oben zitierten Bilde zu bleiben, Ausdruck der historisch überlangsamen Entwicklung des bourgeoisen Klassenbewußtseins in Deutschland. Auch konnte sich Deutschlands große Industrie, wie Engels 1887 schrieb, „erst voll entfalten, als die Revolutionen von 1866 und 1870 ihr wenigstens die schlimmsten politischen Hindernisse aus dem Wege geräumt" hatten. 15 Wenn aber Deutschland in dieser Zeit „das Muster eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes" wurde, 16 kann dann diese Zeit wirklich als eine (auf Deutschland bezogen) des beginnenden Niedergangs charakterisiert werden? Für Lenin konnte „das Muster eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes" zu jener Zeit nur ein imperialistisches Land sein. Das Maß des historischen Fortschritts war demzufolge gerade im Maß des Niedergangs begründet. Wenden wir Lenins Kurzdefinition des Imperialismus — „der Imperialismus ist das monopolistische Stadium des Kapitalismus" 17 — auf die konkret-historische Situation in Deutschland an, so erkennen wir, wie außerordentlich intensiv (und schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnend 18 ) sich „der Aufstieg in den Abstieg" vollzog. Seine ökonomische Basis war der Monopolisierungsprozeß, der Prozeß also, in dem sich die Bourgeoisie letztlich „als überflüssige Klasse" erweist.19 Die Bourgeoisie, politisch noch gar nicht recht zur Macht gekommen, 20 beginnt schon, sich als ökonomisch überflüssig zu erweisen! Die andere Seite dieser Entwicklung — des beginnenden historischen Niedergangs der Bourgeoisie — war in Deutschland nicht minder ausgeprägt, vollzog sich der historische Aufstieg des Proletariats doch in einem solchen Ausmaß, mit einer derartigen Intensität und Geschwindigkeit, daß schon 1878 die herrschenden Klassen zum Verbot ihrer revolutionären Organisationen schritten und das Sozialistengesetz erließen. Und die ökonomische Situation am Ende dieser Epoche, in den Jahren 1917/18? Unter dem Einfluß des ersten Weltkriegs hatte sich der monopolistische in einen staatsmonopolistischen Kapitalismus verwandelt. 21 Der staatsmonopolistische Kapitalismus aber ist „die vollständige materielle Vorbereitung des Sozialismus, seine unmittelbare Vorstufe. . ., denn auf der historischen Stufenleiter gibt es keinerlei Zwischenstufen mehr zwischen dieser Stufe und derjenigen, die Sozialismus heißt". 22 Speziell auf Deutschland bezogen, stellt Lenin ein halbes Jahr vor Ausbruch der Novemberrevolution fest: „Hier haben wir das ,letzte Wort' moderner großkapitalistischer Technik und planmäßiger Organisation, die dem junkerlich-bürgerlichen Imperialismus unterstellt sind. Man lasse die hervorgehobenen Wörter aus, setze an die Stelle des militärischen, junkerlichen, bürgerlichen, imperialistischen Staates ebenfalls einen Staat, aber einen Staat von anderem sozialen Typus, mit anderem Klasseninhalt, den Sowjetstaat, d. h. einen proletarischen Staat, und man wird die ganze Summe der Bedingungen erhalten, die den Sozialismus ergibt." 23 Sozialismus, das ist für Lenin moderne großkapitalistische Technik und planmäßige Organisation, die dem proletarischen Staat unterstellt sind. Zehn Monate später charakterisiert er den sich im Verlauf der Novemberrevolution auftuenden Gegensatz von Politik und Ökonomie in Deutschland so: „Man nehme zum Beispiel Deutschland, das Muster eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes, das in der Organisiertheit des Kapitalismus, des Finanzkapitalismus, Amerika übertraf. In vielen Beziehungen, in der Technik, in der 10
Produktion und in politischer Hinsicht stand es hinter Amerika zurück, aber in bezug auf die Organisiertheit des Finanzkapitalismus, in bezug auf die Verwandlung des monopolistischen Kapitalismus in einen staatsmonopolistischen Kapitalismus war Deutschland Amerika voraus. Man sollte meinen, das wäre ein Muster. Und was geschieht dort? Hat sich das deutsche Proletariat von der Bourgeoisie differenziert? Nein!" 24 Wie nahe stand Deutschland 1918 dem Sozialismus und zugleich wie fern. . . . Auch das Folgende gilt es zu bedenken: Ist der Untersuchungszeitraum aus sozialökonomischer Sicht als Niedergangsperiode zu charakterisieren, als sterbender Kapitalismus, so schließt dies? Charakterisierung gar nicht aus, daß wir zugleich, und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Produktivkräfteentwicklung, die vor allen Dingen Gegenstand der nachfolgenden Darstellung ist, enorme Fortschritte zu verzeichnen haben. Im historischen Vergleich wird die Problematik vielleicht noch deutlicher: Der „Grundriß zur Geschichte des deutschen Volkes" betitelt die „Hauptperiode von den 70er Jahren des 15. Jh. bis 1517" mit: „Der beginnende Niedergang der feudalen Gesellschaftsordnung. Das Heranreifen der frühbürgerlichen Revolution." Aber diese Charakterisierung als Niedergangsperiode bedeutet in keiner Weise, daß nicht enorme Fortschritte vorhanden gewesen sind. So wie „Deutschland 1470—1530 ökonomisch an der Spitze Europas" stand, 25 so arbeitete es sich 400 Jahre später (1870—1914) wieder auf ökonomischem Gebiet an die Spitze Europas vor. Aber diese riesigen Fortschritte sind gerade Ausdruck des Niedergangs, förderten ihn, und zwar nicht in Richtung auf eine Versteinerung der Verhältnisse (wie im spätfeudalen Deutschland nach 1618), sondern in Richtung auf eine Auflösung derselben. Gerade deshalb wird der Imperialismus als Vorabend der proletarischen Revolution charakterisiert. Bevor wir die allgemeine Charakterisierung dieser Epoche abschließen, müssen wir — auch im Hinblick auf die notwendige Abgrenzung zu Band 3 dieser Darstellung — noch ein Problem behandeln: 1871 begann der Niedergang des Kapitalismus, dessen ökonomische Basis der beginnende Übergang zum Imperialismus, zum Monopolkapitalismus, darstellt: Imperialismus ist, wie Lenin formuliert, sterbender Kapitalismus — wie kann ein sterbender Kapitalismus noch in eine allgemeine Krise geraten? Eugen Varga hat 1933 die allgemeine Krise als jene Periode des Imperialismus bezeichnet, „in der sich der sterbende Kapitalismus in einen zum Teil bereits gestorbenen Kapitalismus verwandelt hat, in der das kapitalistische Gesellschaftssystem auf einem sechsten Teil der Erde bereits gestürzt ist und der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie bereits die Form des Kampfes zweier Wirtschaftssysteme angenommen hat". 26 Von dieser Begriffsbestimmung ausgehend, ist die Darstellung der Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland unter den Bedingungen der allgemeinen Krise des Kapitalismus dem Band 3 unserer Darstellung vorbehalten. Während im Band 1 die Darstellung der Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland unter den Bedingungen des Aufstiegs der kapitalistischen Produktionsweise erfolgt, ist im vorliegenden Band 2 die Darstellung der Entwicklung der Produktivkräfte im kapitalistischen Deutschland unter den Bedingungen des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise enthalten.
24 Lenin, W. /., Bd. 29,1970, S. 155. 25 MEW, Bd. 37,1967, S. 274. 26 Varga, E., 1933, S. 1709.
11
1.2. Ausgangssituation und 99 Gründerjahre"
Tabelle 1 Deutschlands Industrie 1870 im internationalen Vergleich
Zum Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts war Deutschland ein „Industrieland ersten Ranges". 27 Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion lag um 1870 bei etwa 13 % und wurde nur von dem Englands (32 %) und der USA (23 %) übertroffen; Frankreich (10 %) und erst recht die anderen kapitalistischen Länder lagen schon hinter ihm. 28 Die Übersicht (Tabelle 1) macht Deutschlands Position bezüglich der für die damalige Zeit wichtigsten Indikatoren der industriellen Entwicklung deutlich. Ein „Industrieland ersten Ranges" — aber natürlich nur im historischen Vergleich; verglichen mit einem drittrangigen Industrieland der Gegenwart, war es ein Agrar-Industrie-Staat: Der Anteil der Landwirtschaft am Nettoinlandsprodukt war 1870/74 mit 37,9 % höher als der der Industrie mit 31,7 %,29 und noch 1880/84 hatte die Landwirtschaft mit 48,2 % einen weit höheren Anteil an der Zahl der Gesamtbeschäftigten als die Industrie mit 29,8 %.30 Das quantitative Überwiegen der Landwirtschaft darf aber andererseits nicht darüber hinwegtäuschen, daß die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus der freien Konkurrenz schon seit Mitte der fünfziger Jahre voll wirksam waren — anzeigend, daß die Industrielle Revolution zum Abschluß gekommen war 31 und daß die Industrie zum die weitere Entwicklung der Volkswirtschaft bestimmenden Wirtschaftsbereich geworden war.
Roheisenproduktion (Mio. t) Kohlenproduktion (Mio. t) Stahlproduktion (1000 t) Baumwollverbrauch (1000 t)a
Deutschland
England
Frankreich
USA
1,39 34 170 66
6,06 110 200 498
1,18 13 80 99
1,69 30 69 181
a
1869 Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 2, 1962, S. 14., 122 f.
Durch die Reichseinigung von 1871 wurden die Bedingungen für die Entwicklung der Produktivkräfte im nationalen Rahmen verbessert. 32 Insbesondere wurden durch die Schaffung eines einheitlichen Maß-, Gewichts- und Münzsystems und durch die Abschaffung von Binnengrenzen und -zollen wichtige Voraussetzungen für die endgültige Konstituierung eines einheitlichen nationalen Marktes in Deutschland hergestellt. Jedoch dürfen die Auswirkungen der Reichseinigung, der Gründung des deutschen Kaiserreiches, nicht überschätzt werden. Selbst wenn wir einer solchen Formulierung wie: Durch die Reichsgründung wurde „nichts anderes (getan), als den Grundgehalt der Verfassung des Norddeutschen Bundes zu übernehmen und auf jene relativ kleinen Staaten mit zu übertragen, die dem Bund nicht angehört hatten," 33 in dieser Überspitzung nicht beipflichten können (immerhin gehörten zu den Nichtmitgliedern solche „kleinen" Staaten wie Bayern und seine süddeutschen Nachbarn), können wir mit Engels „die Revolutionen von 1866 und 1870"34 gleichberechtigt nebeneinander stellen.
27 MEW, Bd. 22, 1963, S. 515. 28 Vgl. Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 20. 29 Hoffmann, W. G , 1965, S. 33. 30 Ebenda, S. 35. 31 32 33 34 35
Vgl. Lärmer, K., 1979, S. 35 f. MEW, Bd. 21,1972, S. 331. Lärmer, K., 1979, S. 41. MEW, Bd. 21, 1972, S. 331. Vgl. Mottek. H., 1966, S. 53 ff.
Auch der konjunkturelle Aufschwung jener Jahre, die sogenannten „Gründerjahre", setzten nicht erst 1870/71 ein, sondern schon Ende der sechziger Jahre. 35 Sie waren also weniger eine Folge der Reichsgründung — wie ihr N a m e suggeriert—, sondern eine Folge des seit 1866 forcierten Abbaus der Kleinstaaterei. Zu dessen Folgen bemerkt Engels: „Die Bundesverfassung (die Verfassung des Norddeutschen Bundes — d. Vf.) entzog die ökonomisch wichtigsten Verhältnisse der Gesetzgebung der Einzelstaaten und wies ihre Regelung dem Bunde zu: gemeinsames Bürgerrecht und Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet, Heimatberechtigung, Gesetzgebung über Gewerbe, Handel, Zölle, Schiffahrt, Münzen, M a ß und Gewicht, Eisenbahnen, Wasserstraßen, Post und Telegraphen, Patente, Banken, die ganze auswärtige Politik. Konsulate, Handelsschutz im Ausland . . . Die meisten dieser Gegenstände wurden nun rasch, und im ganzen in liberaler Weise, durch Gesetze geordnet. Und so wurden denn endlich — endlich! — die schlimmsten Auswirkungen der Klein12
staaterei beseitigt, diejenigen, die einerseits der kapitalistischen Entwicklung, andererseits dem preußischen Herrschergelüste am meisten den Weg versperrten." 36 Jedoch wurde der konjunkturelle Aufschwung durch die im Ergebnis des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 von Frankreich an Deutschland zu zahlenden Kriegskontributionen in Höhe von 5 Mrd. Goldfrancs (etwa 4 Mrd. Goldmark) kräftig unterstützt. Über die Hälfte des „Goldregens" wurde für die Modernisierung von Heer und Marine sowie für Festungsbauten ausgeben, flössen also zu großen Teilen in die Schwerindustrie. 37 Wenn wir bedenken, d a ß allein diese 2,2 Mrd. M etwa ein Sechstel des gesamten im Gewerbe vorhandenen Kapitalbestandes ausmachten, 3 8 dann können wir uns eine ungefähre Vorstellung von den Auswirkungen dieser „Investitionsspritze" auf den Gang der Volkswirtschaft machen. Produktion und Kapitalbestände stiegen ganz außerordentlich, insbesondere in Industrie und Verkehrswesen, vor allem bei der Schwerindustrie und bei den Eisenbahngesellschaften. Noch schneller stieg die Masse fiktiven Kapitals. Aktiengesellschaften wurden reihenweise gegründet, die Kapitalaufstockung durch die Ausgabe neuer Aktien forciert. Am schnellsten aber stieg das Fieber der Spekulation. N u r auf dem Papier existierende Unternehmen wurden ins „Leben" gerufen, die Preise, insbesondere für G r u n d und Boden in den Städten, erreichten astronomische Höhen. Sie wurden nur noch von den daraus erzielten Gewinnen übertroffen — die das Fieber der Spekulation um so stärker steigen ließen. Die Ernüchterung ließ nicht auf sich warten. Der „Gründerkrach" von 1873 sorgte dafür, daß die Hoffnungen der Bourgeoisie nicht in den Himmel wuchsen und auf den harten Boden der Realität zurückgeschleudert wurden. Aber mit dem „Gründerkrach" begann nicht nur eine „normale" zyklische Überproduktionskrise, wie sie auch der deutschen Bourgeoisie aus eigener Erfahrung bekannt war: Mit dem Großen Krach von 1873 begann im internationalen Rahmen der Übergang zum Imperialismus. 19
Der dem „Gründerkrach" vorausgegangene Boom mag vielleicht die Schärfe des Absturzes aus den goldenen Höhen der Gründerjahre in Deutschland erklären. Er erklärt aber nicht die Internationalität des Krachs, der ebenso in den USA und Österreich stattfand und, von diesen drei Ländern ausgehend, eine Weltwirtschaftskrise auslöste. Schon gar nicht erklärt er die sich an die Krise anschließende und bis in die Mitte der neunziger Jahre dauernde weltweite Depression, die unter dem Namen „Die Große Depression" in die Literatur eingegangen ist. Natürlich darf dieser Begriff nicht so verstanden werden, als ob überhaupt keine Produktionssteigerung, überhaupt keine Akkumulation -von Kapital stattfand. Aber das Wachstum der Produktion vollzog sich deutlich langsamer als in den Jahrzehnten davor und danach. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Entwicklung des Produktionsvolumens in der kapitalistischen Welt (Tab. 2). Ganz deutlich erkennbar ist, daß das Wachstum in den Jahren 1870/74 bis 1890/94 in Industrie und Bergbau viel geringer ist als in den Jahren 1850/54 bis
1850/54
Insgesamt Industrie Bergbau Landwirtschaft
a 20 10 5 30
b -
-
1870/74
1890/94
1910/13
a 32 22 14 42
a 52 42 33 63
a 95 92 92 97
b 2,5 3,8 5,1 1,8
b 2,4 3,2 4,4 2,0
1.3. Die Große Depression
Tabelle 2 Produktion der kapitalistischen Welt
b 3,1 4,1 5,2 2,2
36 MEW, Bd. 21,1972, S. 435. 37 Vgl. Engelberg, £., 1965 (a), S. 491. 38 Berechnet nach: Hoffmann, W. G., 1965, S. 244. 39 Vgl. Lenin, W. /., Bd. 22, 1971, S. 205 f.
a Index,1913 = 100 b Jährliche Wachstumsrate in % gegenüber dem vorherigen Fünfjahresdurchschnitt Berechnet nach: Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 31 f.
13
1870/74 und 1890/94 bis 1910/13. Das würde bei der Verwendung von Stichjahren noch klarer werden: Die Weltindustrieproduktion stieg von 1850 bis 1872 um 164,5 %, von 1872 bis 1893 um 74,4 % und von 1893 bis 1913 um 144,8 %. Ganz ähnlich, nur viel detaillierter darstellbar, ist die Situation in Deutschland gewesen. Betrachten wir zunächst wieder die Produktionsentwicklung (Tab. 3).
Tabelle 3 Produktionsentwicklung in Deutschland
Nettoinlandsprodukt c Industrie 11 Bergbau/Salinen — Steinkohle — Braunkohle — Eisenerz Steine/Erden Metallerzeugung — Roheisen - Stahl — Eisen- u. Stahlguß — Walzwerke Metallverarbeitung Chemische Industrie Textilindustrie Bekleidung f Nahrung/Genuß Bauindustrie Verkehr Landwirtschaft 11 Pflanzl. Produktion Fleischproduktion Sonst, tier. Prod.
1850/54
1870/74
a 20 9 4 3 3 3
a 32 23 16 17 10 14 26 e 10 9 8 13 10 13 9e 38 40 36 29 11 53 62 41 73
—
2 1 —
2 —
3 —
18 21 20 14« 2 38 47 26 42
b — — — — — — — —
— — — — — —
_ — — — —
_ — — —
b 2,5 4,6 7,6 8,3 7,1 7,7
_
8,7 9,8 —
8,9 —
7,9 —
3,7 3,2 2,9 3,7 8,5 1,6 1,4 2,3 2,8
1890/94 a 51 :42 37 38 24 28 51 25 25 19 30 23 26 27 68 61 55 49 30 70 82 63 68
b 2,3 3,1 4,1 4,2 4,3 3,7 3,4 4,6 5,1 4,5 4,2 4,1 3,5 6,0 2,9 2,1 2,2 2,6 5,2 1,5 1,4 2,1 -0,3
1910/13 a 94 93 89 89 88 89 96 88 87 88 93 85 82 90 99 96 95 99 92 98 93 103 96
b 3,1 4,1 4,5 4,3 6,7 5,9 3,2 6,5 6,4 7,9 5,9 6,8 5,9 6,2 1,9 2,3 2,7 3,6 5,8 1,7 0,7 2,5 1,7
a
Index,1913 = 100 Jährliche Wachstumsrate in % gegenüber dem vorherigen Fünfjahresdurchschnitt In konstanten Preisen (nach marxistischer Terminologie etwa vergleichbar dem produzierten Nationaleinkommen) d Einschließlich Handwerk, Bergbau und Salinen e Durchschnitt der Jahre 1872/74 f Einschließlich Lederverarbeitung 8 Durchschnitt der Jahre 1851/54 h Landwirtschaftliche Produktion nach Abzug von Aussaat, Verfütterung und Schwund Berechnet nach: Hoffmann, W. G., 1965, S. 33, 310, 338ff., 352ff., 390ff., 403f., 417, 454 b
c
40 Vgl. Kuczynski, Th., 1976, S. 263 und die dort angegebene Literatur, sowie Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975. 41 Berechnet nach: Hoffmann, W. G., 1965, S. 173 f. 42 Berechnet nach: StDR, Bd. 211, 1913, S. 37 (unter Berücksichtigung der Mindererfassung der mithelfenden Familienangehörigen in den Zählungen von 1882 und 1895). 43 Vgl. Kuczynski, J., Bd. 12, 1961, S. 30.
Bei aller Grobheit des Datenmaterials, das zum Teil nur auf begründeten Schätzungen beruht, ist doch die Verminderung des Produktionswachstums für die Periode von 1870/74 bis 1890/94 so ausgeprägt, daß an ihrer Existenz kaum Zweifel gehegt werden können. Das ist das erste Erscheinungsbild der Großen Depression, aber auch des großen, Mitte der neunziger Jahre einsetzenden und mit der Krise von 1913 zu Ende gehenden 4 0 Aufschwungs. Sogar das Bevölkerungswachstum war in den Jahren 1871 / 9 0 mit 9,4 °/oo pro Jahr deutlich niedriger als in den Jahren 1890/1910 mit 13,6 %o.41 Da der Anteil der Berufstätigen an der Gesamtbevölkerung in den Zähljahren 1882, 1895 und 1907 praktisch unverändert bei 45 % lag, war auch das Wachstum der berufstätigen Bevölkerung von 1882 bis 1895 mit 10,7 °/oo pro Jahr niedriger als das von 1895 bis 1907 mit 14,5 %o.42 Wie sehr sich die Verwertungsbedingungen für das Kapital in Deutschland verändert hatten, können wir auch aus Tabelle 4 erkennen. N u r wenige Preise sanken in der Periode der Großen Depression nicht, die meisten sanken so stark, daß das Anfang der siebziger Jahre vorhandene Niveau teilweise erst wieder im Verlaufe des ersten Weltkriegs erreicht wurde. 43 Besonders stark sanken die Preise für Maschinen und Anlagen (um etwa 40 %). Eine Mittelstellung nehmen die Baupreise ein, sie sanken um etwa 20 %, während die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise wie auch die Bodenpreise nur wenig nachgaben, nicht zuletzt wegen der projunkerlichen Schutzzollpolitik Preußen — Deutschlands. Auch wenn der technische Fortschritt, insbesondere die Erhöhung der Ar14
beitsproduktivität als Wert- und damit Preissenkungsfaktor nicht übersehen werden darf, so ist das Nachgeben der Preise zu einem Gutteil auf das die zahlungsfähige Nachfrage übersteigende Angebot zurückzuführen. Zwar finden wir nicht wie in England „eine chronische Überfüllung aller Märkte für alle Geschäfte" vor,44 aber auch für Deutschland galt: „Die Periode der Prosperität kommt nicht mehr zu ihrer vollen Entwicklung, schon nach 5 Jahren wird wieder überproduziert, und selbst während dieser 5 Jahre geht es im ganzen schofel ab." 45
(1913 = 100)
1850/54
1870/74
1890/94
1910/13
Investitionsgüter Hochbau Tiefbau Eisenbahnbau Boden Gewerbl. Anlagen 2 Landwirtsch. Anlagen b Nutzholz Landwirtsch. Erzeugerpreise Pflanzl. Produkte Fleisch Sonst, tier. Produkte
73 76 84 37 101 103 47 60 82 39 53
93 91 102 63 120 123 70 82 96 67 81
75 75 75 61 77 77 66 77 86 68 79
98 98 96 95 93 92 101 100 105 92 106
Tabelle 4 Preisentwicklung in Deutschland
a
Inventar und Vorräte Maschinen und Geräte Berechnet n a c h : Hoffmann,
b
W. G., 1965, S. 561 f., 563f., 569f.
Leider können wir die Überfüllung der Märkte für den deutschen Binnenmarkt (mangels diesbezüglicher Daten) nicht nachweisen, sondern nur auf die Preisentwicklung als wichtiges Indiz verweisen. Für die Außenmärkte mag als Beleg dienen, daß das Wachstum des Außenhandelsvolumens deutlich geringer war als in den Jahren vor und nach der Großen Depression (Tab. 5). Natürlich ist das bei einigen Warengruppen kaum vorhandene oder gar negative Wachstum in erster Linie auf Strukturverschiebungen innerhalb der deutschen Volkswirtschaft zurückzuführen, verwandelte sich Deutschland doch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus einem Industrie-Agrar-Staat in einen Industriestaat. Insgesamt betrachtet, ändert das aber nichts an unserer Aussage. Sie wird sogar noch erhärtet, wenn wir die Exportquote, den Anteil der Exporte am Nettoinlandsprodukt berechnen. 1913 = 100 gesetzt, stieg sie von 1850/54 bis 1870/74 von 34 auf 58, blieb dann bis 1890/94 = 59 faktisch unverändert, um dann bis 1910/13 = 93 erneut zu steigen. 46 1850/54 a Exportvolumen, gesamt Nahrungsmittel Genußmittel Rohstoffe Halbwaren Fertigwaren Importvolumen, gesamt Nahrungsmittel Genußmittel Rohstoffe Halbwaren Fertigwaren
7 14 131 6 2 6 8 8 19 4 12 13
b — — — — —
— — — — — — —
1870/74
1890/94
1910/13
a 19 38 218 26 8 16 25 20 44 19 31 52
a 30 39 65 43 20 30 46 44 57 44 48 56
a 88 77 97 91 87 89 95 95 99 95 94 99
b 5,3 5,1 2,6 7,2 8,0 4,7 5,6 4,8 4,3 7,5 4,7 7,2
b 2,4 0,1 -5,8 2,6 4,9 3,3 3,2 3,9 1,3 4,5 2,2 0,3
Tabelle 5 Deutschlands Außenhandel
b 5,4 3,4 2,0 3,9 7,5 5,5 3,7 4,0 2,7 3,9 3,4 2,9
44 MEW, Bd. 21, 1972, S. 195. 45 MEW; Bd. 36, 1972, S. 27; vgl. auch Bebel, A.y Bd. 2.2., 1978, S. 108. 46 Berechnet nach den Ausgangsdaten in Tabelle 3 und 5.
a Index, 1913 = 100 b Jährliche Wachstumsrate in % gegenüber dem vorherigen Fünfjahresdurchschnitt Berechnet n a c h : Hoffmann, W. G., 1965, S. 530f., 537f.
15
1 G e t r e i d e h e b e r im H a m b u r g e r H a f e n Deutschland wurde aus einem Agrarexport- zu einem Agrarimportland
Nun kann dagegen eingewandt werden, daß die faktische Stagnation der Exportquote durch den Ende der siebziger Jahre einsetzenden Protektionismus, die sogenannte Schutzzollpolitik, verursacht sei. Genau das umgekehrte war der Fall: Weil im Anschluß an den Gründerkrach von 1873 die Preise in Deutschland wie auf dem Weltmarkt nahezu ins Bodenlose fielen, mußte der innere Markt vor den ausländischen Konkurrenten geschützt werden. Tendenzen imperialistischer Wirtschaftspolitik machten sich in der Weise bemerkbar, daß die Preise im Inland bewußt hochgehalten wurden, um mit Dumpingpreisen — Preisen also, die unter dem Marktwert lagen — auf dem Weltmarkt Konkurrenten aus dem Felde schlagen zu können. 47 Voraussetzung hierfür war allerdings — wenn wir einmal von der junkerlich beherrschten Landwirtschaft absehen — die Existenz relativ stabiler Monopole. Auch in Deutschland gab es „nach der Krise von 1873 (eine) weitgehende Entwicklung von Kartellen, die aber noch Ausnahmen, keine dauernden, sondern vorübergehende Erscheinungen" waren. 48 War auch das einzelne Kartell in dieser Zeit eine „vorübergehende Erscheinung", so war es doch Ausdruck der allgemeinen Tendenz zum Monopol. Überproduktion und Preisfall veranlaßten die freien Unternehmer, sich in Form von Absprachen, Konventionen und Kartellen um eine Regulierung von Preisen, Absatzmärkten, Produktionsquoten usw. zu bemühen. In diesem Sinne waren die Kartelle, wie ein Zeitgenosse schrieb, „Kinder der Not". 49 Aber jeder freie Unternehmer stellte sich die „Not" als vorübergehend vor, die Kartelle wurden in der ersten Zeit als „Fallschirme für Krisenzeiten" 50 betrachtet: Um den Sturz — beispielsweise den Preissturz — zu mildern und um, wenn der „sichere" Boden der Konjunktur wieder erreicht war, abgelegt zu werden, auf das der Konkurrenzkampf zwischen den ehemaligen Kartellmitgliedern erneut begönne. Die Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals liefert uns hierfür eine Vielzahl von Belegen."
47 Vgl. z. B. Sonnemann, S. 28 ff., S. 74 ff.
R., 1960,
48 Lenin, W. / , Bd. 22,1971, S. 206. 49 Kleinwächter, F., 1883, S. 143. 50 Brentano, L., 1889, S. 24. 51 Vgl. Kuczynski, J., Bd. 14,1962. 52 Vgl. Kuczynski, Th„ (in D r u c k ) u n d die d o r t a n g e g e b e n e Literatur.
Worauf waren nun diese permanenten Absatzschwierigkeiten zurückzuführen, worin lag die eigentliche Ursache für die Große Depression? Diese Frage — die ganz eng mit der Problematik zusammenhängt, ob der seit 150 Jahren zu beobachtende Wechsel von längeren Perioden langsameren und schnelleren Wachstums eine Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung ist — kann nach dem gegenwärtigen Forschungsstand noch nicht voll beantwortet werden. 52 Wir wollen einige Ursachen anführen, die aber das Phänomen noch nicht schlüssig erklären. Die wesentlichste Ursache der Großen Depression in Deutschland — wie auch den anderen kapitalistischen Ländern Europas — war, daß bestimmte Wachstumsprozesse zu einem gewissen Abschluß gekommen waren. So hatte das Eisenbahnnetz in Deutschland in den siebziger Jahren eine derartige Ausdehnung erreicht, daß in den achtziger und neunziger Jahren das Tempo seines
Karte 1
Politisch-administrative Gliederung Deutschlands um 1900
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weiteren Ausbaus unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt reduziert wurde. Der daraus resultierende scharfe Rückgang der Investitionen 5 3 hatte weitreichende Folgen f ü r die Zulieferindustrien, insbesondere für die Schienenhersteller und ihre, den gesamten Kohle-Eisen-Stahl-Komplex umfassenden Zulieferer. Auch die „alteingesessenen" Konsumgüterindustrien, die Industriezweige, die schon während der Industriellen Revolution eine besonders starke Expansion aufzuweisen hatten — wie die Textilindustrie —, hatten ein derartiges Niveau erreicht, d a ß ihre Wachstumsraten nach 1870, u n d zwar bis hin zum ersten Weltkrieg, deutlich niedriger waren als zuvor. 54 Hinzu kam als wesentliches M o m e n t die internationale Agrarkrise, die vor allem eine Getreidekrise war. Die aus der raschen Entwicklung des Eisenbahnwesens in den wichtigsten getreideproduzierenden Ländern sowie der Verbesserung der Seeschiffahrt resultierende Verbilligung der Transportkosten bewirkte eine rapide Senkung der Getreidepreise, die sich „verheerend auf den europäischen Ackerbau aus(wirkte)", 5 5 u n d gerade in Deutschland tiefgreifende Umwälzungen in der Agrarstruktur erzwang. 56 Betrachten wir die Reaktionen in den damals f ü h r e n d e n Industriestaaten der Welt auf diese Depression, so sind ganz deutlich Unterschiede festzustellen, Unterschiede, die wir in bezug auf Deutschland kurz skizzieren wollen, da sich auch aus ihnen die besondere Bedeutung der G r o ß e n Depression für die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland ablesen läßt. England versuchte, der Überfüllung des inneren Marktes durch die Erschließung neuer äußerer Märkte zu begegnen. 5 7 Während sein Anteil an der Weltindustrieproduktion von 1870 bis 1890 um etwa ein Drittel (von 32 auf 22 %) zurückging, sank sein Anteil am Welthandel nur unwesentlich von 22 auf 20 %.58 Dagegen f a n d e n in der Territorialstruktur des britischen A u ß e n h a n d e l s bedeutende Verschiebungen statt (Tab. 6).
Export 1870/72 1890/92 Import 1870/72 1890/92
Industrieländer 3
Empire"
Sonstige
Gesamt
46,1 35,6
20,3 30,6 19,2 19,5
33,6 33.8
100%
43,9 54,3
36.9 26,2
Tabelle 6 Territorialstruktur des britischen Außenhandels
100% 100%
100%
a USA, Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Kanada b Ohne Kanada Berechnet nach: Cairncross, A. K., 1953, S. 189.
Das Wachstum des Exports basierte nahezu völlig auf der weiteren Erschließung des britischen Empires, w ä h r e n d der Anteil der Exporte in die hochentwickelten Industrieländer ganz stark — um fast ein Viertel — zurückging. Umgekehrt war die Exportoffensive einiger Industrieländer England gegenüber so erfolgreich, d a ß sie ihren Anteil am Gesamtimport Englands genau so stark erh ö h e n konnten, wohingegen die nicht zum Empire gehörenden Agrarländer das N a c h s e h e n hatten. Eine derartige B e k ä m p f u n g der G r o ß e n Depression war für Deutschland nicht möglich. Auf landwirtschaftlichem Gebiet wirkte dem nicht nur die Agrarkrise entgegen. Vielmehr verwandelte sich Deutschland in dieser Zeit aus einem Agrarexportland in ein Agrarimportland. 5 9 Auf industriellem Gebiet wirkte dem die mangelnde Konkurrenzfähigkeit deutscher Waren auf dem Weltmarkt entgegen. Noch 1877 schrieb der deutsche Ingenieur Franz Reuleaux über den Eindruck, den die deutsche Industrie auf der Weltausstellung in Philadelphia allgemein hinterlassen hatte: „Deutschlands Industrie hat das G r u n d p r i n z i p ,billig und schlecht' ". 60 In all ihrer Überspitztheit traf diese Formulierung den Kern der Sache, d e n n der Anteil der industriellen Fertigwaren an der G e s a m t a u s f u h r und insbesondere der Anteil der Produktionsgüter an der industriellen Fertigwarenausfuhr blieb während der G r o ß e n Depression relativ unverändert. 6 1 17
53 Vgl. Hoffmann. W. G., 1965, S. 257. 54 Ebenda, S. 390 ff. 55 Oelßner, F., 1955, S. 271 f. 56 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 176 ff. 57 Hardach, G., 1978, S. 34. 58 Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 19 und 45. 59 Vgl. Nussbaum, H., 1978, S. 53 ff. 60 Zit. nach: Treue, W./Pönicke, H./Manegold, K. H., 1966, S. 210f. 61 Hoffmann, W. G„ 1965, S. 530 f. sowie Vierteljahresberichte zur Konjunkturforschung, Sonderh. 41, 1936, S. 42.
Frankreich, dessen Anteil an der Weltirtdustrieproduktion von 1870 bis 1913 kontinuierlich von 10 auf 6 % sank, 62 b e k ä m p f t e die G r o ß e Depression ebenfalls durch M a ß n a h m e n , die in erster Linie nicht der Produktions- und Produktivitätsentwicklung im eigenen Lande dienten. Es baute erst jetzt sein großes Kolonialreich auf. Während das geographisch-demographische Gewicht 6 3 der englischen Kolonien absolut unübertroffen blieb und sich von 1877 bis 1900 mehr als verdoppelte, stieg das der französischen Kolonien auf fast das Siebzigfache. Frankreich war zur zweitstärksten Kolonialmacht der Welt geworden, sein Anteil an den Kolonien stieg von 1877 bis 1900 auf das Zehnfache. 6 4 Auch wenn Deutschland in den achtziger Jahren kolonialpolitisch aktiv wurde, 65 so war Bismarck der französische Kolonialanspruch nicht unwillkommen, sah er doch „in Frankreichs Kolonialaktivität eine willkommene A b l e n kung' der dortigen herrschenden Klassen von Europa". 6 6 Umgekehrt meinte sein französischer „Kollege" Freycinet, d a ß — wenn die deutsche Politik Frankreich in Ägypten gegen England stützte — „Frankreich Elsaß und Lothringen vergessen würde, da man dem Volk d a f ü r die Erhaltung Ägyptens ins Treffen führen könnte". 6 7 ( D a ß Deutschland bei der „Aufteilung der Welt" zu spät kam, war also nicht zum geringsten Teil Ergebnis eigener strategischer Überlegungen).
62 Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 19. 63 Berechnet nach der von Witthauer, K., 1978, angewandten Methode. 64 Berechnet nach: Kuczynski, J., Bd. 33, 1967, S. 149. 65 Vgl. z. B. Nussbaum, M., 1960. 66 Kuczynski, J., Bd. 33, 1967, S. 85. 67 Ebenda. 68 Zu den folgenden Daten vgl. ebenda, S. 82 f. und 148. 69 Berechnet nach: ebenda, Bd. 37, 1967, S. 19 und 30 f. 70 Ebenda, Bd. 29,1966, S. 252. 71 Ebenda, S. 188. 72 Ebenda, Bd. 37, S. 45. 73 Ebenda, Bd. 29, S. 194. 74 Ebenda, S. 195.
Das andere Gebiet, auf dem Frankreich bedeutende Erfolge erzielen konnte, war das des Kapitalexports. 6 8 Von 1875 bis 1900 konnte es seine Kapitalinvestitionen von 11 auf 25 Mrd. M erhöhen und damit den Abstand zu England bedeutend verringern. Das Volumen der Kapitalanlagen im Ausland betrug in den sechziger Jahren noch nicht 50 % des Volkseinkommens, um 1900 aber waren die Kapitalanlagen im Ausland wohl höher. Dabei konzentrierte sich Frankreich — im Gegensatz zu England — auf Europa, insbesondere auf Rußland. Deutschland konnte zwar seine Auslandsinvestitionen auch in der Periode der Großen Depression erhöhen, sogar stärker als Frankreich, erreichte aber nie dessen Bedeutung. Nach 1900 scheint die Bedeutung Frankreichs relativ zu Deutschland sogar noch zugenommen zu haben. Die USA waren das hochindustrialisierte Land, das am wenigsten von der G r o ß e n Depression heimgesucht wurde. Die Industrieproduktion stieg von 1850 bis 1870 um etwa 240 %, von 1870 bis 1890 um etwa 185 % und von 1890 bis 1913 ebenfalls um etwa 185 %.69 Die Ursachen hierfür lagen vor allem in der immer noch vorhandenen enormen Ausdehnungsfähigkeit des inneren Marktes, die durch den wachsenden Einwandererstrom noch verstärkt wurde. Dabei fällt der H ö h e p u n k t der Einwanderungswelle, die achtziger Jahre, mit dem der Auswanderungswelle aus Deutschland z u s a m m e n : 5,2 Mio. wanderten in diesem Jahrzehnt in die USA ein, 28 % davon waren Deutsche. 7 0 Mit der Erweiterung des inneren Marktes war untrennbar verbunden der industrielle Aufschwung des mittleren Westens, die Wanderung des Industriezentrums von Pennsylvania nach Ohio, und die besonders schnelle industrielle Entwicklung der ehemals agrarischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg. 71 In derselben Zeit beginnt der Außenhandel zwar keine große, aber eine größer werdende Rolle zu spielen. Der Anteil am Welthandel stieg von 1870 bis 1880 von 8 auf 11 % und blieb bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs relativ unverändert, blieb unter dem Anteil Deutschlands. 7 2 Allerdings traten die USA nun weniger als Rohstoffexporteur in den Vordergrund — der Anteil der Rohstoffe am Gesamtexport fiel von 1860 = 68 % auf 1900 = 25 % —, sondern als Halb- und Fertigwarenexporteur (einschl. Lebensmittel). 7 1 Welche Investitionsmöglichkeiten der innere Markt auch Ausländern bot, zeigt die Tatsache, d a ß sich die ausländischen Investitionen von 1869 bis 1897 etwa verdoppelten u n d 1897 noch etwa f ü n f m a l so hoch waren wie die von den USA getätigten Auslandsinvestitionen. 7 4 Auch wenn in Deutschland der innere Markt um 1870 noch keineswegs vollständig vom Kapital erschlossen war, so waren die Möglichkeiten doch weitaus geringer als in den USA. Die Wachstumsrate der industriellen Produktion von 1870 bis 1890 lag demzufolge in den USA um etwa ein Viertel höher als in Deutschland. Im vorherigen Zeitraum von 1850 bis 1870 war sie allerdings 18
Maschinenfabrik Richard mann, Chemnitz (1855)
Hart-
Maschinenfabrik Richard Hartm a n n , Chemnitz (1878) — In der Vergrößerung der Fabrikanlagen spiegeln sich die stürmische Entwicklung der Produktivkräfte und die Konzentration von Produktion und Kapital wider
noch um mehr als drei Viertel höher, während im Zeitraum von 1890 bis 1910 beide faktisch gleich hoch waren. 75 Allerdings kommt in den USA noch ein zweites depressionsüberwindendes M o m e n t hinzu, das j e d o c h in Deutschland (wegen des Fehlens anderer Möglichkeiten) eine viel größere Rolle spielte: der technische Fortschritt. Bevor wir auf ihn eingehen, sei aber zusammenfassend festgestellt: England suchte „neue Märkte für alte Produkte" 7 6 u n d erhöhte die Kapitalanlagen im Ausland 7 7 ; Frankreich erhöhte die Kapitalanlagen im Ausland und schuf sein Kolonialreich; die USA erweiterten den inneren Markt f ü r althergebrachte Produkte. In all diesen Fällen verbreiterte sich zweifellos auch die materiell-technische Basis der kapitalistischen Produktionsweise, vollzog sich ein Wachstum der Produktivkräfte. Aber eine qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte war das im allgemeinen nicht. Sie f a n d in dieser Zeit vor allem in den USA und Deutschland statt, wurde in Deutschland zum Hauptinstrument für die Überwindung der G r o ß e n Depression. 75 Berechnet nach: ebenda, Bd. 37 S. 19 und 30 f. 76 Hardach, G., 1978, S. 34. 77 Landes, D., 1973, S. 309.
19
1.4. Grundlegende Wandlungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise
4 T u r b i n e n b a u bei der A E G — G e h ä u s e w i c k e l e i (um 1900)
Im Rahmen dieser qualitativen Weiterentwicklung der Produktivkräfte sind folgende einander überschneidende und sich gegenseitig durchdringende G r u n d t e n d e n z e n erkennbar: Konzentration, Mechanisierung, Chemisierung, Elektrifizierung. Dabei stellen die beiden erstgenannten vor allem eine Weiterf ü h r u n g schon vorher begonnener Prozesse, die beiden letztgenannten hingegen das qualitativ neue Moment innerhalb der Produktivkräfteentwicklung jener Zeit dar. Indem wir mit der Darstellung dieser beginnen und die jener nachfolgen lassen, wird zwar nicht die historische Kontinuität zum Band 1 des Gesamtwerks hergestellt, aber die logische, denn auch dort wird von den qualitativ neuen Prozessen — in erster Linie natürlich der Industriellen Revolution — ausgegangen und die Fortführung der anderen nachgestellt. Der Versuch, die genannten G r u n d t e n d e n z e n der Produktivkräfteentwicklung herauszuarbeiten und in ihrer über die einzelnen Bereiche hinausgehenden, sie integrierenden Wirksamkeit aufzuzeigen, ist natürlich nicht ohne Rückgriff auf die in diesem Band vereinigten Einzeluntersuchungen möglich. Die Reihenfolge, in der die Probleme dargestellt werden, ist hier also genau die umgekehrte von der, in der sie erforscht wurden. Ausgehend von historischempirischen Untersuchungen wurde zu historisch-theoretischen Verallgemeinerungen vorgestoßen, die aber — zur besseren Einordnung und damit zum besseren Verständnis der einzelnen Prozesse — vorangestellt werden. Im Sinne dieses Konzeptes haben wir daher zunächst die Frage nach dem Charakter der in dieser Zeit sich vollziehenden Produktivkräfteentwicklung zu behandeln.
78 Lenin, W. /., Bd. 22, 1971, S. 305. 79 E b e n d a , S. 266. 80 MEW, Bd. 25,1964, S. 454. 81 Lenin, W. /., Bd. 22,1971, S. 307.
Lenin verdanken wir die Analyse jener „Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen." 7 8 Aber an gleicher Stelle schreibt er auch: „Es wäre ein Fehler zu glauben, daß diese Fäulnistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus a u s s c h l i e ß t . . . Im großen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher . . . " Und schon zuvor stellt er fest: „ . . . die Technik entwikkelt sich in unseren Tagen mit unglaublicher G e s c h w i n d i g k e i t . . ."79 Ist das nicht ein Widerspruch? Natürlich ist das ein Widerspruch, aber kein nur ausgedachter, sondern ein objektiv-realer. Marx und Engels haben ihn (bei der Analyse von Aktienwesen und Monopol) ganz deutlich ausgesprochen: „Es ist dies die A u f h e b u n g der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst, und daher ein sich selbst a u f h e b e n d e r Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt", 80 weshalb Lenin den Imperialismus, den Monopolkapitalismus, auch „als Übergangskapitalismus oder, richtiger, als sterbende(n) Kapitalismus" 8 1 charakterisiert.
20
T u r b i n e n b a u bei der A E G — M o n t a g e a b t e i l u n g (um 1900)
Während Marx und Engels im angeführten Zitat die kapitalistische Produktionsweise im Auge haben, zielen die A u s f ü h r u n g e n von Lenin in erster Linie auf die Wandlungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ab. Aber welche Wandlungen f a n d e n im Bereich der Produktivkräfte statt? T j u l p a n o w und Scheinis bemerken zu dieser Problematik: „In den kapitalistischen H a u p t l ä n d e r n konzentrierte sich auf einen relativ kurzen Geschichtszeitraum, der die letzten Jahrzehnte des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts umfaßte, ein neuer Komplex von Umwälzungen in der technischen Produktionsstruktur, dem einige Forscher die Bezeichnung zweite technische Revolution (auch dritte, wenn man davon ausgeht, d a ß die erste bereits im 16. Jahrhundert stattgefunden hat) oder elektrotechnische Revolution gegeben haben. . . . So bildet die elektrotechnische Revolution einen bedeutenden und deutlich ausgeprägten Abschnitt in der Geschichte der Produktivkräfte des Kapitalismus. M e h r noch, er fällt nicht zufällig zeitlich mit der Schwelle zusammen, die den Übergang des Kapitalismus in sein höchstes und letztes Stadium, den Imperialismus bedeutete", wobei sie zu dem ersten Satz folgende Fußnote geben: „Die Charakteristik der technischen Veränderungen Ende des 19. u n d zu Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s als Revolution in den Produktivkräften ist in der wissenschaftlichen Literatur nicht allgemein anerkannt. D e n n o c h wird dieser S t a n d p u n k t von einer Reihe bürgerlicher und marxistischer Wissenschaftler vertreten." 8 2 Jeder, der diesen Abschnitt in der Geschichte der Produktivkräfte des Kapitalismus als Revolution charakterisiert, kann sich auf Marx und Engels berufen. Engels sprach (1883!) von der elektrotechnischen Revolution. 8 3 Nach Auffassung von Marx findet im Industriekapitalismus „eine völlige (und sich beständig fortsetzende und wiederholende) Revolution in der Produktionsweise statt, in der Produktivität der Arbeit und im Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter." 8 4 Beide waren der Ansicht: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, o h n e die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren." 8 5 Jedoch ist zu bedenken, d a ß in den beiden zuletzt angeführten Zitaten auch von der völligen (und sich beständig fortsetzenden u n d wiederholenden) Revolution in den Produktionsverhältnissen u n d damit sämtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen gesprochen wird, also ein Revolutionsbegriff verwendet wird, der mit dem heute in der marxistisch-leninistischen Literatur verwendeten nicht identisch ist: N i e m a n d bezeichnet den Übergang vom vormonopolistischen zum monopolistischen Kapitalismus als Revolution. Aber der Zwang, „fortwährend zu revolutionieren", sollte — aus im Band 1 dieser Darstellung 21
82 Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., 1975, S. 31 f. 83 MEW, Bd. 35,1967, S. 444f. 84 Marx, K., 1969, S. 61. 85 MEW, Bd. 4, 1959, S. 465.
nachzulesenden Gründen — auch nicht in dem Sinne verstanden werden, daß die Industrielle Revolution noch andauerte oder sich gar bis in die Gegenwart fortsetzt. 86 Reservieren wir den Begriff Revolution für wesentliche Veränderungen, in deren Vollzug die Grundlagen eines Systems zerstört und durch andere ersetzt werden, so kann der qualitative Fortschritt, der in dieser Periode erzielt wurde, weder der Industriellen Revolution zugeschlagen noch als eigenständige Revolution der Produktivkräfte bezeichnet werden — ob nun als technisch-wissenschaftliche, 87 zweite 88 oder dritte 89 industrielle oder als elektrotechnische Revolution. 90 Die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise erfolgte innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, denn erstens wurde in dieser Zeit der monopolistische Kapitalismus erzeugt — er blieb Kapitalismus — und zweitens blieb der Industriearbeiter Hauptproduzent und sein Hauptproduktionsmittel war nach wie vor die Arbeitsmaschine, das heißt auch die technologische Produktionsweise, die Betriebsweise, 91 blieb wesentlich die gleiche. Aber ohne Zweifel fand in dieser Periode ein enormer Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte statt. Ein erstes Indiz hierfür ist die Zahl der Basisinnovationen — grundlegender Neuerungen also, die im Produktionsprozeß eingesetzt wurden (u. a. Thomas-Verfahren, Glühlampe, Dampfturbine, Transformator, Automobil, Kunstseide, Kunstdünger usw.). Nach den bei Mensch 92 zusammengestellten Daten wurden in den Jahren 1829/1877 26 Basisinnovationen getätigt, in den Jahren 1878/1898 aber 32, das heißt die Zahl der Basisinnovationen pro Jahr war in diesen 20 Jahren dreimal so hoch wie vorher. Fügen wir hinzu, daß in den Jahren 1899/1921 ganze drei Basisinnovationen getätigt wurden, so wird — bei aller Grobheit der Daten und ihrer Diskussionswürdigkeit im einzelnen — die ganz außerordentliche Bedeutung, die das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts für den technischen Fortschritt besaß, völlig klar. Die Durchsetzung des technischen Fortschritts erforderte seit Beendigung der Industriellen Revolution im allgemeinen hohe Investitionen. Solche Fälle wie zum Beispiel die Einführung der Nähmaschine, die in England um 1870 (umgerechnet) zwischen 100 und 300 M kostete, 93 waren selten. Insofern ist es auch nicht erstaunlich, daß die Kapitalbestände in Deutschland — im Unterschied zur Produktion — in der Periode der Großen Depression schneller stiegen als in den Jahren zuvor (Tab. 7).
Tabelle 7 Kapitalbestände in Deutschland
1850/54 a Gewerbe gesamt — Gebäude — Anlagen/Vorräte Landwirtschaft gesamt Sonstiges Gesamtbestand
7,4 2,4 5,0 24,9 16,3 48,6
1890/94
1870/74 a 13,0 4,2 8,8 32,1 30,2 75,3
b 2,9 2,9 2,9 1,3 3,1 2,2
a 30,3 10,3 20,0 39,1 60,3 129,7
1910/13 b 4,3 4,5 4,2 1,0 3,5 2,7
a 79,8 23,4 56,4 51,2 112,5 243,5
b 5,0 4,2 5,3 1,4 3,2 3,2
a
in Mrd. M und Preisen von 1913 Jährliche Wachstumsrate in % gegenüber dem vorherigen Fünfjahresdurchschnitt Berechnet nach: Hoffmann, W. G., 1965, S. 229ff.
b
86 Cipolla, C , 1972. 87 Purs, J., 1973, S. 366 ff. 88 Friedmann, G., 1936. 89 Kuc.zynski, J., 1975, S. 97 ff. 90 Vgl. auch die kritischen Bemerkungen von W. ./onai ebenda, S. 176 ff. 91 Zu diesen Begriffen vgl. MEW., Bd. 23, 1962, S. 496, und Haustein, H.-D., 1975, S. 13 ff. 92 Mensch, G , 1975, S. 135ff.; vgl. jetzt auch Van Duijn, J. J., 1979, S. 139 ff. 93 Landes, D., 1973, S. 277.
Die von H o f f m a n n gegebenen Zahlen beziehen sich auf die gesamte Volkswirtschaft, beim Gewerbe sowohl auf seinen kapitalistischen als auch auf seinen nichtkapitalistischen Teil. Berücksichtigen wir aber, daß erstens der Kapitalstock im eigentlichen (marxistischen) Sinne noch schneller gestiegen sein dürfte als die G r u n d f o n d s (der Kapitalstock im Sinne der bürgerlichen Theorie) der nichtkapitalistischen Bereiche des Gewerbes; daß zweitens die Wachstumsrate in der kapitalistischen Industrie weniger stark gesunken sein dürfte als im nichtkapitalistischen Handwerk; daß drittens der Anteil der vergegenständlichten Arbeit am in der kapitalistischen Industrie erzeugten Gesamtprodukt in dieser Zeit gestiegen ist — so können wir den vorsichtigen Schluß zie22
hen, daß die Profitrate in der deutschen Industrie während der Großen Depression nicht gestiegen, sondern wahrscheinlich gesunken ist. Bezug nehmend auf (und polemisierend gegen) Wasserrabs 1889 erschienenes Buch „Preise und Krisen. Volkswirtschaftliches aus unseren Tagen", bemerkt J. Kuczynski zu dieser Problematik: „Natürlich hatte das Kapital keinen Grund, mit der Entwicklung der Aktienkurse zufrieden zu sein. Sie erreichten den Stand von 1872 erst wieder im Dezember 1889 (um sogleich wieder bis 1892/93 um 20 % zu fallen 94 - d. Vf.). Natürlich hatte das Kapital keinen Grund, sich über die Preisentwicklung zu freuen — wurden doch die Preise von Industriestoffen im Jahre 1873 erst im Ersten Weltkrieg wieder erreicht! Die Jahre von 1871/73 erschienen den Kapitalisten als ,die gute alte Zeit'. Aber es gibt keine ,guten alten Zeiten' in der Geschichte! Vergleichen wir die Industrieproduktion nach Dreijahresdurchschnitten, so ergibt (1913 = 100): ,Gute alte Zeit' 1871/73 22 ,Krise und Depression'und alles mögliche andere,Ungünstige'in der Wirtschaft
1874/76 22 1877/79 24 1880/82 27 1883/85 31 1886/88 35 Glaubt wirklich jemand, die Kapitalisten hätten die Produktion in diesen 17 Jahren um mehr als 50 % gesteigert, wenn sie nicht entsprechenden Profit gemacht hätten? Wahrhaftig, das Tempo der erweiterten Reproduktion hatte seit 1876 nichts .Struktur'- bzw.,Allgemein'- oder ,Übergangs'-Krisenhaftes an sich! Es war enorm!" 95 Entsprechende Profite . . . , wem kommt da nicht sogleich die von Marx zitierte Formulierung des Quarterly Reviewer(Th. J. Dunning) in den Sinn: „Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent s i c h e r . . ,"96 Aber ebenda heißt es auch: „Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit . . . " Ist der Profit kurzzeitig „abwesend", wie in den normalen zyklischen Überproduktionskrisen, so zieht sich das Kapital zurück. Wenn aber Preis- und Produktionsrückgang nicht aus der „Klemme" helfen, wird Kapital in anderer Weise kühn: Der Produktionsprozeß selbst wird revolutioniert, der Einsatz neuer Technologien und neuer Produkte wird gewagt. Solange der Absatz und die Profite sicher sind, nimmt kein Kapitalist dieses Risiko auf sich, der „horror vor Abwesenheit von Profit" treibt ihn zum Risiko.97 Auch in diesem Sinne ist die Profitrate „Stachel der kapitalistischen Produktion", 98 und in der Tat erwies sich wieder einmal „die Depression (als) Quelle des Fortschritts". 99 In der Großen Depression wurde Kapital in noch anderer Weise kühn: Insbesondere (aber natürlich nicht nur) infolge des enormen Preisverfalls, der ins schier Bodenlose zu führen schien, mußte das Kapitalverhältnis selbst grundlegend verändert werden und das Monopol als herrschendes Produktionsverhältnis entstehen — ein Prozeß, auf den schon oben eingegangen wurde, ein Prozeß, der wieder vor allem in den USA und Deutschland stattfand, während England 100 und Frankreich 10 ' auf industriellem Gebiet erst später folgten. Qualitative Weiterentwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse fielen in der Tat „nicht zufällig zeitlich . . . zusammen". 102 Ein außerordentlich plastisches Beispiel für den Zusammenhang zwischen Großer Depression, Monopolisierung und technischem Fortschritt gibt uns eine Betrachtung der Daten zur Entwicklung des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet von 1850 bis 1900 (Tab. 8). Die Konzentration von Produktion, Produktionsmitteln und Arbeitskraft schritt, wenn auch nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit, über 50 Jahre hinweg zügig voran. Die Dampfmaschinenleistung stieg auf das Sechzigfache, die Produktion auf fast das Fünfundzwanzigfache, die Zahl der Arbeiter auf knapp das Fünfzehnfache, mit anderen Worten: Die Konzentration von fixem Kapital (als deren Indikator hier die PS-Zahl dienen soll) schritt am schnellsten, die von variablem Kapital (als deren Indikator hier die Arbeiterzahl dienen soll) am langsamsten voran. Aber die Zahl der Werke 103 beginnt in den siebziger Jahren definitiv zu sinken: Man spürt förmlich, wie hier der Kon23
94 Kuczynski, J„ Bd. 13, 1961, S. 80. 95 Ebenda, S. 30. 96 Zit. in MEW, Bd. 23,1962, S. 788 Anm. 250. 97 Vgl. Kuczynski, Th., 1979; Kleinknecht, A., 1979. 98 MEW, Bd. 25,1964, S. 251. 99 Mauro, F., 1971, S. 12. 100 Kuczynski, J., 1979, S. 107 ff. 101 Kuczynski, J., Bd. 33, 1967, S. 139. 102 Tjulpanow, S. I./Scheinis, V. L., 1975, S. 32. 103 Zum Inhalt des Begriffs Werk vgl. die bei Kuczynski, J., Bd. 14, 1962, S. 14 ff., abgedruckten BeGoldschmidt, merkungen von C., 1912, S. 34 ff.
Tabelle 8 Konzentration und Zentralisation im Ruhrkohlenbergbau 1850 bis 1900
Jahrfünft
Werke
Arbeiter
Produktion
Jahr
1850/54 1855/59 1860/64 1865/69 1870/74 1875/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99 1900
190 275 253 226 241 220 188 173 168 161 169
15307 28215 32 303 46715 67 708 76494 88312 102415 140055 176 578 225 907
2,4 Mio. t 3,7 5,9 9,7 13,7 18,0 24,3 29,6 36,6 46,5 58,6
1851 1860
9 845 30777
(7 246 kW) (22 652 kW)
1870
61 788
(45476 kW)
1880
146900
(108 118 kW)
1890 1895
228 400 346400
(168 102 kW) (254950 kW)
1900
591 200
(435 123 kW)
Quelle: Kuczynski.
104 Jonas,
W„ 1974.
Dampfmaschinen-PS
J., Bd. 14, 1962, S. 16f.
z e n t r a t i o n s p r o z e ß die Stufe erreicht hat, auf der er in d e n M o n o p o l i s i e r u n g s p r o z e ß umschlägt. Die Erweiterung von P r o d u k t i o n u n d Kapital ist n u n begleitet von einer Verkleinerung der Zahl der Werke, einer Verkleinerung der Zahl der selbständigen U n t e r n e h m e n . Der im K o h l e n b e r g b a u s c h o n in den siebziger J a h r e n b e g i n n e n d e M o n o p o l i s i e r u n g s p r o z e ß verlief fast u n a b h ä n g i g von aller W i s s e n s c h a f t , aber keineswegs u n a b h ä n g i g vom technischen Fortschritt. Nicht n u r b e d e u t e t e die m o n o polistische K o n z e n t r a t i o n der P r o d u k t i o n , die K o n z e n t r a t i o n von Produktivk r ä f t e n u n d ihre s c h o n d a r a u s resultierende Weiterentwicklung einen bedeut e n d e n Fortschritt, der Einsatz von M a s c h i n e n u n d die A b l ö s u n g der H a n d d u r c h die M a s c h i n e n a r b e i t , also der K e r n p r o z e ß der Industriellen Revolution, 104 w u r d e n erst jetzt auf die T a g e s o r d n u n g gesetzt. Die Arbeitsleistung im U n t e r t a g e b a u stieg über 130 J a h r e (von 1787/96 bis 1902/13) auf m e h r als das D o p p e l t e , faktisch aber n u r im Z e i t r a u m 1850/59 bis 1887/93 (Tab. 9). 24
S c h m i e d e in einem G r o ß b e t r i e b (um 1910)
Zeitabschnitt
Index (1900 = 100)
Steigerung (in %)
1787-1796 1797-1850 1850-1859 1860-1866 1867-1875 1876-1886 1887-1893 1893-1902 1902-1913
44 46 49 65 75 96 102 98 96
33 15 28 6 -4 -2
Tabelle 9 Arbeitsleistung im Steinkohlenbergbau
Quelle: Kuczvnski, J., Bd. 4, 1967, S. 395.
Die Steigerung der Arbeitsleistung fand also — von den sechziger Jahren abgesehen — nur in der Periode der Großen Depression statt. In Tabelle 10 wird der Z u s a m m e n h a n g zwischen Preisbewegung, Entwicklung der Arbeitsleistung und Veränderung der Werkzahl geradezu überdeutlich. Preissenkung zwingt zu erhöhter Arbeitsleistung, Preissteigerung gestattet ein Nachlassen derselben; bei sinkenden Preisen sinkt die Zahl der Werke und umgekehrt — Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Berücksichtigen wir nun noch, d a ß die mit steigender Konzentration der Produktion sich erhöhende Standortimmobilität im Bergbau sowie das natürliche Bodenmonopol, dessen ökonomischer Ausdruck die Bergrente ist,"' 5 den Übergang zum ökonomischen M o n o p o l beschleunigte, d a n n ist der Z u s a m m e n h a n g zwischen G r o ß e r Depression, Monopolisierung und technischem Fortschritt wohl hinreichend belegt. Das Bild wird nur noch deutlicher durch die Tatsache, d a ß mit der Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats 1893 sowohl der Preisfall a u f h ö r t als auch die Steigerung der Arbeitsleistung. Natürlich darf dieses Beispiel nicht verabsolutiert werden — der Steinkoh25
105 Vgl. MEW., Bd. 26.2, 1967, S. 251 f. ( G r u n d r e n t e ) u n d 253 ff. (Differentialrenten).
S.
lenbergbau im Ruhrgebiet ist der klassische Fall für den gerade geschilderten Zusammenhang, und eben deshalb nicht allgemeingültig. Im Braunkohlenbergbau beispielsweise schritt die Steigerung der Arbeitsleistung auch nach Bildung großer Monopolorganisationen — zum Beispiel des Hallischen Braunkohlen-Industrie-Vereins von 1885 — weiter voran, 106 nicht zuletzt, weil der hier verbreitete Tagebau dreimal so hohe Arbeitsleistungen ermöglichte als der dort vorherrschende Untertagebau (vgl. 2.2.3.2.). Tabelle 10 Steigerung bzw. Senkung von Preisen, Arbeitsleistung und Werkzahl im Ruhrbergbau
Jahrfünft
Preise"
Arbeitsleistung 3
Werkzahl a
1855/59 1860/64 1865/69 1870/74
+ 11 % 6% + 2% + 28% -26%
- 16% + 39%
+ 45%
1875/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99
- 18% 3% + 24% -
16%
+ + + + +
14% 3% 16% 17% 5% 10% 1%
- 8% - 11% + 7% - 9% - 15% -
8% 3% 4%
a
In % z u m V o r j a h r f ü n f t Berechnet n a c h : Spiethoff, A., 1955, Bd. 2, Tafel 25 (Preise), u n d Kuczynski,
1.5. Der Zyklus Produktion • Technik • Wissenschaft • Bildung
]., Bd. 14, 1962, S. 16f.
Nicht nur bezüglich der Einführung grundlegender technischer Neuerungen in die Produktion wirkte die Große Depression stimulierend. Betrachten wir die Zahl grundlegender Erfindungen (Basisinventionen), so wurden in den Jahren 1885/1904 nach den Angaben von Mensch 21 derartige Basisinventionen getätigt, eine Leistung, für die in der vorangegangenen Periode über 40 Jähre (1844 bis 1884) benötigt wurden, wohingegen in den 20 Jahren 1905/24 nur zehn Basisinventionen gemacht wurden. 107 Bei aller Grobheit auch dieser Daten und ihrer Diskussionswürdigkeit im einzelnen müssen wir konstatieren, daß die Inventionsdichte in den 20 Jahren von 1885 bis 1904 etwa doppelt so hoch war wie in den Jahren davor und danach. Die beiden Industrien, in denen der technische Fortschritt in ganz starkem Maße naturwissenschaftlich fundiert 108 war, die Chemie- und Elektroindustrie, waren zugleich weitere Zentren des Monopolisierungsprozesses. War die Elektroindustrie einerseits „von Anfang an wissenschaftlich", 109 so war sie andererseits auch in den entscheidenden Produkten von Anfang an monopolistisch — „Monopolbildung in der Elektroindustrie: Typ Pallas Athene." 110 Die umwälzenden Neuerungen in der chemischen Industrie fanden vor allem in der Farbstoffindustrie statt. Die Idee zur Produktion künstlicher Teerfarbstoffe lag im Bereich der Wissenschaft — ja, das Wissen selbst wurde in Form von Patenten monopolisiert. 1 " Dabei stimulierte die deutsche Patentgesetzgebung das Entstehen von Monopolen, das Entstehen von „zahlreichen Kleinstmonopolen, die jedoch voll ausgebildet und voll wirksam sind — wie etwa die Alizarinkonvention von 1881."112
106 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 396. 107 Mensch, G., 1975, S. 135 ff. 108 Wissenschaftliche F u n d i e r u n g im Sinne der Periodisierung von Wußing, H., 1975, S. 98 ff. 109 Bemal, J. £>., 1967, S. 529. 110 Kuczynski, J., Bd. 14, 1962, S. 122. 111 Sonnemann, R./Etzold, H., 1965; Kuczynski, Th., 1970. 112 Kuczynski, J., Bd. 14,1962, S. 121.
Ein außerordentlich instruktives Beispiel für den Zusammenhang von verschlechterten Kapitalverwertungsbedingungen und beschleunigtem wissenschaftlich-technischem Fortschritt liefert uns die Entwicklung der Teerfarbstoffe. Anfangs konzentrierten sich die meisten Unternehmer, die zum größten Teil Chemiker waren, auf die Fuchsinproduktion, die stark erweitert wurde. Infolgedessen fand ein scharfer Konkurrenzkampf auf dem inneren Markt statt, der zu einem drastischen Fall der Preise führte. Sollte dieser Konkurrenzkampf nicht zum Ruin führen, so mußte dazu übergegangen werden, möglichst neue, eigene Produkte auf den Markt zu bringen. Deren zufällige Entdeckung wurde daher in zunehmendem Maße von einer bewußten Gewinnung auf wissenschaftlicher Grundlage verdrängt. In dem Maße, wie es die Unternehmer verstanden, ihre Produktion wissenschaftlich zu fundieren, Wissenschaftler für 26
C h e m i s c h e Fabrik Elektron • Erste Elektrolyse
Forschungszwecke einzustellen und die Kontakte zu den Universitäten u n d Hochschulen auszubauen, in dem M a ß e gelang es ihnen, Produktion und Profite zu erhöhen (vgl. 6.4.). Auch folgendes ist zu b e d e n k e n : Die Erfindung des ersten Teerfarbstoffs, des Mauveins, fand in England statt, wurde dort aber in nur ganz geringem U m f a n g genutzt, da Englands Farbstoffbasis in Indien lag. Aus den Möglichkeiten, die sich aus der Herstellung zahlloser Produkte ergaben, die bis dahin natürliches Monopol waren — damals vor allem die Farben, später d a n n künstlicher Kautschuk, Kunstseide, Kunstwolle usw. — resultierte durch deren Realisierung auch, „daß die chemische Industrie zu einer Bedrohung der Industrien u n d Staaten (wurde), deren Machtstellung auf der Beherrschung der großen Rohstoffgebiete der Erde beruht. So ist es ganz natürlich, daß sie ihre höchste Entwicklung in Deutschland f a n d , das bei der Aufteilung der Kolonien zu spät gekommen war u n d das sich in der chemischen Industrie eine neue, eigenartige und unbegrenzt ausdehnungsfähige Kolonie schuf."" 3 Die wissenschaftlichen Grundlagen der Teerfarbstoffchemie bildeten zugleich die Voraussetzung für die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie. Die Entwicklung der organischen Chemie u n d die Verwendung von ihr produzierter Substanzen in der materiellen Produktion ist aber nur die eine Seite der Angelegenheit. Selbst in der Textilindustrie, die einer der größten Abnehmer von Teerfarbstoffen war, wurden weiterhin eine Vielzahl anorganischer Chemikalien zum Bleichen, Färben usw. verwendet. Einer der H a u p t a b n e h m e r anorganischer Chemikalien wurde in dieser Zeit die Landwirtschaft. Aus der importierten Getreidekrise resultierend, wurde in den achtziger Jahren verstärkt mit dem Einsatz künstlicher Dünger begonnen (vgl. 3.4.), der in den neunziger Jahren zu bedeutenden Ertragssteigerungen führte (vgl. Tab. 60). Wenn Deutschland um 1913 die höchsten Ernteerträge in E u r o p a hatte," 4 so nicht zuletzt deshalb, weil es in h o h e m M a ß e künstliche Düngemittel einsetzte, die zu etwa 50 % an der Ertragssteigerung beteiligt waren (vgl. 3.4.). Dabei spielte allerdings auch die in den siebziger Jahren einsetzende, zunächst von
113 Wickel, H., 1932, S. 53. 114 Sartorius v. Waltershausen, 1923, S. 457, u n d Aereboe, 1927, S. 23.
115 116 117 118 119
Berndt, T., 1928, S. 65. Landes, D., 1973, S. 241 f. Ebenda, S. 242. Baumann, R., 1912, S. 182. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 277. 120 Doogs, K., 1928, S. 88. 121 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 29f.
wissenschaftlich gebildeten Praktikern und seit der Jahrhundertwende von Wissenschaftlern betriebene Züchtung (vgl. 3.3.) eine bedeutende Rolle." 5 Schließlich spielte die Chemie eine grundlegende Rolle bei der Weiterentwicklung der Stahlindustrie. Durch die Einführung des Thomas-Verfahrens wurde die Herstellung von Stahl aus phosphorhaltigen Erzen, die die Hauptmasse der europäischen und insbesondere der lothringischen Eisenerzvorkommen ausmachten" 6 und einer schnellen Ausbreitung des Bessemer-Verfahrens auf dem Kontinent hinderlich waren," 7 ermöglicht. Die Herstellung von basischem Stahl mittels des Thomas-Verfahrens war eine der Komponenten wissenschaftlicher Fundierung, die zum Beispiel auch darin zum Ausdruck kam, daß allein in den Versuchsanstalten von Krupp 1889 schon 12 000 chemische Analysen durchgeführt wurden — eine Zahl, die über 1899 = 84 000 auf 1910 = 175 000 stieg (vgl. 2.2.3.2.).118 Allerdings war der Einfluß der Wissenschaft, insbesondere von Chemie und Elektrophysik, in vielen Industriezweigen nur ein mehr oder minder vermittelter. 75 % aller Industriewissenschaftler waren um 1900 in Chemie- und Elektroindustrie beschäftigt," 9 die anderen Wirtschaftszweige partizipierten vor allem an den dort erzielten Resultaten. Dabei ist zu konstatieren, daß die Anwendung elektrotechnischer Erzeugnisse, insbesondere von Elektromotoren, in anderen Wirtschaftsbereichen sehr viel zögernder vor sich ging als die chemischer Erzeugnisse. So betrug der Anteil des Lichtstroms an der Erzeugung der öffentlichen Elektrizitätswerke noch 1896 über drei Viertel, um allerdings schon um 1900 bei 50 % und 1915 bei 28 % zu liegen (vgl. 2.2.2.). Während in der Anfangsphase vor allem der Kleinbetrieb den Elektromotor nutzte (vgl. Tab. 44), war es vor dem ersten Weltkrieg die Großindustrie. Noch 1895 nutzten nur 1,3 % aller Maschinenfabriken den Elektromotor — ein Prozentsatz, der sich bis 1907 auf fast 50 % erhöhte. 120 Dabei ist aber zu bedenken, daß in diesem Jahr die von allen Betrieben in der deutschen Industrie genutzten Motoren eine Gesamtleistung von über 7 Mio. kW hatten, aber nicht einmal 20 % davon durch Elektromotoren erzeugt wurden (vgl. Tab. 44). Dieser zögernde Einsatz resultierte nicht zuletzt daraus, daß die sogenannte „Krise der Fabrik" sich während der Großen Depression erst abzuzeichnen begann. Diese Krise war vor allem eine der Antriebs- und Transmissionsmechanismen. 121 Die mit der Vergrößerung der Betriebe einhergehende Vergrößerung der Produktion und die daraus folgende Verlängerung der Transmissionswege erzwang den Übergang vom Zentralantrieb durch Dampfmaschinen zum elektromotorischen Gruppenantrieb, der die Voraussetzung für den später entwickelten Einzelantrieb bildete. Mit dessen Einführung wurde auch das Werkstattprinzip durch die erzeugnisorientierte Fertigung abgelöst. Ein weiteres Anwendungsgebiet der Elektrophysik war schließlich der städtische Nahverkehr, dessen Grundlage Ende des 19. Jahrhunderts die elektrisch betriebene Straßenbahn wurde — nachdem in den siebziger Jahren Experimente zur Lösung des Antriebsproblems begonnen hatten (vgl. 4.2.2.). Telegraphen- und Fernsprechverkehr, die in dieser Zeit eine weitere Ausdehnung erfuhren bzw. in dieser Zeit und in rasch wachsendem Umfang begannen, waren eo ipso elektrophysikalisch fundiert. Die Elektroindustrie war also vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu einem entscheidenden Faktor in der Produktivkräfteentwicklung geworden — und zwar nicht nur in der materiellen Produktion, sondern auch in der Wissenschaftsentwicklung (vgl. 6.3.2.). Nachdem sich bis etwa 1880 wissenschaftliche Elektrodynamik und die beginnende, auf elektrischem Grundwissen basierende starkstromtechnische Produktion weitgehend unabhängig voneinander entwickelt hatten, setzten Bestrebungen ein, eine wissenschaftliche Elektrotechnik aufzubauen, Bestrebungen, die auf die in der Vergangenheit gemachten Fortschritte in der Elektrophysik zurückgreifen konnten. Bis etwa 1890 kam es zu einer Vielzahl von Innovationen und Inventionen, danach gelangte die Elektrotechnik in eine Periode ruhiger Weiterentwicklung. In bestimmtem Umfang war der Erkenntnisvorrat der Elektrophysik ausgeschöpft, so daß sich 28
kaum grundsätzlich neue Lösungen anboten. Nachdem jedoch der Aufbau der Elektrodynamik vorläufig abgeschlossen war, wurde man mit neuen Problemen konfrontiert, die auch für die physikalische Grundlagenforschung von Interesse waren. Nach diesem, keineswegs vollständigen Überblick über Produktionszweige, die in dieser Zeit eine wissenschaftliche Fundierung erhielten bzw. sogleich auf wissenschaftlicher Grundlage entstanden, wollen wir uns den notwendigerweise erfolgenden Veränderungen in der naturwissenschaftlichen Bildung und Ausbildung zuwenden. Sie fanden — aus weiter unten anzuführenden Gründen — vor allem im höheren Schulwesen statt. Insbesondere nahm die Rolle der Gewerbeschulen (der späteren Oberrealschulen) bedeutend zu. Ihre Stellung im Erziehungsprozeß wurde schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts deutlich (Tab. 11).
Lehrfächer
Alte und neue Sprachen Geschichte/Deutsch/Religion M a t h e m a t i k / N a t u r w i s s . / T e c h n . Fächer
Schulart d a
b
c
54,1 24,4 21,5
34,1 27,6 38,0
25,2 26,6 48,2
Tabelle 11 Die Ausbildungsstruktur an den höheren Schulen
a
Gymnasium Realschule I. O r d n u n g (späteres Realgymnasium) c Gewerbeschule (spätere Oberrealschule) d Angaben in % der Gesamtstundenzahl Berechnet nach: Loew, E., 1874, S. 11. b
Während die „staatserhaltenden" Unterrichtsfächer Deutsch, Geschichte und Religion in allen höheren Schulen etwa gleich stark vertreten waren, nahm die Rolle der fremdsprachlichen (alt- und neusprachliche Ausbildung zusammengenommen) vom Gymnasium über das Realgymnasium zur Oberrealschule im selben Maße ab wie die der mathematisch-naturwissenschaftlichtechnischen zu. Allerdings begann der Aufstieg der Oberrealschule sehr verspätet: In der Zeit der Großen Depression sank in Preußen die Zahl der reorganisierten Gewerbeschulen von ursprünglich 27 im Jahre 1870 über 14 im Jahre 1885 auf neun im Jahre 1890, um schon 1903 auf 42 und 1908 auf 75 zu steigen (vgl. 7.).122 Dabei blieb ihre 1870 konzipierte Stellung innerhalb des Bildungssystems erhalten. Bis 1909 hatten 68 der 75 in Preußen bestehenden Oberrealschulen, also über 90 %, mit Erfolg naturwissenschaftliche Schülerübungen eingeführt — aber nur 77 von 124 Realgymnasien (62 %) und 65 von 332 Gymnasien (knapp 20 %).123 Diese Zahlen zeigen auch, daß weiterhin das altsprachlich orientierte Gymnasium und nicht die naturwissenschaftlich orientierte Oberrealschule die herrschende Ausbildungsform im Rahmen der höheren Schulbildung war. Dabei dürfen wir jedoch die wachsende Bedeutung mathematisch-naturwissenschaftlich-technischer Ausbildung nicht verwechseln mit steigender Qualifikation der Arbeitskräfte überhaupt. Die chemische Industrie beispielsweise war — neben der Elektroindustrie — die naturwissenschaftlich fundierte Industrie und brachte — gemeinsam mit letzterer — einen völlig neuen Unternehmertyp, den Wissenschaftler-Bourgeois hervor, der sich in solchen Persönlichkeiten wie Werner von Siemens und Carl Duisberg verkörperte; zugleich war sie die Industrie mit dem höchsten Prozentsatz ungelernter Arbeiter: Während der Anteil der gelernten Arbeiter in Industrie und Bergbau von 1895 bis 1907 von 65,3 auf 58,4 % absank, sich aber absolut von 3,85 auf 4,93 Mio. erhöhte, sank er in der Chemieindustrie sowohl prozentual (von 17,3 auf 9,4 %) als auch absolut (von 19 800 auf 16 800). Von 1 000 gelernten Industriearbeitern waren 1895 noch fünf in der Chemieindustrie beschäftigt, 1907 aber nur noch drei. Umgekehrt waren von 1 000 Industriearbeitern 1895 insgesamt nur 19 und 1907 schon 21 in der Chemieindustrie beschäftigt (vgl. Tab. 117 u. 118). 29
122 Zusammengestellt nach den Angaben in Denkschrift, 1891, S. 73; Mathias, A., 1906, S. 106, Monatsschrift, 1908, S. 482 f. 123 Monatsschrift,
1908, S. 482 f.
Die bezüglich der höheren Schulen angemerkte zeitliche Verschiebung zwischen dem wissenschaftlichen Fortschritt und seiner Umsetzung im Bildungsprozeß, zeigte sich auch an den technischen Hochschulen. So sank infolge der Großen Depression die Zahl der Studenten nach 1875 und begann erst 1886 wieder langsam zu steigen. Das Niveau von 1875 wurde erst 1894 erreicht, dann aber setzte ein außerordentlich starker Aufschwung ein, der schon bald zu einer Überfüllung der technischen Hochschulen führte. Die Zahl der Studenten erreichte 1902 einen Höhepunkt und blieb dann bis Kriegsausbruch etwa konstant. Innerhalb weniger Jahre war es dem Hochschulwesen gelungen, die für die deutsche Industrie benötigten Ingenieure in genügender Zahl auszubilden, was sich auch darin zeigte, d a ß die Zahl der Ingenieure in der Industrie nun relativ unverändert blieb — also eine gewisse Sättigung erreicht war (vgl. 7.5.). Zu kaum einer Zeit war der Zyklus Produktion — Technik — Wissenschaft — Bildung so klar hervorgetreten wie in den Jahren von 1873 bis 1914 bei der Herausbildung der neuen Industrien, der wissenschaftlich fundierten Chemie- und Elektroindustrie in Deutschland: — ab 1873 Große Depression mit verschlechterten Kapitalverwertungsbedingungen — ab 1878 erhöhte Zahl von Basisinnovationen — ab 1885 erhöhte Zahl von Basisinventionen — ab Mitte der neunziger Jahre Aufschwung der mathematisch-naturwissenschaftlich-technisch orientierten Oberrealschulen und der technischen Hochschulen. Ganz deutlich wird der bestimmende Einfluß der materiellen Produktion auf die Entwicklung von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und wissenschaftlich-technischer Ausbildung, der für die Geschichte der Produktivkräfte so charakteristisch ist.124
1.6. Mechanisierung
Tabelle 12 Entwicklung des Maschineneinsatzes in der Textilindustrie 1875 bis 1895
Wir haben unsere Darstellung der allgemeinen Tendenzen in der Produktivkräfteentwicklung im eigentlichen mit Betrachtungen zur naturwissenschaftlichen Fundierung der materiellen Produktion begonnen, denn dies war die qualitativ neue Linie des Produktivkräftefortschritts in dieser Zeit. Aber sie war noch nicht die quantitativ bestimmende Linie, denn wesentliche Bereiche der materiellen Produktion wurden von ihr nicht berührt, ohne daß man etwa sagen könnte, in diesen Bereichen hätte kein Fortschritt der Produktivkräfte stattgefunden. Es war ein Fortschritt anderer Art, der sich auf mehr traditionellen Wegen vollzog, auf solchen, die schon in der Industriellen Revolution beschritten worden waren und vor allem die weitere Mechanisierung der Produktion betrafen. Ein geradezu frappierendes Beispiel hierfür liefert uns ausgerechnet der Industriezweig, der in der — in Deutschland schon längst beendeten — Industriellen Revolution eine zentrale Rolle gespielt hatte: die Textilindustrie (Tab. 12).
Maschinenart
Z u n a h m e ( + ) bzw. A b n a h m e (—) der M a s c h i n e n z a h l von 1875 bis 1895 ( i n % ) m i t Handantrieb Motorantrieb
Stickmaschinen Strumpfstühle Jacquard-Stühle Stühle o h n e J a c q u a r d Kettenwirkstühle Bobbinetmaschinen
+ + + + + -
86,3 52,2 35,7 23,5 13,5 18,3
+ 2775,0 + 373,0 + 150,6 + 129,2 + 1 044,4 +
244,1
Quelle: St DR, Bd. 119, 1899, S. 146f; vgl. a u c h Tab. 32. 124 Kuczynski,
Während man sich in anderen Industriezweigen schon anschickte, Elektro-
Th., 1978.
30
motoren zu nutzen, stieg hier zum Teil noch die Zahl von Hand betriebener Maschinen. Dabei war es nicht etwa so, daß die Textilproduktion in dieser Zeit besonders schnell stieg und deshalb „jede Maschine" benötigt wurde oder ihr Arbeitszeitfonds stark zunahm und deshalb „jede H a n d " eingesetzt werden konnte. Tabelle 13 widerlegt derartige Vermutungen. (1900/13 = 100)
Gesamt1* Textil Bau Metallerzeugung
1850/54 a b 45 114
10 19
c 22 16
—
—
—
—
—
—
1870/74 a b 60 111 39 41
25 39 29 12
c
1890/94 a b
c
41 35 75 28
76 99 69 54
55 69 71 52
42 68 49 28
Tabelle 13 Arbeitszeitfonds, Produktion und Arbeitsleistungen im Gewerbe und in einzelnen Zweigen
a
Arbeitszeitfonds, berechnet aus den Angaben zur Beschäftigung und zur wöchentlichen Arbeitszeit (in Stunden) b Produktion c Arbeitsleistung pro Stunde, berechnet als Quotient der Spalten b und a d Industrie, Handwerk, Bergbau, Salinen Quelle der Ausgangsdaten: Hoffmann, W. G , 1965, S. 194ff., 213 f., 390ff., 454f.
Die Produktion stieg viel langsamer als früher und das Arbeitszeitvolumen ging weiter zurück. Dagegen stieg die Arbeitsleistung pro Stunde nur wenig langsamer als früher — wenn die ziemlich groben Daten überhaupt einen solchen Schluß zulassen — und in jedem Fall schneller als im gesamten gewerblichen Bereich. Nun könnte aus diesen Daten der Schluß gezogen werden, daß die Industrielle Revolution in Deutschland noch gar nicht beendet war, sondern weiterging. Die Verfechter einer derartigen Hypothese übersehen, daß die Industrielle Revolution nicht auf einen technologischen Vorgang, den Ersatz von Hand- durch Maschinenarbeit, reduziert werden kann. 125 Begreift man die Industrielle Revolution als den Prozeß der Erzeugung der spezifisch-kapitalistischen Produktionsweise, 126 so existierte diese in Deutschland schon lange — die zyklische Überproduktionskrise von 1857 war der Beweis ihrer Existenz. 127 Jedoch kann nicht übersehen werden, daß die technologischen Ergebnisse der Industriellen Revolution in vielen Bereichen weiter ausgebaut und zum Teil erst in dieser Zeit übernommen wurden. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist die Hüttenindustrie. Ihre Entwicklung von 1878 bis 1905 ist aus Tabelle 14 ablesbar.
Zahl der Hochofenwerke Zahl der Hochöfen Belegschaft (in Tausend) Produktion (in Mio. t) Produktion pro Hochofen (in 1000 t) Produktion pro Kopf (in t) Preis (je t in M)
1878
1894
1905
134 212 16 2,1 10 133 64
102 208 24 5,4 26 223 51
104 277 38 11,0 40 286 63
Tabelle 14 Die Entwicklung der Hüttenindustrie
Berechnet nach den Angaben bei Spielhoff, A„ 1955, Bd. 2, Tafel 25 (Preise), und Zöllner, A„ 1907, S. 3.
Von 1878 bis 1894 — leider stehen uns nur Stichjahre zur Verfügung — sinken die Preise (um dann wieder zu steigen), die Zahl der Werke sinkt um ein Viertel (um dann relativ konstant zu bleiben), die Zahl der Hochöfen pro Werk steigt kontinuierlich von 1,6 über 2,0 auf 2,7; noch schneller steigt die Belegschaft, am schnellsten aber steigt die Produktion. Dabei sind jedoch die Wachstumsraten von Jahr zu Jahr im ersten Zeitraum mit 2,5 bzw. 5,9 % deutlich niedriger als im zweiten mit 4,3 bzw. 6,7 %. Die Leistungen (Produktion pro Hochofen bzw. pro Kopf) stiegen dagegen im ersten Zeitraum mit 6,0 bzw. 3,3 % pro Jahr schneller als im zweiten mit 4,0 bzw. 2,3 %. Betrachten wir die Entwicklung der 31
125 Kuczynski, Th., 1975. 126 Marx, K., 1969, S. 45 ff. 127 Lärmer, K., 1979, S. 35 f.
Arbeitsleistung in der gesamten Roheisenindustrie (Tab. 15), so stellen wir auch hier fest, daß die Arbeitsleistung sich am stärksten zur Zeit noch instabiler Monopole erhöhte.
Tabelle 15 Arbeitsleistung in der Roheisenproduktion
Zeitabschnitt 1850-1859 1860-1866 1867-1875 1876-1886 1887-1893 1893-1902 1902-1911 Quelle: Kuczynski,
Index (1900 = 100)
Steigerung (in %)
11 18
30 56 79 95
111
64 67 87 41 20 17
J., Bd. 4, 1967, S. 396.
Allerdings ist der Abbruch der Leistungssteigerung nicht so scharf und unvermittelt wie im weiter oben betrachteten Steinkohlenbergbau (vgl. Tab. 10). Das resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, daß die Roheisenindustrie sich auch nach dem Ende der Großen Depression in einer schwierigen Lage bef a n d : „Der deutsche bürgerliche Ökonom Heymann, der der Schilderung der ,gemischten', d. h. kombinierten Werke in der deutschen Eisenindustrie eine besondere Schrift gewidmet hat, sagt: ,Die reinen Werke werden zwischen hohen Material- und niedrigen Fabrikatpreisen zerquetscht.' Es ergibt sich folgendes Bild:,Übriggeblieben sind auf der einen Seite die großen Kohlengesellschaften mit einer Förderung, die in die Millionen Tonnen Kohle geht, fest organisiert in ihrem Kohlensyndikat, und eng verbunden mit ihnen die großen Stahlwerke und ihr Stahlsyndikat. Diese Riesenunternehmungen mit 400 0001 Stahlproduktion im Jahr, entsprechender Ausdehnung der Kohlen-, Erz- und Hochofenbetriebe wie der Fertigfabrikation, mit 10 000 Arbeitern, die in Werkskolonien kaserniert sind, ja zum Teil mit eigenen Bahnen und Häfen, diese Unternehmungen sind heute der rechte Typus des deutschen Eisenwerks.'" 1 2 8
128 Lenin, W. /., Bd. 22, 202 f., mit Zitat aus H. G., 1904, S. 256 und 129 Zöllner, A., 1907, S. 16. 130 Ebenda, S. 13. 131 Ebenda. 132 Johanssen, O., 1939, S.
1971, S. Heymann, 258.
Die Stahlindustrie aber war, wenn auch nicht in so starkem Maße wie Chemie- und Elektroindustrie, ohne naturwissenschaftliche Durchdringung des Produktionsprozesses kaum denkbar. Überhaupt kann gesagt werden, daß die Integration der beiden Haupttendenzen der Produktivkräfteentwicklung jener Zeit — naturwissenschaftliche Fundierung einerseits und weitere Mechanisierung andererseits — sich in kaum einem Bereich so weitgehend vollzog wie in der Stahlindustrie. Auf die Verbindung zu den chemischen Wissenschaften wurde schon hingewiesen. Erst mit der Einführung des Thomas-Verfahrens gelang der deutschen Stahlindustrie der große Sprung nach vorn, denn erst durch sie konnten die phosphorhaltigen Minette-Erze aus Lothringen auf direktem Wege und in großem Umfang der Stahlindustrie zugeführt werden. Die gegenüber dem althergebrachten Puddelverfahren stark vergrößerte Produktionsgeschwindigkeit der neuen Verfahren — schon der Bessemer-Konverter erledigte die Tagesproduktion eines Puddelofens in 20 bis 30 Minuten 129 —, die steigende Größe der Hochöfen, deren Kubikinhalt sich in diesen 50 Jahren verfünffachte, 130 und ihre noch rascher wachsende Effizienz — sie stieg auf das Siebenfache 131 — verlangten eine vollständige Umwälzung der mechanischen und motorischen Grundlagen des Hüttenwesens. Nicht nur mußte der Transport weitgehend motorisiert werden — und zwar in einem solchen Maße, daß die Hüttenindustrie als „Transportgewerbe" apostrophiert wurde 132 —, für das Ruhrgebiet wurde ein völlig neuer Hafen (Ruhr-Ort) gebaut und mit der Errichtung des Dortmund-Ems-Kanals ein „nationaler", nicht durch ausländisches Territorium führender Schiffahrtsweg zum Meer geschaffen (vgl. 5.3.1.).
13.
Welche Bedeutung das „überbetriebliche" Transportproblem für die Entwicklung der Stahlindustrie hatte, das machte, in negativer Weise, das oberschlesische Beispiel deutlich: Mit der Einführung des Siemens-Martin-Verfah32
8 Dreschmaschine mit Ferneinleger
rens, das Eisenerze zusammen mit Schrott verarbeitet und 1890 zu immerhin 17,4 % an der deutschen Stahlproduktion beteiligt war,133 begann sich die schlechte Transportlage für die oberschlesische Schwerindustrie besonders ungünstig auszuwirken, so daß sich die Anzeichen einer wirtschaftlichen Stagnation mehrten (vgl. 5.3.5.). Der innerbetriebliche Transport, der notwendige Aufbau von Krananlagen, Aufzügen usw. innerhalb der Hüttenindustrie, zwangen den Maschinen- und insbesondere den Schwermaschinenbau zu einer Vielzahl von Neuentwicklungen bzw. deren Übernahme aus den USA. Spätestens Anfang der neunziger Jahre hatte der deutsche Maschinenbau den englischen und französischen sowohl hinsichtlich der Qualität als auch hinsichtlich der Quantität hinter sich gelassen und den Rückstand zum amerikanischen drastisch verringert (vgl. 2.1.3.3.). Im folgenden Jahrzehnt erfuhr die Maschinenproduktion eine Verdoppelung und stieg dann bis zum Kriegsausbruch noch einmal um das Anderthalbfache. 134 Aber die Ursachen und Wirkungen dieses Aufschwungs sind so vielgestaltig, daß wir sie an dieser Stelle nur nennen und nicht detailliert analysieren können. Die Hauptursachen für diesen Aufschwung sind in dem durch den Konzentrationsprozeß ermöglichten und durch die Große Depression erzwungenen Übergang zur Massenproduktion zu suchen.' 35 Nicht nur durch verstärkten Maschineneinsatz mußte versucht werden, die Kostpreise zu senken, um so den Fall der Profitrate aufzuhalten. 136 Erst die Konzentration der Produktion, das Entstehen der sogenannten Riesenbetriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten, ermöglichte die für diesen Aufschwung notwendige Spezialisierung der Produktion, eine Spezialisierung, die den Bau von Spezialmaschinen erforderte. Dabei lagen die Ursachen keineswegs nur in der Industrie. Die Landwirtschaft, die bis 1894 durch die Getreidekrise in einer ökonomisch schwierigen Situation war, reagierte auf diese mit einer verstärkten Mechanisierung, die zu einem enormen Aufschwung der Landmaschinenindustrie führte 137 — sowie mit beginnender Chemisierung, auf die schon eingegangen wurde. Wenn wir bedenken, daß zum Ende des Jahrhunderts der Reinertrag von Höfen mit (für die damalige Zeit) relativ vollständigem Maschinenbesatz vierzigmal höher als der von gleich großen Höfen ohne Maschinenbesatz war (vgl. 3.4.), dann liegt das klar auf der Hand. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß dieser Prozeß vor allem auf den größeren Höfen einsetzte und deren ohnehin schon bessere Position 138 gegenüber den kleineren weiter verbesserte. 139 Die erreichten Produktions- und vor allem die Produktivitätssteigerungen — kein Land in Europa hatte von 1880 bis 1910 eine so hohe Zuwachsrate und 1910 eine so hohe Produktivität wie Deutschland (vgl. Tab. 65) — waren enorm. Sie reichten allerdings nicht zu, um die Verwandlung Deutschlands in ein Agrarimportland (vgl. 3.1.) zu verhindern, ein Prozeß, der vor allem aus dem relativen (nicht etwa absoluten!) Rückgang des Agrarsektors resultierte. 140
133 Landes, D., 1973, S. 248. 134 Wagenführ, R., 1933, S. 60. 135 Mottek. H./Becker. W./Schröter, A., 1975, S. 27 f. 136 Ebenda, S. 26. 137 Bensing, F., 1897, S. 167; Ahrens, R., 1926, S. 30 ff. 138 Baltwanz, /., 1977, S. 223; Klawki, K„ 1899, S. 441. 139 StDR, Bd. 212.2b, 1912, S. 58. 140 Nussbaum, H„ 1978, S. 189.
9 H ä c k s e l m a s c h i n e mit HäckselSackfüllung
Dieser relative Rückgang bewirkte einen schnellen Anstieg der Konsumgüterindustrien, denn die Masse der Industriearbeiter hatte — im Unterschied zur ländlichen Bevölkerung — nicht mehr die Möglichkeit, im eigenen Haushalt Brot zu backen und Butter herzustellen, Bekleidung selbst zu schneidern und einfache Möbel selbst zu bauen. Diese Aufgaben wurden nun mehr und mehr industriell gelöst, und zwar in Form der Massenproduktion, die den Einsatz von Spezialmaschinen zur Voraussetzung hatte. Dieser Prozeß, der von den USA ausging, griff nach der J a h r h u n d e r t w e n d e auf Deutschland über, u n d begann das H a n d w e r k auch an dieser Stelle aus der Fertigung u n d in die Reparatur zu verdrängen. 1 4 1 Die Entwicklung von Spezialmaschinen und Massenproduktion bewirkte ihrerseits den Ausbau der feinmechanisch-optischen Industrie. Die Serienherstellung im Werkzeugmaschinenbau konnte ü b e r h a u p t nur in Angriff genommen werden, wenn die Maßgenauigkeit der Einzelteile — als Voraussetzung für ihre Austauschbarkeit — entschieden erhöht wurde (vgl. 2.2.3.). Mit der allgemeinen Zurückdrängung der handwerklichen innerhalb der materiellen Produktion war verbunden, d a ß die Industrie nun selbst die Ausbild u n g ihrer Arbeitskräfte ü b e r n e h m e n mußte. Ein neuer Typ des Facharbeiters entstand. Dieser in den siebziger Jahren einsetzende Prozeß 142 hatte zur Folge, d a ß um die J a h r h u n d e r t w e n d e der Anteil in der Industrie ausgebildeter Lehrlinge den im Handwerk überschritt: im Maschinenbau wurden 1907 sogar mehr als 80 % aller Lehrlinge in Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten ausgebildet (vgl. 8.3.).
1.7.
Konzentration
141 Landes, D., 1973, S. 276 ff. 142 Pittack, H., 1971, S. 11. 143 Kuczynski, J., Bd. 14, 1962, S. 14.
Den Konzentrationsprozeß haben wir in den vorangegangenen Abschnitten vor allem als notwendige Vorstufe und wesentlichen Bestandteil des M o n o p o lisierungsprozesses und am Beispiel der „vier am meisten monopolisierten Industrien" 1 4 1 behandelt. Ihn darauf zu beschränken, hieße wesentliche Aspekte der Produktivkräfteentwicklung in dieser Zeit zu übersehen. W ä h r e n d 1871 noch 26,2 Mio Menschen in ländlichen Gemeinden lebten u n d die übrigen 36 % ( = 14,8 Mio) in städtischen Gemeinden, war die Zahl der L a n d b e w o h n e r bis 1910 auf 26,0 Mio gesunken und der Anteil der Stadtbewohner auf 60 % ( = 39,0 Mio) gestiegen. Während 1871 in acht Großstädten fast 5 % der Bevölkerung wohnten, waren es in den 40 Jahre später vorhandenen 48 Großstädten schon über 20 % (vgl. Abb. 15). Dies sind wesentliche demogra-
phische Ergebnisse der schon behandelten Entwicklung der Produktivkräfte in Deutschland. Fügen wir hinzu, daß der Anteil der Erwerbstätigen, die in den besonders dicht besiedelten Gebieten — sogenannten Verdichtungsstrukturen (vgl. 5.3.) - wohnten, von 1882 = 28 % auf 1907 = 43 % stieg (vgl. Tab. 75), sich also wahrscheinlich von 1870 bis 1913 verdoppelte, so bekommen wir eine Vorstellung vom Ausmaß der vor sich gehenden Konzentrationsprozesse (im weiteren Sinne des Wortes). Berücksichtigen wir, daß sich von den 40 neu entstandenen Großstädten eine einzige (Posen) in einem ausgesprochenen Agrargebiet herausbildete (vgl. 5.2.1.), so erkennen wir auch die völlige Einseitigkeit der Entwicklung. Es entstanden durch Industrie geprägte Ballungsgebiete als qualitativ neue Stufe in der Standortverteilung der Produktivkräfte (vgl. 5.4.), wodurch sich der Gegensatz von Agrar- und Industriegebieten, von Stadt und Land wesentlich verschärfte. Diese durch Industrie geprägten Ballungen leiteten eine neue Entwicklung im Verkehrswesen ein — der städtische Nahverkehr entstand. Auch wenn ein Teil dieses Verkehrsaufkommens von den Eisenbahnen absorbiert werden konnte — die von 1870 = 41 km auf 1913 = 23 km sinkende Beförderungsweite im Personenverkehr beweist es (vgl. 4.4.) — zeigte sich doch recht bald, d a ß hier mit anderen Verkehrsmitteln vorgegangen werden mußte. Die Straßenbahn entstand, zunächst als Pferdebahn, ab Mitte der neunziger Jahre als „Elektrische". Innerhalb weniger Jahre wurde das Straßenbahnnetz in den deutschen Großstädten so ausgebaut, daß schon vor Ausbruch des ersten Weltkriegs der Bedarf befriedigt war und eine gewisse Sättigung eintrat. Wenn wir bedenken, daß 1913 von der Eisenbahn 1,8 Mrd., von der Straßenbahn aber 2,3 Mrd. Fahrgäste befördert wurden (vgl. 4.4.), dann erkennen wir die ganz ungeheure Leistung, die auf diesem Gebiet vollbracht worden war. Mit dieser Entwicklung ging der Ausbau des innerstädtischen Straßennetzes einher. Die — zahlenmäßig nicht zu belegende, aber unzweifelhaft stark zugenommene — Belastung der Straßen erforderte ihre durchgehende künstliche Befestigung. Der riesige Rohstoffbedarf verlangte von vornherein nach maschineller Massenproduktion, die durch die 1877 eingeführte Steinbrechmaschine 144 realisiert wurde. Daneben nahm die Asphaltverwendung stark zu: Ab 1877 wurden in Berlin jährlich 20 000 bis 40 000 m 2 asphaltiert, so d a ß 1910 über 40 % mit dieser modernen Befestigung versehen waren (vgl. 4.3.). Auch zwischen den Städten wurde eine Vielzahl von Straßen angelegt. Dabei waren es gerade die Länder und Provinzen, die mit einer überdurchschnittlichen Netzdichte bei den Eisenbahnen ausgestattet waren, die auch über die größten Straßennetzdichten verfügten; von den 18 Regionen, deren Daten uns zur Verfügung stehen, lagen bezüglich beider Netzdichten sieben über und acht unter dem Durchschnitt, nur drei lagen das eine Mal unter und das andere Mal über dem Durchschnitt. 145
Jahresdurchschnitte"
1870-79
1880-99
1900-13
Volkswirtsch. Gesamtinvest. (Mio. M) Eisenbahninvestitionen (Mio. M) Anteil der Eisenbahninvestitionen (%)
2 220 540 24,4
4600 260 5,7
6550 530 8,1
Berechnet nach: Hoffmann,
W. G., 1965, S. 257 f.
a
Tabelle 16 Eisenbahninvestitionen 1870 bis 1913
in konstanten Preisen
Hingegen waren die höheren Steigerungssätze bei der Netzdichte der Eisenbahnen gerade dort zu verzeichnen, wo die Netzdichte relativ gering war: Bei 16 von 21 Ländern und Provinzen, für die uns die Daten der Jahre 1881/82 und 1911 zur Verfügung stehen, war das der Fall. 146 Hierin fanden die wachsenden Erfordernisse von Landwirtschaft und Nahrungsgüterproduktion ihren Niederschlag. Schon gegen 1890 nahm zum Beispiel die Rübenzuckerindustrie etwa 7 % des Eisenbahnverkehrs in Anspruch (vgl. 3.6.). Nach 1900 nahmen die Eisenbahninvestitionen stark zu, ohne allerdings die Bedeutung wieder zu erlangen, die sie in den siebziger Jahren gehabt hatten (Tab. 16). 35
144 Birk, A., 1934, S. 406. 145 Berechnet nach den Angaben in StJbDR 1913, S. 120 (Eisenbahnen); Sax, £., 1920, S. 322 (preußische Provinzen); Woytinsky, W., Bd. 5, 1927, S. 26. (deutsche Länder). 146 Berechnet nach den Angaben in StJbDR 1884, S. 102, und 1913, S. 120.
Auch die Binnenschiffahrt entwickelte sich rasch, denn der starke Bedarf an Massenguttransporten erforderte verstärkte Kapitalinvestitionen, die vor allem durch Partikuliere, aber auch durch Reedereien geleistet wurden. Seit den siebziger Jahren wurden in größerem Umfang Schiffe aus Eisen produziert, deren Tragfähigkeit 1912 etwa doppelt so hoch war wie.die der Schiffe aus Holz und zwei Drittel der Gesamttonnage ausmachte. 147 Unter dem Gesichtspunkt der Konzentration ist auch die Elektrizitätsproduktion zu betrachten, die sich nach der Jahrhundertwende stürmisch entwikkelte. Von 1900 bis 1913 stieg sie auf mehr als das Achtfache, bis 1917/18 gar auf das Dreizehnfache.' 48 Die Leistung des größten deutschen Stromerzeugers, der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke, erhöhte sich vom Gründungsjahr 1900 binnen zehn Jahren auf das Fünfundvierzigfache und in den nächsten fünf Jahren noch einmal auf das 3,2fache. 149 In Berlin wurde 1911 pro Kopf anderthalbmal so viel Strom verbraucht wie in London, allerdings nur gut die Hälfte wie in Chicago (vgl. 2.2.2.). Zwei Industriezweige, von denen im Rahmen dieses umfassenden Konzentrationsprozesses eine starke Aufwärtsentwicklung zu erwarten gewesen wäre, fielen aus eben diesem Rahmen — die Kraftfahrzeugindustrie und das Baugewerbe. Zwar stieg die Arbeitsleistung in der Bauindustrie in 20 Jahren vor dem ersten Weltkrieg um 40 % (vgl. Tab. 13), aber dieser Zuwachs war vor allem der Baustoff-, insbesondere der Zementindustrie geschuldet. Der im Verkehrs- und Industriebau seit den siebziger Jahren Platz greifende Betonbau 150 hatte nicht zu einer Umwandlung der Baumanufaktur — denn das war sie im eigentlichen Sinne — geführt (vgl. 2.2.3.4.). Zwar hatte sich der Gesamtbestand an Motorfahrzeugen von 1906 = 21 000 bis Mitte 1914 = 95 000 erhöht, aber damit lag er sowohl hinter Frankreich (171 000) als auch hinter Großbritannien (426 000) zurück, ganz zu schweigen von den USA (1,2 Mio).151 Obwohl deutsche Ingenieure und Techniker wie Otto, Diesel, Daimler und Benz an der Schaffung der technischen Grundlagen führend beteiligt waren — Wissenschaftler selbst waren an der Entwicklung des Verbrennungsmotors kaum beteiligt, sie standen diesen Problemen „ziemlich ratlos gegenüber" 152 —, wurde weder die volkswirtschaftliche noch die militärische Bedeutung dieses neuen Transportmittels erkannt und als solches blieb es irrelevant (vgl. 4.1.1. u. 4.6.). In den USA hingegen bewirkte gerade diese Industrie den Übergang zur Fließbandarbeit als neuer Grundlage der Massenproduktion, zum Fordsystem, das als Kernstück der kapitalistischen Rationalisierung auch in Deutschland Eingang finden sollte — aber erst nach dem Kriege, mit mehr als zehn Jahren Verspätung.
1.8. Die Bilanz vor und nach dem ersten Weltkrieg 147 148 149 150 151 152 153
Sympher, L., 1922, Bd. 2, S. 168. Hoffmann, W. G., 1965, S. 388. Landes, D., 1973, S. 269. Rübberdt, R., 1972, S. 156. Meibes, 0., 1926, S. 15. Goldbeck, G., 1965, S. 209 f. Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 19. 154 Kuczynski, J., 1975, S. 86 f.
Auf der Grundlage der vor allem in der Periode der Großen Depression getätigten Basisinnovationen, die in der Folgezeit in weite Bereiche der Volkswirtschaft diffundierten und erst jetzt zu qualitativ bestimmenden Momenten der Entwicklung wurden, und der Durchsetzung des Monopols in wesentlichen Bereichen der deutschen Industrie hatte sich Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft stark verbessert. England wurde im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf vielen Gebieten der Industrie hinter sich gelassen und insgesamt in der Produktion überholt. 153 Der Abstand zu den USA, der sich bis zum Ende der Großen Depression beständig vergrößert hatte, konnte merklich vermindert werden (Tab. 17). Bei der Entwicklung der Arbeitsleistung in Bergbau und Fabrikindustrie war die Wachstumsrate nach der Großen Depression in Deutschland ebenfalls deutlich höher als in den USA (Tab. 18), so daß auch hier der seit langem bestehende Abstand 154 etwas verkleinert werden konnte. Der ungemein große Fortschritt der industriellen Produktivkräfte zeigte sich in der Wiederherstellung des deutschen Anteils am Welthandel: 1870 betrug er 13 %, sank dann auf 11 % in den Jahren bis 1890 und stieg dann wieder bis 1900 36
auf 13 %, um sich bis Kriegsausbruch nicht mehr zu verändern. 155 Wie anders aber dieser Export strukturiert war, das zeigte die Tatsache, daß der Anteil der Produktionsgüter der industriellen Fertigwarenausfuhr zwar von 1880 bis 1890 faktisch unverändert blieb (27 bzw. 28 %), in den folgenden zehn Jahren aber um mehr als zehn Prozentpunkte auf 39 % stieg.' 56
Deutschland Periode
a
b
c
1851/60 1860/66 1867/75 1876/86 1887/93 1893/02 1902/14
17 23 31 42 60 88 129
36 38 36 42 45 48
4,2 4,1 3,1 4,0 5,1 3,8
USA Periode
a
b
c
1849/58 1859/67 1868/78 1878/85 1885/97 1897/08 1908/14
8 13 27 45 70 119 159
59 108 66 58 70 34
5,0 7,6 6,1 4,9 4,7 3,5
Tabelle 17 Industrieproduktion in Deutschland und den USA
a
b Index, 1900 = 100 Wachstum von Periode zu Periode in % Jährliche Wachstumsrate von Periode zu Periode in % Berechnet nach: Kuczynski, /., Bd. 3, 1962, S. 120; Bd. 4, 1967, S. 59, 61; Bd. 29, 1966, S. 185; Bd. 30, 1966, S. 26.
c
In der europäischen Landwirtschaft stand Deutschland neben Holland und Belgien und vor England an der Spitze, nur übertroffen von den USA. Im Verkehrswesen hatte es beachtliche Fortschritte gegeben, insbesondere bei der Entwicklung von Eisen- und Straßenbahnen, wohingegen der Kraftverkehr unbedeutend blieb. Die Standorte der Industrie wurden den neuen Bedingungen entsprechend ausgebaut und es entstanden die von nun an für ein hochentwickeltes kapitalistisches Land charakteristischen industriellen Ballungszentren.
Deutschland Periode
a
b
1850/59 1860/66 1867/75 1876/86 1887/93 1893/02 1902/14
42 52 65 69 79 96 114
—
—
24 25 6 14 22 19
2,5 2,8 0,6 1,5 2,6
c
1,7
USA Periode
a
b
c
1849/58 1859/67 1868/78 1878/85 1885/97 1897/08 1908/14
37 41 58 72 86 104 116
10 41 24 20 21 12
1,1 3,5 2,6
Tabelle 18 Arbeitsleistung in Industrie und Bergbau in Deutschland und den USA
1,9 1,7 1,3
a Index, 1 9 0 0 = 100 b Wachstum von Periode zu Periode in % c Jährliche Wachstumsrate von Periode zu Periode in % Berechnet n a c h : Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 395; Bd. 29, 1966, S. 243; Bd. 30, 1966, S. 57.
Deutschland hatte aber zum Ende dieser Periode nicht nur die in Europa modernsten und weitestentwickelten Kräfte in der Produktion installiert, vergegenständlichte Produktivkräfte, es hatte in der Naturwissenschaft ein Produktivkräftepotential geschaffen, das in seiner Konzentration einzigartig auf der Welt war — ein Potential, das noch seiner Vergegenständlichung bedurfte. Zwar ging die Entwicklung der Naturwissenschaften auch in anderen Ländern — vor allem in Frankreich und England — mit Riesenschritten voran, aber Deutschland hatte in diesem Prozeß die Spitzenposition. In keinem Land war aber auch die Verbindung von Produktion und Naturwissenschaft so weit gediehen wie in Deutschland. Die Bildung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften im Jahre 1911 war auch ein Ergebnis der Macht und Organisationsfähigkeit der deutschen Großindustrie und in jeder Beziehung eine Folge der großartigen Entwicklung der Produktivkräfte im allgemeinen und der Naturwissenschaften im besonderen. 157 37
155 Kuczynski, J., Bd. 37, 1967, S. 45. 156 Vjh. f . Konjunkturforschung, Sonderh. 41. 1936, S. 42. 157 Wendel, G., 1975; Kuczynski, J., Bd. 2,1975, S. 170 ff.
158 Landes, f . , 1973, S. 316ff. 159 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 198. 160 Sämtliche Zahlen nach Kuczynski.J., Bd. 4, 1967, S. 190; Bd. 5, 1966, S. 4, 185f.; Bd. 15, 1963, S. 4 ff. 161 Zum Verhältnis von Produktionspotential und Produktivkräfteentwicklung vgl. Kapitel 1.3. in Bd. 3 dieser Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland (in Vorbereitung für 1985).
Das traditionell 158 in Deutschland hochentwickelte Schulsystem wurde insbesondere im Bereich der höheren Schulen und der Hochschulen weiter ausgebaut und den neuen Erfordernissen angepaßt. In der Industrie verflochten sich Dequalifizierungsprozesse mit dem Aufschwung des industriell ausgebildeten Facharbeiters. Die deutsche Arbeiterklasse gehörte zu den bestorganisierten in der Welt, ihr Gegenpol, die Monopolbourgeoisie, war nirgendwo so gut organisiert wie in Deutschland. Kein Land hatte eine politisch gleichermaßen so reaktionäre wie aggressive Führungsschicht wie Deutschland. Zu Beginn des ersten Weltkriegs standen Deutschland und die deutsche Wirtschaft „den ökonomischen Anforderungen dieses bis dahin größten und verheerendsten aller Kriege, wenn man den Erkenntnisstand über die ökonomische Kriegsvorbereitung zugrunde legt, relativ gut, den tatsächlichen Anforderungen des Krieges an die Wirtschaft aber nahezu unvorbereitet gegenüber." 1 5 9 War Deutschland zu Beginn des ersten Weltkrieges das höchstentwickelte Land Europas, so war es am Ende des Krieges — am Ende: An erster Stelle sind hier die 2 Mio gefallenen Soldaten zu nennen sowie die über 4 Mio Verwundeten. Die Industrieproduktion war gegenüber 1913 mehr als halbiert, die Arbeitsleistung allein im Bergbau um mehr als 20 % gesunken, in der Eisen- und Stahlindustrie wahrscheinlich sehr viel mehr, die Hektarerträge in der Pflanzenproduktion betrugen nur noch drei Viertel des Vorkriegsstandes. Der Schweinebestand war auf 40 % zurückgegangen, der Ernteertrag auf etwa 60 %, die Steinkohlenproduktion auf 83,2 %, die Produktion von Stahl und Eisen auf 53 %, dagegen stieg die Braunkohlenproduktion auf 115,3 %. Im Schiffbau sank die Produktion auf 23 %, Handelsschiffe allein auf 42 %, und im Wohnungsbau gar auf 4 %.160 Die Milcherträge fielen um fast die Hälfte, die durchschnittlichen Schlachtgewichte bei Schweinen um 22 % und bei Rindern um 33 %, die offizielle Fleischproduktion um über 80 % (vgl. 3.7.). Gehört diese Zeit überhaupt in eine Geschichte der Produktivkräfte? Und wenn j a , gehört sie dann nicht in den folgenden Band, der dem „Wiederaufstieg" der deutschen Wirtschaft (und ihrem erneuten Zusammenbruch) gewidmet ist, einem Wiederaufstieg, der so eng mit dem Zusammenbruch am Ende dieses Krieges zusammenhing? — Der Krieg ist nicht der Vater aller Dinge und dieser erste Weltkrieg war es schon gar nicht. Er war gezeugt in der soeben beschriebenen Periode, er war das Ergebnis der dort nicht lösbar gewesenen Widersprüche. Er war der Schlußpunkt der bisherigen imperialistischen Entwicklung gewesen, und daß er nicht überhaupt zum Schlußpunkt imperialistischer Entwicklung in Deutschland wurde, das war erst 1923, mit Beendigung der revolutionären Nachkriegskrise entschieden. Und deshalb ist der erste Weltkrieg in diesem Band der Darstellung enthalten. Der erste Weltkrieg hatte in erster Linie eine ganz ungeheure Vernichtung von Produktivkräften zur Folge, die in ihrer Bedeutung für die deutsche Geschichte bis dahin wohl nur vom Dreißigjährigen Krieg übertroffen worden ist. Die obigen Zahlenangaben mögen genügen. Allerdings blieb ein beträchtlicher Teil des Produktionspotentials erhalten und konnte nach dem Ende des Krieges wieder produktionswirksam werden. 161 Von einer allgemeinen Entwicklung der Produktivkräfte, gar ihrer Höherentwicklung, konnte jedoch keine Rede sein. Bedenken wir, daß in den oben gegebenen Zahlen auch die eine wesentliche Grundlage der damaligen Kriegsführung darstellende Eisen- und Stahlindustrie enthalten ist, so kann das noch nicht einmal für die kriegswichtigen Industrien behauptet werden. Ganz vereinzelt finden wir Weiterentwicklungen, sogar revolutionäre Erfindungen, die sogleich Eingang in die Produktion fanden. Verglichen mit der allgemeinen Destruktion waren sie ein Löffel Honig in einem Faß voll Teer. Sie sind uns noch heute in Erinnerung, weil sie noch heute genutzt werden — heute, wo die Zerstörungen des ersten Weltkrieges fast vergessen und im Vergleich zu denen des zweiten Weltkrieges scheinbar unbedeutend sind. Bedeutende Produktionssteigerungen fanden im Bereich der Nichteisenme38
tallindustrien 162 — insbesondere bei der Aluminiumindustrie, die eine erste Blüte erlebte 163 — und der Elektrizitätserzeugung 164 statt. Qualitative Weiterentwicklungen waren vor allem auf die chemische Industrie konzentriert. Damals entstanden solche noch heute bedeutenden Produktionsstätten wie die LeunaWerke und das Stickstoffwerk Piesteritz, wurde das Haber-Bosch-Verfahren der Ammoniaksynthese zur Produktionsreife geführt. Die Chemie ermöglichte auch die Herstellung der Giftgase Grün-, Gelb- und Blaukreuz, mit denen die Soldaten auf den Schlachtfeldern vernichtet wurden. Diese Soldaten aber, sie hätten in Friedenszeiten ein ganz bedeutendes Produktionspotential dargestellt: Gleich zu Kriegsbeginn schieden 13 % aller Beschäftigten aus dem Produktionsprozeß aus und wurden im Destruktionsprozeß eingesetzt.165 Das Ernährungsniveau, gemessen in Kalorien, wurde halbiert (vgl. 3.7.). Die Reallöhne der in den Fabriken beschäftigten Arbeiter sanken auf ein Niveau, das im gesamten Untersuchungszeitraum noch nicht vorhanden war, auf den Stand von 1850/54. Sie lagen damit um 30 % unter dem von 1913.166 Produktion und Produktivität der deutschen Volkswirtschaft fielen etwa zurück auf den Stand der Jahrhundertwende. Einen ähnlichen Rückschlag hatte es bis dahin in der Geschichte des deutschen Kapitalismus nicht gegeben.
162 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 190. 163 Rauch, £., 1962. 164 Hoffmann, W. G., 1965, S. 388. 165 Berechnet nach den Angaben in Deutschland im 1. Weltkrieg, Bd. 1. 1968, S. 306, und Hoffmann. W. G., 1965, S. 205. 166 Kuczynski, J., Bd. 2, 1962, S. 152; Bd. 5,1966, S. 179.
39
2. Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie
Das Bessemerverfahren leitete die Ära d e r kontinuierlichen S t a h l p r o d u k t i o n ein
Als die erste in der deutschen Wirtschaft organisch gewachsene zyklische Überproduktionskrise des Jahres 1857 überwunden wurde, ging die Industrielle Revolution auch in den deutschen Staaten ihrem Ende entgegen. Die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus der freien Konkurrenz waren auf der im Verlauf der Industriellen Revolution entstandenen materiell-technischen Basis uneingeschränkt wirksam geworden. In wichtigen Zweigen der industriellen Produktion war die Handarbeit durch Maschinenarbeit ersetzt worden; es dominierte ein Maschinensystem, bestehend aus Arbeitsmaschine, Dampfmaschine und den Transmissionsmechanismen. In den Zweigen der Industrie, in denen die Anwendung der Arbeitsmaschine aus technologischen Gründen nicht möglich war, hatten chemische, thermische und physikalische Verfahren zu einem sprunghaften Anstieg der Produktion geführt. Die Fabrik, jene auf der Maschinenarbeit beruhende Organisationsform der Produktion, war volkswirtschaftlich — nicht zahlenmäßig — zur vorherrschenden Organisationsform der Produktion geworden. Natürliche Werkstoffe, wie zum Beispiel das Holz, hatten besonders in der produktionsmittelerzeugenden Industrie an Bedeutung verloren. Mit der Entstehung der Fabrik hatten sich die beiden Hauptklassen des Kapitalismus — die Bourgeoisie und das Proletariat — herausgebildet und als Klassen konstituiert und organisiert. Die Industriebourgeoisie und das Industrieproletariat waren jene Kräfte, die als Leiter der Produktion oder als unmittelbare Produzenten den Anforderungen der maschinellen Großproduktion genügten. Zum anderen hatten die Produktionsmittel besonders in der Schwerindustrie eine Dimension gewonnen, die die maschinelle Produktion von Maschinen unabdingbar machte. Die Krise des Jahres 1857 signalisierte nicht nur das Ende der Industriellen Revolution, sondern sie erzwang, wenn auch mit einer zeitlichen Verschiebung zu den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts, den allgemeinen Übergang zu den intensiven Produktions- und Ausbeutungsmethoden. Diese Veränderung hatte sich bereits seit der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 angekündet. Während die extensiven Methoden der Produktion und der Ausbeutung typisch — im Sinne von vorwiegend — für die Industrielle Revolution waren, sind die intensiven Methoden im gleichen Sinne für jene industriellen Entwicklungsphasen typisch, die der Kapitalismus bis in die Gegenwart durchläuft. Das bedeutet nicht, zu übersehen, daß sich intensive Methoden schon in der Industriellen Revolution in jenen Produktionszweigen bemerkbar machten, die durch einen hohen Mechanisierungsgrad charakterisiert waren und daß extensive Produktions- und Ausbeutungsmethoden auch nach der Industriellen Revolution dort auftraten, wo die Mechanisierung noch schwach entwickelt war. Dazu kommt, daß die Bourgeoisie besonders während der beiden Weltkriege — bedingt durch den Mangel an Produktionsmitteln und Arbeitskräften — erneut zu extensiven Methoden griff. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Methoden besteht darin, daß in der extensiven Phase der Produktion zwar der Einsatz von Maschinen zunahm, daß aber vor allem die Zahl der Fabriken, die Zahl der Arbeitskräfte in den Fabriken, die die Lücken zwischen den zunächst nur großporig mechanisierten Fertigungsprozessen zu füllen hatten, rasch wuchs. Gleichzeitig stieg die Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeit, schwoll das Arbeitsalter der unmittelbaren Produzenten an, erhöhte sich die Ausbeutung der weiblichen und kindlichen Arbeitskraft. Diese Prozesse waren mit dem Absinken der Reallöhne und anderer für die Reproduktion der Arbeitskraft unabdingbarer Faktoren verbunden. Erst als diese Ausbeutungsmethode die physische Existenz der unmittelbaren Produzenten bedrohte, das Proletariat sich nachdrücklich zu widersetzen begann, war das Kapital gezwungen, intensive Methoden der Produktion und Ausbeutung anzuwenden. Dieser Übergang setzte allerdings eine gewisse Reife der Fabrikproduktion, besonders der produktionsmittelerzeugenden Zweige voraus, denn die Zahl der Fabriken nahm weiter rasch zu, neue Gewerbe wurden von der Industrialisierung erfaßt, die wissenschaftlichen Industrien ent41
2.1. Die Produktivkräfte in der Phase der Herausbildung des Monopolkapitalismus 2.1.1. Ergebnisse der Industriellen Revolution
1 Kuczynski, 122.
J., Bd. 3, 1962, S.
standen. Die verstärkt verlaufende Konzentration der Produktion vollzog sich auf der Basis modernster Produktionstechnik und Technologie. Obwohl der deutsche Maschinenbau in den fünfziger Jahren keineswegs den Anschluß an die internationale Entwicklung gefunden hatte und beachtliche Teile des Maschinenbedarfs importiert werden mußten, stieg gerade in jenem Jahrzehnt erstmals die Produktion von Produktionsmitteln schneller als die Produktion von Konsumgütern. 1 Die deutsche Bourgeoisie begriff unter dem Druck des Widerstandes des Industrieproletariats, besonders an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren, daß die alten Produktions- und Ausbeutungsmethoden, die zu einer Stagnation der Arbeitsproduktivität und einer unzureichenden Qualität ihrer Industrieprodukte führten, nicht geeignet waren, um den Anschluß an die fortgeschrittenen Länder zu finden. Schließlich — und dieser Faktor verdient in den deutschen Staaten besondere Beachtung — sah die deutsche Bourgeoisie in der Entwicklung der modernen Produktivkräfte ein Mittel zur Stärkung ihrer ökonomischen und politischen Position, nicht nur gegen das Proletariat, sondern auch gegen die halbfeudalen Elemente. Neben dem im Vergleich zu England und Frankreich schwächer entwickelten proletarischen Klassenkampf in den deutschen Staaten wurden der Konkurrenzkampf auf dem deutschen und dem internationalen Markt und der Widerstreit zwischen den progressiven Kräften der Bourgeoisie und den halbfeudalen Schichten zu Triebkräften des Überganges zu neuen Produktions- und Ausbeutungsmethoden. Diese Auseinandersetzung wurde seit der Krise des Jahres 1857 unter anderem mit den Mitteln der intensiven Produktion und Ausbeutung geführt. Die Krise bewirkte zwar eine massenhafte Vernichtung von Produktivkräften in der Industrie, aber in ihrem Ergebnis entstand — wie bei jeder zyklischen Überproduktionskrise — ein Produktionsapparat auf einem technisch vollkommeneren Niveau. Die Produktionsmittel wurden modernisiert, die Konzentration der Produktion wuchs, moderne technologische Verfahren fanden auch in der deutschen Industrie Zugang. Durch die verstärkte Mechanisierung kam es zur weiteren Zurückdrängung der Handarbeit, neue chemische und thermische Verfahren fanden Anwendung. In jenen Landesteilen, in denen die Industrielle Revolution nur schwach wirksam geworden war, entstanden nunmehr Fabriken. In den Produktionszweigen, in denen bis dahin die Handarbeit vorherrschte, wurde die Maschinenarbeit eingeführt. Das heißt aber auch, daß der Wandel in den Produktionsmethoden, daß der Übergang vom Agrar- zum Industrieland, ein gewaltiger extensiver Prozeß war. Dem Streben der Bourgeoisie, die maschinelle Großproduktion auf der Grundlage modernster Technik und technologischer Verfahren voranzutreiben, kam entgegen, daß der Übergang zu den intensiven Methoden der Produktion in Deutschland einsetzte, als er in den entwickelten kapitalistischen Ländern längst im Gange war. Dadurch konnte sich die deutsche Bourgeoisie an der effektivsten Technik orientieren und der modernsten Methoden der Produktion und ihrer Leitung bemächtigen. Die Ungeniertheit in der Ausnutzung der Erfahrungen des Auslandes, der Realismus der deutschen Bourgeoisie erwiesen sich auch darin, daß sie sich nicht mehr vorrangig am Beispiel Englands orientierte, sondern seit dem Ende der sechziger Jahre ihre Aufmerksamkeit den USA zuzuwenden begann. Verfügten England, Frankreich und die USA anfangs der sechziger Jahre noch über einen höheren technischen Standard, so konnte die deutsche Bourgeoisie ausländische Technik, Arbeitsgegenstände und technisches Wissen mit einer wachsenden Zahl deutscher Facharbeiter und einer schon in der Industriellen Revolution herangebildeten breiten Schicht von Technikern und Naturwissenschaftlern kombinieren, die in dieser Zahl und Qualität zum Beispiel in den USA noch fehlte. Eine Grundbedingung für das Emporschnellen der Mechanisierung war das Anwachsen des Entwicklungstempos der schwerindustriellen Produktion. Ohne die rasche Entwicklung der Eisen- und Stahlproduktion, des Bergbaus und des Maschinenbaus wäre der rapide Anstieg des Mechanisierungsgrades 42
ebensowenig denkbar gewesen wie die beginnende Chemisierung und Elektrifizierung der Produktion — Faktoren, die zwar Bestandteile der materiell-technischen Basis des Monopolkapitalismus sind, die sich aber schon in dieser Phase in Ansätzen zeigten. Eine weitere Grundbedingung für den Übergang zur intensiven Produktion war die Anpassung der Reproduktionsbedingungen der Produktivkraft Mensch an die veränderten Produktionsbedingungen. Unter dem Druck des proletarischen Klassenkampfes stiegen die Reallöhne, sank die Arbeitszeit, kam es zum Rückgang der Kinderarbeit und zu einigen sozialpolitischen Veränderungen. Dadurch wurde den gestiegenen Anforderungen an die psychische Belastung der unmittelbaren Produzenten, aber auch an deren schulische Ausbildung und fachliche Qualifikation bedingt entsprochen. Verlangte die breite Anwendung moderner Produktionstechnik einerseits die Veränderung der Ausbeutungsmethoden, so führte sie gleichzeitig zu neuen extensiven Prozessen. Der in der zweiten Industrialisierungsphase einsetzende Wandel Deutschlands von einem Agrarland zu einem Industrieland löste einen massenhaften Zustrom von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft und dem Handwerk in die Industrie aus. Andererseits war zum Beispiel die Einführung der elektrischen Beleuchtung in den Fabriken zum einen durch die Verkürzung der Arbeitszeit und die Intensivierung der Ausbeutung begleitet, zum anderen erlaubte sie aber den Mehrschichtbetrieb, also die Extensivierung. Ein anschauliches Bild von der Position der deutschen Wirtschaft im internationalen Rahmen am Ende der Industriellen Revolution vermitteln die im Kapitel 1, Tabelle 1 und in nachstehender Tabelle 19 mitgeteilten Kennziffern, die die Ausgangsbasis für die weitere Entwicklung der Produktivkräfte in der deutschen Industrie darstellen.
1860 1870 Quelle: Kuczynski,
Deutschland
England
Frankreich
USA
16 13
36 32
12
17 23
10
(jeweils in Prozent)
Tabelle 19 Anteile an der Weltindustrieproduktion
J., Bd. 2, 1962, S. 121.
Der Vorsprung Englands ist offenkundig, aber die Fortschritte in der deutschen Produktionsleistung sind unverkennbar. Die Fortschritte, die die deutsche Industrie in den sechziger Jahren erzielte, beruhten in erster Linie auf der zügigen Ersetzung der manuellen Arbeit durch Maschinenarbeit. In der Spinnerei wurde die Mechanisierung besonders durch das Vordringen der Self-Actormaschinen perfektioniert. Während zum Beispiel in der Kammgarnspinnerei die alten Spinnsysteme um 1860 für je 1 000 Spindeln 20 bis 25 Arbeitskräfte verlangten, erforderten Self-Actorspinnmaschinen bei gleicher Spindelzahl nur 13 bis 14 Arbeitskräfte. 2 Zwar waren am Ende der sechziger Jahre die alten Spinnsysteme noch keineswegs restlos verdrängt, aber Betriebe wie die Augsburger Kammgarnspinnerei arbeiteten schon 1869 ausschließlich mit Self-Actorspinnmaschinen. 3 Handelte es sich in der Spinnerei um die qualitative Verbesserung des Maschinensystems und um die volle Mechanisierung der Flachsgarnproduktion, so trieb in der Weberei die Auseinandersetzung zwischen Handarbeit und Maschinenarbeit erst ihrem Höhepunkt zu. Bis zu den sechziger Jahren war die Zahl der mechanischen Webstühle gewachsen. Gleichzeitig hatte sich jedoch auch die Zahl der Handwebstühle weiter vergrößert. Erst in den sechziger Jahren kam es zu einer raschen Zunahme mechanischer Webstühle, die von vornherein an die Dampfmaschine als Antriebskraft gebunden waren. Außerdem wurden in jenen Produktionsstufen beachtliche Fortschritte erzielt, die dem Spinnprozeß vorangingen bzw. dem Webprozeß folgten. So in der Appretur, der Färberei, der Bleicherei und der Mechanisierung der Verarbeitung der Stoffe durch die Einführung der Nähmaschine. 43
2 Blumberg,
H., 1965, S. 84 f.
3 E b e n d a , S. 85.
Gewichtiger waren jedoch die Fortschritte in der Schwerindustrie. Nur sie machten den Fortgang der Mechanisierung in der Leichtindustrie, die Verbesserung des Transport- und Nachrichtenwesens, der chemischen Produktion usw. möglich. Gerade die sechziger Jahre brachten im schwerindustriellen Sektor durch neue (aber auch durch die quantitative Entwicklung schon in den fünfziger Jahren bekannter) Produktionstechniken eine so rasche Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Arbeitsintensität, daß der bis dahin bestehende Unterschied im Wachstumstempo der Produktivität in der Leicht- und Schwerindustrie schwand. Der Aufschwung der Kohlenproduktion — wie überhaupt der Bergbauproduktion — basierte auf dem Aufschluß neuer Produktionsstätten und dem Ausbau der Verkehrswege, besonders der Eisenbahn und der Binnenschiffahrt (vgl. 4.2.). Wesentlich war, daß die Nutzung der Dampfkraft für die Wasserhaltung und die Förderung stark anstieg und die Mechanisierung dieser Transportbereiche sich stimulierend auf die Leistung vor Ort auswirkte — obwohl dort kaum Arbeitsmaschinen angewendet wurden, sondern die Handarbeit in der Kombination mit der Nutzung von Sprengstoffen vorherrschte. Verfügte der Steinkohlenbergbau zum Beispiel an der Ruhr 1863 über 397 Dampfmaschinen, der in Oberschlesien sogar nur über neun Dampfmaschinen, so waren es 1871 bereits 840 beziehungsweise 318.4 Die metallurgische Industrie der sechziger Jahre war in ihrer Entwicklung vor allem durch die Verdrängung der Holzkohlehochöfen durch die Kokshochöfen, das 1856 entwickelte Windfrischverfahren Henry Bessemers und das 1867 geschaffene Siemens-Martin-Verfahren bestimmt. Beruhten 1861 in Preußen 70,9 % der Hochofenproduktion auf Kokshochöfen, so waren es 1870 bereits 91,0 %} Das Bessemerverfahren leitete die Ära der kontinuierlichen Stahlproduktion ein. Die Steigerung der Flußstahlproduktion des Deutschen Zollvereins von 34 259 t im Jahre 1861 auf 161 829 t im Jahre 1869 war nur auf der Basis dieser neuen Technologie möglich. 6 Die verstärkte Anwendung der Dampfkraft bildete auch hier die Basis der neuen Technologie, deren wissenschaftliche Fundierung unabdingbar wurde. Der Aufschwung der Stahlproduktion wiederum verlangte neue Verformungsmethoden und neue Produktionsmittel in Gestalt von Dampfhämmern, Konvertern, starken Antriebsmaschinen und Gebläsen. Schufen Bergbau und Metallurgie wesentliche Bedingungen, für die Weiterentwicklung des Maschinenbaus, so stellten sie — gemeinsam mit der Leichtindustrie, dem Transport- und Nachrichtenwesen, der Chemie usw. — erhöhte Anforderungen an den Maschinenbau. Dem entsprach der Maschinenbau durch die Erhöhung seines Produktionsvolumens, das sich in den sechziger Jahren verdreifachte 7 , und durch die Verbesserung der Produktionstechnik, die Qualifizierung der Mehrzahl der Produzenten und die beginnende Verwissenschaftlichung der Produktionsgrundlagen. Der schon in den fünfziger Jahren vorhandene Trend der Ersetzung der Universalmaschine durch die Spezialmaschine setzte sich ebenso fort, wie die Vermehrung der genutzten Dampfmaschinen auch im einzelnen Maschinenbaubetrieb. 8 Ein spezieller Werkzeugmaschinenbau entstand, die maschinelle Fertigung von Muttern, Schrauben, Bolzen und Gewinden nahm zu, Ansätze zur Serienproduktion bildeten sich heraus. Generell lassen sich die sechziger Jahre so charakterisieren: In zahlreichen Teilen der industriellen Produktion vermehrte sich die Zahl bekannter und neuer Arbeitsmaschinen, fanden Dampfkraft und moderne Technologien Eingang. Typisch war, daß die Arbeitsmaschinen fast grundsätzlich mit Dampfmaschinen gekoppelt wurden und daß die Antriebskräfte sowohl der vorindustriellen Ära als auch der Anfangsphase der Industriellen Revolution — also die menschliche und tierische Muskelkraft und die Kraft des Windes und des Wassers — stark an Bedeutung verloren — wenn auch abgestuft. Zwar blieb die in der Industriellen Revolution entstandene regionale Grundstruktur der Industrie in den folgenden Jahrzehnten erhalten (vgl. 5.2.). Dennoch darf nicht verkannt werden, daß mit der weiteren Mechanisierung fabri45
4 Kuczynski, J., Bd. 2, 1962, S. 175. 5 Ebenda, S. 31. 6 Mottek, H., Bd. 2,1969, S. 180. 7 Schröter, A./Becker, W., 1962, S. 177. 8 Ebenda, S. 180.
katorische Produktionszweige auch in Territorien entstanden, in denen sie an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren nicht existierten oder schwach entwickelt waren. Dies galt besonders für Landesteile mit vorherrschender Agrarproduktion, aber auch für alle Territorien, in denen bestimmte Voraussetzungen, so zum Beispiel die Produktion von Elektroenergie, noch fehlten. Einen — wenn auch indirekten — Nachweis der raschen Zunahme der Mechanisierung gibt Tabelle 20. Tabelle 20 Vergleich der 1859 und 1877/78 in Preußen vorhandenen feststehenden Dampfkessel in ausgewählten Industriezweigen
Industriezweig
Zahl der Kessel 3 1859 1877/78
Prozentuale Steigerung 3
Industrie der Steine und Erden Polygraphisches Gewerbe Industrie der Holz- und Schnitzstoffe Industrie der Heiz- und Leuchtstoffe Chemische Industrie Metallverarbeitung Papier- und Lederindustrie Industrie der Maschinen, Werkzeuge u. Apparate Bergbau-Hütten- und Salinenwesen Textilindustrie Industrie der Nahrungs- und Genußmittel
129 27 223 127 155 243 240 352 2 469 1 219 3 524
894,57 874,07 611,65 587,40 530,32 529,21 436,25 416,76 383,15 282,03 235,04
1 154 236 1 364 746 822 1 286 1 047 1 467 9 460 3 438 8 283
3
die Werte der Tabelle geben nur einen Einblick in den Grundtrend der Entwicklung, da sie 1877/78 die Zahl der Dampfkessel in Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau einschließen, während die Zählung des Jahres 1859 diese Gebiete nicht erfaßte Quellen: 1859 ZSlA Merseburg, Rep. 120, BB, IIa, 5, Nr. 7, Vol. 1, BI. 486. 1877/78 Engel. £., 1880, S. 21.
Die Ausdehnung der fabrikatorischen Produktion in den einzelnen preußischen Landesteilen macht, wiederum indirekt, Tabelle 21 sichtbar, die die Zahl der 1859 und 1877/78 in den preußischen Provinzen vorhandenen feststehenden Dampfkessel zeigt. Tabelle 21 Territorialer Vergleich der 1859 und 1877/78 in ausgewählten Industriezweigen in Preußen vorhandenen feststehenden Dampfkessel
Provinz Ostpreußen Westpreußen Brandenburg davon Berlin Pommern Posen Schlesien Sachsen Schleswig-Holstein 3 Hannover 3 Westfalen davon Bezirk Arnsberg Hessen-Nassau 3 Rheinland davon Bezirk Düsseldorf Hohenzollern
Zahl der Kessel 1859 1877/78 594 298 1300 372 294 394 1390 947
1554 281 2006 704 4
515 487 3 147 868 852 700 3 147 3435 601 1638 4657 3954 821 7 223 3711 13
Prozentuale Steigerung bzw. Abnahme 13,30 63,42 142,07 + 133,33 + 189,79 + 77,66 + 126,40 + 262,72 —
+ +
+ 199,67 + 1307,11 + 260,06 + 427,13 + 225,00
3
Territorien, die 1859 noch nicht Bestandteil des preußischen Staates waren und für die keine vergleichbaren Angaben vorliegen Quellen: 1859 ZStA Merseburg, Rep. 120, BB, II a, 5, Nr. 7, Vol. 1, Bl. 486. 1877/78 Engel, E., 1880, S. 21.
Trotz der positiven Ergebnisse der Industriellen Revolution lagen die deutschen Staaten um 1860 noch weit hinter den entwickelteren kapitalistischen Ländern zurück und begannen seitdem, diesen Abstand zu verringern. Dies wird unter anderem durch den in Tabelle 22 geführten Vergleich der PS-Leistung der vorhandenen Dampfmaschinen belegbar. 46
Jahr
Deutschland
1860 1870
0,85 2,48
(0,63) a (1,85)
England
Frankreich
2,45 4,04
1,12 1,85
(1,81) (3,00)
Tabelle 22 Dampfmaschinenkapazität in Mio. PS 1860 und 1870
(0,83) (1,37)
a
Z a h l e n in K l a m m e r n in k W E r r e c h n e t n a c h : Kuczynski, J., Bd. 2, 1962, S. 122.
Während in Frankreich die Dampfkraftkapazität langsam wuchs, in England deutlich zunahm, vollzog sich dieses Wachstum in den deutschen Staaten so rasch, daß Frankreich innerhalb eines Jahrzehnts nicht nur eingeholt, sondern weit überholt wurde.
Der mit dem Übergang zu den intensiven Produktions- und Ausbeutungsmethoden herbeigeführte Aufschwung der industriellen Produktion und die damit verbundene Stärkung der Position der Bourgeoisie stießen immer nachdrücklicher an jene Barrieren, die feudale Rudimente in den Produktionsverhältnissen und die deutsche Kleinstaaterei — trotz des Deutschen Zollvereins — bedeuteten. Die weitere Entfaltung der maschinellen Großproduktion verlangte unter anderem die freie Bewegung der Arbeitskräfte im Rahmen des entstandenen modernen Wirtschaftsmechanismus und die freie Bewegung von Rohstoffen, Fertigwaren, Maschinen und Kapital. Sie bedurften einheitlicher rechtlicher aber auch technischer Normen. Der mit der Fabrikproduktion verbundene Drang nach wirtschaftlicher Außenexpansion erforderte die Unterstützung eines starken Staates. Diese Voraussetzungen waren in den deutschen Staaten bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes nur bedingt gegeben. Erst die Verfassung des Norddeutschen Bundes beseitigte „die schlimmsten Auswüchse der Kleinstaaterei" und „diejenigen, die der kapitalistischen Entwicklung einerseits am meisten den Weg versperrten." 9 Allerdings — so schränkte Friedrich Engels ein — „war das keine welthistorische Errungenschaft, wie der jetzt chauvinistisch werdende Bourgeois ausposaunte, sondern eine sehr, sehr späte und unvollkommene Nachahmung dessen, was die französische Revolution schon siebzig Jahre früher getan, und was alle anderen Kulturstaaten längst eingeführt" hatten. 10
2.1.2. Die allgemeinen Bedingungen der Fortentwicklung der Produktivkräfte in der Industrie
Mit dieser Verfassung, die bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871 Reichsverfassung wurde, waren keineswegs alle feudalen Spuren im Lande beseitigt. Die Bourgeoisie hatte keine ungeteilte politische Herrschaft erlangt, aber dem Wirken der ökonomischen Gesetze — auf deren Basis sich die Entwicklung der Produktivkräfte vollzog — wurde weiter Raum gegeben. Dies umso mehr, als der Staatsapparat aus machtpolitischen Gründen eine Wirtschaftspolitik betrieb, die den Bedürfnissen der Bourgeoisie, den Notwendigkeiten der industriellen Entwicklung, entsprach. Das war objektiv umso einfacher, als in den folgenden Jahrzehnten die Gemeinsamkeit der Interessen in der Auseinandersetzung mit dem Proletariat zwischen Junkern und Bourgeoisie durch eine wachsende Identität auch der wirtschaftlichen Interessen komplettiert wurde. Neben den gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die mit der G r ü n d u n g des Deutschen Reiches eintraten und die das Klima für die weitere industrielle Entwicklung außerordentlich begünstigten, gewann die Bourgeoisie mit der Eingliederung Elsaß-Lothringens insofern einen Zuwachs an Produktivkräften, als die industriell gut vorgebildete Bevölkerung dieses Gebietes nunmehr der deutschen Bourgeoisie als Ausbeutungsobjekt zur Verfügung stand. Dazu kamen — neben einer beachtlichen Textilindustrie und einer Maschinenbauindustrie — besonders die Kalivorräte und die Vorkommen an hochwertigen Eisenerzen, die in späteren Jahren durch die Entwicklung der Stahlproduktion immense Bedeutung für die deutsche Industrie erlangten. 47
9 MEW, Bd. 21,1964, S. 435. 10 E b e n d a .
Tabelle 23 Anteil Deutschlands an der Weltindustrieproduktion 1870 bis 1900
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
Rußland
USA
1870 1880 1890 1900
13 13 14 16
32 28 22 18
10 9 8 7
4
23 28 31 31
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 3, 1962, S. 121.
3 3 6
A n g a b e n in Prozent
Außerdem profitierte die Schwerindustrie indirekt von den Frankreich abgenötigten Reparationszahlungen in Höhe von 5 Mrd. Goldfrancs, denn mehr als die Hälfte dieser Summe wurde für die Modernisierung des Heeres, der Marine und für Festungsbauten ausgegeben." Dazu kamen jene Beträge, die unter anderem dem Invalidenfonds, dem Festungsbaufonds und dem Reichstagsgebäudefonds mit der Maßgabe zugeführt wurden, sie industriell anzulegen. 12 Dieser Kapitalzufluß fiel auf einen besonders günstigen Boden, da es der Bourgeoisie gelang, die Wirtschaftsgesetzgebung in ihrem Sinne weiter voranzutreiben und die allgemeinen Produktionsbedingungen zu verbessern (vgl. 1.2.). Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie erwies sich die im Juni 1870 erfolgte Freigabe der Gründung von Aktiengesellschaften. Wie stark das Bedürfnis nach dieser gesetzlichen Neuregelung war, zeigt allein der Umstand, daß 1872 fast doppelt so viele Aktiengesellschaften gegründet wurden als in den Jahrzehnten von 1801 bis 1870.13 Waren bis dahin Aktiengesellschaften in der Regel nur für Eisenbahnbauten, große Bergbaugesellschaften und Versicherungen konzessioniert worden, so erfaßte das Aktienwesen nunmehr weite Teile der Industrie. Damit entsprach der Staat der Dimension, die die Produktivkräfte in der Industrie angenommen hatten und deren Weiterentwicklung auf der Basis von Einzel- oder Familienkapitalen nicht mehr möglich war. Das Aktienkapital bot die Möglichkeit, Industriebetriebe schnell aufzubauen und jene hohe Konzentration der Produktion herbeizuführen, die die entstehenden Riesenbetriebe — das heißt Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten — benötigten. Diese Betriebe, in der Regel in der Schwerindustrie angesiedelt, bildeten die Grundlage jenes Aufschwungs der Produktivkraftentwicklung, der zunächst bis zu den neunziger Jahren eintrat. Ohne die Steigerung der Eisen-, Stahl- und Kohleproduktion, ohne ihre enorme Summen verschlingende technische Ausstattung, wäre die notwendige Erweiterung der produktionsmittelerzeugenden Industrien nicht möglich gewesen. Dazu kommt, daß sich Großbanken herauszubilden begannen und die ersten Grundlagen sowohl der Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital, als auch erste Verbindungen zwischen Industrie- und Bankkapital und dem Staatsapparat entstanden. Man denke an die Beziehungen zwischen der Firma K r u p p und dem Kaiserhaus oder an das Bankhaus Bleichröder, dessen Leiter auch finanzpolitischer Berater Bismarcks war.
11 Engelberg, 12 E b e n d a . 13 Kuczynski,
£., 1965 (a), S. 491. J„ Bd. 3, 1962, S. 10.
Das heißt aber, daß die durch die Entwicklung der Produktivkräfte erzwungene Freigabe der Gründung von Aktiengesellschaften nicht nur erste Grundlagen der materiell-technischen Basis des Monopolkapitals und der ihm gemäßen Organisationsformen der Produktion in Gestalt von kombinierten Riesenbetrieben schuf. In einer Phase, in der der Kapitalismus der freien Konkurrenz seinem Höhepunkt entgegentrieb, bahnten sich auch schon die Verschmelzung von Bank- und Industriekapital und die Verschmelzung von Finanzkapital und Staat an. Wenn diese Erscheinungen sich auch anfällig zeigten, die entstehenden Kartelle — als erste Monopolformen — keine gravierende Bedeutung besaßen und oft genug wieder zusammenbrachen, so blieb doch ihre materiell-technische Substanz in Form der Großbetriebe erhalten. Die Großbetriebe waren es aber, die in der Auseinandersetzung mit den Klein- und Mittelbetrieben den nicht mehr auf der Handarbeit beruhenden technischen Standard bestimmten. Nur sie verfügten über die Mittel — und sei es über ihre Verbindungen zu den Großbanken —, die es ihnen erlaubten, natürliche Ressourcen und modernste Tech48
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
USA
Welt
1870 1880 1890 1900
0,2 0,6 2,2 6,6
0,2
0,1 0,4 0,7
0,1 1,2 4,3 10,2
0,7
Q u e l l e : Kuczynski,
1,3 3,6 4,9
1,6
Tabelle 24 Die Produktion von Stahl
4,3 12,1 28,0
J., Bd. 3, 1962, S. 123 — Die Z a h l e n sind auf- o d e r a b g e r u n d e t (in Mio.t).
nik des In- u n d Auslandes a u f z u k a u f e n und in der Produktion zur Wirkung zu bringen. Das galt vor allem für den schwerindustriellen Sektor der Produktion — das galt aber auch für die sogenannten jungen Industrien, wie die Chemieund die Elektroindustrie. Das „ G e h e i m n i s " des Aufschwungs der Produktivkräfte in der Industrie von der W e n d e der sechziger zu den siebziger Jahren bis in die beginnenden neunziger Jahre ist also durch folgende Faktoren zu entschleiern: — Die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Situation entsprechend d e m Niveau der im Verlauf der Industriellen Revolution herangewachsenen Produktivkräfte. — Der durch den deutsch-französischen Krieg bedingte Zuwachs an Produktivkräften im weitesten Sinne u n d der Zustrom an Kapital, das geschickt genutzt wurde. — Die rigorose Aneignung u n d Erschließung der natürlichen, technischen und menschlichen Ressourcen des In- und Auslandes. Dieser Faktor äußert sich besonders in der partiellen Z u w e n d u n g zum amerikanischen Vorbild in der technischen Entwicklung und der Organisation der Produktion. — Die Orientierung auf die sogenannten jungen Industrien, das heißt besonders auf die chemische und die elektrotechnische Industrie. — Der Ausbau der Rüstungsindustrie, die — obwohl f ü r die Schaffung von Destruktivkräften und zur Zerstörung von Produktivkräften im weitesten Sinne angelegt — technisch f r u c h t b a r wurde. Durch die h o h e n materiellen Aufwendungen und die Tatsache, d a ß es sich hier um eine Produktion handelte, die sich durch eine beginnende Serien- und Massenproduktion auszeichnete, kam es zur Anwendung modernster Arbeitsmittel, Materialprüfungsverfahren u n d Organisationsformen der Massenproduktion. Wenn die deutsche Industrie seit der Krise von 1857 immer wieder — mit verschiedener Intensität — den Krisenzyklus durchlief, so darf nicht verkannt werden, d a ß zyklische Krisen zwar zur Vernichtung von Produktivkräften im weitesten Sinne führten, d a ß aber — und auch darin zeigt sich der Widersinn der kapitalistischen Gesellschaftsformation — gerade die Krisen durch die Vernichtung der schwächsten Glieder der Produktivkräfte in der Industrie neue, qualitativ hochwertigere Produktivkräfte hervorbrachten. Das heißt, unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse wurde die Krise über die Vernichtung von Produktivkräften zum Stimulator der technischen Weiterentwicklung. Auch so wird erklärbar, d a ß sich die deutsche Industrie, die in den Jahrzehnten von 1-870 bis 1893/94 den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus vollzog — der schon Spuren staatsmonopolistischer Züge aufwies—, unter den Industriemächten Europas eine Spitzenposition a u f b a u t e u n d den Wandel von einem Agrar-Industrieland zu einem Industriestaat vollziehen konnte (vgl. 1.2.). Die Veränderung der Position der deutschen Industrie im R a h m e n der internationalen Entwicklung machen die ökonomischen Kennziffern der Tabellen 23 bis 26 deutlich. Tabelle 23 zeigt einen Rückgang der französischen u n d der englischen Anteile, eine deutliche Z u n a h m e der Anteile der USA u n d Deutschlands. Der russische Anteil wächst zwar, bleibt aber u n b e d e u t e n d . Tabelle 2 4 zeigt eine besonders rasche Entwicklung der Stahlproduktion in den USA, gefolgt von der in Deutschland u n d einer wesentlich langsameren Entwicklung in England u n d Frankreich.
49
Tabelle 25 Die Produktion von Kohle
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
USA
Welt
1870 1880 1890 1900
34 59 89 150
110 147 182 225
13 19 26 33
36 78 174 297
225 354 546 828
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 3, 1962, S. 123 - In Mio. T o n n e n .
Die Produktionssteigerung des deutschen Kohlenbergbaus vollzog sich in einem außerordentlich raschen Tempo. Dennoch blieb sie hinter der der USA zurück und es gelang nicht, England einzuholen. Lediglich die Überlegenheit über Frankreich konnte erhalten werden (vgl. Tab. 25). Dennoch werden die Verschiebung der ökonomischen Kräfte und das Vordringen der deutschen Industrieproduktion unübersehbar, ein Faktor, der nicht nur eine objektive Grundlage der Aggressivität des deutschen Imperialismus begründete, sondern in der Konsequenz auch zur Grundlage der Rüstungspolitik wurde. Ausdruck der sich vollziehenden Mechanisierung der Produktion war unter anderem das Wachstum der Produktion von Produktionsmitteln in der Relation zum Wachstum der Konsumgüterproduktion (Tab. 26). Tabelle 26 Index der Produktion von Produktionsmitteln und Konsumgütern 1867 bis 1893
Wirtschaftszyklus (1913 = 100)
Produktionsmittel
Konsumgüter
1867-1875 1876-1886 1887-1893
16 23 34
33 40 55
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 3, 1962, S. 122.
Die Zahlen sagen zwar nichts über die qualitative Entwicklung der Produktionsmittel aus, sie veranschaulichen aber jenen Trend, der sich in den folgenden Jahrzehnten verschärfte. Während sich die Produktionsmittelproduktion mehr als verdoppelte, war die Steigerung der Produktion von Konsumgütern sichtbar geringer. Noch deutlicher läßt sich der rasche Fortschritt in der Mechanisierung der Produktion an der in Tabelle 27 dargestellten PS-Leistung der in der deutschen Wirtschaft installierten Dampfmaschinen messen. Tabelle 27 Kapazität der Dampfmaschinen in Mio. PS in Deutschland
Jahr
1870
1880
1888
1896
Mio. PS (Mio. kW)
2,48 (1,85)
5,12 (3,88)
6,2 (4,59)
8,08 (5,98)
Errechnet n a c h : Europäische
Wirtschaftsgeschichte,
Bd. 3; 1976, S. 106.
Bei der Bewertung dieser Zahlen muß bedacht werden, daß Antriebskräfte wie Wind und Wasser durchaus noch eine Rolle spielten und in zahlreichen Produktionszweigen, in denen aus technischen oder ökonomischen Gründen die Nutzung der D a m p f k r a f t unzweckmäßig oder nicht möglich war, bereits neue Antriebsmaschinen, wie Verbrennungsmotoren und Elektromotoren, verwendet wurden. Die Grundlagen dieses Aufschwungs waren in den einzelnen Produktionszweigen sehr verschiedener Natur. Generell wuchs die Zahl der Arbeits- und Antriebsmaschinen wie die der Arbeitskräfte bei gleichzeitiger Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Maschinen. Neue Technologien und Antriebsmaschinen wurden entwickelt, weitere Bereiche der materiellen Produktion, wie zum Beispiel der innerbetriebliche Transport, wurden mechanisiert. In den kombinierten Großbetrieben wurde die Arbeitsteilung auf höherer Stufenleiter perfektioniert, die Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse gewann an Be50
deutung. Diese Faktoren wurden jedoch in den verschiedenen Bereichen der industriellen Produktion mit unterschiedlicher Intensität wirksam. In der Konfektionsindustrie bewirkte die Einführung der Nähmaschine — basierend auf der menschlichen Muskelkraft — ein Emporschnellen der Produktion. Der eigentliche Nähprozeß kannte keine Arbeitsteilung. Im Maschinenbau gab es Ansätze der Serienproduktion. Arbeitsteilung zeigte sich sowohl bei der Herstellung eines Endproduktes als auch darin, daß für verschiedene Endprodukte innerhalb eines Maschinenbaubetriebes spezielle Abteilungen mit einem speziellen Maschinenpark entstanden. Während in der Holzbearbeitungsindustrie der Kleinbetrieb mit einem geringen Mechanisierungsgrad dominierte, entstanden in der Eisen- und Stahlindustrie Riesenbetriebe, deren Abteilungen arbeitsteilig produzierten. Trotz dieser sehr unterschiedlichen Situation blieben die entscheidenden technischen Elemente der Produktivkräfte in der Industrie das Maschinensystem: Arbeitsmaschine, Dampfmaschine und entsprechende Transmissionen. Folgerichtig stellte die energetische Grundlage die Kohle dar, bildeten Eisen und Stahl die ausschlaggebenden Werkstoffe. Ein Wandel zeichnete sich insofern ab, als Qualität und Leistungsvermögen der genannten Elemente der Produktivkräfte ebenso zunahmen, wie die Leistungsfähigkeit der unmittelbaren Produzenten, deren Zusammensetzung sich zli verändern begann (vgl. 8.). Der Facharbeiter erlangte in einer Reihe von Produktionszweigen ein stärkeres Gewicht, die Zahl der Ingenieure und der Wissenschaftler nahm in der Industrie zu. Deshalb kamen der Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie, dem Bergbau und damit im Zusammenhang dem Maschinenbau eine zentrale Position für die Weiterentwicklung der industriellen Produktivkräfte zu. Sie bildeten die Basis für deren Weiterentwicklung; jede Verbesserung bei ihnen führte zur Verbesserung der Produktivkräfte in anderen Sektoren.
Während sich im größten Teil der Industrie der Fortschritt der Produktivkräfte vor allem in der Zahl, der Qualität und der Vielfalt der angewandten Arbeits- und Antriebsmaschinen manifestierte, beruhte der Fortschritt in der Eisen- und Stahlproduktion vorrangig auf der Entwicklung jener Anlagen, in denen unter großer Hitzeeinwirkung chemische Reaktionen verliefen. Zum anderen wurden Menge und Qualität der Erzeugnisse der Eisen- und Stahlindustrie wesentlich vom Niveau der technologischen Verfahren bestimmt, die angewendet wurden. Das Streben der deutschen Bourgeoisie richtete sich deshalb bis in die neunziger Jahre vor allem auf die Vergrößerung und die konstruktive Verbesserung der Kokshochöfen, die partielle Mechanisierung der Transportprozesse am Hochofen, auf die allmähliche Ablösung des traditionellen Puddelverfahrens durch das Bessemer-, das Siemens-Martin- und das Thomas-Verfahren. Der relativ rasche technologische Wandel in der Eisen- und Stahlproduktion war von der Ablösung der Muskel- durch die Maschinenkraft, besonders im Transportbereich, ebenso begleitet wie von dem Bemühen, die Roh- und Brennstoffe rationeller zu nutzen. Deshalb zählt die Eisen- und Stahlproduktion zu jenen Bereichen der materiellen Produktion, in denen schon sehr früh Bestrebungen einsetzten, die Produktion in dem Sinne wissenschaftlich zu durchdringen, daß man versuchte, die Abläufe des Hochofenprozesses durch die systematische — wenn auch vor allem empirische — Erfassung allmählich zu beherrschen. Die Leistungsfähigkeit des in der Industriellen Revolution eingeführten Kokshochofens wuchs in den fünfziger Jahren beträchtlich. Durch konstruktive Veränderungen gelang es, die bis dahin nutzlos verströmenden Hochofengase zur Erhitzung des Windes, zum Antrieb der Hilfsmaschinen am Hochofen und zum Betrieb der Walzwerke einzusetzen. Die Ausbeutung der Hochofengase erlaubte darüber hinaus durch die Erhöhung der Windhitze, die Erze effektiver und in größeren Öfen auszuschmelzen. Dadurch konnte die jährliche Roheisenproduktion eines Hochofens bis zum Ende der achtziger Jahre auf 51
2.1.3. Die Verbesserungen der Arbeitsmaschinen, des Röhren- und Gefäßsystems und der technologischen Verfahren 2.1.3.1. Eisen- und Stahlproduktion
12 Begichten eines älteren O f e n s
etwa 20 000 t gesteigert werden. 1 4 Dieser Trend setzte sich in der Folgezeit fort. Zwischen dem Ende der sechziger Jahre und dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte der Kubikinhalt der Hochöfen um das Fünffache, seine Leistung um etwa das Fünfunddreißigfache beziehungsweise das Siebenfache pro T o n n e des Kubikinhalts gesteigert werden. 1 5 Nicht minder nachhaltig veränderte sich die Weiterverarbeitung des Roheisens zu Stahl oder zu Gußeisen. Während das Roheisen zunächst unmittelbar am H o c h o f e n vergossen wurde, gewann man Stahl — also schmiedbares Eisen — durch die teilweise Verbrennung des im Roheisen enthaltenen Kohlenstoffes, des Siliziums, des M a n g a n s und des Phosphors. Vom M a ß der Senkung des Kohlenstoffgehalts wird die Qualität des Stahls, insbesondere seine Härtbarkeit, wesentlich beeinflußt. Wurde schmiedbares Eisen gegen Ende der Industriellen Revolution bereits nach dem Bessemerverfahren produziert, so wurde Schweißeisen — in zähflüssiger Form — mit Hilfe des Puddelverfahrens gewonnen.
14 Matschoß,
C., 1922, S. S
15 Zöllner, A., 1907, S. 13.
Das Puddelverfahren genügte in den fünfziger Jahren immer weniger den Anforderungen der verarbeitenden Industrien, sowohl hinsichtlich seiner Qualität als auch der Menge. Diese Krise resultierte zunächst daraus, d a ß das Einbringen des Sauerstoffs in die Schmelzmasse in erster Linie auf der Berufserfahrung, der Muskelkraft und der Geschicklichkeit der Puddler beruhte, sich 52
13 Roheisenmischer
also auf Handarbeit und empirische Erfahrung stützte. Versuche, besonders in England und den USA, den Puddelprozeß zu mechanisieren, indem man die feststehenden Herde und Öfen durch u m l a u f e n d e Zylinder- und Telleröfen ersetzte, waren erfolglos, weil diese Methoden die Qualität des Stahls verschlechterten. 16 Deshalb blieb es bei der Verbesserung des Gezähes durch die Einführung der Luppenzange und des Luppenkarrens. 1 7 Z u m anderen war das Puddelverfahren nicht geeignet, dem allgemeinen Trend zur kontinuierlichen Massenproduktion zu folgen. Zöllner schrieb dazu: „Mißlich war vor allem, d a ß der Puddelprozeß 1 '/2 bis 2 Stunden in Anspruch nahm, also nur 12 bis 14 Chargen innerhalb 24 Stunden gestattete, was eine Tagesleistung von nur 2 bis 4 t per O f e n ergab; dazu ein verhältnismäßig großer K o h l e n a u f w a n d und die schwere und kostspielige Arbeit des Puddlers, welche sich trotz zahlreicher Versuche nicht durch maschinelle Vorrichtungen ersetzen ließ. Zwar u m f a ß t e ein Puddelwerk in der Regel eine größere Anzahl von Öfen — eine Luppenstrecke soll zu ihrer vollen Beschäftigung etwa 20 Puddelöfen erfordern —, indessen konnte auch eine Vermehrung der Ofenzahl keine nennenswerten technischen oder wirtschaftlichen Vorteile mehr bringen, und dem Betriebsumfange eines Puddeleisenwerkes waren somit enge Grenzen gesetzt". 18 Dies veranlaßte den Engländer Henry Bessemer, nach neuen Lösungen zu suchen. Dem Laien auf dem Gebiet der Eisen- und Stahlproduktion gelang es auf empirischem Wege, das Zeitalter der kontinuierlichen Massenproduktion des Stahls einzuleiten. Durch sein Verfahren — in der Folgezeit wissenschaftlich durchgearbeitet — wurde es möglich, aus flüssigem Roheisen o h n e jedes Umschmelzen schmiedbares Eisen in Form von Flußeisen zu gewinnen. Das Prinzip seines ab 1858 in einem eigenen Stahlwerk angewandten Verfahrens bestand darin, seine Beobachtung, daß Roheisen durch die Z u f ü h r u n g von Sauerstoff die Eigenschaften des Stahls annimmt, in einem Konverter — der sogenannten Bessemer-Birne — technisch umzusetzen. Das heißt: im Konverter geschah nichts anderes als die Verbrennung des im Roheisen enthaltenen Kohlenstoffs u n d anderer Eisenbegleiter durch die Z u f ü h r u n g von Luft. Dabei hielt die im Verbrennungsprozeß entstehende Wärme den Stahl flüssig. Wie dringlich die Überwindung der Grenzen des Puddelverfahrens war, wurde dadurch unterstrichen, d a ß an der Lösung dieses Problems auch der Engländer Robert Mushet erfolgreich gearbeitet hatte, und der Amerikaner William Kelly erschmolz 1864 — unabhängig von Bessemer — den ersten Konverterstahl. 1 9 Noch in den sechziger Jahren wurde in mehreren europäischen Staaten mit dem Konverter experimentiert. 1872 n a h m die G u t e h o f f n u n g s h ü t t e die Produktion von Bessemerstahl auf. 20 Vergleicht man die Leistung eines Puddelofens mit der eines Konverters, so wird das Interesse der Eisen- und 53
16 17 18 19
Keller, G., 1940, S. 106. E b e n d a , S. 108. Zöllner, A., 1907, S. 15. Brentjes, B./Richter, mann, R., 1978, S. 280. 20 Mahr, O., 1935, S. 142.
S./Sonne-
Stahlindustrie an der Erfindung Bessemers offenkundig. Ein Konverter von durchschnittlicher Größe, also von etwa 15 t Inhalt, erbrachte in 20 bis 30 Minuten etwa die gleiche Menge wie ein Puddelofen in 24 Stunden. 21 Wenn sich das Bessemerverfahren nicht noch schneller durchsetzte, so aus zwei Gründen. Wie jede technische Neuentwicklung war der Konverter mit Mängeln behaftet, die erst nach und nach beseitigt werden konnten. Kein Bourgeois wird aber — das verbieten die vorhandenen Anlagen und die Kosten für Neuanlagen — eine noch nicht perfekte Neuentwicklung sofort aufgreifen und vorhandene Anlagen zerstören. Zum anderen waren die Patentkosten — das Patent erlosch erst 1870 — nicht gering. Schließlich war die Anwendbarkeit des Verfahrens nur dann profitabel, wenn genügend phosphorarme Erze zur Verfügung standen oder kostengünstig transportiert werden konnten. Über solche Erzlagerstätten verfügten aber nur England, Spanien, Schweden und die USA. Die deutsche Industrie deckte deshalb ihren Bedarf an phosphorarmen Erzen besonders aus Spanien und Schweden, an phosphorfreiem Roheisen aus England. Der Konverter Bessemers war mit einem feuerfesten, kieselsäurereichem Futter ausgestattet, das sich zur Abscheidung des Phosphors als ungeeignet erwies. Obwohl der deutsche Hüttenfachmann Peter Tunner schon in den sechziger Jahren auf die Möglichkeit der Verwendung basischen Futters hingewiesen hatte, blieb das Problem bis Ende der siebziger Jahre ungelöst. 22 Dennoch bleibt bestehen, daß Bessemer Mitte der fünfziger Jahre mit völlig neuen Methoden der kontinuierlichen Massenproduktion von Stahl den Weg gebahnt hatte, daß er es verstand, sein Verfahren metallurgisch und technisch so durchzubilden, daß es über Jahrzehnte von Bestand blieb. Die Schwächen des Bessemerverfahrens und die Tatsache, daß das Puddelverfahren viele Jahrzehnte die entscheidende Form der Stahlproduktion dargestellt hatte, führten dazu, daß die Produktion nach dem Puddelverfahren bis in das 20. Jahrhundert hinein mengenmäßig die Produktion nach dem Bessemerverfahren übertraf. 1873 wurden in Deutschland 1 183 000 t auf der Basis des Puddelverfahrens produziert, die Produktion von Bessemerstahl betrug dagegen nur 218 000 t. Während aber die Produktion von Bessemerstahl schon 1882 mit 687 324 t ihren ersten Höhepunkt erreichte und in den neunziger Jahren eine steigende Tendenz zeigte, überschritt die Produktion nach dem Puddelverfahren 1889 mit 1 749 0001 endgültig ihren Höhepunkt. 23 Zu den Ursachen dieser Entwicklung sind zweifelsfrei die Schaffung des Siemens-Martin- und des Thomas-Verfahrens zu zählen. Das Siemens-Martin-Verfahren hatte zwei Ausgangspunkte. Einerseits versuchten die französischen Gewehrfabrikanten Emile und Pierre Martin für ihre Fabrikation die Werkstoffe in eigener Produktion zu verbessern. Dabei kam ihnen der von den Deutschen Friedrich und Werner von Siemens entwickelte, mit Gas beheizte Regenerativofen zu Hilfe. Dieser Ofen war von bahnbrechender Wirkung, weil er auf ökonomische Weise die Erzielung sehr hoher Temperaturen ermöglichte. Die Erfolge, die die Gebrüder Siemens mit der Regenerativfeuerung in der Glasproduktion erzielt hatten, veranlaßten sie, diese Problematik — die sie ebenso wie die Gebrüder Martin wissenschaftlich bearbeitet hatten — weiter zu verfolgen. 1861 konnten sie den ersten mit Gas beheizten Regenerativofen vorstellen. Die Gebrüder Martin erkannten die Bedeutung dieses Ofens für die Stahlproduktion und setzten ihn 1864 erstmals für die Gewinnung von Gußstahl ein.
21 22 23 24
Zöllner, A., 1907, S. 16. Matschoß, C„ 1922, S. 90. Zöllner, A., 1907, S. 19. Ebenda, S. 17.
Bekannt wurde das Verfahren allerdings erst durch die Pariser Weltausstellung von 1867. Sein Vorzug bestand darin, daß es möglich wurde, Roheisen mit Stahlschrott zusammenzuschmelzen — darin bestand die Leistung der Gebrüder Martin — und dadurch nicht nur hochwertigen Stahl zu gewinnen, sondern zugleich die wachsenden Mengen des anfallenden Schrotts wieder der Produktion zuzuführen. Zöllner beziffert den Schrottanteil bei der Beschickung eines Flammenofens im Jahre 1907 auf 70 bis 80 %.24 Durch das Siemens-Martin-Verfahren wurde aber auch die keineswegs weniger wichtige Flußstahlproduktion vorangebracht. Dem Bessemerverfahren er54
wuchs eine Konkurrenztechnologie, die jedoch erst d a n n zur Wirkung kam, als es durch das Thomas-Verfahren gelang, auch f ü r das Siemens-Martin-Verfahren das Problem der Verarbeitung weniger reiner Erze zu lösen. Denn wenn auch das Siemens-Martin-Verfahren, das ja im Gegensatz zum Bessemerverfahren nicht mit Erzen, sondern mit Roheisen und Schrott arbeitete, von diesem Problem weniger betroffen wurde, so war es dennoch auf relativ phosphorfreies Roheisen angewiesen. Dies war insofern von weittragender wirtschaftlicher Bedeutung, als England u n d Belgien in der Bessemerstahlproduktion Deutschland den Absatz seiner Produkte im Ausland, aber auch im Inland zu entreißen drohten. Dies umso mehr, als die deutsche Freihandelspolitik zu Beginn der siebziger Jahre dazu führte, daß ausländische Industrieerzeugnisse ungehemmt in das Land strömten. Deshalb war das Thomas-Verfahren in Deutschland von ausschlaggebender Bedeutung für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Tunner hatte zwar — wie bereits erwähnt — in den sechziger Jahren darauf aufmerksam gemacht, d a ß die Verwertung unreiner Erze im Konverter nur durch die Ersetzung des sauren Futters durch basisches möglich ist. Es blieb aber dem Engländer Sidney G. T h o m a s , der sich erst im Verlauf seiner Versuche ein wissenschaftliches F u n d a m e n t erarbeitete, vorbehalten, das Problem grundsätzlich, wenn auch
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25 Matschoß, C.,\922,S.90. 26 Geliert, O., 1912, S. 7. 27 Stillich, O./Steudel, H., 1908, S. 15. 28 Johannsen, O., 1939, S. 21. 29 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 282. 30 Zöllner, A., 1907, S. 19. 31 Ude, H., 1935, S. 46. 32 Lilley, S., 1976, S. 153. 33 Szymanski, H., 1937, S. 99. 34 Lilley, S., 1976, S. 153.
noch nicht technisch zu lösen. So brennend dieses Problem auch war, das Angebot von Thomas an das Iron a n d Steel Institute, auf der Pariser Weltausstellung 1879 einen Vortrag über seine Erkenntnisse zu halten, wurde aus Zeitgründen abgelehnt. 2 5 Thomas verband sich d a r a u f h i n mit Percy Gilchrist, einem M a n n , der als Chemiker eines Hüttenwerkes auch über hüttentechnische Kenntnisse verfügte. Beiden gelang es, das Verfahren zur großindustriellen Reife zu bringen. Die deutsche Industrie, die noch immer an den Folgen der Gründerkrise litt u n d bis zur Wiedereinführung der Eisenzölle 1897 von der englischen u n d belgischen Konkurrenz hart bedrängt wurde, griff sofort nach den Thomasschen Patenten. Diese Technologie gab ihr die Möglichkeit, in die vordere Reihe der Stahlproduzenten aufzurücken. Verfügte Deutschland doch über die Minettevork o m m e n von Elsaß-Lothringen, die mit einem geschätzten Vorrat von 5,6 Mrd. t als größte europäische Erzlagerstätten galten. 26 Durch das Thomas-Verfahren gewann dieser Reichtum erst an Bedeutung. Das belegen die nachstehenden Zahlen. Stieg die deutsche Eisenerzförderung in den Jahren von 1885 bis 1895 von 6,5 Mio. t auf 8,4 Mio. t, so betrug der Anteil Elsaß-Lothringens an dieser Förderleistung 1885 2,1 Mio. t, 1895 4,2 Mio. t.27 Obwohl das Thomas-Verfahren erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgereift war, 28 eröffneten sich der deutschen Hüttenindustrie völlig veränderte Entwicklungsmöglichkeiten. Sie war nicht mehr von ausländischen Erzen u n d Roheisen abhängig. Für die deutsche Landwirtschaft bildete die in den Thomaswerken anfallende Phosphatschlacke, die gemahlen einen wertvollen Dünger darstellte, eine wesentliche Verbesserung (vgl. 3.4.). Die Übertragung des Thomasschen Prinzips, das heißt die Anwendung des basischen Futters auch im Siemens-Martin-Verfahren, erwies sich gleichfalls als sehr erfolgreich. Leitete Bessemer die kontinuierliche Massenerzeugung von Stahl ein, so setzte das Thomas-Verfahren sie durch. Dies umso mehr, als das Thomas-Verfahren die Möglichkeit der Produktion von Sonderstählen bot. 29 Produzierte die deutsche Industrie 1877 nur 2 100 t Martin-Stahl und ein Jahr später 1 782 t Thomas-Stahl, so hatte 1896 die Martin-Stahlproduktion schon eine H ö h e von 1 477 807 t erreicht, während die Thomasstahlproduktion 3 004 615 t erreichte. Im gleichen Jahr wurden 1 292 832 t Martinstahl auf basischer, aber nur 184 975 t auf saurer Grundlage hergestellt. 30 Die neuen Verfahren bewirkten nicht nur die Zurückdrängung des Puddelverfahrens auf Sonderproduktionen. Die hervorragenden Eigenschaften der nach den neuen Verfahren erzeugten Stahlsorten, die massenhaft und billig produziert werden konnten, erschlossen dem Stahl neue Einsatzgebiete, — so besonders im Maschinenbau, im Bauwesen, selbst in der Konservenindustrie. Die hervorstechendsten Einsatzgebiete der neuen Stahlsorten waren wohl die in den siebziger Jahren zügig durchgeführte Ersetzung der traditionellen Feinkorn-, Eisen- u n d Puddelstahlschienen durch Schienen aus Bessemerstahl (vgl. 4.2.3.). Der Bessemerschiene folgte in den achtziger Jahren auf dem europäischen Kontinent die Schiene aus Thomasstahl. 3 1 Brachten die sechziger und siebziger Jahre das Eindringen des Stahls in den Eisenbahnbau — wie überhaupt in den Maschinenbau — so begann Stahl in den achtziger Jahren im Brückenbau Englands u n d im H o c h b a u der USA und Frankreichs eine Rolle zu spielen. 32 In den sechziger Jahren wurde Bessemerstahl im englischen Schiffbau verwendet, und der Einsatz des Siemens-Martin-Stahls im Schiffbau kündigte um 1875 eine neue Ära an. 33 Die internationale Stahlproduktion lag 1870 bei etwa 0,5 Mio t. Sie konnte bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e auf fast 28 Mio. t gesteigert werden, wobei 1890 64 % der Stahlerzeugung auf dem europäischen Festland auf der Grundlage des Thomasverfahrens durchgeführt wurde, während der britische Anteil nur bei 14 % lag. 34 Auch dies war ein deutliches Zeichen des beginnenden Niedergangs der „Werkstatt der Welt". Die seit dem Ende der sechziger Jahre einsetzende Umstellung der Stahlund Eisenproduktion auf eine kontinuierliche Massenfertigung blieb auf das Gießereiwesen nicht ohne Auswirkungen. Der Bedarf nach gegossenen Roh56
15 Blockwalzwerk
ren, nach Maschinenteilen f ü r den Eisenbahnbedarf u n d auch schon für den L a n d m a s c h i n e n b a u stimulierte in der Eisengießerei neue Entwicklungen, die sich in der Qualität der G u ß w a r e n , in der Veränderung der Gießereianlagen u n d der Erhöhung des Mechanisierungsgrades im innerbetrieblichen Transport ausdrückten. Ursprünglich wurde das Roheisen, so wie es aus dem H o c h o f e n kam, unmittelbar vor Ort vergossen. Da aber die Anforderungen — entsprechend der Zweckbestimmung der E n d p r o d u k t e — vielfältiger wurden, die Zusammensetzung des Roheisens also variabel sein mußte, die H o c h ö f e n gleichzeitig immer größer wurden, mußten der H o c h o f e n p r o z e ß und der Gießprozeß immer weiter auseinanderrücken. 3 5 Zwischen den H o c h o f e n p r o z e ß u n d den G u ß p r o z e ß trat verstärkt der F l a m m o f e n oder der Kupolofen, der eine Beschickung gestattete, die die gewünschte Gußqualität gewährleistete. Führten diese Öfen, deren konstruktive Durchgestaltung stetigen Veränderungen unterlag, zur Verbesserung der Qualität des Gußmaterials, so verlangten sie gleichzeitig die Beschleunigung der folgenden Arbeitsprozesse. Dem wurde zunächst durch die Reduzierung der Handarbeit beim Gußvorgang entsprochen. Schon mit den beginnenden siebziger Jahren erlangten Formgußmaschinen — sie arbeiteten mit Wasserdruck — größere Bedeutung. Ende der achtziger Jahre unterlag auch die Nachbearbeitung der Gußteile der Mechanisierung durch die E i n f ü h r u n g von 1870 in den USA entwickelten Sandstrahlgebläsen. 3 6 Die Trennung der Gießerei vom H o c h o f e n verursachte darüber hinaus einen größeren Transportbedarf und machte die Beschleunigung der innerbetrieblichen Transportprozesse notwendig. Deshalb wichen die tragbaren G i e ß p f a n n e n fahrbaren Gießwagen, wurden seit dem Ende der sechziger Jahre die raumfressenden Drehkräne allmählich durch L a u f k r ä n e ersetzt. 37 Die Möglichkeiten der kontinuierlichen Massenproduktion von Stahl, der Verarbeitung des Rohstahls „in einer Hitze" zu Walzwerkerzeugnissen, stimulierten die technische Entwicklung in den Walzwerken außerordentlich. Entscheidend war auch hier die Ersetzung der Muskel- durch die Maschinenkraft, denn Masse, Gewicht und Wärmestrahlung der Werkstoffe wuchsen außerordentlich. Die Duo-Walzwerke, deren Arbeitsweise darin bestand, den glühenden Block mit Hilfe menschlicher Muskelkraft zwischen zwei in entgegengesetzter Richtung drehende Walzen einzubringen und nach Durchlauf des Blocks wiederum zum Ausgangspunkt zu transportieren u n d dort — bei verringertem Walzenabstand — erneut in das Walzwerk einzuführen u n d diesen Vorgang so lange zu wiederholen, bis die gewünschte Profilstärke erreicht war, erwies sich als außerordentlich zeit- u n d kostenaufwendig u n d war letztlich von der begrenzten Leistungsfähigkeit der menschlichen Muskelkraft abhängig.
35 Hübener, E., 1913, S. 27. 36 Lohse, V., 1910, S. 131. 37 Ebenda, S. 134.
16 2500-Tonnen-Schmiedepresse
Der erste Schritt zur Überwindung dieser Grenzen bestand in der Einführung von Umkehrwalzen. Nachdem der Block in das Walzwerk eingebracht war und es durchlaufen hatte, wurde das Walzwerk angehalten und in umgekehrter Richtung wieder in Bewegung gesetzt. Dadurch spielte die menschliche Muskelkraft nur noch beim Einbringen des Blocks in das Walzwerk und beim Abtransport des gewalzten Blocks eine Rolle. Dem Antrieb dieser Walzwerke dienten Kolbendampfmaschinen, die insofern nur begrenzt steuerbar waren, als der ständige Wechsel der Bewegungsrichtung Schwierigkeiten bereitete. Z u m anderen führte der rhythmische Wechsel der Arbeitsrichtung zu Energieverlusten, die zusätzlich verstärkt wurden, da die Schwungkraft der Antriebsmaschine verlorenging. Erst die Trio-Walzwerke — ab 1890 in Deutschland bevorzugt —, bei denen das Walzgut drei übereinander angeordnete Walzen kontinuierlich durchlief und die Schwungkraft durch Schwungräder zusätzlich erhöht werden konnte, brachten Abhilfe. Das Arbeitstempo der Walzwerke entsprach dem der vorangehenden Arbeitsprozesse. Wurde nach diesen grundsätzlichen Lösungen das Feld der Anwendung von Walzenmaschinen bis hin zum Röhrenwalzwerk ausgedehnt, so erhöhte sich gleichzeitig die Zahl und Leistungsfähigkeit jener Arbeitsmaschinen, die Nebenprozesse mechanisierten. Scheren, Sägen, Dampf58
hämmer und Schmiedepressen, die das Material besser durcharbeiteten als die Hämmer, ergänzten die Verbesserung der Walzwerktechnik. 38 Die Veränderungen in der Hochofentechnik, der Walztechnik und der Gießereitechnik hatten einen kontinuierlichen Fertigungsprozeß zwischen diesen Bereichen der Eisen- und Stahlproduktion entstehen lassen. Unterbrochen wurde dieser Prozeß jedoch durch die fehlende oder unzureichende Mechanisierung des innerbetrieblichen Transportes. In der Industriellen Revolution hatte sich die Aufmerksamkeit der Unternehmer und der Techniker vor allem auf die Arbeits- und Antriebsmaschinen gerichtet. Der Transport — einschließlich der mit Hebezeugen — galt als unproduktiv und wurde nur dort, wo Muskelkraft nicht ausreichte, mit einfachen, wiederum mit menschlicher Muskelkraft betriebenen, Hebeeinrichtungen durchgeführt. 39 Bessemer, der die Konsequenzen seines Verfahrens auch für die Transportprozesse erkannte, entwickelte einen Blockdrehkran mit hydraulischem Antrieb von solcher Qualität, daß dieser Krantyp über Jahrzehnte genutzt werden konnte. 40 Dieser Kran wurde seit 1881 in der deutschen Stahlindustrie verwendet. Er hatte zunächst nur in den USA besonderes Interesse gefunden. Erst nach dem Besuch deutscher Industrieller 1890 in den USA kam es zu seiner allgemeinen Einführung in die deutsche Industrie. 41 Die Weiterentwicklung der Hochofenindustrie geriet in Abhängigkeit von der Schaffung geeigneter Transporteinrichtungen. 42 Gewicht und Menge des Ausstoßes der Puddelöfen waren noch mit Hilfe einfacher Hebezeuge und der Muskelkraft des Menschen zu bewältigen. Die moderne Eisen- und Stahlproduktion bedurfte dagegen leistungsstarker Transporteinrichtungen. Die zu transportierenden Massen, die hohen Hitzegrade und die Notwendigkeit, die Transportgeschwindigkeiten so zu erhöhen, daß die Wärmeverluste möglichst gering blieben, verlangten den maschinellen Transport. Die Höhe der Hochöfen, ihr Volumen und die Beschleunigung des Schmelzprozesses schlössen die Beschickung der Hochöfen mit Hilfe von Schubkarren und Rampen immer stärker aus. Deshalb wurden zunächst senkrechte Aufzüge geschaffen, bei denen die Wagen in der obersten Stellung mit Hilfe der Muskelkraft zur Gicht befördert und gekippt wurden. Schließlich gelangte in Europa der Schrägaufzug, der den Transport bis zur Gicht maschinell durchführte, zur Vorherrschaft. Als problematisch erwiesen sich hier jedoch die benutzten Antriebskräfte. Der Druckluftantrieb verlangte ebenso wie der hydraulische Antrieb Abdichtungen, die hohem Druck standhielten. Gerade in der Eisen- und Stahlindustrie waren aber diese Leitungssysteme sehr störanfällig. Die auf den Hebezeugen und Hochöfen gelagerten kleinen Dampfmaschinen erforderten starre Rohrleitungen und begrenzten die Mobilität der Hebezeuge. Damit waren der Mechanisierung der Transportprozesse Grenzen gesetzt, die erst die Elektrifizierung überwand. Die Massenproduktion von Stahl und die damit verbundene Massenproduktion in den ihr vorangehenden und folgenden Produktionsstufen wurde zu einem entscheidenden Stimulator der Entwicklung der Produktivkräfte in allen Bereichen der materiellen Produktion. Allerdings kamen die Vorzüge der Massenproduktion vorrangig der Großindustrie zugute. Die neue Dimension der Produktionstechnik, die neuen Technologien, waren nur dort nutzbar, wo im großen Maßstab produziert wurde. Die aus der Entwicklung der Produktivkräfte resultierende Konzentration der Produktion und der Zentralisation des Kapitals wird auch an der Entwicklung der Hochofenindustrie deutlich. 1878 gab es in Deutschland 134 Hochofenwerke, in denen 212 Hochöfen mit einer mittleren Belegschaft von 16 202 Arbeitern 2 147 6001 Roheisen produzierten. 1894 war die Zahl der Hochofenwerke auf 102 geschrumpft, die Zahl der in Betrieb befindlichen Hochöfen um vier gesunken, die mittlere Jahresbelegschaft hatte sich auf 24 110 Arbeiter erhöht, die Roheisenerzeugung war aber auf 5 380 0001 gestiegen. 43 Das heißt, 59
38 39 40 41 42 43
Malschoß, C., 1922, S. 93. Ebenda. Ebenda, S. 94. Ebenda, S. 142. Johannsen, O., 1939, S. 13. Zöllner, A., 1907, S. 3.
44 Ebenda, S. 23 f. 45 Heymann, J., 1904, S. 212. 46 Zöllner, A., 1907, S. 30.
die Pro-Kopf-Produktion war bei einer leicht sinkenden Zahl der H o c h ö f e n durch deren technische Verbesserung, die Intensivierung der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft u n d durch die U n t e r o r d n u n g der unmittelbaren Produzenten unter die technischen Prozesse gestiegen. Die beträchtliche Dimension der Produktivkräfte in der Eisen- und Stahlindustrie erzeugte nicht nur den Zwang zum Großbetrieb, sondern zum kombinierten Großbetrieb, der sich dadurch auszeichnete, d a ß unter dem Komm a n d o eines Kapitals — wenn auch räumlich getrennt — die Produktion vom Roh- und Brennstoff über die Verhüttung bis hin zur Stahlverarbeitung und schließlich der Absatz der Erzeugnisse durchgeführt wurde. Die in diesem Z u s a m m e n h a n g entscheidende Weiterentwicklung der Produktivkräfte war das Bessemerverfahren, denn seine profitable Nutzung ermöglichte und gebot zugleich die Vereinigung von Hütten-, Stahl- u n d Walzprozeß. Da das Bessemerverfahren in Deutschland aber nur zeitweilig Bedeutung erlangte, entstand die Notwendigkeit der Vereinigung der drei Produktionsstufen erst mit dem Thomasverfahren. Die Vorzüge der Kombination der drei Produktionsstufen bestanden in der Nutzung der Hochofengase zur Speisung der Antriebsmaschinen, der Arbeitsmaschinen und Transporteinrichtungen. Z u m anderen konnten jene Wärmeenergien besser ausgeschöpft werden, die dadurch frei wurden, d a ß das flüssige Roheisen — o h n e nochmaliges Umschmelzen — direkt in die Konverter überführt wurde und die Stahlblöcke wiederum unter Ausnutzung jener Wärmeenergien, die sie im Konverter a u f n a h m e n , zur Verwalzung gelangten. Ein kombinierter Betrieb konnte deshalb die Brennstoffkosten wesentlich senken und die Vorzüge der Arbeitsteilung und der Arbeitsvereinigung voll ausschöpfen. 4 4 Die Vorteile für die Profitgewinnung sind offensichtlich. Sie wurden durch die rationellere Gestaltung des Verwaltungsapparats und die Ausschaltung von Gewinnen der Rohstofflieferanten erweitert. Deshalb waren die entstehenden Großbetriebe auf ihrem Wege zu kombinierten Riesenbetrieben bestrebt, die Kohleproduktion und die Erzförderung den Hütten- und Stahlwerken anzuschließen u n d die Zahl der Walzwerkerzeugnisse zu vergrößern. Der Drang zur Monopolisierung der Produktion vom Rohstoff bis zum E n d p r o d u k t war umso leichter zu realisieren, als die technische und ökonomische Überlegenheit der kombinierten Unternehmen Klein- u n d Mittelbetriebe ruinierte. N a c h zeitgenössischen Berechnungen konnte ein kombiniertes Thomas- oder Bessemerstahl werk mit eigenen H o c h ö f e n und Walzwerk allein durch den G a s ü b e r s c h u ß der Kokerei, das direkte Konvertieren, die Nutzung von Hochofengasmaschinen und das Auswalzen „in einer Hitze", gegenüber einem reinen Hochofenwerk pro T o n n e Rohstahl 13,56 M, pro T o n n e E n d p r o d u k t etwa 15 M einsparen. 4 5 Diesen ökonomischen Vorteilen waren die kleineren Betriebe nicht gewachsen. Der Übergang der reinen Werke zu gemischten Werken war aber kompliziert, da er aus Kostengründen nur mit Hilfe des Bankkapitals und der Bildung von Aktiengesellschaften realisiert werden konnte. Die Schwierigkeiten, die in den achtziger u n d neunziger Jahren dem profitablen Absatz von Eisen und Stahl entgegenstanden, veranlaßten aber das Bankkapital zu einer großen Zurückhaltung gegenüber solchen Projekten. Ein Thomaswerk mit vier 20-Tonnen-Konvertern oder einer jährlichen Kapazität von 300 000 bis 400 000 t sowie Blockwalzwerk u n d andere notwendige Walzanlagen einschließlich allen N e b e n a n l a g e n erforderten einen K a p i t a l a u f w a n d von etwa 15 Mio. M. Die zu einer solchen Anlage gehörenden Erz- und Kohlenschächte und ein Hüttenwerk hätten die Kosten auf etwa 50 Mio. M erhöht. 4 6 Was blieb, war die Aufgabe der reinen Werke, ihr Ankauf durch die Riesenbetriebe oder die Fusion mit ihnen. Eine, wenn auch nur zeitweilige Chance, der Konzentration der Produktion auszuweichen, besaßen lediglich die Siemens-Martin-Werke. Sie waren — da sie in starkem M a ß e Schrott verarbeiteten — nicht wie andere Werke dem Preisdiktat der Roheisensyndikate ausgeliefert. Die Investitionskosten der im Vergleich zu den Thomasanlagen wesentlich kleineren Martinöfen waren zudem so niedrig, d a ß sie von kleineren u n d mittleren Unternehmen beschafft
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werden konnten. 4 7 Die Technologie des Thomasverfahrens setzte die Massenproduktion voraus. Mit der Verbreitung des Verfahrens seit den achtziger Jahren begannen kombinierte Riesenbetriebe das Bild der deutschen Eisen- und Stahlindustrie zu bestimmen. Die Überlegenheit dieses Betriebstyps zeigt sehr anschaulich die Ausstattung des K r u p p s c h e n Unternehmens. K r u p p — die sich a n b a h n e n d e n Entwicklungen und die Möglichkeiten des Rüstungsgeschäfts wohl erkennend — schrieb am 11. Oktober 1871 programmatisch: „Eine würdige gesicherte Z u k u n f t bedingt, d a ß die Fabrik unabhängig, frei von Vermittlern und Zwischenhändlern unter eigener nicht beeinflußter Kontrolle, so wie das Wasser, Erze u n d Mineralien aus eigenem Gerechtsamen, rein, selbst s c h ö p f t u n d verarbeitet." 4 8 Bis Oktober 1899 verfügte das Unternehmen — das 1895 zu den damals in Deutschland v o r h a n d e n e n 296 Betrieben mit über 1 000 Beschäftigten zählte 49 u n d neben Kriegs-, Eisenbahn- u n d Schiffbaumaterial, Maschinenteile, Stahlu n d Eisenbleche, Walzen, Werkzeugstahl u n d anderes produzierte — unter anderem ü b e r nachstehende Betriebe u n d Einrichtungen: die Gußstahlfabrik in Essen, deren Belegschaft von 5 000 Arbeitskräften im Jahre 187050 bis E n d e 1899 auf 25 617 Arbeiter anstieg; 51 das Stahlwerk in Annen, das Grusonwerk in Buckau, vier Hochofenanlagen in Rheinhausen, Duisburg, Neuwied und Engers; eine Hütte bei Sayn und vier Kohlengruben, neben Beteiligungen an anderen Z e c h e n ; ferner 500 Eisenerzgruben in Deutschland u n d eine Reihe von Erzgruben in Spanien, deren Ausbeute mit drei seetüchtigen Schiffen nach Deutschland gebracht wurde. Die Firma hatte sich a u ß e r d e m die Betriebe der Schiffs- u n d Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft G e r m a n i a in Berlin und Kiel eingegliedert. Das Unternehmen, das 1832 über zehn Arbeiter verfügt hatte, beschäftigte am 1. August 1899 neben 3 210 Beamten 40 877 Arbeiter. Allein zum Gußstahlwerk gehörten unter anderem neben 25 617 Arbeitern u n d Beamten zwei Bessemerwerke mit 15 Konvertern, vier Siemens-Martin-Werke und zwei Stahlformgießereien, Puddel- u n d Schweißwerke, Schmelzanlagen für Tiegelstahl, Block-, Schienen-, Blech-, Laschen- und Federstahlwalzwerke, G l ü h h ä u ser-, Härte- und Tiegelkammern, ein Preßwerk, Panzerplattenwerke, H a m m e r werke, Räder-, Herd-, Huf- u n d Kesselschmieden, ein Bandagenwalzwerk, diverse Reparaturwerkstätten, eine Feilenfabrik sowie die der Fabrikation von Kriegsmaterial dienenden Anlagen. Das Gaswerk der Gußstahlfabrik war das sechstgrößte in Deutschland. Es versorgte 2 527 Straßenflammen, 39 345 Flammen in Werkstätten und etwa 850 W o h n u n g e n . Das Elektrizitätswerk speiste 720 Bogen- u n d 5 771 Glühlampen. Das Wasserwerk lieferte 1897/98 etwa 13 Mio. m 1 Wasser. Für den Werkverkehr der Gußstahlfabrik standen ein normalspuriges Eisenbahnnetz von etwa 75 km Gleislänge, 16 Tenderlokomotiven u n d 666 Waggons zur Verfügung. Dazu kamen ein Schmalspurnetz mit 43 km Länge und 24 Lokomotiven und 1 150 Waggons. Das betriebseigene Telegraphennetz von 80 km Länge vermittelte 1898/99 zwischen der Fabrik u n d dem Telegraphenamt 19 308 abgegebene und a n k o m m e n d e Telegramme; das Fernsprechnetz mit 297 km Länge n a h m täglich durchschnittlich 900 bis 1 000 Gespräche auf. In der Probieranstalt der Gußstahlfabrik wurden 1898 143 000 Festigkeitsversuche, im chemischen Labor 24 567 Analysen durchgeführt. 5 2 Das Beispiel macht die Überlegenheit des kombinierten Großbetriebes deutlich, eine Überlegenheit, die sich auch im Einsatz von Ingenieuren u n d Wissenschaftlern, dem A u f b a u u n d der Erweiterung der Laboratorien usw. manifestierte. War die Entwicklung der Eisen- u n d Stahlproduktion zur kontinuierlichen Massenproduktion eine Bedingung für den steilen Aufschwung der Mechanisierung auch der anderen Zweige der Industrie, so beruhten ihre Fortschritte nicht zuletzt auf dem Vermögen der Maschinenbauer, die neuen technologischen Verfahren der Eisen- u n d Stahlproduktion technisch umzusetzen. Eine 47 Ebenda, S. 18. andere G r u n d b e d i n g u n g des Gesamtaufschwungs der industriellen Produktiv- 48 Berdow, W., 1928, S. 263. 49 StDR, Bd. 119, 1899, S. 158. kräfte war die Weiterentwicklung des Bergbaus, denn die Industrie basierte auf 50 Kuczynski, J„ Bd. 3, 1962, S. 25. der D a m p f k r a f t , und auch die ersten Ansätze zur Elektrifizierung waren ohne 51 SlDR, Bd. 119, 1899, S. 159. 52 Ebenda. die D a m p f m a s c h i n e u n d d a h e r o h n e Kohle nicht denkbar. 61
2.1.3.2. Bergbauliche Produktion
17 P r e ß l u f t b o h r m a s c h i n e n im Bergbau
53 E b e n d a , S. 120. 54 E b e n d a , S. 128. 55 JbASl des preußischen 1863, S. 461 f.
Staates,
Die E n t w i c k l u n g e n zum kombinierten Riesen- u n d z u m M o n o p o l b e t r i e b in der Eisen- u n d Stahlindustrie war von d e m Streben der U n t e r n e h m e r n a c h d e r profitablen A u s n u t z u n g der m o d e r n e n M e t h o d e n der S t a h l p r o d u k t i o n diktiert. Die Situation im Bergbau stellt sich a n d e r s d a r : Die begrenzte Zahl der a b b a u würdigen Erz-, Kohlen- u n d Kalilagerstätten schuf ein natürliches M o n o p o l . Dies wirkte sich keineswegs b e g ü n s t i g e n d auf die E n t w i c k l u n g der Produktivk r ä f t e in diesem Sektor der P r o d u k t i o n aus. Die im Bergbau e n t s t e h e n d e n Kartelle u n d a n d e r e n M o n o p o l f o r m e n w a r e n einseitig auf die A u s s c h a l t u n g der K o n k u r r e n z u n d die m a x i m a l e G e s t a l t u n g der Preise orientiert. D a m i t aber w u r d e eine wesentliche T r i e b k r a f t der E n t w i c k l u n g der P r o d u k t i v k r ä f t e in ihrer W i r k u n g eingeschränkt. D e m wirkte entgegen, d a ß der Bergbau — mit A u s n a h m e des K a l i b e r g b a u s — stark in die Eisen- u n d Stahlindustrie integriert w u r d e u n d der K o n k u r r e n z a u s l ä n d i s c h e r B e r g b a u p r o d u z e n t e n ausgesetzt war. Schließlich s t a n d im Bergbau das Streben der U n t e r n e h m e r , teure H a n d a r beit d u r c h billige M a s c h i n e n a r b e i t zu ersetzen, in b e s o n d e r e r Weise im Vorderg r u n d : Die B e r g b a u p r o d u k t i o n — stimuliert d u r c h den industriellen Aufs c h w u n g u n d die Weiterentwicklung des T r a n s p o r t w e s e n s — k o n n t e den steig e n d e n A n f o r d e r u n g e n an die Förderleistungen n u r e n t s p r e c h e n , w e n n die A b b a u s t ä t t e n vergrößert u n d d e r A b b a u weiter in die Tiefe getrieben w u r d e n , D a s erforderte sowohl die Verbesserung der W a s s e r h a l t u n g als a u c h des Transports, d e n n die M e n g e des zu t r a n s p o r t i e r e n d e n Wassers, des A b r a u m s u n d des A b b a u g u t e s wuchs. Die E r h ö h u n g der T r a n s p o r t g e s c h w i n d i g k e i t e n bildete eine K o n s e q u e n z dieser Entwicklung, die generelle Rationalisierung des T r a n s p o r t s eine a n d e r e . D e s h a l b verlor die M u s k e l k r a f t im innerbetrieblichen T r a n s p o r t an B e d e u t u n g . Die Fortschritte im T r a n s p o r t u n d der d a r a u s entsteh e n d e W i d e r s p r u c h zum eigentlichen A b b a u w u r d e n d u r c h die E r h ö h u n g der Z a h l der P r o d u z e n t e n vor Ort u n d d u r c h B e m ü h u n g e n , die M u s k e l k r a f t u n d die A r b e i t s e r f a h r u n g in der G e w i n n u n g effektiver einzusetzen, vermindert. G r u n d l a g e der M e c h a n i s i e r u n g des T r a n s p o r t s blieb d e r Einsatz der D a m p f kraft. 1895 verfügten Bergbau u n d H ü t t e n w e s e n mit 995 069 PS (739 31 1 kW) ü b e r 29,1 % der G e s a m t l e i s t u n g der m o t o r i s c h e n K r ä f t e der Industrie. Auf einen Bergbaubetrieb entfielen durchschnittlich 556,8 PS (412 kW). D a v o n w u r d e n 542,3 PS (401 k W ) von D a m p f m a s c h i n e n e r b r a c h t . " Die b e s o n d e r e Rolle d e r m o t o r i s c h e n K r ä f t e im Bergbau wird an d e n n a c h s t e h e n d e n Z a h l e n deutlich. In der Industrie entfielen auf 100 A r b e i t s k r ä f t e 42 PS (31 kW), in der M o n t a n i n d u s t r i e 185,7 PS (137,4 kW). 54 1861 hatte d a g e g e n in P r e u ß e n d e m Berg-, Hütten- u n d Salinenbetrieb n u r eine D a m p f m a s c h i n e n l e i s t u n g von 60 387 PS (44 886 kW) zur V e r f ü g u n g gestanden. 5 5 D a s quantitative W a c h s t u m d e r D a m p f k r a f t war von einer h ö h e r e n Lei-
Wirtschaftszyklus (1900 = 100)
Steinkohlenbergbau
Braunkohlenbergbau
1867-1875 1876-1886 1887-1893
75 96 102
52 64 71
Quelle: Kuczynski,
Tabelle 28 Arbeitsleistung im Kohlenbergbau 1867 bis 1893
./., Bd. 3, 1962, S. 364.
stungsfähigkeit der eingesetzten Dampfmaschinen begleitet. Während die Schachttiefe im westfälischen Kohlenbergbau in den achtziger Jahren noch bei 300 Metern lag, erreichte sie zu Beginn der neunziger Jahre bereits 700 bis 800 m.56 Zum anderen machten sich die Zechen seit den neunziger Jahren die technischen Fortschritte des Dampfmaschinenbaus, die eine rationellere Energieausschöpfung gestatteten, zu eigen. 57 Die Vermehrung und die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Fördereinrichtungen — bei wachsender Rentabilität der Anlagen — waren ein Faktor, der die Erhöhung der Abbauleistungen im Bergbau erklärt. Die deutsche Eisenerzförderung einschließlich der des Großherzogtums Luxemburg stieg von mehr als 9 Mio. t im Jahre 1884 auf mehr als 12 Mio. t i m Jahre 1895. Gleichzeitig sank aber die Zahl der Arbeiter von 38 914 auf 33 556.58 Analog verlief, wie Tabelle 28 zeigt, die Entwicklung der Arbeitsintensität im Steinkohlen- und im Braunkohlenbergbau. Dabei muß berücksichtigt werden, daß sich die tägliche Arbeitszeit verringerte. Die Verbesserung der Förder- und Wasserhaltungseinrichtungen bildete die technische Basis der Verbesserung des Bergbaus jener Jahrzehnte. Dazu kamen die Fortschritte in der Sprengtechnik, die Einführung des sogenannten Gefrierverfahrens beim Abteufen der Schächte und eine Reihe neuer Techniken, die zwar noch nicht Allgemeingut des Bergbaus wurden, aber neue Entwicklungen ankündeten oder einleiteten. So setzte die Ablösung des Ziegelbaus in den Strecken durch den Betonbau ein, ein Verfahren, daß bei verkürzten Ausbauzeiten einen besseren Anschluß an das Gebirge bei gleichzeitiger Verbesserung der A u f n a h m e des Drucks brachte. 59 Das entscheidende Problem des Tiefbaus bestand in der Verringerung des Widerspruchs zwischen Handarbeit vor Ort und auf Muskelkraft beruhendem Transport bis zur Schachtsohle einerseits und mechanisiertem Transport von der Sohle zu Tage andererseits. Die seit den fünfziger Jahren zum Beispiel im rheinisch-westfälischen Bergbaugebiet benutzten -Handbohrmaschinen verdoppelten nicht nur die Leistung gegenüber dem traditionellen Verfahren bei der Bohrung von Sprenglöchern, sondern sie ermöglichten die Herstellung von Sprenglöchern bis zu einer Tiefe von zwei Metern und damit eine Reduzierung der Zahl notwendiger Bohrungen. 6 0 Aber auch die Handbohrmaschine war an die Geschicklichkeit, Arbeitserfahrung und physische Kraft des unmittelbaren Produzenten gebunden. Die ersten Versuche, diese Abhängigkeit zu durchbrechen, wurden 1861 beim Bau des Mont-Cenis-Tunnels mit französischen Bohrmaschinen unternommen. Doch erst nach der Verbesserung der Steuerung und der Anpassung dieser Gesteinsbohrmaschinen an die Bedürfnisse des Bergbaus gelang es 1865 im Ruhrbezirk, Bohrmaschinen zum Abteufen von Schächten zu nutzen. Als Antriebskraft diente vor allem Preßluft, zum Teil aber auch Druckwasser beziehungsweise Dampf. 6 1 Die Arbeitsweise dieser Bohrmaschinen beschreibt Matschoß so: „Der Bergmann hatte nur die Preßluft anzustellen, nach Ablauf der Maschine über die Länge des Bohrschlittens hinaus sie zurückzuziehen und einen längeren Bohrstahl einzusetzen." 62 Im Ergebnis der Weiterentwicklung der Gesteinsbohrmaschinen und deren Einsatz im Erzbergbau des Harzes und des Siegerlandes, aber auch in Steinbrüchen, entstanden Ende des 19. Jahrhunderts Schrämmaschinen, denn der Kohlenbergbau gehörte zum letzten Feld der Anwendung mechanischer Bohreinrichtungen. 6 3 Hemmend für die Einführung der Bohrmaschinen erwies sich das Unvermögen der Bergleute, mit den 63
56 Matschoß, C . Bd. 2, 1908, S. 389. 57 E b e n d a , S. 315. 58 Zöllner, A., 1907, S. 3. 59 Becker, F., 1932, S. 46. 60 Matschoß, C . 1922, S. 165. 61 E b e n d a , S. 165. 62 E b e n d a , S. 166. 63 E b e n d a , S. 167.
Bohrmaschinen umzugehen. Sie waren vor Ort letztlich Handwerker. Deshalb wurden Bergleute zur Ausbildung in Maschinenfabriken geschickt, oder Fabrikschlosser kamen in die Schächte. Matschoß schreibt dazu: „ M a n konnte es erleben, daß in einer G r u b e bis 5 Maschinenfabriken kostenlos um die Wette bohrten, um die Leistungsfähigkeit ihrer Maschinen zu beweisen." 6 4 Das heißt: ähnlich wie bei der D a m p f m a s c h i n e und später beim Elektromotor und zahlreichen anderen technischen Neuentwicklungen verhielt sich der eigentliche Nutznießer der neuen Produktionstechnik gegenüber zunächst passiv und überließ es dem Hersteller, sein Erzeugnis einzuführen.
64 65 66 67 68 69 70 71 72 73
Ebenda, S. 168. SlDR, Bd. 119,1899, S. 120. Philippi, W., 1928, S. 19. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Mahr, O., 1935 (a), S. 145. Ebenda. Klein, G., Bd. 2, 1935, S. 525.
Gleichzeitig lassen sich im deutschen Bergbau erste Ansätze der Mechanisierung des Transports unter Tage feststellen. 1875 setzte der Aachen-Höngener Bergwerks-Verein erstmals eine von der H u m b o l d t A. G. in Kalk gelieferte Druckluftlokomotive ein, die auf einer 950 m langen schmalspurigen Schachtstrecke in zehnstündiger Schicht etwa 200 t Kohle transportierte. Die Bedeutung der Druckluft im Bergbau für den Antrieb von Bohrmaschinen, Lokomotiven u n d die Bewetterung unterstreichen folgende Zahlen. Fast die Hälfte der von der Gewerbezählung des Jahres 1895 erfaßten „Druckluftbetriebe" waren Montanbetriebe. Der Bergbau konzentrierte 86,9 % der mit Hilfe von Druckluft erzeugten Leistung auf sich. 65 D e n n o c h trat bereits 1877, zu einer Zeit also, als der Elektromotor für die A n w e n d u n g im Bergbau noch völlig u n b r a u c h b a r war, bei Bergbehörden der Wunsch auf, die Preßluftbohrer durch elektrische Bohrmaschinen zu ersetzen. 66 Maßgeblich f ü r diese Bestrebungen waren die Störanfälligkeit der Druckluftleitungen in den Schächten und die Überlegung, d a ß die Druckluftbohrmaschinen nur 25 % der Energie nutzten, während 75 % verlorengingen. 6 7 Wenn auch letztlich bis in die neunziger Jahre alle Versuche, die Elektroenergie dem Bergbau zu erschließen, unvollkommen blieben u n d der Elektromotor im Bohrbetrieb keine A n w e n d u n g fand, so ist es von Interesse, d a ß die Elektrolokomotive sehr früh im Bergbau eingesetzt wurde. Schon die erste von Siemens erbaute elektrische Bahn war für eine Braunkohlengrube bei Senftenberg gedacht — die Grubenbesitzer erwiesen sich jedoch als zahlungsunfähig. 6 8 Drei Jahre später (1882) gab das sächsische Steinkohlenwerk Zauckerode bei Freiberg eine elektrische Grubenlokomotive in Auftrag. Im gleichen J a h r nahm die Paulus-Hohenzollerngrube in Oberschlesien zunächst zwei u n d 1884 zwei weitere elektrische Grubenlokomotiven in Betrieb. Das Kalisalzbergwerk in Neustaßfurt hatte schon 1883 ebenfalls zwei Elektrolokomotiven in Dienst gestellt. 69 1894 f a n d die Elektroenergie im Eisenerzbergbau erste A n w e n d u n g bei einer Förderanlage, für die Wasserhaltung, für den Antrieb eines Druckluftkompressors, eines Ventilators, einer G r u b e n b a h n u n d für Beleuchtungszwecke über u n d unter Tage. 70 Problematisch und daher nur begrenzt einsetzbar blieb die A n w e n d u n g der neuen Energieform im Bergbau vor allem deshalb, weil die Elektroanlagen noch nicht genügend durchgebildet waren (Funkenbildung!), den Belastungen durch Schmutz und Feuchtigkeit nur bedingt standhielten u n d die Regelung der Motordrehzahlen den Anforderungen des Bergbaus nicht genügten. Der Braunkohlenbergbau, der vor der J a h r h u n d e r t w e n d e im Gegensatz zur Steinkohle seine Produkte weniger in der Schwerindustrie als in der Zuckerindustrie (vgl. 3.6.), der Baustoffproduktion und der Kaliindustrie — neben dem H a u s b r a n d — absetzte, war wie der Steinkohlenbergbau vor allem Tiefbau. 1885 wurden nur 25 % des Braunkohlenbergbaus im Tagebau betrieben. 7 1 Die Abkehr vom Tiefbau — der sich im wesentlichen der gleichen Produktionsmittel bediente wie der Steinkohlenbergbau — u n d die H i n w e n d u n g zum Tagebau machten den Aufschwung der Förderleistungen des Braunkohlenbergbaus möglich. Während es in den Tiefbaubetrieben nur bedingt zu produktionstechnischen Fortschritten kam, setzte im Tagebau seit den achtziger Jahren bei der Abraumgewinnung die allmähliche Ersetzung menschlicher und tierischer Muskelkraft durch den G e b r a u c h von Baggern ein. 72 1 8 8 5 wurde ein erster Greifbagger in Betrieb genommen, dessen Leistung der von acht Arbeitskräften entsprach. 7 3 Noch vor 1889 wurden Eimerkettenbagger eingesetzt. 1890 64
n a h m die G r u b e Louise in Sandersdorf bei Bitterfeld einen D a m p f b a g g e r mit einer Leistung von 40 PS (29,6 kW) in Betrieb. Drei Jahre später lief in der Niederlausitz der erste Trockenbagger. Die Mechanisierung des Abraums wurde durch verbesserte Transporteinrichtungen ergänzt: Dampflokomotiven seit 1876; die schon erwähnte Elektromotive in Senftenberg, die über Tage 15 Grubenwagen mit einer Geschwindigkeit von 2 m / s e c . zog; Schwebebahnen, wie die zu Beginn der siebziger Jahre im Raum Teutschenthal und Schkeuditz eingesetzten. 74 Die Mechanisierung der Abraumgewinnung resultierte aus den wachsenden A n f o r d e r u n g e n an den Braunkohlenbergbau. Diese waren mit Hilfe der menschlichen, aber auch der tierischen Muskelkraft nicht mehr zu bewältigen. Die Mechanisierung des Abraumbetriebes war insofern von großer Bedeutung, als sie die grundsätzlichen Lösungen für die Mechanisierung des Kohlenabbaus skizzierte, die bis zum E n d e der neunziger Jahre mit menschlicher und tierischer Muskelkraft, dem Einsatz einfacher Werkzeuge und Transportvorrichtungen durchgeführt wurde. Als Ende des Jahrhunderts die Braunkohle wesentlich an Bedeutung gewann und die Mechanisierung im Tagebau einsetzte, war eine Orientierung am Modell der Mechanisierung der Abraumgewinnung möglich. Bildete die Eisen- und Stahlproduktion eine Säule der Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie, so war der Bergbau eine weitere Grundlage dieses Fortschritts. Er stellte die energetische und die Rohstoffgrundlage der Volkswirtschaft jener Jahrzehnte dar. Waren die Eisen- und Stahlindustrie u n d der Bergbau in ihrer Entwicklung an die Leistungen des Maschinenbaus geb u n d e n , so war umgekehrt der Maschinenbau in seiner Entwicklung abhängig von j e n e n G r u n d l a g e n und den Anforderungen, die die erstgenannten Zweige — und nicht nur sie — an ihn stellten.
Die kontinuierliche Massenproduktion von Eisen, Stahl und Bergbauprodukten resultierte aus dem generellen Streben der Bourgeoisie nach einer tiefergehenden Mechanisierung der Produktion und dem daraus entstehenden Bedarf an metallischen Werk- u n d Brennstoffen. Unter kapitalistischen Bedingungen konnte ihre Massenproduktion nur d a n n forciert werden, wenn ihr profitabler Absatz gewährleistet war. Die Massenproduktion in den G r u n d s t o f f i n dustrien u n d die weitere Mechanisierung in der Leichtindustrie verlangten die M a s s e n p r o d u k t i o n von Arbeits- und Antriebsmaschinen und von maschinellen Transporteinrichtungen, beziehungsweise die Produktion von Werkzeugmaschinen, mit deren Hilfe es möglich wurde, qualitativ hochwertige Arbeits- und Antriebsmaschinen in hoher Zahl u n d von großer Leistungsfähigkeit zu produzieren. Deshalb gewann der Maschinenbau — der Werkzeugmaschinenbau im besonderen — außerordentliche Gewichtigkeit. Ein M a s c h i n e n b a u , der maschinell produzierte, war in den einzelnen deutschen Staaten schon im Verlauf der Industriellen Revolution entstanden. Er begann in den fünfziger Jahren den Wettbewerb mit seinem englischen Lehrherrn a u f z u n e h m e n . Symbolisch steht d a f ü r die Auszeichnung der Firma K r u p p auf der L o n d o n e r Weltausstellung des Jahres 1851 mit einem ersten Preis. 75 Es ist umstritten, ob der deutsche Werkzeugmaschinenbau schon 1861 in der G ü t e dem englischen entsprach, 7 6 ob er auf der Londoner Weltausstellung von 1862 dem englischen Werkzeugmaschinenbau ebenbürtig war, 77 oder ob er erst 1873 das englische Niveau erreichte. 78 Keinen Zweifel gibt es aber daran, d a ß der deutsche Werkzeugmaschinenbau bei der Weltausstellung des Jahres 1893 in Chicago dem englischen u n d dem französischen überlegen war 79 und an der nordamerikanischen Führungsposition zu rütteln b e g a n n : 80 % aller ausgestellten deutschen Maschinen wurden prämiert. 8 0 Der Aufschwung der Werkzeugmaschinenbaus, wie ü b e r h a u p t des Maschinenbaus, wurde durch die schon genannten Faktoren begünstigt. D e n n o c h war die Situation im Maschinenbau anders als in der Grundstoffindustrie. Die Zahl der Aktiengesellschaften im Maschinenbau stieg von 104 im Jahre 1883 auf 235 65
2.1.3.3. Maschinenbau
74 75 76 77 78 79 80
Ebenda, S. 1021 ff. Krupski, Fr., 1926, S."5. Buxbaum, B., 1919, S. 115. Wittmann, K., 1960, S. 49. Engelhard, 0., 1919, S. 169. Wittmann, K., 1960, S. 49. Buxbaum, B., 1919, S. 126.
81 82 83 84 85 86
Krupski, Fr., 1926, S. 6. Buxbaum, B., 1919, S. 105 f. Ebenda, S. 123. Ebenda. Kocka, J., 1975, S. 280. Ebenda.
im Jahre 1896,81 das Wachstum nach Betriebsgrößen vollzog sich im Maschinenbau sogar schneller als in anderen Zweigen. Von Tendenzen zum Monopol kann aber ebensowenig die Rede sein, wie von einer bedeutenderen Zahl von Riesenbetrieben, wenn man davon absieht, daß Maschinenbau auch in den kombinierten Betrieben der Eisen- und Stahlindustrie und in der Transportmittelindustrie betrieben wurde. Das heißt auch, daß das Bankkapital sich zwar mit dem Industriekapital verband, aber der Konkurrenzkampf als entscheidende Stimulanz der Entwicklung der Produktivkräfte uneingeschränkt im Maschinenbau wirkte. Ein nichtmonopolisierter Produktionszweig hat zwangsläufig und erst recht dann, wenn er sich harter ausländischer Konkurrenz ausgesetzt sieht, ein vitales Interesse an der Nutzung des modernsten technischen Standards für die Profitschöpfung. Dieses Streben wurde bis 1877 durch das Fehlen einer gesamtstaatlichen Patentgesetzgebung gehemmt. Der Deutsche Zollverein hatte zwar 1842 eine Verständigung über die allgemeinen patentrechtlichen Grundsätze gebracht, dennoch blieben die einzelstaatlichen deutschen Regelungen im Gegensatz zu England, Frankreich und den USA unterschiedlich. Die in der Regel für fünf-Jahre erteilten Privilegien wurden weder ernsthaft geprüft noch veröffentlicht. 82 Wie dagegen das deutsche Patentgesetz des Jahres 1877 die Erfindertätigkeit stimulierte, machen folgende Zahlen deutlich: In Preußen wurden in den Jahren von 1859 bis 1870 im Jahresdurchschnitt 74 Patente erteilt, 1876 waren es schon 463 Patente. Im gleichen Jahr vergab Sachsen 457, Württemberg 263, Bayern 217 und Baden 187 Patente. 83 Innerhalb von sechs Monaten nach Erlaß des Patentgesetzes von 1877 wurden dagegen 566 Patentanträge gestellt. Der Vorzug des neuen Patentgesetzes bestand neben der Prüfung auf wirkliche Neuheit, die in England nicht durchgeführt wurde, vor allem und in Anlehnung an die Regelungen der USA und Englands in der Veröffentlichung der Patentschriften und damit der Erschließung einer Neuentwicklung für alle Interessierten. Problematisch für die Gesamtindustrie waren die relativ hohen deutschen Patentgebühren. Ferner wurde nicht wie in den USA die Maschine, sondern nur eine erfinderische Idee geschützt. Dazu kam, daß sich die Fortschritte im deutschen Maschinenbau aus einer mehr oder weniger großen Zahl konstruktiver Veränderungen zusammensetzten, Veränderungen, deren Patentwürdigkeit anfechtbar war. Dennoch stand die Metallverarbeitung, zu der der Maschinenbau gezählt wurde, in der Gesamtzahl der zwischen 1877 und 1900 angemeldeten Patente an siebenter, in der Gesamtzahl der erteilten Patente an zweiter Stelle. Für den Wert der von der Metallverarbeitung angemeldeten Patente spricht, daß von den bis 1900 erteilten 996 Patenten, für die auch die fünfzehnte Jahresgebühr bezahlt wurde, die die Metallverarbeitung betreffenden Patente an zweiter Stelle — nach den Farben — standen. 84 Ein anderer, die technische Entwicklung im Maschinenbau vorantreibender Faktor war, daß die Metallarbeiter — und unter ihnen die Maschinenbauer — zu den gewerkschaftlich am besten organisierten und in ihrer Bereitschaft zum Streik aktivsten Gruppen innerhalb der deutschen Arbeiterklasse gehörten. Die Konjunktur zu Beginn der siebziger Jahre, die Verknappung besonders qualifizierter Arbeitskräfte, die durch Streiks erzwungenen Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen hatten zum Beispiel die Firma Siemens 1872 veranlaßt, einen „Verein der Vertreter der Metallindustrie Berlins" ins Leben zu rufen, dessen Ziel es war, Streiks mit Aussperrungen zu beantworten. 85 Die „hauptsächliche Antwort" der Firma Siemens auf die Forderungen der Arbeiter und den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften bildete jedoch „die konsequente Einführung von Werkzeugmaschinen — und damit auch der verstärkte Gebrauch von Kraftmaschinen." 86 Durch den Aufkauf modernster, für die Serienproduktion geeigneter Fräs-, Bohr- und Hobelmaschinen aus den USA suchte sich Siemens dem Druck der Arbeiterklasse zu entziehen. Diese an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren verstärkt auftretende Tendenz zielte darauf ab, „mit schlechten Arbeitern gute Sachen machen zu können", „um mehr mit relativ weniger 66
18 Zugspindeldrehbank mit Gewichtssupport (1873)
Arbeitern produzieren zu können und um sich aus der Abhängigkeit von einer Vielzahl qualifizierter Arbeiter zu befreien". 8 7 Die Erkenntnis von Marx, wonach jedem Streik die E i n f ü h r u n g neuer Maschinen folgt, wonach die Maschine in der H a n d der Bourgeoisie zur Waffe gegen das Proletariat wird, blieb gültig. Ein letzter, die Weiterentwicklung besonders des Werkzeugmaschinenbaus stimulierender Faktor war die zu Beginn der siebziger Jahre einsetzende Umrüstung der deutschen Armee, 88 die Vereinheitlichung ihrer Ausrüstung. Dies zu sagen bedeutet nicht, den Krieg, die Rüstung, zum Vater aller Dinge zu machen. Aber Militärbedarf ist Massenbedarf, der sich durch einheitliche Normen, Austauschbarkeit der Einzelteile, durch Serienproduktion, sicheren Absatz und hohe Profite auszeichnet. An der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren waren fast alle Maschinenformen im Bereich der Metallbearbeitung grundsätzlich entwickelt. 89 Es gab die Drehmaschine, die Hobel- u n d Stoßmaschine, die Bohrmaschine, die Fräsmaschine u n d die Schleifmaschine. Sie bildeten bis zum Ende des Jahrhunderts die Grundausstattung der Maschinenbaubetriebe — wenn sich diese G r u n d a u s s t a t t u n g bis zum Ende der neunziger Jahre nicht sogar auf Drehbänke, Bohrmaschinen und Hobelmaschinen beschränkte. 9 0 Zugleich wurde der innerbetriebliche Transport durch den Einsatz von Kränen u n d anderen Anlagen mechanisiert. Der Fortschritt in der Entwicklung und A n w e n d u n g von Werkzeugmaschinen bestand vor allem darin, d a ß die Zahl u n d Qualität der Fräs- u n d Schleifmaschinen zunahm u n d die Hauptmaschinenarten für speziellere Fertigungsprozesse weiterentwickelt wurden. Aber auch in der veränderten Haltung der Techniker gegenüber den Metallbearbeitungsmaschinen bahnte sich eine neue Ära an. Der Standpunkt, die Maschine habe die Funktion, die Werkstücke vorzubereiten, während ihre Fertigstellung durch manuelle Arbeit zu bewerkstelligen sei, wurde aufgegeben. 9 1 Galt Handarbeit über Generationen als Gütearbeit, so wurden jetzt die handwerklich Befähigten geradezu diskriminiert. Ein Berliner Ingenieur schrieb am 5. März 1871 an W. v. Siemens: „ . . . das Edelste und Schönste überläßt man fast ganz den brutalen H ä n d e n der Dreh- und Feilbolde." 9 2 Seit dem Ende der sechziger Jahre stand die Erweiterung und Verfeinerung der Mechanisierung der Produktion im Mittelpunkt des Denkens der klügsten Bourgeois. Sie strebten nach der Mechanisierung des gesamten Fertigungsprozesses, um zur Serienfertigung übergehen zu können. Diese neue Zielstellung
87 88 89 90 91 92
Ebenda. Buxbaum, B., 1919, S. 97. Wittmann, K., 1960, S. 49. Barth, E., 1973, S. 91. Buxbaum, B., 1919, S. 116. Heintzenberg, Fr., 1940, S. 128.
19 P l a n f r ä s m a s c h i n e (1878)
mußte dazu führen, den Blick von England abzuwenden und sich an der Entwicklung in den USA zu orientieren. Spätestens seit der Weltausstellung 1876 in Philadelphia zeigte sich, d a ß der englische Werkzeugmaschinenbau im Gegensatz zu dem der USA keine konstruktiven Fortschritte mehr aufwies.'' 1 Der ständige Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der amerikanischen Industrie und der wachsende Bedarf an Industrieerzeugnissen beschleunigten dort die Entwicklung einer auf die Massenproduktion ausgerichteten Produktionstechnik. Sowohl die Fräsmaschine, die das Handfeilen und Ziselieren ersetzte, als auch die Revolverdrehbank, die es erlaubte, eine Reihe von Arbeitsoperationen nacheinander d u r c h z u f ü h r e n und die durch Christopher Spencer zur automatischen Revolverdrehbank weiterentwickelt wurde, waren amerikanische Erfindungen. Auch die Weiterentwicklung der Mehrspindeltechnik und die Schaffung von Präzisionsschleifmaschinen erfolgte in den USA.
93 Buxbaum, B., 1921, S. 137 f. 94 Rosenberg, N., 1975, S. 226.
Die Bedeutung dieser Maschinen bestand darin, d a ß sie die maschinelle Produktion austauschbarer Teile erlaubten, weil mit ihrer Hilfe eine qualitativ hochwertige Oberflächenbearbeitung möglich war. Allein in den USA, wo sich die einfache Fräsmaschine schon um 1850 durchgesetzt hatte, wurden zwischen 1855 und 1880 etwa 100 000 Fräsmaschinen, beziehungsweise brauchbare Nachbauten, hergestellt. 94 Es ist vor allem ein Verdienst des Nähmaschinenfabrikanten Ludwig Loewe, wenn seit Beginn der siebziger Jahre eine wachsende Zahl deutscher Maschin e n b a u u n t e r n e h m e r zu erkennen begann, daß die Ü b e r n a h m e des sogenannten „amerikanischen Systems" h o h e Profite erwarten ließ. Dieses System bestand in der nachhaltigen Reduzierung der Handarbeit bei der Bearbeitung me68
tallischer Werkstoffe, in einer rigorosen Arbeitsteilung, dem Übergang zur Serien- und Massenfertigung auf der Basis austauschbarer Einzelteile und die damit verbundene Ablösung der K u n d e n p r o d u k t i o n durch die Produktion auf Lager. In diesem Z u s a m m e n h a n g erscheint es bemerkenswert — weil sich die Analogie zu England anbietet —, d a ß zu diesem System zuerst Unternehmen übergingen, deren Betriebsalter relativ gering war, u n d d a ß es sich vorwiegend um Firmen handelte, die im Berliner Raum angesiedelt waren. 95 In Sachsen, d e m zweiten großen deutschen Maschinenbauzentrum, wurde diese Umstellung zunächst versäumt. 9 6 W ä h r e n d in der Industriellen Revolution die deutschen U n t e r n e h m e r kein Risiko scheuten, um sich englisches technisches u n d fabrikorganisatorisches Wissen anzueignen, konnten sie in den siebziger Jahren auf diese Formen der Industriespionage verzichten. Die Industrie der USA — geschützt durch Patente und bestrebt zu exportieren — war durchaus bereit, ihre E r f a h r u n g e n zu verkaufen. Warb die deutsche Industrie in der Industriellen Revolution vor allem englische Facharbeiter an, so wurden jetzt Ingenieure aus den USA ins Land geholt. Das Prinzip der Produktion austauschbarer Einzelteile war keineswegs n e u : M a n denke an die Transportmittelindustrie oder auch an den Textilmaschinenbau. 9 7 Die beginnenden siebziger Jahre signalisierten insofern eine neue Phase dieses Prozesses, als er sich auf einer technologischen Basis vollzog, die geeignet war, in immer weitere Bereiche der Metallbearbeitung vorzudringen u n d den Werkzeugmaschinenbau selbst zu erfassen. Allerdings sollten sich die Erwartungen, die Unternehmer wie Loewe an die Ü b e r n a h m e des amerikanischen Systems gestellt hatten, nicht voll erfüllen. Die Enge des Marktes u n d die im Vergleich zu den USA niedrigeren Löhne beeinträchtigten das rasche Anwachsen der Serien- u n d der Massenfertigung ebenso wie die Entstehung von Maschinenbaubetrieben in jener G r ö ß e n o r d n u n g , wie sie in den USA bestanden. D a d u r c h entgingen den deutschen Maschienbauunternehmen zum Teil die Vorzüge der Arbeitsteilung, und die Herausbildung von Spezialbetrieben verlief langsamer als in den USA. Beide Faktoren beeinträchtigten die Exportfähigkeit u n d erforderten Maschinenimporte. 9 8 Loewe, der vor der A u f n a h m e der Produktion seiner 1869 gegründeten Nähmaschinenfabrik eine Studienreise in die USA u n t e r n o m m e n hatte, schilderte seine Eindrücke so: Er wies zunächst d a r a u f h i n , d a ß die Fabriken in den USA über selbsttätige Maschinen verfügten, um „sich so unabhängig vom guten Willen u n d der technischen Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Arbeiters zu machen" 9 9 und f u h r begeistert fort: „Die technischen Hilfsmittel, welche sie dabei a n w e n d e n , spotten jeder Voraussetzung eines deutschen Maschinenbauers; von der größten Maschine bis zum kleinsten Werkzeuge gehört alles arbeitende Material zu einem einheitlichen Systeme, dessen D u r c h f ü h r u n g bis in die kleinsten Details mit der größten Peinlichkeit bewirkt ist." 100 Obwohl Loewe seinen Betrieb mit modernsten Werkzeugmaschinen einrichtete und sich der Unterstützung amerikanischer Ingenieure bediente, strebte das Unternehmen, das zu Beginn der siebziger Jahre als der größte Nähmaschinenhersteller Europas galt, nur eine Stückzahl von 50 bis 75 N ä h m a s c h i n e n pro Tag an. In den USA stellte dagegen ein Betrieb täglich 100 bis 1 000 Nähmaschinen her. 101 Trotz k a u f m ä n n i s c h e n Geschicks scheiterte Loewe an der Enge des Marktes. Schon 1874 bildete die Herstellung von Waffenteilen u n d Munition die entscheidende Produktion des Unternehmens. 1 0 2 Seine Entwicklung ist nicht untypisch für die Entstehung der Großbetriebe im deutschen Maschinenbau jener Jahrzehnte. 1870 wurde die N ä h m a s c h i n e n p r o d u k t i o n a u f g e n o m m e n . 1874 lag der Schwerpunkt der Produktion schon auf der Herstellung von Destruktivmitteln. 1876 wurde die N ä h m a s c h i n e n p r o d u k t i o n völlig aufgegeben. Baute das U n t e r n e h m e n ab 1873 zunächst Werkzeugmaschinen für den eigenen, d a n n für den Fremdbedarf, so nahm es bereits 1875 den Dampfkesselbau u n d in den achtziger Jahren auch den D a m p f m a s c h i n e n b a u auf. 103 In den achtziger Jahren k a u f t e Loewe die Waffenfabrik Mauser auf, erwarb die Metallpatronenfabrik Lorenz in Karlsruhe u n d die beiden wichtigsten deutschen Pulverfabriken, Rottweil-Hamburg und die Vereinigten Rheinischen Pulverfabriken, Köln. In 69
95 96 97 98 99 100 101 102 103
Buxbaum, B., 1919, S. 117 ff. Ebenda, S. 122. Barth, £., 1973, S. 47 ff. Buxbaum, B., 1919, S. 120. Malschoß, C./Schlesinger, G., 1930, S. 9. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 25.
20 Werkzeugmaschinenfabrik in Leipzig (um 1900)
den neunziger Jahren folgten der Aufkauf der Ungarischen Waffenfabrikation A. G. in Budapest und einer Waffenfabrik in Belgien. 1891 schließlich begann sich das Unternehmen gemeinsam mit US-Unternehmen und Banken, wie der Disconto-Gesellschaft, der Dresdner Bank usw., an der G r ü n d u n g von Elektrizitätsgesellschaften in H a m b u r g und Berlin zu beteiligen. Es sicherte so Aufträge für den Werkzeugmaschinenbau und eine Absatzbasis f ü r die zu Beginn der neunziger Jahre eingerichtete Abteilung für elektrotechnische Anlagen. 104 In dieser Entwicklung kam die Überlegenheit des Großbetriebes über den Kleinbetrieb und die Unabdingbarkeit der Verbindung des industriellen Kapitals nicht nur mit dem Bankkapital schlechthin, sondern mit dem internationalen Kapital zum Ausdruck. Z u m anderen zeigen die Verschiebungen im Produktionsprofil eines Unternehmens, das in mehr als drei Jahrzehnten keine Spezialisierung erreichte, die Schwierigkeiten, die sich dem deutschen Maschinenbau entgegenstellten. Die so verschiedenen Fertigungsprogramme, die eine Mobilität in der Produktionsorganisation voraussetzten, waren aber nur möglich, weil das Unternehmen über variabel einsetzbare Werkzeugmaschinen — wie automatische Drehbänke, Fräsmaschinen und m o d e r n e Schleifmaschinen — verfügte. Die Entwicklung des Maschinenbaus beruhte also letztlich bis zur A n w e n d u n g des Schnelldrehstahls und des Elektromotors auf den in der Industriellen Revolution u n d in deren Gefolge entwickelten Metallbearbeitungsmaschinen. Sie wurden bis an die J a h r h u n d e r t w e n d e mit dem Ziel der Erweiterung ihres Anwendungsbereiches und der Reduzierung der geschickten Arbeit weiterentwickelt. Gewiß brachte der deutsche Maschinenbau eigenständige Leistungen hervor, seine Basis bildete aber die Kopierung von Maschinentypen aus den USA. 105 Der Spezialisierungsgrad war bis in die neunziger Jahre, gemessen am Niveau der USA, nur schwach entwickelt. Doch die Mehrzahl der deutschen Maschinenfabriken konnte alle Maschinen bauen. Die Tendenz in den größeren Betrieben war dennoch darauf gerichtet, die Fertigung vom Einzelteil bis hin zur betriebstüchtigen Anlage in einer H a n d zu vereinigen. Das wird zum Beispiel im Gasmaschinenbau 1 0 6 sichtbar, das zeigt sich an der Kombination von D a m p f m a s c h i n e n - und Dampfkesselbau in einem Betrieb, aber auch an der Vereinigung des Baus von Braunkohlenbergwerksanlagen und Zuckerfabriken oder der Verbindung des Schwermaschinenbaus mit der Herstellung von Tunnel- u n d Gesteinsbohrmaschinen u n d der Herauslösung des Schiffbaus aus dem Maschinenbau. 1 0 7 104 E b e n d a , S. 37 f. 105 Buxbaum.B., 1919,S. 122. 106 Barth, E., 1973, S. 19 ff. 107 E b e n d a , S. 22.
Noch deutlicher wird die Spezialisierung im ältesten Zweig des Maschinenbaus — im Textilmaschinenbau, der sich schon zu Beginn des Untersuchungszeitraumes als selbständiger Zweig konstituiert hatte. M a n ging nun dazu über, 70
spezielle Maschinenfabriken für Webstühle, Strickmaschinen, Stickmaschinen usw. aufzubauen. 1 0 8 Analoges gilt für die Transportmittelindustrie, die am Ende der Industriellen Revolution einen hohen Spezialisierungsgrad aufwies und sich auf die Serienproduktion bei partieller Austauschbarkeit der Einzelteile stützte. 109
Es beschäftigten sich mit dem Bau von
Zahl der Fabriken
in %
davon ausschließlich Zahl der in % Fabriken
Werkzeugmaschinen Bergwerks- und Hüttenmaschinen Dampfmaschinen aller Art Lokomotiven und Tender
28 24 46 13 11 52 47
13,1 10,9 20,8 5,8 4,9 23,5 21,3
7 3 2 11 4 25 4
Waggons aller Art Textilmaschinen aller Art Landmaschinen u. Geräte Quelle: Schröter, A./Becker,
Tabelle 29 Spezialisierungsgrad in 221 deutschen Maschinenfabriken 1871
25,0 12,5 4,3 84,6 36,3 48,0 8,5
W., 1962, S. 212.
Anhaltspunkte über den U m f a n g der Spezialisierung im Jahre 1871 gibt Tabelle 29, die auf der Grundlage der Untersuchung von 221 deutschen Maschinenfabriken erarbeitet wurde. Wenn auch die nachstehende Tabelle 30 nur bedingt mit der vorhergehenden vergleichbar ist, so macht sie doch den Grundtrend in der Weiterentwicklung der Spezialisierung im deutschen Maschinenbau sichtbar. 1882 Von den in Deutschland bestehenden Maschinenfabriken beschäftigten sich mit der Herstellung folgender Erzeugnisse: Dampfmaschinen und Lokomotiven Landwirtschaftliche Maschinen und Geräte Spinnerei- u. Webereimaschinen Nähmaschinenteile Schiffbau
Betriebe
Tabelle 30 Spezialisierungsgrad der deutschen Maschinenfabriken 1882 und 1895
1895 Personen
229
27 855
1622 1366 378 1 169
18604 12564 8621 22 524
Betriebe
.
Personen
142
29804
1266 1238 327 1 130
22952 17047 12544 35 336
Quelle: Barth, £., 1973, S. 34.
Das langsamere Wachstum der Zahl der Betriebe im Vergleich zur Zahl der Beschäftigten zeugt von der Konzentration der Produktion, während das rasche Wachstum der Zahl der Arbeitskräfte im Landmaschinenbau, im Textilmaschinenbau, im Nähmaschinenbau und im Schiffbau die zunehmende Verselbständigung dieser Zweige bestätigt. Ausgangspunkt der Spezialisierung waren in der Regel Produktionszweige, deren Basis im gleichen Maschinenpark und in gleichen Werkstoffen bestand; so zum Beispiel die Produktion von Druckmaschinen und Rotationsdruckmaschinen. In diesem Zusammenhang spielten Revolverdrehbank, Fräsmaschine und Universalschleifmaschine ebenfalls eine außerordentlich große Rolle, weil sie in abgewandelten Formen in zahlreichen Produktionsbereichen anwendbar waren. Das Streben der Waffen- und Nähmaschinenproduktion, leistungsfähige Werkzeugmaschinen zu entwickeln, führte zur Schaffung von hochspezialisierten Werkzeugmaschinen, die bald über ihr ursprüngliches Anwendungsgebiet hinauswuchsen. Weder die Waffenproduktion noch die Nähmaschinenfertigung, weder der Fahrrad- noch der Kraftfahrzeugbau, noch die Produktion von Schreib- und Rechenmaschinen zum Beispiel wären ohne die genannten Fortschritte im Werkzeugmaschinenbau möglich gewesen." 0 71
108 Ebenda, S. 24. 109 Ebenda, S. 40. 110 Krupski, Fr., 1926, S. 5.
Den Aufschwung, den der Maschinenbau zwischen 1882 und 1895 nahm, unterstreicht auch die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen (Tab. 31). Die Tabelle läßt zwar eine klare Bestimmung der Position des Maschinenbaus nicht zu, da er in der Statistik zur mechanischen Industrie gezählt wurde — die Tendenz ist aber unverkennbar. Tabelle 31 Zahl der Beschäftigten in der deutschen Industrie 1882 und 1895
(in Mio.)
Gesamte Industrie Bergbau Eisenhüttenindustrie Mechanische Industrie Maschinen-Industrie Chemische Industrie Textilindustrie Quelle: Krupski,
1882
1895
6,396 0,320 0,160 0,705 0,110 0,058 0,851
8,281 0,448 0,227 1,056 0,147 0,101 0,945
Steigerung gegenüber 1882 1,3 1,3 1,4 1,5 1,3 1,8 1,1
F., 1926, S. 10.
Die rasche Entwicklung der Mechanisierung im Maschinenbau kann man indirekt an der Zahl der benutzten D a m p f m a s c h i n e n ablesen. Verfügten 1882 nur 7,8 % der Maschinenbaubetriebe über D a m p f m a s c h i n e n oder Gasmotoren, so waren es 1895 bereits 49,4 %.'" Der technische Fortschritt und die wissenschaftliche Durchdringung der Produktion äußerten sich in der Einrichtung von Konstruktionsbüros, in der Verwendung von Prüfmaschinen, in der Beschäftigung von Hoch- und Fachschulkadern. Dies alles konzentrierte sich auf die Großbetriebe. Der Maschin e n b a u gehörte weiter zu den Produktionszweigen, die sich zuerst der Elektrizität bedienten: 1895 nutzten schon 1,3 % der deutschen Maschinenbaubetriebe Elektroenergie." 2 Trotz der gewichtigen Fortschritte, die der Maschinenbau bis zum Beginn der neunziger Jahre erzielte, genügte er quantitativ und zum Teil auch qualitativ nicht den Anforderungen, die die Industrie an ihn stellte. 1891 bezog Deutschland noch 61,7 % seiner eingeführten Maschinen — es handelte sich dabei in der Regel um sogenannte schwere Maschinen, wie Sondermaschinen f ü r den Schiffbau, schwere Revolverdrehbänke, Langlochfräsmaschinen — aus England u n d 8,7 % zum größten Teil allerdings hochwertige leichte Werkzeugmaschinen aus den USA." 3
2.1.3.4. Konsumgüterproduktion
111 Barth, £., 1973, S. 93. 112 Ebenda, S. 94. 113 Buxbaum, B., 1921, S. 141.
Die Verwendung von Arbeitsmaschinen verlief seit dem Beginn der Industriellen Revolution in jenen Zweigen der Produktion am erfolgreichsten, in denen gleiche Arbeitsoperationen häufig, ja kontinuierlich wiederholt wurden, in denen die Arbeitsteilung am raschesten voranschritt. Beide Bedingungen waren in der Fabrik gegeben, beide fehlten im Handwerk. So ist es zu erklären, warum die Fabrik die handwerkliche Produktion überwinden konnte. Dazu kam, d a ß schon in der Industriellen Revolution die Produktionstechnik partiell eine Dimension gewann — man denke an die an D a m p f k r a f t gebundenen H o c h ö f e n oder mechanischen Webstühle —, die die Grenzen des handwerklichen Betriebes sprengte. Während sich aber in der Industriellen Revolution die Auseinandersetzung zwischen dem Handwerk und der Fabrik vollzog, verschob sich der Konkurrenzkampf n u n m e h r auf die Auseinandersetzung zwischen Großbetrieb und Kleinbetrieb. Der Kleinbetrieb geriet, bedingt durch sein geringes Kapital und eine demgemäße Ausstattung mit Produktionsmitteln, in die Position des Unterlegenen. Das Handwerk wurde immer mehr, obwohl es Arbeitsmaschinen zu nutzen begann, aus der Funktion des Produzenten in die des Reparateurs gedrängt. Besaß der Handwerksbetrieb in der Industriellen Revolution in der Regel keine Arbeitsmaschinen, so begann er nun Arbeits- u n d Antriebsmaschinen einzusetzen. H a n d w e r k u n d Kleinbetrieb blieben j e d o c h von der N u t z u n g 72
der modernsten Produktionstechnik ausgeschlossen, da Hochofenanlagen, aber auch Gesteinsbohrmaschinen, Schwefelsäurekammern, Webstühle mit motorischem Antrieb usw. nur im Mittel- und Großbetrieb einsetzbar waren. Die G r ü n d e d a f ü r liegen wiederum in der Dimension bestimmter Arbeitsmittel, in der mangelnden Kapitalkraft, aber auch in der spezifischen Funktion der Kleinbetriebe. Sie hatten — neben der Instandhaltung .der Erzeugnisse der Großbetriebe — jene Produktionen durchzuführen, die entweder noch nicht mechanisiert waren, oder deren Mechanisierung für Großbetriebe unprofitabel schien. Das aber bedeutete, d a ß die Kleinbetriebe vor allem über solche Produktionsmittel verfügten, die universell nutzbar waren, wie Fräsmaschinen, Schleifmaschinen, Poliermaschinen, Schraubenschneidmaschinen, Kreissägen, Bandsägen usw., aber auch Backöfen, Knetmaschinen usw. Der Einsatz selbst dieser Produktionsmittel wurde durch das Fehlen von Antriebskräften, wie der D a m p f m a s c h i n e , gehemmt. Hier liegt einer der Widersprüche, dessen Lösung zur Entwicklung der Verbrennungskraftmaschinen und des Elektromotors führte. In Zahlen drückt sich die Überlegenheit des Großbetriebes — u n d als Großbetrieb galten Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten, während der Kleinbetrieb bis zu fünf Personen beschäftigte — zum Beispiel so aus: Von den 10 Mio. Feinspindeln, die 1895 in Deutschland vorhanden waren, verfügten die Kleinbetriebe nur über 51 000, während die Großbetriebe 9,5 Mio. besaßen. Von den 9 289 Glasschleifständen wurden nur 998 in Kleinbetrieben genutzt. W ä h r e n d in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten 32 094 Metallfräsmaschinen vorhanden waren, besaßen die Kleinbetriebe nur 743 Maschinen dieses Typs. Ein ähnliches Bild zeigt die polygraphische Industrie. In den Kleinbetrieben wurden 2 396 Schnellpressen betrieben, in den Großbetrieben dagegen 13 064.114 D e n n o c h darf nicht verkannt werden, d a ß selbst in der ältesten mechanisierten Industrie, der textilen Produktion, die Zahl der mit menschlicher Muskelkraft betriebenen Arbeitsmaschinen nach dem E n d e der Industriellen Revolution noch anstieg u n d die Hausindustrie eine relative A u s d e h n u n g erfuhr, wie Tabelle 32 e n t n o m m e n werden kann. Maschinenart
Prozentuale Z u n a h m e bzw. A b n a h m e
Jacquard-Stühle mit Handbetrieb Stühle ohne Jacquard mit Handbetrieb Spinnmühlen für leonische Waren mit Handbetrieb Bobbinetmaschinen mit Handbetrieb Stickmaschinen mit Handbetrieb Strumpfstühle mit Handbetrieb Kettenwirkstühle mit Handbetrieb
+ 35,7 + 23,5 — 60,4 — 18,3 + 86,3 + 52,2 + 13,5
Tabelle 32 Prozentuale Zu- bzw. Abnahme ausgewählter Textilmaschinen, die auf der Basis menschlicher Muskelkraft arbeiteten 1875 bis 1895
Quelle: SlDR, Bd. 119, 1899, S. 146f.
Die Verdreifachung der Textilproduktion zwischen 1870 und 1913115 beruhte vor allem auf dem schnellen Wachstum der Zahl der in den Fabriken verwendeten verbesserten Arbeitsmaschinen u n d der Erschließung neuer Anwendungsgebiete für die Maschinenarbeit. Die Steigerung der Zahl der Arbeitskräfte verlief demgegenüber in der Textilindustrie langsamer als in anderen Industriezweigen." 6 Das A u s m a ß der Entwicklung der Maschinenarbeit in der Textilproduktion macht Tabelle 33 deutlich. Die deutsche Textilindustrie verwendete zumeist Erzeugnisse des sächsischen und des elsässischen Textilmaschinenbaus, aber die modernsten Arbeitsmaschinen wurden zu beachtlichen Teilen aus der Schweiz und aus England importiert." 7 Seit 1894 fanden in den großen Webereien die ersten automatischen Webstühle aus den USA Verwendung. 1 1 8 Die Zählebigkeit der einfachen Arbeitsmaschinen war wesentlich sozialökonomisch bestimmt, d e n n sie wurden in Nebenarbeit u n d als Saisonarbeit besonders in ländlichen Gebieten betrieben. 73
114 StDR, Bd. 119,1899, S. 148. 115 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 65. 116 Krupski, Fr., 1926, S. 10. 117 Hassler, Fr., 1939, S. 91. 118 Ebenda.
Tabelle 33 Prozentuale Zunahme ausgewählter Textilmaschinen mit motorischem Antrieb 1875 bis 1895
Maschinenart
Prozentuale Z u n a h m e
Stickmaschinen Kettenwirkstühle Französische R u n d w i r k s t ü h l e Strumpfstühle Bobbinetmaschinen Jacquard-Stühle Kämmaschinen Stühle o h n e J a c q u a r d Spulen für Seide Walzendruckmaschinen Walkmaschinen Englische Rundwirkstühle Feinspindeln Krempeln (auch V o r s p i n n k r e m p e l n )
+ 2 775,0 + 1 044,4 + 884,2 + 373,0 + 244,1 + 150,6 + 134,3 + 129,2 + 125,1 + 84,4
Quelle: StDR,
119 120 121 122 123 124
Ebenda. Ebenda. Ebenda. StDR, Bd. 119,1899, S. 146. Hassler, Fr., 1939, S. 93. Barth, E., 1973, S. 59.
+ + +
76.3 72.4 31,3 4,8
Bd. 119, 1899, S. 146f.
Ein völlig anderes Bild zeigt sich bei den Antriebsmaschinen. Die Kesselanlagen, die D a m p f m a s c h i n e n und die Ende der achtziger Jahre entstehenden elektrischen Kraftzentralen waren deutschen Ursprungs. Bis zum Ausgang des Jahrhunderts gelang es, besonders durch die Ventilsteuerung, die D a m p f m a schine den Bedürfnissen der modernen Textilproduktion anzupassen. 1 1 9 Die Vergrößerung der Textilbetriebe, erleichtert durch die Verwendung von Eisenu n d Stampfbeton sowie von Eisenträgerkonstruktionen, wurde zur Zentralisierung der D a m p f m a s c h i n e n a n l a g e n genutzt und trieb die Elektrifizierung der Produktion voran. Je länger eine Werkhalle war, desto länger waren die notwendigen Transmissionseinrichtungen und um so größer die Energieverluste, die durch Reibung entstanden. Deshalb gab es schon Ende der achtziger Jahre in Großbetrieben neben Ansätzen zur elektrischen Beleuchtung auch Versuche, den D a m p f m a s c h i n e n a n t r i e b der Arbeitsmaschinen durch den G r u p p e n antrieb mit Hilfe von Elektromotoren zu ersetzen. 120 Transportbrücken und L a u f k r ä n e führten zur Mechanisierung des innerbetrieblichen Transports. Ab 1888 begannen Luftbefeuchtungsanlagen für Textilien das manuelle Wasserverspritzen bzw. die Verwendung von Verdunsttüchern zu ersetzen. 121 In der Spinnerei und Weberei äußerte sich der Fortschritt der Produktivkräfte in der weiteren Zurückdrängung der mit Muskelkraft betriebenen Arbeitsmaschinen, in der Mechanisierung von Nebenprozessen und in der Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Arbeitsmaschinen. Mitte der neunziger Jahre gab es Spinnmaschinen mit mehr als 1 000 Spindeln und Webstühle mit einer Arbeitsbreite von 10 bis 12 m. Die Arbeitsgeschwindigkeit dieser Webstühle lag bei 22 Schuß pro Minute. Zu ihrer Bedienung reichte eine weibliche Arbeitskraft aus. 122 In der Bleicherei kam es dagegen erst seit etwa 1890 durch die E i n f ü h r u n g neuer chemischer Hilfsstoffe, Apparate u n d Maschinen und durch die beginnende Ersetzung der Chlorbleiche durch elektrochemische Bleichverfahren zu Veränderungen. Gleiches galt f ü r die Färberei, denn trotz der großen Fortschritte in der Farbchemie wurde zum Beispiel Alizarin erst in den neunziger Jahren in stärkerem M a ß e genutzt (vgl. 6.4.).123 Die Weiterverarbeitung der Stoffe verlief dagegen — nicht zuletzt unter dem Druck der Bevölkerungsentwicklung — wesentlich progressiver. Bereits Ende der sechziger Jahre wurde die in den USA e r f u n d e n e und für zahlreiche Anwendungsgebiete weiterentwickelte N ä h m a s c h i n e nach Deutschland eingeführt. Die deutsche Nähmaschinenindustrie produzierte bis 1880 — diese Zahl ist umstritten — 0,5 Mio. Nähmaschinen. 1 2 4 In den USA entstanden bereits während des Bürgerkrieges Kleiderfabriken. Bis zum Ende des Jahrhunderts wuchs die Konfektionsindustrie zur Großindustrie heran. In Deutschland fand dagegen die N ä h m a s c h i n e zunächst nur in den Haushalten eine beachtliche Verbreitung. Die Zahl der Wäsche- u n d Kleiderfabriken blieb gering. Die sozialökonomischen Bedingungen ließen es profitabler erscheinen, die N ä h m a 74
schine in einer Organisationsform der Produktion einzusetzen, die schon der Vergangenheit anzugehören schien — im Verlagssystem. Die Nähmaschine, die Mitte der neunziger Jahre Arbeitsgeschwindigkeiten bis zu 1 500 Stichen pro Minute erreichte, 1 2 5 war in den USA zahlreichen Modifikationen unterworfen, die sie f ü r die Sattlerei, Buchbinderei usw. einsetzbar machten. G r o ß e Bedeutung erlangte sie in der Lederverarbeitung, insbesondere in der Schuhproduktion. Ihre A n w e n d u n g zur Herstellung der Verbindung von Oberleder und Sohle erlaubte selbst bei Muskelkraftantrieb eine f ü n f - bis sechsfache Leistungssteigerung gegenüber der Handarbeit. Bei motorischem Antrieb konnten mit ihrer Hilfe bis zu 600 Paar Schuhe in zehn Stunden produziert werden. Der Handarbeiter benötigte bei gleichem Arbeitstag f ü r ein Paar Schuhe etwa eine Stunde. 126 Insgesamt kannte die deutsche Schuhindustrie etwa 50 verschiedene Maschinenarten. 1 2 7 Obwohl in der Schuhproduktion der Übergang zur fabrikatorischen Produktion schneller verlief als in der Bekleidungsindustrie — 1871 setzte eine Schuhfabrik in Frankfurt (Main) zum Beispiel erstmals eine D a m p f m a s c h i n e ein, und 1895 arbeiteten bereits 449 Betriebe mit motorischer Kraft 1 2 8 —, konnte sie mit der in den USA nicht Schritt halten. Dort war um die J a h r h u n d e r t w e n d e die Schuhproduktion voll mechanisiert. Die mehr als 80 Arbeitsoperationen, die zur Herstellung von Schuhen notwendig waren, wurden mit Hilfe von Maschinen ausgeführt. 1 2 9 In der Nahrungsmittelindustrie, besonders in der Mühlenindustrie u n d der Backwarenproduktion, entstanden schon während der Industriellen Revolution in verschiedenen Großstädten vereinzelt Fabriken, die sich in den folgenden Jahrzehnten zum Beispiel durch die relativ rasche Verbreitung von Knetmaschinen usw. u n d der Nutzung von D a m p f k r a f t quantitativ und qualitativ weiterentwickelten. Generell blieb dieser Sektor der Konsumgüterproduktion im T e m p o der Fabrikbildung und vor allem des Übergangs zum Großbetrieb hinter anderen Industrien zurück. Einen Einblick in die Z u n a h m e der Mechanisierung dieser Produktion bietet Tabelle 34. Maschinenart
Prozentuale Z u n a h m e
Schlagzeuge f ü r Ölsaat Mahlgänge, deutsche Knetmaschinen M a h l g ä n g e , französische, a m e r i k a n i s c h e u. a. H y d r a u l i s c h e Ölpressen
+ 534,4 + 357,8 + 343,4 + 95,5 + 69,7
Tabelle 34 Prozentuale Zunahme ausgewählter Arbeitsmaschinen in der deutschen Nahrungsmittelindustrie 1875 bis 1895
Quelle: SlDR, Bd. 119, 1899, S. 146f.
Die Fleischverarbeitung blieb, von wenigen Schlachthöfen mit einfacher technischer Ausstattung abgesehen, Sache des Handwerks. In den U S A wurde in den siebziger Jahren die Maisentkernungsmaschine entwickelt. Ein Jahrzehnt später konnten Erbsen mechanisch geschält, Kirschen und Pfirsiche maschinell entkernt, Konservendosen maschinell produziert und verschlossen werden. Seit den neunziger Jahren f a n d e n Maschinen zum gleichzeitigen Verschluß vieler Konservendosen Anwendung. Das Prinzip der Fließarbeit wurde erstmals in den sechziger Jahren in den Schlachthöfen Chicagos bei der Zerlegung des Schlachtviehs genutzt. 130 Deutschland blieb dagegen in der Verarbeitung von Lebensmitteln weit zurück. Selbst die Mitte der siebziger Jahre entwickelte Ammoniakkältemaschine Carl v. Lindes fand nur langsam Zugang in die Lebensmittelindustrie. 1 3 1 125 StDR, Bd. 119,1899, S.. 146. 126 Rehe, 1911, S. 204. 127 E b e n d a . 128 E b e n d a , S. 209. S./Sonne129 Brentjes, B./Richter, mann, R., 1978, S. 349. 130 E b e n d a , S. 347 ff. 131 Linde, C. v., 1918, S. 5 ff.
75
2.1.4. Vervollkommnung der Dampfmaschine und Entwicklung neuer Bewegungsmaschinen
132 StDR, Bd. 119, 1899, S. 18. 133 Zahn, Fr., 1901, S. 23. 134 StDR, Bd. 119, 1899, S. 121 f.
Die Industrielle Revolution hatte die D a m p f m a s c h i n e als die leistungsfähigste Antriebsmaschine durchgesetzt, ohne die traditionellen Antriebskräfte völlig auszuschalten. Auch in der Folgezeit weitete sich die Anwendung effektiver D a m p f m a s c h i n e n beschleunigt aus. Gleichzeitig traten neue Bewegungsmaschinen auf, die allerdings bis zur Mitte der neunziger Jahre nur bedingte Bedeutung erlangten. Das A u f k o m m e n der Elektroenergie führte sogar zu einem erneuten Bedeutungsgewinn der Wasserkraft besonders in jenen Ländern und Landesteilen, die über größere Wasserkraftreserven verfügten. Kohle und D a m p f blieben jedoch die entscheidenden G r u n d l a g e n der Industrie, d e n n die Nutzung der Elektroenergie war wesentlich an sie gebunden. Die Basis der Entwicklung neuer Antriebsmaschinen bildete der industrielle Aufschwung, der sich unter anderem in der Vertiefung des Mechanisierungsgrades, dessen profitablerer Gestaltung und im Eindringen der Maschinenarbeit in den Kleinbetrieben äußerte. 1895 verfügten die deutsche Industrie und das Gewerbe über 3 427 325 PS (2 536 220 kW). Davon entfielen 79,4 % auf die D a m p f k r a f t , 18,4% auf die Wasserkraft (Tab. 35).132 Das Ansteigen der Zahl der Unternehmen, die sich der D a m p f k r a f t bedienten, ist ebenso offenkundig wie das geradezu extreme Ansteigen der Verwendung von Gas- oder Heißluftmotoren. Die hohe prozentuale Steigerung der Gasmotorenverwendung beruht vor allem darauf, d a ß die Ausgangsbasis außerordentlich schmal war. Die A b n a h m e der Wind- und Wassermotorenbetriebe bedeutet dagegen nicht, d a ß die Nutzung der Wasserkraft insgesamt abn a h m . Der zahlenmäßige Rückgang der Betriebe ergab sich vorrangig aus dem Übergang vom Klein- zum Großbetrieb in der Mühlenindustrie. Das unterstreicht Tabelle 36. Wenn m a n von der Nutzung der Luftströmung absieht, deren Leistung nicht zu ermitteln ist, zeigt sich durchgehend eine Z u n a h m e der Zahl der Motorenbetriebe u n d der Leistung der verschiedenen Motorenarten. In besonderer Weise, wie Tabelle 37 aussagt, wuchs die motorische Kraft in jenen Industrien, die erst in der zweiten Industrialisierungsphase in großem U m f a n g zur fabrikatorischen Produktion übergingen, so in der Holz-, Metallund Steinverarbeitung; aber auch im Maschinenbau u n d in der Textilindustrie. Die A n w e n d u n g von Bewegungsmaschinen stand — wie Tabelle 38 zeigt — in direkter Beziehung zur Betriebsgröße. Danach verfügten die Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftigten, die weniger als ein Zehntausendstel aller Betriebe ausmachten, nicht nur über 5 % der Arbeitskräfte, sondern auch über 20 % aller motorischen Kräfte. Auf eines dieser U n t e r n e h m e n entfielen im Durchschnitt 1 900 Arbeitskräfte und 2 250 PS (1 665 kW). Standen 100 Arbeitskräften in den Riesenbetrieben 118,2 PS (87,5 kW) zur Verfügung, so waren es im Kleinbetrieb nur 8,4 PS (6,2 kW). 1 " Untersucht m a n die A n w e n d u n g der verschiedenen Antriebsarten nach Industrien, d a n n zeigt sich, daß Mitte der neunziger Jahre die D a m p f m a s c h i n e in allen Produktionsbereichen genutzt wurde, wobei der Bergbau u n d das Hüttenwesen, gemessen an der zur Verfügung stehenden Maschinenleistung, die führende Position innehatten, gefolgt von der Nahrungs- u n d Genußmittelindustrie und der Textilindustrie. Windmotoren konzentrierten sich dagegen zu 97 % auf die Mühlenbetriebe, während die Wasserkraft vor allem in der Nahrungsmittelindustrie, aber auch in der Maschinen- und der Textilindustrie eine beachtliche Rolle spielte. Gasmotoren wurden am stärksten in der Nahrungsmittelindustrie, im polygraphischen Gewerbe u n d der Metallverarbeitung eingesetzt. Der Petroleummotor, ebenfalls in der Nahrungsmittelindustrie genutzt, war daneben in der Holzbearbeitung u n d in der Textilindustrie, soweit es sich um kleinere Betriebe handelte, zu finden. Analoges gilt für die Benzin- und Äthermotoren. Heißluftmotoren liefen dagegen vor allem in der Baustoffindustrie, während Druckluftmotoren zu 86,2 % im Bergbau konzentriert waren. 134 Es war schon darauf verwiesen worden, daß der U m f a n g genutzter motori76
Motorenbetriebe mit
Wind Wasser Dampf Gas oder Heißluft Quelle: SlDR,
Zahl der Betriebe
Zu- o d e r A b n a h m e der Betriebe seit 1882
Von 100 H a u p t b e t r i e b e n benutzten M o t o r e n vorstehender Art
1882
1895
absolut
%
1882
1895
18901 53319 34691 2 746
16115 45459 57245 15 245
- 2 786 - 7 860 + 22 554 + 12501
14,7 14,7 + 65,0 + 455,2
0,6 1,8
0,5 1,5 1,8 0,5
Bd. 119, 1899, S. IIS
Motorenbetriebe mit
Z a h l der Betriebe mit über f ü n f
Verwendete PS
Gehilfen 1875
1875
Personen 1895
Wind Wasser
180 6067
296 8422
Dampf
18115
37 752
611
9901
Gas
Heißluft
Tabelle 36 Vergleich der Motorenbetriebe und der PS-Leistung ihrer Motoren
1895
321812 (238 140) 2557362 (I 892447)
168921 (125 001) b 885 582 (655330) 942 (697)
300
159
Petroleum Petroleum, Benzin, Äther Druckluft, Elektrizität Zusammen:
1,2 0,1
Tabelle 35 Vergleich der Motorenbetriebe in Deutschland 1882 und 1895
1 247 (922)
305 (225)
59352 a (43920)"
3 505 25 132
60176
1055 (780)
2938 526 (2 174509)
a
d a r u n t e r die PS bzw. die Kilowatt der Petroleum-,Benzin-, Äther- und D r u c k l u f t m o t o r e n Alle Z a h l e n in K l a m m e r n in k W E r r e c h n e t n a c h : St DR, Bd. 119, 1899, S. 119.
b
Industriezweig
Windmotoren
Bergbau- u. Salinenwesen Industrie der Steine u. Erden Metallverarbeitung Industrie der M a s c h i n e n und Instrumente C h e m i s c h e Industrie Industrie der Leuchtstoffe, Seifen Textilindustrie Papierindustrie Lederindustrie Industrie der Holz- u n d Schnitzstoffe Industrie der Nahrungsmittel Bekleidungsgewerbe Baugewerbe Polygraphisches G e w e r b e Quelle: SlDR,
-
Wassermotoren
7 42 5
-259 - 588 - 581
-
25 2
-
-
6 3 2
- 16 33 -2951 2 - 3 —
Dampfmotoren
Gas-oder Heißluftmotoren
Von 100 H a u p t b e trieben b e n u t z t e n Motoren 1882 1895
25 2577 1067
22
44,7
178 1783
8,6 4,1
50,6 14,1 5,8
152 51
1 520 488
1 198 143
4,6 19,5
7,7 27,7
-422 -314 209 - 98
300 1823 375 516
249 1008 225 96
32,6 2,6 11,7
41,3 5,8 15,7
3,5
4,6
- 112 - 6 146 44 72 27
3677 6 269 611 809 93
1472 2042
4,8 26,3
363 254 1817
0,1 0,2 14,9
7,3 23,9 0,2 0,7
-
23,8
Bd. 119, 1899, S. 122.
77
Tabelle 37 Zu- bzw. Abnahme der Motorenbetriebe in ausgewählten Industriezweigen 1882 im Vergleich zu 1895
Tabelle 38 Zahl der Betriebe, der Beschäftigten und der PS-Leistung in der deutschen Industrie 1895
Betriebsgröße nach der Zahl der Beschäftigten
Betriebe absolut
Alleinbetriebe bis 5 Personen
1 237349 717274
58,7 34,0
1237349 1905216
23,8
112212
5,3
1067 785
13,3
21 u. mehr Personen
42039
2,0
3 808 551
47,5
und zwar 21 bis 100 Personen
33 895
1,6
1441 113
18,0
7 856
0,4
1 825 884
22,8
288
0,0
541554
2 108874
100,0
8018901
6 bis 20 Personen
101 bis 1 000 Personen über 1000 Personen
Zusammen:
Errechnet nach:
Zahn, F., 1901, S. 23.
Zahl der Beschäftigten absolut %
a
PS-Leistung absolut
0/ /o 15,4
'
6,7
100,0
0/ 70 —
370549 (274206) 3 335 045 (247933) 2615526 (1935 489) 632624 (468141) 1 318702 (975 839) 664200 (491508 3321 120 (2457628)
11,2 10,1 78,7
19,0 39,7 20,0
100,0
Zahlen in Klammern in kW
scher Kräfte sich in Abhängigkeit zur Betriebsgröße befand. Eine ähnliche Beziehung bestand zwischen der Art der motorischen Kraft und der Größe des Unternehmens. Die D a m p f k r a f t konzentrierte sich auf die Großbetriebe. 91 % ihrer Antriebsleistung wurden von Dampfmaschinen erbracht. In den Mittelbetrieben entfielen nur etwas mehr als 50 % dieser Leistung auf Dampfmaschinen. Im Kleinbetrieb hatte die Wasserkraft die gewichtigste Position inne, wenngleich Wind- bzw. Gasmotoren an Bedeutung gewannen. Im Handwerk wurden dagegen, bedingt durch die geringe Zahl von Arbeitsmaschinen, Gas-, Petroleum-, Benzin- und Äthermotoren eingesetzt. 135 Waren die Jahrzehnte nach der Industriellen Revolution auch Jahrzehnte eines gewaltigen Aufschwungs der Anwendung motorischer Antriebskräfte in der Industrie, so wurden gleichzeitig die Bewegungsmaschinen fortwährend verbessert, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Zu den wesentlichsten Verbesserungen an den Dampfmaschinen gehörte die Einführung und die ständige Verbesserung der nach ihrem Erfinder George Henry Corliss (USA) benannten Corliss-Dampfmaschinen. Ihr wichtigstes Merkmal war ein Regulator, der eine bestimmte vorgegebene Drehzahl bei unterschiedlicher Belastung konstant hielt. Die Maschine paßte sich also selbsttätig der zu leistenden Arbeit an. Sie erfuhr — nachdem 1870 die Patente erloschen waren — eine rasche Verbreitung. Neben einem gleichmäßigen Gang ünd einer guten Regulierbarkeit, was besonders für die Textilindustrie von großer Bedeutung war, zeichnete sie sich durch beachtliche Brennstoffersparnisse aus. 116 Daneben erlangte die Ventilmaschine der Schweizer Firma Sulzer große Bedeutung, denn sie sparte wiederum etwa 30 % Brennstoffe ein.137
135 Ebenda, S 135. 136 Maischoß, C . Bd. 2, 1908, S. 17 ff. 137 Ebenda, S. 39. 138 Ebenda, S. 160.
Galten um 1860 die Woolf-Dampfmaschinen mit zwei Zylindern als die besten Großdampfmaschinen, so kam an der Wende von den siebziger zu den achtziger Jahren die Mehrfach-Expansionsmaschine auf. Deren Prinzip bestand darin, den Dampf in mehreren Zylindern auszunutzen. Damit setzte sich bei den Großdampfmaschinen die Ablösung der Balanciermaschine durch die liegenden Dampfmaschinen durch. Die Leistungsfähigkeit der G r o ß d a m p f m a schinen wurde seit 1860 durch die Erhöhung des Dampfdrucks, der Umlaufzahlen und der Kolbengeschwindigkeiten gesteigert. Verfügte die preußische Industrie 1860 über vier Dampfmaschinen mit einer Leistung von mehr als 500 PS (370 kW), so waren 1890 88 Dampfmaschinen mit einer Leistung von mehr als 1 000 PS (740 kW) in Betrieb. 138 Schon in den vierziger Jahren waren in den USA Dampfmaschinen mit außerordentlich hohen Umdrehungszahlen entwickelt worden. Diese Maschinen, zunächst für Kreissägen und dann be78
sonders für Lokomotiven genutzt, erlangten in den achtziger Jahren an Bedeutung, da die ersten Dynamomaschinen Dampfmaschinen mit so hohen Umlaufzahlen verlangten, die die gebräuchlichen Dampfmaschinen nicht erbrachten. Die Einschaltung von Übersetzungen erhöhte zwar die Drehzahl, steigerte jedoch die Störanfälligkeit, die Reibungsverluste usw. Die Grenzen, die sich der Kolbendampfmaschine bei ihrer Verwendung als Antriebsaggregat für Dynamomaschinen entgegenstellten, begannen sichtbar zu werden. Als Ausweg bot sich der Übergang zur Dampfturbine an. Eine Linie im Dampfmaschinenbau war die Schaffung großer, technisch und ökonomisch leistungsfähiger Kolbendampfmaschinen. Mit der Verfeinerung der Mechanisierung in den Fabriken, aber auch mit der einsetzenden Mechanisierung bestimmter Arbeitsoperationen im Kleinbetrieb, entwickelte sich eine diesem Grundtrend entgegengesetzte Linie — die Kleindampfmaschine. Sie nahm die erreichten Fortschritte des Dampfmaschinenbaus auf und kehrte gleichzeitig insofern an den Ausgangspunkt des Dampfmaschinenbaus zurück, als diese Maschinen auf eine geringe Leistung ausgerichtet waren. Sie kamen wiederum aus den an Arbeitskräften armen USA und wurden dort für Pumpen, Ventilatoren, Gewürzmühlen, Aufzüge, Tellerwaschmaschinen usw. genutzt. In Deutschland bildeten sie nach 1870 eine im Kleinbetrieb willkommene Antriebsmaschine. Allerdings war ihre Verbreitung durch die staatliche Konzessionierung und Beaufsichtigung und die Notwendigkeit eines kontinuierlichen Betriebes ebenso erschwert wie durch die Konkurrenz anderer Kleinkraftmaschinen. Kleindampfmaschinen erwiesen sich nur dort als sinnvoll, wo der Dampf auch für andere Zwecke nutzbar war, zum Beispiel in Teilen der Lebens- und Genußmittelproduktion und der Textilveredlung, ferner, wo durch die Spezifik der Produktion das Heizmaterial zum Teil als Abfall zur Verfügung stand — wie in der Holzbearbeitung. Zum anderen muß gesehen werden, daß die Kosten, die beim Betrieb von Kleindampfmaschinen entstanden, zwar nicht wesentlich über denen anderer Wärmekraftmotoren lagen, aber diese dennoch überschritten. 119 Vor allem verschlechterte sich ihr Wirkungsgrad, je kleiner sie wurden. So ist es nicht erstaunlich, daß sie in spezifischen Bereichen der Produktion zwar Zugang fanden, ihre Bedeutung jedoch seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Verbreitung des Elektromotors auch in den Kleinbetrieben zurückging. Kann man die Heißluft- und die Druckluftmotoren als interessante Versuche bezeichnen, mit neuen Mitteln in jene Bereiche vorzustoßen, die mit Hilfe der Dampfmaschine nicht erreichbar waren, so erlangte die Verwendung der Druckluft nur im Bergbau größere Bedeutung. Noch weniger bewährte sich der Heißluftmotor. Er bedurfte ähnlich wie die Kleindampfmaschine der Beheizung und Wartung und wäre am günstigsten dort einzusetzen gewesen, wo ein kontinuierlicher Betrieb vorhanden war. Diese Bedingung erfüllte sein Hauptanwendungsbereich, der Kleinbetrieb, nicht. Deshalb war vor dem Aufkommen des Elektromotors der Gasmotor der entscheidende Konkurrent der Kleindampfmaschine. Nicht deshalb, weil der Gasmotor kostengünstiger war als die Kleindampfmaschine, sondern weil er in jedem Raum aufgestellt werden konnte und weil Nebenanlagen, wie Dampfkessel, sich erübrigten. Die Explosionsgefahr war gering, und jede staatliche Beaufsichtigung entfiel. Der Gasmotor war jederzeit einsatzbereit und verlangte deshalb keine kontinuierliche Produktion. Allerdings war er an das Vorhandensein von Gaswerken gebunden. Ausgangspunkt der Entwicklung des Gasmotors war die Überlegung, daß bei der Energieumwandlung der Kohle in andere Energieformen Verluste bis zu 80 % auftraten. 140 Deshalb wurde aus diesem Umwandlungsprozeß die Wasserverdampfung ausgeschaltet und als Energiezwischenträger die Luft gewählt. Der komplizierte und leistungsschwache Heißluftmotor war geboren. Der Deutsche Nikolaus Otto stellte dagegen auf der Pariser Weltausstellung von 1869 einen Gasmotor vor, der mit Leuchtgas arbeitete. Ottos Viertaktmaschine schuf die Grundlage des Gasmotors in der Industrie, der auch mit Benzin, Petroleum oder Spiritus gespeist werden konnte. War der Gasmotor, so wie 79
139 StDR, Bd. 119, 1899, S. 136. 140 Borchardt, K.. 1926, S. 499.
er in den sechziger J a h r e n entwickelt w u r d e , vor allem als B e w e g u n g s m a s c h i n e f ü r den Kleinbetrieb g e d a c h t u n d m a c h t e ihn die V e r w e n d u n g flüssiger Brenns t o f f e von den G a s w e r k e n u n a b h ä n g i g , so f ü h r t e seine Weiterentwicklung zur G r o ß g a s m a s c h i n e — die mit Gichtgas betrieben w u r d e — zu einer wesentlich v e r ä n d e r t e n Situation b e s o n d e r s in der H ü t t e n i n d u s t r i e . Dieser a u ß e r o r d e n t lich energieintensive Zweig hatte sich bis zu den neunziger J a h r e n der D a m p f kraft b e d i e n e n müssen. Die E n t w i c k l u n g der G r o ß g a s m a s c h i n e n erreichte in den neunziger J a h r e n ein Niveau, d a ß die A b l ö s u n g der D a m p f k r a f t n u n m e h r einsetzen konnte. Bei einem H ü t t e n w e r k , das täglich etwa 900 000 m 3 G a s produzierte, b e d e u t e t e der Ü b e r g a n g vom D a m p f b e t r i e b z u m G a s m a s c h i n e n b e trieb einen täglichen Energiegewinn von 3 100 PS (2 294 kW). D u r c h die Ausn u t z u n g der Gichtgase w u r d e n die H ü t t e n w e r k e zu b e d e u t s a m e n Energieerzeugungsbetrieben. Sie deckten nicht n u r ihren E i g e n b e d a r f , s o n d e r n , als es technisch möglich w u r d e , h o c h g e s p a n n t e n Strom ü b e r weite Strecken zu leiten, den E l e k t r o e n e r g i e b e d a r f ganzer Territorien. 1 4 1 So erfolgreich sich die E n t w i c k l u n g der A n t r i e b s m a s c h i n e n d u r c h die Weiterentwicklung der D a m p f m a s c h i n e n u n d der D a m p f k e s s e l a u c h darstellt, so b e d e u t e n d die S c h a f f u n g n e u e r A n t r i e b s m a s c h i n e n trotz m a n c h e r Fehlentwicklung a u c h war, so n ü c h t e r n ist festzustellen, d a ß i n s b e s o n d e r e die Kolbend a m p f m a s c h i n e in ihren A n w e n d u n g s m ö g l i c h k e i t e n an G r e n z e n stieß, die nicht ü b e r w u n d e n w e r d e n k o n n t e n u n d das A u f k o m m e n neuer Antriebsmaschinen bewirkten. Die D a m p f m a s c h i n e n b e h i n d e r t e n die weitere Mechanisierung im Bergbau, im H ü t t e n w e s e n , in d e n Walzwerken, im M a s c h i n e n b a u u n d in d e r K o n s u m g ü t e r p r o d u k t i o n . Z u d e m w u c h s e n mit der Erweiterung der Betriebe die Energieverluste d u r c h die T r a n s m i s s i o n s e i n r i c h t u n g e n , u n d die Störanfälligkeit der T r a n s m i s s i o n e n n a h m zu. D a m i t zeigten sich a m A u s g a n g des 19. J a h r h u n d e r t s die ersten Signale, die das E n d e der universellen u n d unmittelbaren A n w e n d b a r k e i t der D a m p f k r a f t a n k ü n d i g t e n .
2.1.5. Die wissenschaftlichen Industrien 2.1.5.1. Die produktive Nutzung der Elektrizität
141 Miethe, A., 1911, S. 142. 142 Lilley, S., 1976, S. 154. 143 Brenljes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 284 ff.
Im Verlauf der Industriellen Revolution erfolgte die E n t w i c k l u n g von Maschinen, T e c h n o l o g i e n usw. stark empirisch. Ihre wissenschaftliche D u r c h d r i n g u n g vollzog sich erst im Z u s a m m e n h a n g mit der qualitativen Verbesserung der v o r h a n d e n e n P r o d u k t i o n s a n l a g e n . A m E n d e der Industriellen Revolution b e g a n n sich in der Beziehung zwischen W i s s e n s c h a f t u n d P r o d u k t i o n ein W a n d e l a b z u z e i c h n e n . Er drückte sich in der zielstrebigen Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse u n d in der systematischen empirischen S a m m l u n g von E r f a h r u n g e n aus. Es e n t s t a n d e n aber a u c h Produktionszweige, die die A n w e n d u n g wissens c h a f t l i c h e r Erkenntnisse voraussetzten. Einer dieser Zweige war die Elektroindustrie. Die A n f ä n g e ihrer wesentlichen theoretischen G r u n d l a g e n gingen bis in das 18. J a h r h u n d e r t zurück. Bis zu Beginn der dreißiger J a h r e des 19. J a h r h u n d e r t s lagen sie grundsätzlich vor (vgl. 6.3.1.). O b w o h l es Michael F a r a d a y schon 1831 gelang, m e c h a n i s c h e Bewegung in elektrischen Strom u m z u w a n d e l n , sollte es etwa ein halbes J a h r h u n d e r t d a u ern, bis dieser E r k e n n t n i s v o r l a u f in p r o d u k t i v e M a s c h i n e n umgesetzt wurde. 1 4 2 Die e n t s c h e i d e n d e U r s a c h e d a f ü r b e s t a n d — mit A u s n a h m e der G a l v a n i k — in d e m zügigen A u f s c h w u n g der D a m p f k r a f t n u t z u n g u n d der positiven Entwicklung d e r G a s t e c h n i k . D a m p f u n d G a s deckten den Bedarf der Industrie ausreic h e n d . F ü r die V e r w e n d u n g d e r Elektrizität gab es d e s h a l b weder einen profitablen M a r k t , n o c h war ihre B e d e u t u n g voll e r k a n n t . In den U S A u n d in E u r o p a g a b es zwar seit den vierziger u n d f ü n f z i g e r J a h r e n s t r o m e r z e u g e n d e Aggregate u n d E l e k t r o m o t o r e n , ihre Funktionstüchtigkeit erwies sich j e d o c h als unzureichend. 1 4 3 Erst die E n t d e c k u n g des s o g e n a n n t e n d y n a m o e l e k t r i s c h e n Prinzips u n d seine U m s e t z u n g in eine D y n a m o m a s c h i n e d u r c h W. v. Siemens im J a h r e 1866 b r a c h t e n d e n D u r c h b r u c h (vgl. 6.3.1.). W e r n e r von Siemens, ein wissenschaftlich ausgezeichnet vorgebildeter Unt e r n e h m e r , leitete nicht n u r das Zeitalter d e r Starkstromtechnik ein. Er schuf
80
21 Schnittzeichnung der e r s t e n D y n a m o m a s c h i n e (1866) [rregermcklung
Po/schuh Doppel-T-Anker mit Wicklung
Kommutator mit Bürsten
auch die Grundlagen für die kontinuierliche u n d unbegrenzte Erzeugung von Gleichstrom. Damit war die Basis für die profitable Produktion von Elektroenergie entstanden. Verwandelte die D y n a m o m a s c h i n e mechanische Energie in elektrische, so bot dieses Prinzip in seiner U m k e h r u n g die Möglichkeit der Verwandlung elektrischer in mechanische Energie. Mit der Siemensschen Dynamomaschine war grundsätzlich auch der Elektromotor geboren. Von Siemens, dem es 1868 gelang, seine D y n a m o m a s c h i n e f ü r Beleuchtungszwecke im Militärwesen durchzusetzen, dankte es dem in seiner Firma beschäftigten Ingenieur Friedrich von Hefner-Alteneck, d a ß sie bis 1872 zur Anwendungsreife in der Industrie weiterentwickelt wurde. 144 Dennoch bleibt die Leistung von W. v. Siemens als Physiker mit einem ausgeprägten Sinn für die technische A n w e n d u n g wissenschaftlicher Erkenntnisse u n d deren Umsetzung in profitable Unternehmen unbestritten. Er war der Prototyp des sich in jenen Jahrzehnten herausbildenden Unternehmer-Wissenschaftlers. Bereits an der Wende zu den siebziger Jahren erkannte er die Bedeutung der Elektroenergie für die Beleuchtung, die Elektrifizierung des Bahnbetriebes u n d f ü r die A n w e n d u n g in der Chemie. Die Idee der N u t z u n g der Braunkohle als energetischer Basis der Z u k u n f t war ihm ebensowenig f r e m d wie die Vorstellung, d a ß die Wasserkraft erneut an Bedeutung gewinnen würde. 145 Er war Unternehmer genug, um seine Fabrik keineswegs rasch auf die Produktion von D y n a m o m a s c h i n e n umzustellen. Bis 1873 verkaufte er lediglich 260 kleine D y n a m o m a s c h i n e n . Die Umsatzsteigerung seines U n t e r n e h m e n s in Berlin zwischen 1867 und 1873 um 244 % ergab sich vor allem aus dem Geschäft mit Transatlantikkabeln u n d Militäraufträgen für Telegraphen, Kabel, Minenzünder, Distanzmesser u n d aus Lieferungen an die Eisenbahnen. 1 4 6 Obwohl der Bau von elektrisch betriebenen Bahnen bereits Ende der sechziger Jahre W. v. Siemens stark bewegt hatte, beschäftigte sich erst Mitte des Jahres 1877 sein Unternehmen gezielter mit der U m w a n d l u n g der D y n a m o m a schine in einen Elektromotor. 1879 konnte es auf der Berliner Gewerbeausstellung eine eigentlich für den Bergbau bestimmte elektrische Lokomotive vorführen. 147 Ein funktionstüchtiger Gleichstrommotor war aus der Taufe gehoben, eine neue Bewegungsmaschine war geschaffen. Die E i n f ü h r u n g des Elektromotors in die industrielle Produktion sollte sich d e n n o c h außerordentlich zögernd gestalten. Die Ursachen d a f ü r lagen in der Leistungsfähigkeit des D a m p f m a s c h i n e n a n t r i e b s u n d der Gasmotoren. Vor allem aber war Elektroenergie zu kostenaufwendig u n d deshalb für die Industrie nur d a n n akzeptabel, wenn sie durch einen Massenabsatz verbilligt werden konnte. Einen ersten Schritt in diese Richtung bildete der Lichtstrom, der durch die 81
144 E b e n d a , S. 291. 145 Gross, A. Th., 1933, S. 71. 146 Kocka.J.,
1975, S. 278.
147 Thomälen,
A., 1921, S. 41.
148 149 150 151 152 153 154 155 156
Gross, A. Th., 1936, S. 126. Ebenda. Miller, R. v., 1936,S. 111. Matschoss, C., 1916, S. 4. Ders., 1909, S. 56. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 60. Ebenda. Miller, R. v., 1936, S. 113.
Entwicklung der Bogenlampen seit 1861 in Deutschland eingeführt war. 148 Dieses Beleuchtungssystem erforderte jedoch zunächst f ü r jede Bogenlampe ein eigenes Stromaggregat. Obwohl diese Schwierigkeit Zug um Zug abgebaut wurde, konnte sie erst durch die Glühbirne überwunden werden. 1879 gelang es dem Amerikaner Thomas Alva Edison — der Praktiker war, kaum wissenschaftliche Kenntnisse besaß und erst ein Jahr zuvor eine Bogenlampe gesehen hatte —, das Problem der „Teilbarkeit des Lichtes" zu lösen und eine elektrische Beleuchtungsanlage mit einer Kohlenfadenglühlampe vorzuführen. 1 4 9 Im Januar 1880 erhielt er auf seine Erfindung ein Patent, und ein Jahr später wurde in der New Yorker Pearl Street das erste öffentliche Elektrizitätswerk errichtet, das einen ganzen Stadtteil versorgte. 150 Edison, der zur Verwertung seines Patents in N e w York die Edison Electric Light C o m p a n y gegründet hatte, errichtete ähnliche Gesellschaften zunächst in England u n d später in Paris. Damit entstand von vornherein eine monopolistische Produktion. Die erste internationale Elektrizitätsausstellung 1881 in Paris bot Edisons Unternehmen erstmals Gelegenheit, die von ihm entwickelte Glühlichtbeleuchtung einschließlich des Systems der Elektroenergieerzeugung und Verteilung vorzuführen. Diese Ausstellung war für die deutsche Entwicklung von großer Bedeutung. Emil Rathenau hatte als Maschinenbauingenieur bei anerkannten deutschen und englischen Maschinenbaufirmen gearbeitet. Er betrieb seit 1865 zeitweilig in Berlin eine eigene Maschinenfabrik. Seine wissenschaftliche Ausbildung erwarb er in H a n n o v e r und Zürich. Er besuchte die USA, traf mit Edison zusammen und kaufte von ihm die entsprechenden Patente. 151 Damit war auch in Deutschland die G l ü h l a m p e n p r o d u k t i o n sofort monopolisiert. Der hohe Kapitalbedarf ihrer Produktion, die auf die Massenproduktion abzielen mußte, veranlaßte Rathenau, sich mit dem Bankkapital und einer erfahrenen M a s c h i n e n b a u f i r m a mit dem Ziel zusammenzuschließen, ein Unternehmen mit einem Aktienkapital von mindestens 2 Mio. M zu gründen. Das Unternehmen sollte die G l ü h l a m p e n p r o d u k t i o n und den Betrieb aller Anlagen betreiben, deren das Edisonsche Beleuchtungssystem bedurfte. 1 5 2 Die Firma Siemans & Halske, bis dahin in Deutschland f ü h r e n d auf dem Gebiet der Elektrotechnik, wurde in die Abmachungen mit der französischen Edisongesellschaft einbezogen. Die am 19. April 1883 gegründete Deutsche Edisongesellschaft unter Leitung von Rathenau steckte das Betätigungsfeld der beiden Unternehmen genau ab. 1887 wurde das Kapital der Edison-Gesellschaft auf 12 Mio. M festgesetzt u n d die Firma in Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG) umbenannt. Ziel der A E G war es, sich möglichst alle Gebiete, die mit der Elektrizität zusammenhingen, zu sichern. 153 Deshalb baute die A E G nicht nur ihr eigenes Unternehmen aus, sondern kaufte 1890 die Aktienmehrheit der Deutschen Lokal- und Straßenbahnen-Gesellschaft und schuf sich d a d u r c h die Möglichkeit, mit der Elektrifizierung der der Gesellschaft gehörenden Bahnen zu beginnen. 154 1888 nahm sich die A E G der Aluminiumproduktion an, indem sie gemeinsam mit einigen Banken ein Unternehmen in N e u h a u s e n (Schweiz) begründete.' 5 5 Damit besaß das U n t e r n e h m e n einen zweiten Absatzmarkt für seine Erzeugnisse. Dieser Zielsetzung stand zunächst entgegen, d a ß die Elektrotechnik bis 1880 nur die Bogenlampenbeleuchtung kannte. Da das stromerzeugende Aggregat immer nur eine bestimmte G r u p p e von Bogenlampen versorgen konnte, mußte es in ihrer unmittelbaren N ä h e plaziert sein. Aber schon die zweite internationale Elektrizitätsausstellung 1882 in M ü n c h e n leitete eine neue Phase der Elektrotechnik ein, obwohl die Ausstellung selbst noch völlig im Zeichen der elektrischen Beleuchtung stand. Der Franzose Marcel Depréz übertrug hier erstmals Strom über weite Entfernungen. Allerdings waren die Ergebnisse dieser Fernübertragung über 57 km bei einer Spannung von 2 000 V und einer Leistung von etwa 2 PS ( 1,48 kW) mit Hilfe einer Telegraphenleitung sehr bescheiden, denn die Leitungsverluste lagen bei 75 %.156 Dennoch war das der Beginn jener bis 1894 reichenden Entwicklungsetappe der Elektroenergieversorgung, die als „ E p o c h e der Blockstationen und Stadtzentralen" in die Geschichte der Elektrizitätserzeugung einging. Engels bewertete in einem Schreiben an Bern82
22 Elektrische Z e n t r a l e Berlin, M a r k g r a f e n s t r a ß e (1885)
stein im Februar 1883 die Bedeutung des Wirkens von Deprez u n d die gesellschaftlichen Konsequenzen der Fernübertragung von Strom mit den Worten: „Der Lärm wegen der elektrotechnischen Revolution ist bei V(iereck), der absolut nichts von der Sache versteht, reine Reklame für die von ihm verlegte Broschüre. In der Tat aber ist die Sache enorm revolutionär. Die D a m p f m a s c h i n e lehrte uns W ä r m e in mechanische Bewegung zu verwandeln, in der Ausnutzung der Elektrizität aber wird uns der Weg eröffnet, alle Formen der Energie: Wärme, mechanische Bewegung, Elektrizität, Magnetismus, Licht, eine in die andere u n d wieder zurückverwandeln und industriell auszunutzen. Der Kreis ist geschlossen. Und Deprez neueste Entdeckung, d a ß elektrische Ströme von sehr h o h e r S p a n n u n g mit verhältnismäßig geringem Kraftverlust durch einen einfachen Telegraphendraht auf bisher ungeträumte Entfernungen fortgepflanzt und am E n d p u n k t verwandt werden können — die Sache ist noch im Keim —, befreit die Industrie definitiv von fast allen Lokalschranken, macht der Verwendung auch der abgelegensten Wasserkräfte möglich, und wenn sie auch im A n f a n g den Städten zugute k o m m e n wird, m u ß sie schließlich der mächtigste Hebel werden zur A u f h e b u n g des Gegensatzes von Stadt und Land. D a ß aber damit die Produktivkräfte eine A u s d e h n u n g bekommen, bei der sie der Leitung der Bourgeoisie mit gesteigerter Geschwindigkeit entwachsen, liegt auf der Hand." 1 5 7 Die erweiterten Übertragungsmöglichkeiten erlaubten mit Hilfe von Blockstationen und betrieblichen Kraftzentralen Versorgungsgebiete von 600 bis 800 m zu schaffen. Das von J o h n Hopkinson entwickelte Dreileitersystem führte zur Verdoppelung des Versorgungsgebietes einer Zentrale. Dennoch wären unter diesen Bedingungen E n d e der achtziger Jahre mehr als 100 Kraftzentralen notwendig gewesen, um das damalige Stadtgebiet von Berlin mit Lichtstrom zu versorgen. 158 Der d a f ü r notwendige A u f w a n d an G r u n d und Boden, der A u f w a n d bei der B r e n n s t o f f z u f u h r und die entstehende Umweltverschmutzung in den Geschäfts- und Wohnzentren der Großstädte setzten der Anwend u n g der Elektrizität zunächst enge Grenzen. Die elektrische Beleuchtung war zwar besser, sauberer und ungefährlicher als die Gasbeleuchtung oder gar die Petroleumbeleuchtung, sie erwies auch ihre großen Vorteile f ü r das sich ausbreitende Nachtschichtsystem. Aber Gleichstrom konnte im Gegensatz zum Gas nicht gespeichert werden. Deshalb mußten die technischen Anlagen in den Blockstationen auf die Spitzenbelastungszeiten ausgerichtet sein. Strom war folglich ungleich teurer als Gas. Dazu kamen die hohen Glühlampenpreise u n d die generell höheren Kosten, die die Kleinproduktion von Elektroenergie verursachte. Immerhin waren die Vorzüge der elektrischen Beleuchtung und der Gleichstrommotoren schon so groß, d a ß 1891, als in Deutschland insgesamt 60 M W Elektroenergie erzeugt
157 MEW, Bd. 35, 1967, S. 444f. 158 Miller, R. v., 1936, S. 113.
159 160 161 162 163 164 165
Nussbaum, H., 1968, S. 128. Gross, A. Th., 1936, S. 127. Miller, R.v., 1936, S. 113. Ebenda, S. 115. Gross, A. Th., 1936, S. 126. Miller, R. v., 1936, S. 117. Malschoß, C., 1909, S. 60.
wurden, die Betriebszentralen 50 MW, die öffentlichen Werke dagegen 10 MW erzeugten. 159 Für die Weiterentwicklung der Elektroenergieerzeugung war der von Ingenieuren der Budapester Firma Ganz & Co. 1885 entwickelte Transformator entscheidend. 160 Er erlaubte hochgespannten Wechselstrom mit minimalen Verlusten in niedergespannten Wechselstrom zu verwandeln und niedergespannten Wechselstrom unter den gleichen Bedingungen in hochgespannten Wechselstrom zu transformieren. Die räumliche Trennung von Erzeugung und Verbrauch wurde nun möglich. Die Stadtzentren konnten von Elektroenergieerzeugungsanlagen entlastet werden. Der Transformator begünstigte die profitable Erzeugung und Verteilung der Elektroenergie wesentlich, denn die Elektrizitätswerke konnten nun dort angelegt werden, wo die Brennstoffzufuhr bzw. die Brennstoffgewinnung am vorteilhaftesten war, wo das notwendige Kühlwasser zur Verfügung stand. Die Nutzung der Wasserkraft gewann erneut an Bedeutung, weil selbst relativ schwache Wasserkräfte, die sich im Lande fanden, zur Elektrifizierung kleiner Orte genutzt werden konnten. 1890 wurde in Reichenhall die erste deutsche Wechselstromanlage gebaut. 161 Daneben entstanden vorübergehend Gleichstrom-Wechselstrom- bzw. Gleichstrom-Drehstromanlagen, deren Arbeitsprinzip darin bestand, hochgespannten Wechsel- oder Drehstrom vom Ort der Erzeugung zum Ort des Verbrauchs zu leiten und dort in niedergespannten Gleichstrom umzuwandeln. 162 Voraussetzung dafür war die Verbesserung der Stromübertragung. Deprez war es 1881 gelungen, Strom über eine Entfernung von 1 800 m zu übertragen. 163 Ein Jahr später konnte eine Distanz von 57 km überbrückt werden.164 Den entscheidenden Durchbruch in der Fernübertragung von Elektroenergie erzielte jedoch der spätere Mitarbeiter der AEG Martin Ossipowitsch von Dolivo-Dobrowolski. 1891 stellte er nicht nur ein von ihm entwickeltes Drehstromsystem vor, sondern er führte die erste elektrische Kraftübertragung über 175 km bei einer Spannung bis zu 30 000 V und einer Leistung von 300 PS (224 kW) mit einem Nutzeffekt von 77 % durch. 165 So entstand die Grundlage für die Ersetzung der Blockstationen durch Überlandwerke, die zwischen 1895 und 1914 das Bild bestimmten. In der Phase der Blockstationen und der Stadtzentralen wurde in öffentlichen Werken Lichtstrom erzeugt, während die betriebseigenen Kraftzentralen Gleichstrom für den Antrieb von Maschinen und für Beleuchtungswerke produzierten. Das heißt, die größten Industriebetriebe machten sich die Vorzüge der Elektrizität am stärksten zu eigen, während den öffentlichen Kraftwerken zunächst nur die Licht- und Kraftstromversorgung des Kleingewerbes und Teilen des städtischen Nahverkehrs oblag. Nach den Angaben von Miller stellte sich das Verhältnis zwischen Lichtstrom und Kleinkraftstrom 1895 so dar: 77% der Stromabgabe entfielen auf den Lichtstrom, 23 % auf Kleinkraftstrom. Das Verhältnis zwischen der Abgabe von Gleichstrom, Drehstrom und der gemischten Abgabe (Gleichstrom: Wechselstrom — Gleichstrom: Drehstrom) bot 1895 folgendes Bild: Gleichstrom 78 %, gemischte Abgabe 19 %, Wechselstrom 3 % (vgl. auch Abb. 1). Die Auseinandersetzung zwischen der öffentlichen Stromversorgung und der Versorgung der Unternehmen durch eigene Kraftzentralen war Mitte der neunziger Jahre grundsätzlich entschieden. Die Internationale Elektrizitätsausstellung 1891 in Frankfurt (M.) hatte durch die Gegenüberstellung von Gleichund Wechselstrom und die gelungene Fernübertragung von Kraftstrom die Überlegenheit des Wechselstroms eindeutig nachgewiesen. Dennoch weitete sich bis zum Ende des Jahrhunderts die Stromerzeugung in betriebseigenen Anlagen weiter aus. Dies deshalb, weil die Industrie, soweit sie über eigene Anlagen verfügte, nicht bereit war, diese Investitionen aufzugeben. Zum anderen hatte die Großgasmaschine — wie beschrieben — der internen Stromerzeugung in Betrieben, in denen Abgase anfielen, einen Aufschwung gegeben. Schließlich sah sich die öffentliche Stromerzeugung der Konkurrenz der Gaswerke, die oft genug von den Kommunen unterstützt wurden, ausgesetzt. Dazu kam, daß die Umsetzung der technischen Möglichkeiten, die 1891 in Frankfurt (M.) sichtbar geworden waren, erneut enorme finanzielle Mittel er84
1940 Epoche der
1 Aufteilung der Abgabe von Gleichstrom, Wechselstrom und Drehstrom in Prozenten
Großkraftwerke
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166 Ebenda, S. 66. 167 Gross, A. Th., 1933, S. 73. 168 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R„ 1978, S. 285. 169 Matschoß, C., 1916, S. 21. 170 Ebenda. 171 Ebenda. 172 StDR, Bd. 119,1899, S. 117. 173 Ebenda.
forderte. So gesehen war die frühe Verflechtung zum Beispiel der A E G mit dem Finanzkapital deutscher u n d ausländischer Provenienz ein unabdingbares Erfordernis, das sich direkt aus der Dimension der Produktionstechnik ergab. Nicht minder unabdingbar war eine enge Beziehung der Kraftwerke mit den Städten, später mit den Provinzen und dem Staat, denn schon die ersten Blockstationen griffen in das Wegerecht der Städte und in die Eigentumsrechte Privater ein. Die Verlegung der Leitungssysteme, die, ausgehend von einigen Wohnblocks, auf Städte u n d schließlich ganze Landesteile übergriff, machte ein Arrangement mit den Behörden notwendig. Damit gewann der Staat für den Fortgang der Elektrifizierung außerordentliche Bedeutung, geriet er in den Sog der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Krise der öffentlichen Elektroenergieversorgung war nur durch die Schaffung neuer Absatzmöglichkeiten für Elektroenergie lösbar. Die Auslaistung der Anlagen in den wenigen A b e n d s t u n d e n durch die Lichtkunden rückte den Lichtstrom in die N ä h e eines Luxusartikels. Die Senkung der Strompreise bescherte dagegen der Elektroindustrie einen Massenabsatz für ihre Erzeugnisse. Ende 1883 waren in Deutschland 12 000 Glühlampen in Gebrauch. Eine G l ü h l a m p e kostete jedoch 5 M. 166 Mitte der achtziger Jahre hatte m a n in Berlin für eine Kilowattstunde 80 Pfg zu entrichten. Die G r u n d g e b ü h r pro Jahr u n d G l ü h l a m p e betrug 6 M, die der Bogenlampe 40 M. Die Zählermiete lag zwischen 15 und 40 M pro Jahr. 167 Deshalb mußte die öffentliche Stromversorgung — eng liiert, wenn nicht sogar identisch mit dem Kapital in der Elektroindustrie — auf die Propagierung des Elektromotors in der Industrie, im Kleingewerbe und auch im Transportwesen orientieren. Dem kam entgegen, d a ß es 1889 Dolivo-Dobrowolski gelang, einen in der Industrie verwendbaren ersten Drehstrommotor zu schaffen. Dieser Motor zeichnete sich gegenüber anderen Antriebsmaschinen durch geringere Abmessungen und geringeres Gewicht bei hoher Leistung und Betriebssicherheit aus. 168 Trotz dieser günstigen Bedingungen für den Elektroantrieb auch in kleinen u n d mittleren Betrieben blieb der Elektromotor bis zur Mitte der neunziger Jahre letztlich für die industrielle Produktion u n b e d e u t e n d — obwohl zum Beispiel die Berliner Elektrizitätswerke Sondertarife f ü r Kraftstrom einführten, Elektromotoren gegen eine geringe G e b ü h r vermieteten und selbst diese Gebühr bei einem späteren Kauf des Motors auf den Kaufpreis anrechneten. 1 6 9 Wie gering das Interesse selbst an geliehenen Elektromotoren war, zeigte sich daran, d a ß die Berliner Elektrizitätswerke 1890 nur 20 Elektromotoren vermieten konnten. 1 7 0 Dem Unternehmen gelang es zwar, seine Stromlieferungen für gewerbliche Zwecke von 13 000 kWh im Geschäftsjahr 1888/89 auf 2,2 Mio. kWh im Geschäftsjahr 1895/96 zu erhöhen, aber in der letztgenannten Zahl spiegelte sich schon der Bedarf der elektrifizierten Bahnen wider. 171 Überschaubar wird die Gesamtsituation der Entwicklung der Stromabgabe f ü r die verschiedenen Anwendungsgebiete durch die Berliner Elektrizitätswerke in Abbildung 2. Der geringe Anteil des Kraftstromes am G e s a m t a u f k o m m e n beruhte auf d e m niedrigen Leistungsvermögen der Elektromotoren und dem Fehlen von Arbeitsmaschinen, die für den Elektroantrieb geeignet waren. 1895 besaßen von den mit Motorkraft ausgestatteten 164 483 Betrieben nur 2 259 Betriebe Elektromotoren. 1 7 2 In Dresden waren sieben Elektromotoren mit einer Gesamtleistung von 15 PS (11,1 kW) vorhanden. Davon diente einer zum Antrieb eines Ventilators, die restlichen sechs wurden für Aufzüge eingesetzt. 173 So bedeutend die seit dem Ende der sechziger Jahre vollbrachten Leistungen der deutschen Elektroindustrie auch waren, so gering aber blieb dennoch ihre Wirkung auf die industrielle Produktion. Die Bedeutung dieser Phase der Erzeugung u n d A n w e n d u n g einer neuen Energieform m u ß deshalb vor allem in der Ausschöpfung, der Weiterentwicklung und in der ersten A n w e n d u n g des wissenschaftlichen Vorlaufs gesehen werden, der am Ende der Industriellen Revolution vorlag.
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2 Verhältnis von Licht- und Kraftanschluß 52(45 Q u e l l e : Miller, R.v., 1936,S. 112
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2.1.5.2. Eine neue Phase der Anwendung der Erkenntnisse der Chemie
Neben der Nutzung physikalischer Erkenntnisse — besonders in der Mechanik —, die schon in der Industriellen Revolution gegeben war, gehörte die Anwendung der Chemie in der materiellen Produktion wohl zu den ersten und intensivsten Formen der Verbindung von Wissenschaft und Produktion (vgl. 6.4.). Da die Textilindustrie die Primärindustrie in der Industriellen Revolution war, wirkte sich deren Aufblühen befruchtend auf die chemischen Wissenschaften aus. Die deutschen Staaten konnten auf zahlreiche wissenschaftlich gebildete Chemiker verweisen, die international hohes Ansehen genossen. Dennoch wurde der große Durchbruch in der Chemie, der in der Nachahmung von Naturstoffen und in der Entwicklung von synthetischen Stoffen bestand, die die gleichen und besseren Eigenschaften als die Naturstoffe aufwiesen, in jenen Ländern erzielt, in denen die Industrielle Revolution bereits Vergangenheit war. Eingeleitet wurde die neue Qualität der Chemie durch den Engländer William H. Perkin, der — auf der Suche nach einem synthetischen Verfahren zur Herstellung von Chinin — 1856 einen Farbstoff fand, der sich durch eine starke Farbstrahlung und eine hohe Farbfestigkeit auszeichnete. Dadurch war ein erster Schritt zur Lösung der Farbproduktion von pflanzlichen und tierischen Ausgangsstoffen getan und die Basis für die Herausbildung einer Produktion entstanden, die vorrangig auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitete.
174 Mensch, G., 1975, S. 163. 175 Geitel, M., Bd. 2, 1908/09, S. 286. 176 Beer, J. J., 1975, S. 115. 177 Ebenda, S. 106 f.
Wurden die Grundlagen der Teerfarbenchemie im Ausland und nach dem Ende der Industriellen Revolution gelegt, so verlagerte sich der Schwerpunkt der Teerfarbenproduktion schon bald nach Deutschland. Auch hier fiel mit dem Ausklingen der Industriellen Revolution das Ausgangsmaterial der Teerfarbenindustrie in der Leuchtgasindustrie beziehungsweise in den Kokereien massenhaft an. Da Deutschland im Gegensatz zu Frankreich und England über kein Kolonialreich verfügte und deshalb die teuren pflanzlichen Farbrohstoffe importieren mußte, bestand ein besonderes Interesse an Teerfarben. In den deutschen Staaten bot sich ihre Produktion durch die Vorkommen an Kohle, die Existenz einer gewichtigen Schwerindustrie und der Leuchtstoffindustrie geradezu an. Schon 1860 entstand in Offenbach die Firma Ohler als erste Anilinfabrik und in Elberfeld die Firma F. Bayer als erste Fuchsinfabrik.' 7 4 Auf der Weltausstellung des Jahres 1862 in London stellten fünf deutsche Teerfarbenproduzenten aus. 175 Die G r ü n d u n g der bedeutendsten deutschen Chemieunternehmen, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu Repräsentanten der deutschen Großchemie entwickelten, fiel in die sechziger und die beginnenden siebziger Jahre. 1862 wurden die späteren Farbwerke Höchst gegründet, drei Jahre später entstand die Badische Anilin- und Sodafabrik (BASF), 1873 die Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation (AGFA) in Berlin. Waren die beiden ersten synthetischen Farbstoffe Zufallsentdeckungen, so entwickelte sich die Teerfarbenchemie in den folgenden Jahrzehnten auf einer gesicherten wissenschaftlichen Basis, die 1865 August Kekule von Stradonitz durch die Benzolringtheorie schuf. Seine Theorie erlaubte die systematische Suche nach Farbstoffen und anderen chemischen Präparaten. Bis zu Beginn der siebziger Jahre blieben England und Frankreich in der Teerfarbenproduktion führend. Die deutschen Farbchemieunternehmen beschränkten sich zunächst vor allem auf die Kopierung ausländischer Verfahren. Diese Praxis wurde durch das Fehlen eines einheitlichen Patentgesetzes vor 1876 und die damit verbundene Rechtsunsicherheit, besonders für ausländische Erfinder, gefördert. Als seit der Mitte der siebziger Jahre die Zahl der deutschen Entwicklungen stetig zuzunehmen begann, erhielten die deutschen Unternehmen den nun für sie günstigen Schutz des Reichspatentgesetzes. 176 Dieser positive Wandel beruhte wesentlich darauf, daß die deutsche Teerfarbenindustrie, wie überhaupt die chemische Industrie, seit dem Ende der sechziger Jahre ihre Produktion wissenschaftlich zu fundieren begann. Während England und Frankreich bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg größeren industriellen Forschungslaboratorien, wenn überhaupt, nur geringe Bedeutung zumaßen, 177 die Ausbildung von Akademikern für die Industrie von den Bil88
23 Alizarinfabrik in Elberfeld (1878)
24 Vor d e m A z o f a r b e n - L a b o r a t o r i u m der F i r m a Friedrich Bayer in Elberfeld (1878)
dungseinrichtungen geradezu abgelehnt wurde, 178 knüpfte die deutsche chemische Industrie zielstrebig Verbindungen mit den Universitäten und schuf betriebsseigene Forschungseinrichtungen. So pflegten die Farbwerke Höchst und die BASF intensive Beziehungen zu so bekannten Universitätsprofessoren wie August Wilhelm H o f m a n n und Adolph von Baeyer. 179 Beide U n t e r n e h m e n richteten Laboratorien ein, in denen akademisch gebildete Chemiker arbeiteten. Ihre A u f g a b e bestand in der Entwicklung profitabler Verfahren zur industriellen Herstellung von Farbstoffen. Andere Unternehmen, wie zum Beispiel die Firma Bayer in Elberfeld, arbeiteten bis Mitte der siebziger Jahre noch mit Fachleuten aus der Textilfärberei beziehungsweise Fachschulkadern aus der Textilbranche, da diese Unternehmen vor allem bekannte Herstellungsverfahren verbesserten und zur technologischen A n w e n d u n g brachten. Als in den folgenden Jahrzehnten, bedingt unter anderem durch die Konkurrenz der BASF u n d der Höchst-Werke, auch bei der Firma Bayer neue Farbstoffe u n d Verfahren entwickelt werden mußten, ging auch dieses Unternehmen dazu über, die Laborarbeit aus der Verantwortlichkeit der Werkmeister zu lösen u n d Hochschulkadern zu übertragen (vgl. Tab. 91). Bestand das Laboratorium des Unternehmens Mitte der siebziger Jahre aus einem Tisch mit wenigen Geräten, so wurde 1890 nicht nur die Einrichtung eines Forschungslaboratoriums im Werte von 1,5 Mio. M beschlossen, sondern die akademisch gebildeten Kräfte, unter ihnen Carl Duisberg, wurden mit Hilfe technischer Kräfte, wie Laborgehilfen usw., von allen die schöpferische Arbeit h i n d e r n d e n Tätigkeiten befreit. Neben ausgezeichneten technischen 89
178 E b e n d a , S. 113. 179 E b e n d a , S. 107.
180 181 182 183 184 185 186 187
Ebenda, S. 110. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 213 f. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 277. Beer, J. J„ 1975, S. 115. Ebenda, S. III f. Lilley, S., 1976, S. 159. Ebenda, S. 157.
Einrichtungen stand den Wissenschaftlern eine Bibliothek zur Verfügung, zu deren Beständen die Bibliotheken solcher Wissenschaftler wie August Kekule von Stradonitz, Victor Meyer u n d anderen gehörten. 180 Der G e s c h ä f t s m a n n Bayer, der in Universitätslaboratorien arbeiten ließ, hatte schon 1883 durch die Einstellung von drei promovierten Chemikern versucht, in seinem Unternehmen qualifizierte Fachkräfte heranzubilden. Dieses Bemühen schlug fehl. 181 So erwies sich die zu Beginn der neunziger Jahre von Duisberg entwickelte Ausbildungsmethode als erfolgreicher. Sein Ausbildungsprogramm sah regelmäßige Beratungen der Hochschulkader des Unternehmens mit dem Ziel vor, eine Überspezialisierung zu verhindern u n d den Erfahrungsaustausch zu gewährleisten. Z u m anderen wurden junge Akademiker für die Bedürfnisse des U n t e r n e h m e n s herangebildet, indem sie im ersten Tätigkeitsjahr alle Abteilungen des Unternehmens durchliefen und erst d a n n — auch unter Berücksichtigung ihrer Neigungen — entschieden wurde, ob sie in den Produktionsabteilungen oder in der Forschung tätig sein sollten. Auf diesem Wege wurden die Bayer-Werke, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu den international führenden C h e m i e u n t e r n e h m e n zählten, zu einer erstrangigen Forschungs- und Ausbildungsstätte. War die Firma Bayer bei der Entwicklung ihres Werkes auf die G e w i n n u n g akademischer Kader angewiesen, so vollzog sich die G r ü n d u n g der BASF und der Höchster Farbwerke unter anderen Vorzeichen. In beiden Fällen waren kreative Wissenschaftler maßgeblich beteiligt. Bei der G r ü n d u n g der BASF hatten sich die Liebig-Schüler und Brüder August und Carl Clemm mit dem Industriellen Friedrich Engelhorn zusammengetan und den Farbchemiker Heinrich C a r o u n d andere Chemiker als Mitarbeiter gewonnen. Auch die Farbwerke Höchst wurden von zwei akademisch ausgebildeten Chemikern, Eugen Lucius u n d Adolf Brüning und zwei mit den Verhältnissen in England vertrauten Kaufleuten begründet. Ähnlich wie bei der BASF nahm die Zahl der in dem U n t e r n e h m e n tätigen Wissenschaftler stetig zu, wurden die Kontakte zu den Hochschullehrern ausgebaut. 1 8 2 Die systematische N u t z u n g naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Forschung in eigenen Laboratorien war ein Faktor, der diesen Unternehmen bereits in den siebziger Jahren Führungspositionen in der internationalen Farbstoffproduktion einbrachte. Wenn auch eine genaue Kenntnis der Zahl der in der deutschen chemischen Industrie tätigen Wissenschaftler fehlt, so ist bekannt, d a ß die Elektroindustrie u n d die chemische Industrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa 75 % aller in der Industrie beschäftigten Wissenschaftler auf sich vereinten.' 8 3 Einen detaillierteren Einblick bieten einige Angaben zum Beispiel über die BayerWerke. Beschäftigten sie 1881 nur 15 Chemiker, so waren es 1895 schon 90.184 Mit Hilfe wissenschaftlicher Kader in den Unternehmen, des A u f b a u s intensiver Beziehungen zu den akademischen Einrichtungen u n d des A u f k a u f s ausländischer Patente gelang es der deutschen Farbchemieindustrie, die chemische G r o ß p r o d u k t i o n a u f z u b a u e n und die Vorzüge kapitalkräftiger Unternehmen voll auszuschöpfen. Mit welcher Intensität in den Laboratorien der Teerfarbenindustrie gearbeitet wurde, zeigt allein der Umstand, d a ß 1896 in den Bayer-Werken 2 378 Farben hergestellt wurden. 1 8 5 Die Teerfarbenchemie hatte mit Perkin 1857 in England ihren Ausgang genommen, doch in den neunziger Jahren stand die deutsche Teerfarbenindustrie in der Produktion u n d ihrer wissenschaftlichen Durchdringung international an der Spitze. In der technischen Herstellung waren dagegen die USA überlegen — wie letztlich in allen Bereichen der Entwicklung u n d der A n w e n d u n g von Arbeitsmaschinen. 1 8 6 Die Verlagerung der Teerfarbenproduktion von England und Frankreich nach Deutschland wird an folgenden Zahlen deutlich: 1870 wurden in England 4 0 1 Alizarin produziert, in Deutschland weniger als 1 t. Bis 1873 stieg die deutsche Alizarinproduktion auf 1 100 t, die Englands auf nur 435 t. Zehn Jahre später war England gezwungen, zwei Drittel des Bedarfs an Alizarin zu importieren. 187 1878 erreichte die Weltproduktion von synthetischen Farbstoffen
90
etwa 1 428 Tonnen. Davon wurden 907 Tonnen in Deutschland, aber nur 204 Tonnen in England hergestellt. Das Weltmonopol der deutschen Teerfarbenproduktion, das um die Jahrhundertwende erreicht war, zeichnete sich hier schon deutlich ab.188 Zu den Ursachen dieser Entwicklung gehörte die Ausbildung mittlerer Fachkräfte an den Polytechnischen Schulen. Die deutsche Bildungspolitik, nicht zuletzt motiviert vom Streben, technisch und wissenschaftlich gebildete Staatsbeamte heranzuziehen, trug Früchte (vgl. 7.). Deutschland verfügte seit Justus Liebig über ein wachsendes Potential qualifizierter Chemiker. In England dagegen mangelte es an Wissenschaftlerpersönlichkeiten wie Perkin. Der in England in der chemischen Produktion herrschende Konservatismus beruhte wohl vor allem auf den ökonomischen Vorteilen, die die Kolonien für den Rohstoffimport, den Export und die Anlage von Kapital boten. Die englische chemische Industrie blieb nicht nur mit einem moralisch verschlissenen Produktionsapparat belastet, sondern sie zog auch den Praktiker dem Wissenschaftler vor. In Deutschland setzte sich dagegen die in der Industriellen Revolution begonnene positive Wissenschaftspolitik fort. Während England bis 1874 keinen Lehrstuhl für organische Chemie besaß, konnte allein von Baeyer in den achtziger Jahren an der Universität in München etwa 50 Forschungsassistenten beschäftigen. 189 War die Ausbildung von Fachkräften für die chemische Industrie folgerichtig in Deutschland entschieden fundierter, so gesellte sich zur Qualität die quantitative Überlegenheit. Im Jahre 1900 beschäftigten die sechs größten deutschen Chemieunternehmen etwa 18 000 Arbeiter, 1 360 Angestellte, 350 Techniker und Diplomingenieure und 500 Chemiker. In der englischen chemischen Industrie waren dagegen etwa 30 bis 40 Chemiker tätig.190 Der hohe Ausstattungsgrad mit Wissenschaftlern und Technikern führte zu bedeutenden eigenständigen Leistungen und zu einem Gespür für die industrielle Auswertung ausländischer Neuerungen. In den Jahren von 1886 bis 1900 kauften die sechs bedeutendsten deutschen Chemiebetriebe in England 948 Erfindungen auf, während die sechs größten englischen Unternehmen nur 86 Patente erwarben. 191 Gebunden war der massive Einsatz der Wissenschaft in der Produktion an die Beschaffung entsprechenden Kapitals. Boten die allgemeinen Bedingungen des Aufschwungs der deutschen Industrie an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren die Grundlage für die Finanzierung auch der chemischen Industrie, so setzte ihre profitträchtige Entwicklung — forciert durch die Bildung von Kartellen, deren Zahl um die Jahrhundertwende in der chemischen Industrie bei 82 lag' 92 — weitere Mittel frei. Das Bündnis zwischen Industrie, Banken, Wissenschaft und Staat tat ein übriges. Verfügten die sechs größten deutschen Chemieunternehmen um 1900 über ein Kapital von 2,4 Mio. Pfund, so betrug das Kapital der englischen chemischen Industrie wahrscheinlich weniger als 0,5 Mio. Pfund. 193 Die kräftige finanzielle, wissenschaftliche und technische Basis der deutschen chemischen Industrie gestattete die profitable Großproduktion von Teerfarben und im Gegensatz zu England die Ausschöpfung der gesamten Farbpalette. 194 Die Bedeutung der Teerfarbenchemie bestand jedoch nicht nur in der Produktion neuer und billigerer Farbstoffe für die Textil-, Holz-, Papier-, Lederindustrie, usw. Die Teerfarben waren die ersten Erzeugnisse in der Geschichte der Menschheit, die auf synthetischem Wege hergestellt wurden. Sie markierten den Beginn der Kunststoffproduktion. Ihre wissenschaftlichen Grundlagen bildeten die Basis der Weiterentwicklung anderer, gewichtigerer Erzeugnisse der chemischen Produktion, wie zum Beispiel der Pharmazeutika. Die pharmazeutische Industrie begann sich in den siebziger und achtziger Jahren zur Großindustrie zu entwickeln. Zeitlich fiel ihre Herausbildung mit der auf Sicherung des herrschenden gesellschaftlichen Systems ausgerichteten Sozialversicherungspolitik Bismarcks und der wachsenden psychischen Auspowerung der Arbeitskräfte in der Industrie zusammen. Schließlich wuchsen Zahl und Größe der Städte. Die dadurch bedingte Zusammenballung der Bevölkerung unter elenden Wohn- und Lebensbedingungen ließ die Gefahr von 91
195 196 197 198 199 200 201 202
Ebenda, S. 162. Ebenda. Ebenda, S. 161. Mahr, O., 1938, S. 185. Mensch, G., 1975, S. 160. Beer, J. J., 1975, S. 113. Mensch, G., 1975, S. 160. Mottek, H./Becker, W./Schröter.A., 1975, S. 64.
Epidemien, von denen auch die herrschende Klasse bedroht war, anschwellen. Von dieser Gesamtsituation war die Tätigkeit der Medizin und der Pharmazie wesentlich beeinflußt. Neue synthetische Präparate wurden von der Industrie selbst entwickelt oder aufgegriffen und in die Großproduktion aufgenommen. So stellten die Höchst-Werke seit 1883 Antipyrin her,195 die Schering-Werke begannen 1884 mit der elektrolytischen Produktion des Chloroforms, 196 die Merck-Werke ein Jahr später mit der Herstellung von Kokain. 197 In den neunziger Jahren folgten unter anderem Pyramidon, Novocain und das erste synthetisch erzeugte Hormonpräparat, das Suprarenin. 198 Dazu kam 1894 das erste Diphtherieserum, hergestellt in den Behring-Werken (vgl. 6.4.).199 Gleichzeitig entwickelten sich die zunächst bescheidene Produktion von Fotochemikalien 200 und die Ansätze der Kunstseidenproduktion. 20 ' Mit dem Aufkommen der Teerfarben beruhte die chemische Produktion auf wissenschaftlichen Grundlagen. Die Umsetzung dieser Grundlagen in materielle Produktion war jedoch an die Entwicklung eines besonderen Apparatebaus gebunden, denn die chemische Produktion beruhte weniger auf der Verwendung von Arbeitsmaschinen als auf der Entwicklung des Röhren- und Gefäßsystems, in dem die chemischen Reaktionen ablaufen. Zum anderen haben chemische Betriebe einen großen Transportbedarf, der durch die massenhafte Verwendung ihrer Ausgangsstoffe, hohen Brennstoff- und Wasserverbrauch bedingt ist. Der Bedarf an Dampfmaschinen, Dampfkesseln und maschinellen Transporteinrichtungen konnte von anderen Industrien gedeckt werden. Probleme warf dagegen die Entwicklung von Apparaten, Gefäßen, Rührwerken, Dichtungen, Pumpen usw. auf, die den spezifischen Anforderungen der chemischen Produktion genügen, die also hohen Druckbelastungen und Wärmebelastungen standhalten und gegen Säuren resistent sein mußten. Allerdings konnte dabei die Chemie zum Beispiel auf Erfahrungen in der Zuckerindustrie zurückgreifen. Der deutsche Apparatebau — soweit er im Rahmen des Maschinenbaus überhaupt schon existierte — war zunächst nicht in der Lage, derartige Apparaturen zu bauen. Deshalb mußten die Chemiker und Techniker in der chemischen Industrie dafür die Grundlagen schaffen. Die Farbenfabriken erinnerten zu Beginn der siebziger Jahre viel eher an Fabriken aus der Frühzeit der Industriellen Revolution als an Produktionsstätten, deren Produktion wissenschaftlich fundiert ist. Sie nutzten wohl Dampfmaschinen und Dampfkessel, aber ein beachtlicher Teil der Gefäße, oft nur von geringem Fassungsvermögen, bestand aus Holz oder Ton, die Kessel waren zum Teil offen, der Transport der Ausgangsstoffe wurde manuell durchgeführt, mechanische Rührwerke und Filter fehlten. Selbst das Kühleis wurde zum Teil mit Handwagen transportiert, manuell zerkleinert und in die Behälter eingebracht. Bis zu den neunziger Jahren kam es zu wesentlichen Verbesserungen des Gefäßsystems. Die Behälter wurden vergrößert, ihre Verschließbarkeit verbessert. An die Stelle von Holz und Ton traten metallische Werkstoffe. In gleicher Weise wurden die Trockenkammern verändert. Gleichzeitig kam es zum Einsatz von mechanischen Rührwerken, Reibwerken, Schleudern, Pressen und Filtern. Trockenöfen beschleunigten die Trockenprozesse. Die menschliche Muskelkraft begann im innerbetrieblichen Transport partiell der tierischen Muskelkraft und mechanischen Hebevorrichtungen zu weichen. So bedeutend die von der Teerfarbenchemie ausgehenden Entwicklungen auch waren, es dominierte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht die organische Chemie in der Produktion: Die anorganische Chemie überwog quantitativ in Gestalt zum Beispiel der Soda- oder Schwefelsäureproduktion. 202 Die Entwicklung der chemischen Produktion vom Ausgang der Industriellen Revolution bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war deshalb ähnlich wie in der elektrotechnischen Industrie eine Phase, in der sich die Grundlagen der materiell-technischen Basis des Monopolkapitalismus herauszubilden begannen. Zu diesen Grundlagen gehörten auch die ersten Ansätze der Petrolchemie, die mit der Verbreitung der Verbrennungsmotoren an Bedeutung gewann. Petroleum war in der Industriellen Revolution vor allem für Beleuchtungszwecke genutzt worden. Die Ausbreitung der Maschinenarbeit und des Eisenbahnwesens 92
25 Chemische Fabrik E. Merck in Darmstadt (um 1895)
26 Fuhrhof der Farbenfabrik Bayer & Co., Elberfeld
erhöhte den Bedarf an Schmierölen in solcher Weise, d a ß tierische u n d pflanzliche Fette nicht mehr ausreichten und Erdöl für die Gewinnung von Schmieröl notwendig wurde. Neben den USA leistete R u ß l a n d in der Erdölgewinnung und -Verarbeitung Beachtliches. Zu den ersten technischen Mitteln, mit deren Hilfe Rohöl in seine Bestandteile zerlegt wurde, gehörte ein von dem russischen Ingenieur A. Tawrisow 1874 entwickelter Destillationsapparat, dem 1882 eine von Dmitri I. Mendelejew entwickelte Destillationsblase folgte, ein Gerät, das den kontinuierlichen Betrieb erlaubte. Ein Jahr später wurde die erste Destillationsbatterie bei Baku eingesetzt. Die „Nobelsche Destillationsbatterie" baute auf der Mendelejewschen Blase auf und herrschte gegen Ende des 19. Jahrhunderts international vor. Sie erwies sich als außerordentlich leistungsfähig, d e n n sowohl die Qualität des Petroleums als auch des Schmieröles konnte gesteigert werdend Z u m anderen wurde in dieser Phase die wechselseitige Bedingtheit zwischen den beiden modernsten Industrien, der chemischen u n d der elektrotechnischen, offenkundig. M a n denke an den elektrischen Schmelzofen oder an die Kältetechnik, an die Aluminiumproduktion oder an die Edelstähle. Sie beruhten einerseits auf der Beherrschung chemischer Prozesse, besaßen andererseits aber nur d a n n eine Entwicklungsmöglichkeit, wenn die physikalischen Gesetze der Elektrizität beherrscht und in wirkungsvolle Mechanismen umgesetzt werden konnten. Leitete die Teerfarbenchemie einen grundsätzlichen Wandel in der Chemie ein, so lag die effektive Bedeutung der Chemieproduktion quantitativ weiterhin in ihren traditionellen Betätigungsgebieten, die insbesondere
203 Sworykin, A. A./Osmowa, u. a., 1967, S. 286 f.
N. /,
204 205 206 207 208 209 210 211 212 213
vom Bedarf der Textilproduktion und der Landwirtschaft bestimmt waren. 204 Die Basis der Weiterentwicklung der traditionellen chemischen Produktion war neben der stetigen Bevölkerungszunahme der steigende industrielle Bedarf, der sich aus der Verbreiterung des Anwendungsfeldes für chemische Produkte ergab. Diesen Anforderungen entsprach die chemische Industrie durch die Verbesserung bekannter Produktionsverfahren und Schaffung neuer Verfahren. Hatte die Schwefelsäure als wichtigstes Vorprodukt der Sodaproduktion im Verlauf der Industriellen Revolution vor allem in der Textilproduktion u n d -Veredelung Verwendung gefunden, so erweiterte sich nun entscheidend das Spektrum jener Produktionszweige, f ü r die die Schwefelsäure von Bedeutung war. 205 In der chemischen Industrie diente Schwefelsäure vor allem zur Herstellung von Säuren, wie der Salpetersäure, Salzsäure, schwefeligen Säure, Kohlensäure u n d der Weinsäure. 206 Diese Erzeugnisse waren notwendige Voraussetzungen f ü r die Kunstdüngerindustrie, die Farbenproduktion, die Sprengstoffherstellung, die Metallurgie, für die entstehende Erdölindustrie, die Fabrikation von Stärkezucker oder f ü r die Herstellung von Papier, usw. Seit der Industriellen Revolution wurde Schwefelsäure mit Hilfe des Bleikammerverfahrens erzeugt. Dieses Verfahren blieb, wenn auch stetig verbessert, bis um die J a h r h u n d e r t w e n d e die am stärksten verbreitete Methode der Schwefelsäureproduktion. 2 0 7 Sein Mangel bestand in den begrenzten Möglichkeiten der Regelung des Säuregehaltes. Die theoretischen Grundlagen für ein neues Verfahren, das Platinkontaktverfahren, waren bereits in den dreißiger Jahren in England gelegt worden. Es beruhte auf einem Schwefelsäuredioxid-Sauerstoff-Gasgemisch, das über eine auf Asbest aufgebrachte Platinschicht geleitet wurde. 208 Seine industrielle A n w e n d u n g wurde jedoch durch die außerordentlich hohen Kosten für Platin eingeengt. Durch die wissenschaftliche Arbeit von Rudolf Knietsch u n d deren technischer Umsetzung durch Clemens Winkler gelang es schließlich, dieses Problem zu lösen. 1878 setzte Winkler erstmals in den Muldenhütten bei Freiberg einen Vanadiumkatalysator ein. D e n n o c h sollte es bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e dauern, bis das Kontaktverfahren, dessen Vorzug in der kontinuierlichen Produktion von Schwefelsäure beliebiger Konzentration bestand, breitere A n w e n d u n g fand. Auch Soda behielt seine uneingeschränkte Bedeutung. Es f a n d in allen Zweigen der chemischen Industrie Verwendung und erlangte eine besondere Bedeutung mit der Z u n a h m e der D a m p f m a s c h i n e n und Dampfkessel. Erwies es sich doch als ideales Mittel zu Beseitigung des Kesselsteines. Die industrielle Produktion von Soda basierte seit 1791 auf dem von dem französischen Chemiker Nicolas Leblanc entwickelten u n d nach ihm benannten Verfahren, das in der Umsetzung von Kochsalz in besonderen Öfen bestand. 209 1861 leitete der belgische Ingenieur Ernest Solvay eine neue Ära der Sodaproduktion ein. Sein Verfahren erlaubte nicht nur gewichtige Brennstoffeinsparungen, sondern die Qualität des Sodas war besser — obwohl einfache Kochsalzlösungen, die zum Teil unmittelbar aus der Erde g e p u m p t wurden, die Ausgangsbasis bildeten. Das Solvay-Verfahren begünstigte eine kontinuierliche Produktion u n d die Mechanisierung der Zwischenprozesse. 2 1 0 In Deutschland begann es sich allerdings erst am Ende des 19. Jahrhunderts durchzusetzen. Die deutschen SodaMottek, H./Becker, W./Schrö- produzenten suchten seiner A n w e n d u n g zunächst auszuweichen, indem sie die ter.A., 1975, S. 64. sogenannten H a n d ö f e n durch mechanisierte Trommelöfen zu ersetzen beganSworykin, A. A./Osmowa, N. I. nen und nach neuen Wegen der Sodaproduktion suchten. 2 " 1884 bildeten u.a., 1967, S. 284. einige deutsche Chemiebetriebe ein „Konsortium zum Studium von Alkali und Geitel, M., Bd. 2, 1908/09, Chlor der technischen Fabrikation mit Hilfe des elektrischen Stroms". 212 Ignaz S. 255. Sworykin, A. A./Osmowa, N. I. Stroof, Mitarbeiter der chemischen Fabrik Griesheim, gelang es bis 1887 eine u. a., 1967, S. 284. A p p a r a t u r zu entwickeln, die die großtechnische Chlorkalielektrolyse begrünEbenda. dete. 1890 n a h m der erste Betrieb diese Form der Produktion auf. 213 Ihre WeiEbenda, S. 285. terentwicklung hing von drei Faktoren ab: Von der Möglichkeit, künstliche Ebenda. Kohleelektroden herzustellen, ein Problem, das bereits in den neunziger JahPistor, G., 1958, S. 30. ren durch ihre maschinelle Produktion gelöst wurde; von der Fähigkeit der Ebenda. Ebenda, S. 34. Elektroindustrie, leistungsfähige Stromerzeugungsaggregate zu schaffen u n d
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schließlich von einer nachhaltigen Steigerung der Erzeugung von Elektroenergie. Die beiden letztgenannten Aufgaben wurden erst im beginnenden 20. Jahrhundert bewältigt, als es gelang, Großstromaggregate zu bauen und deren Brennstoffbedarf durch ihre Ansiedlung in Braunkohlengebieten oder an Wasserläufen zu decken. Über die quantitative Entwicklung der Produktionstechnik und der Technologien in der chemischen Industrie liegen nur lückenhafte Angaben vor. Dennoch genügen sie, ergänzt durch Angaben aus einzelnen Chemieunternehmen, eine Vorstellung vom Zustand u n d von der Entwicklung der chemischen Produktion bis in die neunziger Jahre zu vermitteln. Die generelle Entwicklung der N u t z u n g motorischer Kräfte läßt sich an folgenden Werten ablesen. Die Zahl der Chemiebetriebe, die mit Wind- oder Wassermotoren arbeiteten, n a h m zwischen 1882 u n d 1895 deutlich ab, die Zahl der Betriebe, die D a m p f m a s c h i n e n einsetzten, stieg dagegen um 488, die Zahl der Unternehmen, die Gas- bzw. H e i ß l u f t m o t o r e n nutzten, n a h m um 143 zu. Während 1882 19,5 von 100 Hauptbetrieben über motorische Kräfte verfügten, erhöhte sich deren Zahl bis 1895 auf 27,7. 214 In der Reihe der Industrien, die Dampfkessel ohne Kraftübertragung benutzten, stand die chemische Industrie mit 13,6 % an dritter Stelle hinter der Nahrungsmittel- und der Textilindustrie. 2 1 5 1899 beschäftigte die Badische Anilin- u n d Sodafabrik in Ludwigshafen 300 k a u f m ä n n i s c h e und 200 technische Angestellte und 5 825 Arbeiter. Ihre Produktionstechnik bestand unter anderem aus 2 944 wichtigen Arbeitsmaschinen, 221 D a m p f m a s c h i n e n mit einer Gesamtleistung von 9 000 PS (6 660 kW), 62 Elektromotoren mit einer Leistung von 186 PS (137,6 kW), einem G a s m o t o r von 12 PS (8,9 kW). 51 D a m p f m a s c h i n e n mit einer Leistung von 2 500 PS (1 850 kW) standen als Reserve zur Verfügung. 2 1 6 Wie schnell sich der U m f a n g der Produktionsmittel vergrößerte, zeigt zum Beispiel die Entwicklung der Farbwerke Höchst. Dieses U n t e r n e h m e n wurde 1863 mit einem Dampfkessel u n d einer 3-PS-Dampfmaschine (2,2 kW) gegründet, 217 1888 verfügte es über ein eigenes Gaswerk, ein eigenes Wasserwerk u n d eine motorische Leistung von 2 000 PS (1 480 kW), selbstverständlich war es mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet. 218 Zahl u n d Struktur der Arbeitskräfte entwickelten sich so: Bei der G r ü n d u n g des Unternehmens gab es neben den Eigentümern fünf Arbeiter, einen Kontoristen u n d einen Chemiker. 2 1 9 Bis 1888 wuchs die Zahl der Arbeiter auf 1860, die der k a u f m ä n n i s c h e n Angestellten auf 45. Das U n t e r n e h m e n beschäftigte 25 Chemiker, 10 Techniker u n d 40 Aufseher. 2 2 0 Diese Arbeitskräfteentwicklung und -struktur waren keineswegs eine Ausnahmeerscheinung, sondern sie widerspiegelten Tendenzen, die sich auch in anderen bedeutenden C h e m i e u n t e r n e h m e n vollzogen. N u r so konnte die chemische Industrie zur Entwicklung der kontinuierlichen Massenproduktion übergehen und ihre Produktion rasch und profitabel erhöhen. Die kontinuierliche Massenproduktion war aber die entscheidende Voraussetzung d a f ü r , d a ß der wachsende Bedarf an chemischen Erzeugnissen, der in fast allen Industrien auftrat, gedeckt werden konnte. 221 Das heißt aber auch, d a ß die Anfänge der Chemisierung wichtiger Produktionsprozesse — als Bestandteil der materielltechnischen Basis des Monopolkapitalismus — in den siebziger Jahren gesucht werden müssen. Bei der Darstellung der Entwicklung der Eisen- und Stahlproduktion wurde gezeigt, d a ß die Fortschritte gegen Ende der Industriellen Revolution zum Teil durch Laien, in jedem Falle aber durch Erfinder erzielt wurden, deren theoretische Kenntnisse über die Abläufe jener Prozesse, die ihren Erfindungen zugrunde lagen, äußerst mangelhaft waren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann eine stärkere theoretische Durchdringung zum Beispiel der Metallurgie, zu der die Chemie vieles beitrug. Der Einsatz von akademisch gebildeten Ingenieuren, Physikern und Chemikern ermöglichte die Verfeinerung der Verfahrenstechnik, die Entwicklung von Werkstoffprüfmaschinen u n d chemischer Prüfverfahren. Dies war von um so größerer Bedeutung, als bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e in Deutschland staatliche Materialprüfanstalten 95
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St DR, Bd. 119,1899, S. 112. Ebenda, S. 120. Ebenda, S. 160. Bäumler, E., 1963, S. 17. I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft. Werke: Farbwerke vorm. Meister & Brüning, 1938, S. 55 f. 219 Bäumler, E., 1963, S. 17. 220 I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft. Werke: Farbwerke vorm. Meister & Brüning, 1938, S. 36 f. 221 Sworykin, A. A./Osmowa, N. I. u. a., 1967, S. 288.
fehlten. Wie umfangreich die chemische Werkstoffprüfung war, zeigt das Beispiel des Kruppschen Blechwalzwerkes. 1889 wurden dort 12 000 chemische Analysen durchgeführt. 222 Bei der Festlegung der Normen für Baustoffe — zum Beispiel Zement — spielte die Chemie eine ebenso gewichtige Rolle wie bei der Bestimmung der Heizwerte von Brennstoffen, die die Grundlagen für die wärmetechnischen Berechnungen bei Dampfkesseln und Verbrennungsmotoren bildeten. Man könnte diese Aufzählung beträchtlich erweitern. Wenn auch die Metallurgie von der chemischen Technologie am meisten profitierte, so bildeten die Erkenntnisse der chemischen Wissenschaft eine wesentliche Basis der industriellen Produktion, eine Basis, die für die Nahrungsmittel- und Konservierungsmethoden ebenso wichtig war, wie für die Produktion des Aluminiums oder der Sonderstähle. 223
2.1.6. Zu den Wirkungen des produktionstechnischen Fortschritts auf die Produzenten
222 Baumann, R., 1912, S. 182. 223 Sworykin, A. A./Osmowa, N. /., u. a., 1967, S. 288.
Im Verlauf der Industriellen Revolution wurden wesentliche Teile der industriellen Fertigung mechanisiert. Nebenprozesse und Transportprozesse blieben dagegen im hohen Maße von der Anwendung der Maschinenarbeit ausgespart. Ganze Produktionszweige waren kaum von der Mechanisierung erfaßt worden. Die nun folgenden Jahrzehnte führten zu einem tiefgreifenden Wandel. Die Mechanisierung wurde in den Zweigen, in denen die Maschinenarbeit keineswegs neu war, ausgedehnt, die Verwendung von Spezialmaschinen nahm zu und die Arbeitsteilung wuchs. In anderen Zweigen setzte die Anwendung der Maschinerie erst ein. In allen Zweigen aber erhöhten sich die Geschwindigkeiten der Arbeitsmaschinen. Jede Maschine, die in der industriellen Fertigung eingesetzt wurde, vermehrte das Industrieproletariat. Analoges gilt für jene Bereiche der industriellen Produktion, in denen nicht die Arbeitsmaschinen im Vordergrund standen, sondern das Röhren- und Gefäßsystem die technische Substanz der Produktion bildete. Wurde im ersten Fall die Zahl derer erhöht, die der Maschinerie untergeordnet wurden, so wurde diese Unterordnung in der chemischen Industrie, im Hüttenwesen usw. über den Ablauf der thermischen und chemischen Prozesse bewirkt. Die Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeiten der Maschinerie, die Beschleunigung des Verlaufs der thermischen und der chemischen Prozesse, aber auch die Verwendung maschineller Transporteinrichtungen erhöhten die Intensität der Abhängigkeit des unmittelbaren Produzenten von der Technik. Die technischen Veränderungen in der industriellen Fertigung führten zu einer wesentlichen Veränderung der Beschäftigtenstruktur. Durch den Abbau der Bedeutung der menschlichen Muskelkraft im Fertigungsprozeß und die Vertiefung der Arbeitsteilung, die zur Vereinfachung der Arbeitsoperationen führte, wuchs die Zahl der niedrigentlohnten weiblichen Arbeitskräfte erheblich an. Wenn die kindliche Arbeitskraft aus der Industrie zu verschwinden begann, so einerseits aus Gründen, die außerhalb der Industrie lagen, zum anderen aber, weil jene Hilfsarbeiten, die in der Zeit der Industriellen Revolution von Kindern durchgeführt wurden, der Mechanisierung unterlagen. Dazu kam, daß die Bedienung der zum Teil komplizierter gewordenen teuren Arbeitsmaschinen nur unter großen Risiken Kindern anvertraut werden konnte — Risiken, die die Bourgeoisie im Interesse der Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der Maschinerie scheute. Nun wurde — stark abgestuft nach Industriezweigen — mit der beginnenden wissenschaftlichen Durchdringung des Fertigungsprozesses und der Anwendung komplizierter Arbeitsmaschinen die fachliche Qualifikation eines Teiles der Facharbeiter und Meister ebenso notwendig, wie die Leitung der Produktion durch Ingenieure und Wissenschaftler. Erforderte der Bau von Spezialmaschinen — insbesondere die außerordentlichen hohen Ansprüche an die Maßgenauigkeit der Einzelteile — hochqualifizierte Facharbeiter, so waren diese Spezialmaschinen durch die Vereinfachung der Arbeitsoperationen so ange96
27 Frauenarbeit n a h m Ende des 19. Jahrhunderts zu — Glühlampenfabrik der A E G , Kohlenfadenstation
28 Die Loewe-Nähmaschine (um 1900)
legt, d a ß auf die handwerkliche Geschicklichkeit des Maschinenarbeiters verzichtet werden konnte. Die Berliner Nähmaschinenfabrik Loewe ging in Anlehnung an die Praxis in den USA beim A u f b a u ihres Maschinenparks davon aus, daß die technischen Einrichtungen so zu gestalten sind, „daß sie absolut genaue und unverrückbare Schablonen für die Herstellung jedes einzelnen Teils der Nähmaschinen in allen seinen Stadien abgeben so d a ß die Fabrikationsmaschinen in Verbindung mit diesen Einrichtungen in Wahrheit vollständige Automaten darstellen, welche die Teile exakt und vollkommen gleichmäßig herstellen, ohne daß die Einwirkung des sie bedienenden Arbeiters nötig oder ü b e r h a u p t zulässig ist, und zwar zuverlässiger, als es selbst der intelligenteste Arbeiter, ohne Hilfe einer derartigen Einrichtung imstande wäre". 224 Der technische Fortschritt führte dazu, d a ß eine immer größere Zahl von Maschinenarbeitern, unter ihnen zahlreiche Frauen, f ü r eine spezielle Tätigkeit an diesen Maschinen lediglich anzulernen war. Die Werkzeug- u n d Maschinenschlosser, Justeure und Kontrolleure waren dagegen qualifizierte Facharbeiter. 225 Sie verfügten in der Regel über eine solide Ausbildung einer allgemeinbildenden Schule und einer Berufsschule und erwarben ihre Kenntnisse im H a n d w e r k (vgl. 8.). Sie waren es, die die Maschinen für die Maschinenarbeiter einrichteten und bei der Kontrolle der Erzeugnisse die entscheidende Position innehatten. Der erhöhte Bedarf an Arbeitskräften mit einer höheren Qualifikation war zwar in Berufsgruppen wie der Metallverarbeitung besonders ausgeprägt, aber er beschränkte sich keineswegs auf diesen Zweig. Schiebelehren und Greifzirkel wurden zum Beispiel zunächst nur von Meistern und qualifizierten Facharbeitern benutzt. Sie stellten feine Maßunterschiede mit Hilfe von Papierstärken fest und ermittelten ebene Flächen gleichfalls mit Papierstreifen und Flächenlinealen. 2 2 6 Diese u n d verbesserte Meßgeräte wurden in dem M a ß e zum Arbeitsgerät der Maschinenarbeiter, in dem die Serienproduktion sich erweiterte, die Produktion von austauschbaren Verschleißteilen wuchs. Welche Rolle die Fortschritte der Meßtechnik in diesem Z u s a m m e n h a n g spielten, wird an der Arbeitsweise deutlich, die selbst noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa bei der Fertigung von Verschleißteilen für D a m p f m a s c h i n e n , Kühlmaschinen, Motoren usw. üblich war. Sämtliche Verschleißteile wurden zum Beispiel f ü r j e d e n einzelnen Motor mit Hilfe von Schiebelehren, Rachenlehren usw. festgestellt u n d dokumentiert, um die Nachlieferung von Einzelteilen zu sichern. 227 Die erhöhten Anforderungen an die schulische u n d berufliche Qualifizierung eines Teiles der unmittelbaren Produzenten, die sich besonders im Ma-
224 Matschoß, C./Schlesinger, 1930, S. 13. 225 Voigt, H., 1923, S. 37. 226 Fischer, Chr., 1940, S. 137. 227 Ebenda.
G..
228 Mottek, H./Becker, W./Schröter.A., 1975, S. 58. 229 Ebenda, S. 66. 230 Kocka, J., 1975, S. 281. 231 Jonas, W./Linsbauer, V./Marx, H., Bd. 1,1969, S. 19. 232 Kuczynski, J., Bd. 3, 1962, S. 339. 233 Ebenda.
schinenbau, aber auch in der Elektrotechnik zeigten, dagegen in der Textilu n d in der Nahrungsmittelindustrie kaum existent waren, 228 erklären, warum die Industrie die Ausbildung ihres Facharbeiternachwuchses weiterhin dem H a n d w e r k überließ, während sie seit den sechziger Jahren zunehmend auf die Entwicklung der Gewerbe- und Fortbildungsschulen Einfluß nahm. Diese Einf l u ß n a h m e ergab sich aus der G e w e r b e o r d n u n g des Jahres 1869, die den Schulbesuch der Lehrlinge bis zum 18. Lebensjahr ermöglichte. Führte der Bau von Spezialmaschinen zu erhöhten Anforderungen an die Qualifikation der Maschinenbauer und gleichzeitig zur Verstärkung des Trends zur Dequalifikation, so ist die gleiche Widersprüchlichkeit auch hinsichtlich des Bildungsniveaus festzustellen. Stieg das Bildungsniveau der unmittelbaren Produzenten generell an, so verbot die wachsende Vereinseitigung der Arbeitsoperationen die volle Ausschöpfung dieses Niveaus. Die zwischen 1870 und 1913 erzielte Steigerung des Ausstoßes pro Arbeitsstunde und J a h r in der Industrie um durchschnittlich 2,1 %229 beruhte nicht nur auf der Erhöhung der Arbeitsproduktivität, sondern sie stützte sich wesentlich auf die Steigerung der Arbeitsintensität. Bevorzugte Mittel der Auspowerung der unmittelbaren Produzenten waren nach der Erhöhung der Arbeitsgeschwindigkeiten der arbeitsteiligen Maschinerie, die Mehrfachbedienung von Maschinen, die beginnende Verwissenschaftlichung der Ausbeutung der Arbeitskraft, die verstärkte A n w e n d u n g von Lohnreizsystemen in Verbindung mit dem betrieblichen Strafsystem. Der Erfolg von Unternehmen wie der L. Loewe A. G. oder der Siemens-Werke beruhte vor allem darauf, d a ß die aus den USA eingeführten Werkzeugmaschinen angelernten Arbeitern unter den Bedingungen des Akkordlohnes die Bedienung von zwei bis drei Maschinen ermöglichten. 230 Die Mehrfachbedienung von Maschinen mit hohen Arbeitsgeschwindigkeiten erhöhte zwar die physische Beanspruchung der unmittelbaren Produzenten, ihre negative Wirkung bestand aber vor allem darin, d a ß sie die psychische Belastung der Arbeitskräfte wesentlich steigerte. Jonas schreibt dazu: „Die Anforderungen an Genauigkeit u n d Qualität waren außerordentlich hochgeschraubt worden. Die Anforderungen an die Intensität der kontrollierenden Beobachtung, an reaktionsschnelles Kombinieren und Handeln stießen mehr und mehr an die Grenzen des menschlich Möglichen." 2 -" In diesen Anforderungen an die unmittelbaren Produzenten liegt auch die Erklärung dafür, warum die Bourgeoisie den Forderungen der organisierten Arbeiterklasse nach einer besseren schulischen und beruflichen Ausbildung entgegenkam, während sie gleichzeitig die weltanschauliche Bildung der Arbeiterklasse mit ideologischen Mitteln u n d Terror bekämpfte. Die aus der veränderten Produktionstechnik u n d ihrer kapitalistischen A n w e n d u n g resultierende Auspowerung der Arbeitskräfte erklärt, warum sich die Bourgeoisie — zwar um jeden Pfennig und jede Minute feilschend — den objektiv begründeten Forderungen der Arbeiterklasse nach der Erhöhung der Reallöhne und der Verkürzung der Arbeitszeit in Grenzen beugte. Zwischen 1860 u n d 1900 läßt sich eine generelle Erhöhung der Reallöhne feststellen. Allerdings sind diese Erhöhungen in den einzelnen Industriezweigen unterschiedlich, blieben die Frauenlöhne hinter denen der M ä n n e r zurück. Dazu kam, d a ß eine kleine G r u p p e innerhalb der Arbeiterklasse, die entstehende Arbeiteraristokratie — zu der die Vorarbeiter zählten —, besser bezahlt wurde als die Masse der Arbeiter. Schließlich waren die Lohnerhöhungen unmittelbar abhängig vom Druck des proletarischen Klassenkampfs. 2 3 2 Gleiches gilt für die Arbeitszeitgestaltung. Betrug die tägliche Arbeitszeit im Bergbau u n d in der Industrie (ohne Pausen) im Wirtschaftszyklus 1850 bis 1859 14 Stunden, so reduzierte sie sich bis zum Zyklus 1893 bis 1902 auf 10,5 Stunden. 233 Wich in diesen Fragen die Bourgeoisie der Arbeiterklasse, so wandte sie sich seit den achtziger Jahren verstärkt der wissenschaftlichen Auspowerung der unmittelbaren Produzenten, besonders durch eine exakte Kostenermittlung, zu. Galt der Meister in den Produktionsstätten bis dahin als der F a c h m a n n für die Leitung der Produktion, die Gestaltung der Löhne u n d die Verwendung der
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Werkstoffe, so begann nun der Abbau seiner Arbeitsaufgaben in den Großbetrieben. Der Meister arbeitete empirisch. Bei seinen Entscheidungen stützte er sich vor allem auf seine subjektiven Erfahrungen. Mit dem Übergang zum Monopolkapitalismus u n d der Verwissenschaftlichung der Produktion war die Ablösung der sogenannten „Meisterwirtschaft" eine gesetzmäßige Folge. Ingenieure, Wissenschaftler, qualifizierte Ö k o n o m e n begannen mit Erfolg die Produktionskosten aufzugliedern, Platz- und Reparaturkosten, Energie- u n d Lohnkosten usw. zu analysieren u n d nach Wegen ihrer Verminderung zu suchen. Für den unmittelbaren Produzenten bedeutete das zum Beispiel, d a ß die Feststellung der Akkorde nicht mehr auf den Schätzungen des Meisters beruhte, sondern von der Arbeitsgeschwindigkeit der Maschinen u n d den notwendigen Nebenarbeiten ausging. 234 Führte das zur Eskalation der U n t e r o r d n u n g des Produzenten unter die Maschine, so ging Frederick W. Taylor, inspiriert durch den Arbeitskräftemangel in den USA, noch weiter. Er b e m ü h t e sich zunächst um die Entwicklung von Vorstellungen über die rationelle Gestaltung der Serienproduktion, deren Kern in der sinnvollen A n o r d n u n g des Maschinenparks bestand. Es ist von Interesse, d a ß die 1903 publizierten Vorstellungen Taylors weitgehend mit den Gedanken übereinstimmen, die Loewe zur gleichen Problematik zu Beginn der siebziger Jahre niedergelegt hatte. 235 Mit der gleichen Zielsetzung begann Taylor am Ende der achtziger Jahre mit seinen Arbeits- und Zeitstudien. Er analysierte letztlich jede Bewegung des Arbeiters bei der D u r c h f ü h r u n g jeder Arbeitsoperation, um überflüssige Bewegungen zu erkennen, auszuschalten und von dieser G r u n d l a g e aus sowohl die Arbeitsteilung zu erweitern als auch die Akkordsätze festzulegen. 236 Wenn auch das Taylorsystem in der deutschen Industrie zunächst nur eine geringe Bedeutung erlangte und das „scientific m a n a g e m e n t " erst mit der Aufn a h m e der Fließbandfertigung in den Automobilfabriken Henry Fords 1913 sichtbar wirksam zu werden begann, so zeugen die Überlegungen Taylors von der Intensität, mit der Wissenschaft und Technik um die Rationalisierung der Produktionsabläufe bemüht wurden. Der Meister, dem die Leitung zum Beispiel bei der Herstellung einer Maschine einschließlich der Auswahl der Werkstoffe oblag, mußte nun diese Funktionen den mit Ingenieuren und Wissenschaftlern besetzten Konstruktionsbüros überlassen. 237 Der Wandel in den Anforderungen an die Qualifikation der in der industriellen Produktion Tätigen bewirkte einerseits die Verkümmerung vorhandener Fähigkeiten bei der Masse der Produzenten und andererseits eine relative Erh ö h u n g des Bedarfs an qualifizierten Arbeitern. Zur entscheidenden Aufgabe des Meisters und der entstehenden Schicht der Vorarbeiter wurde die Durchsetzung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin. Alle anderen Aufgaben übernahmen Fach- oder Hochschulkader, deren Einsatzgebiete von der Werkstofforschung über die Konstruktion, Schaffung neuer Maschinerien und Technologien bis zur P r ü f u n g der Erzeugnisse reichte. Durch Trennung von Arbeitsvorbereitung u n d Fertigung wurde der Meister zum Vermittler zwischen dem Techniker u n d dem unmittelbaren Produzenten. Folgerichtig vollzog sich ein qualitativer Umschwung in der A n w e n d u n g der Naturwissenschaften und der technischen Wissenschaften. K a u m eine industrielle Produktion konnte ohne hochqualifizierte wissenschaftliche Kader ihren Standard aufrechterhalten u n d weiter entwickeln. Die Konkurrenzfähigkeit der Fabriken war an die Verwertung naturwissenschaftlicher u n d technischer Erkenntnisse gebunden. D a h e r entwickelte sich auch ein neuer Unternehmertyp. Stieg besonders durch die Freigabe der G r ü n d u n g von Aktiengesellschaften die Zahl derer, die Marx K u p o n a b s c h n e i d e r nannte, so war ein Teil von ihnen gleichzeitig Wissenschaftler u n d Unternehmer. G e r a d e die neuen Industrien wurden häufig von Wissenschaftlern u n d Technikern gegründet und in ihrer Weiterentwicklung wesentlich durch sie bestimmt. Stand der deutschen Industrie bereits an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren ein großes Reservoir wissenschaftlicher Kader zur Verfügung, so stimulierte der wirtschaftliche Aufschwung zu Beginn der siebziger Jahre die Weiter99
234 Matschoß, C., 1913, S. 292. 235 Matschoß, C./Schlesinger, 1930, S. 75. 236 Rübberdt, R., 1972, S. 195. 237 Fischer, Chr., 1940, S. 132.
G.,
entwicklung dieser Grundlagen wesentlich. Dies drückt sich in Neugründungen akademischer Einrichtungen ebenso aus wie in der Zunahme der wissenschaftlichen Publikationen und der wachsenden Pflege der Wirtschaftswissenschaften. Zählte Deutschland 1870 über 34 Universitäten, an denen 2 031 Professoren und Dozenten im Durchschnitt jährlich etwa 20 000 Studenten ausbildeten, so wurde diese Kapazität durch steigende Aufwendungen, die die Bourgeoisie nur zum geringsten Teil finanzierte, in jeweils zehn Jahren etwa verdoppelt. 238 Dadurch erlangte die deutsche Wissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine international führende Position. Allerdings vollzog sich dieser Aufschwung keineswegs unproblematisch. Die konservativen Kräfte an den akademischen Bildungsstätten versuchten die Universitäten als Stätten der „reinen" Wissenschaften zu erhalten, die Anerkennung der technischen Wissenschaften und deren Institutionalisierung an den Universitäten zu verhindern. Letztlich erwiesen sich diese Initiativen unter dem Druck der Entwicklung der Produktivkräfte jedoch als untauglich. 239 Die Verbindungen zwischen Forschung und industrieller Praxis, die seit der Industriellen Revolution partiell bestanden, hatten sich stabilisiert und immer weitere Felder der industriellen Produktion erfaßt. Arbeiteten an den Universitäten große Institute unmittelbar für die Bedürfnisse der Industrie, so waren in der Industrie Forschungslaboratorien, Einrichtungen zur Werkstoffprüfung und Konstruktionsbüros entstanden, von denen gewichtige Impulse des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ausgingen. Daneben faßten in den Großunternehmen wissenschaftlich gebildete Ökonomen Fuß, deren Aufgabe sich nicht nur auf den kaufmännischen Bereich erstreckte, sondern auch Probleme der Arbeitsorganisation usw. umfaßte. Damit entstand auf der Leitungsebene eine neue Kategorie, eine hochbezahlte technische und ökonomische Intelligenz, die bei der Weiterentwicklung der Produktivkräfte eine entscheidende Rolle spielte.
2.2.
Die Entwicklung der Produktivkräfte von den neunziger Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges
2.2.1. Einwirkungen des Monopolkapitalismus
Anknüpfend an die Erkenntnis von Marx, wonach der Bourgeois auf der Jagd nach Profit gezwungen ist, in der Konkurrenz zu anderen Unternehmern, in der Auseinandersetzung mit dem Proletariat, die Produktivkräfte ständig weiterzuentwickeln, schuf Lenin die Imperialismustheorie. Im Zusammenhang mit der Herausbildung der Monopole wies er daraufhin, daß es in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts kaum merkliche Ansätze zu Monopolen gab und daß die nach der Krise von 1873 entstehenden Kartelle noch vorübergehende Erscheinungen waren. Erst am Ende des Jahrhunderts und im Zusammenhang mit der zyklischen Überproduktionskrise von 1900 bis 1903 wurden die Kartelle „zu einer der Grundlagen des ganzen Wirtschaftslebens." 240 Diese veränderte gesellschaftliche Lage schuf auch wesentlich veränderte Entwicklungsbedingungen für die Produktivkräfte. Seit den siebziger Jahren hatte ihre rasche Entwicklung, der damit verbundene Kapitalbedarf und die notwendig gewordene Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse die Herausbildung von Groß- und Riesenbetrieben und die Entwicklung erster Monopolformen provoziert. Verfügten die Großbetriebe über die modernsten Produktivkräfte, so schufen sie ihnen gleichzeitig die günstigsten Entwicklungsbedingungen. Zwar setzte das Monopol die wichtigste Triebkraft der Weiterentwicklung der Produktivkräfte, die Konkurrenz, weitgehend außer Kraft, indem die Zahl der Konkurrierenden stark reduziert wurde, aber umgekehrt fand, von Ausnahmen abgesehen, letztlich eine Verlagerung der Konkurrenz auf die Ebene der Monopole im nationalen, besonders aber im internationalen Rahmen statt. Unter den historischen Bedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen die gesellschaftlichen Widersprüche reif für eine sozialistische Revolution waren, dieser Umbruch jedoch noch nicht stattgefunden hatte, war das Monopol die reaktionärste Entsprechung der Produktionsverhältnisse auf den Charakter der Produktivkräfte. 100
Das Monopol bildete aus der Sicht der herrschenden Klasse die effektivste Form der Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Deshalb ist N u s s b a u m zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Der Prozeß der Konzentration, der Monopolisierung u n d der Herausbildung des Finanzkapitals vollzog sich nach einer längeren Übergangszeit seit 1890 mit erhöhtem Tempo, so d a ß um 1900 das Monopolkapital dominierendes Gewicht erlangte . . . Die Erzielung von Monopolprofit förderte die Entwicklung der Produktivkräfte u n d das Wirtschaftswachstum in den monopolistisch organisierten Bereichen . . . Die Z u n a h m e der P l a n mäßigkeit' innerhalb der monopolistisch beherrschten Betriebe, die wachsenden Möglichkeiten von Preis-, Produktions- und Investitionsstrategie verschärften die intermonopolistische Konkurrenz ebenso wie die Anarchie im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß. Die Erzielung von Monopolprofiten, die dadurch bewirkte Kapitalballung größten Ausmaßes, die durch die Monopolisierung gewonnene Möglichkeit strategischen Verhaltens, führten zur wachsenden A n w e n d u n g von Terror, Gewalt u n d außerökonomischen Druckmitteln nicht nur gegenüber der Arbeiterklasse, sondern auch gegenüber Konkurrenten, Monopolaußenseitern, Lieferanten und Abnehmern." 2 4 1 Ist das M o n o p o l Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte in der Industrie, so ist es gleichzeitig Basis ihrer Fortentwicklung. Analoges gilt f ü r die Z u n a h m e der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft bis hin zum staatsmonopolistischen Kapitalismus. Auch hier handelte es sich um einen Versuch der herrschenden Klasse, dem durch die Entwicklung der Produktivkräfte sich dramatisch zuspitzenden Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung zu begegnen und die Ablösung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse hinauszuzögern. Auf diese Weise konnten die Produktivkräfte auf reaktionärstem Wege weiterentwickelt werden. Gleichzeitig wurde j e d o c h durch das M o n o p o l und die staatliche Regulierung der Produktion der Übergang zum Sozialismus vorbereitet. Wenn es Deutschland bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges gelang, nach den USA zum größten industriellen Produzenten aufzusteigen, so wesentlich durch die Schaffung stabiler Monopole. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrh u n d e r t war der Bergbau hauptsächlich im Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat u n d die Roheisenproduktion im Rheinisch-Westfälischen Roheisensyndikat organisiert. Sechs Unternehmen der chemischen Industrie kooperierten auf der Basis von Konventionen. Die Elektroindustrie wurde von zwei Konzernen — der A E G u n d den Siemens-Werken — beherrscht. 1904 entstand der Deutsche Stahlwerksverband. In der chemischen Produktion bildeten sich bis zum ersten Weltkrieg zwei Interessengemeinschaften, in denen die sechs wichtigsten chemischen Unternehmen zusammengeschlossen waren, heraus. 242 Die Zahl der Kartelle von einiger Bedeutung wurde 1897 auf 230 bis 250 geschätzt. 1905 betrug sie nach amtlichen Ermittlungen 385.243 Während in der Leichtindustrie zahlreiche, in der Regel allerdings u n b e d e u t e n d e Kartelle bestanden, wurde die deutsche Schwerindustrie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in einem A u s m a ß monopolisiert, das weder E u r o p a noch die USA bis dahin kannten. 2 4 4 Gleichzeitig drang das deutsche Monopolkapital in die internationale Arena vor. Es war an etwa einem Drittel der auf r u n d 100 geschätzten internationalen Monopolorganisationen beteiligt. 245 Das unterschiedliche Entwicklungstempo der Produktion von Produktionsmitteln u n d von Konsumgütern drückt Tabelle 39 aus. Die Tabelle macht die weiterhin anhaltende schnellere Entwicklung der Schwerindustrie im Vergleich zur Leichtindustrie deutlich. Sie zeigt — was an anderer Stelle zu belegen sein wird —, d a ß die Produktionssteigerung sich am schnellsten dort entwickelte, wo sie f ü r die Erzeugung von Rüstungsgütern Bedeutung besaß. Die veränderte Stellung Deutschlands unter den wichtigsten Industrieländern zeigen die Tabellen 40 bis 42 zur Weltindustrie-, Kohle- und Stahlproduktion von 1870 bis 1913. 101
238 Mottek, H./Becker, W./Schröter.A1975, S. 59. 239 Ebenda. 240 Lenin, W. /., Bd. 22, 1960, S. 200. 241 Baudis, D./Nussbaum, H., 1978, S. 75. 242 Kuczynski, J., Bd. 4,1967, S. 67. 243 Baudis, D./Nussbaum, H., 1978, S. 76. 244 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 67. 245 Ebenda.
Tabelle 39 Industrieproduktion nach Industriezweigen 1900 bis 1913
Industrie
1900
1913
Produktionsmittel Konsumgüter Bergbau • Koks Eisen und Stahl • Roheisen • Rohstahl Chemikalien
62 72 60 40 38 46 35 30
100 100 100 100 100 100 100 100
Quelle: Kuczynski,
Tabelle 40 Anteil Deutschlands an der Weltindustrieproduktion 1870 bis 1913
(1913 = 100)
J., Bd. 4, 1967, S. 64.
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
USA
Rußland
Japan
1870 1900 1910 1913
13 16 16 16
32 18 14 14
10 7 7 6
23 31 35 36
4 6 5 6
0 1 1 1
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 4, 1967, S. 60. - In Prozent.
Während Deutschland seit 1900 seine Position hielt und die USA ihren Anteil erhöhten, verloren die alten Industriemächte England und Frankreich an Boden. Tabelle 41 Produktion von Kohle 1870 bis 1913
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
USA
Welt
1870 1900 1910 1913
34 150 222 277
110 225 264 287
13 33 39 41
30 297 448 509
219 828 1 164 1 340
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 4, 1967, S. 62. — In Mio. T o n n e n .
In der Kohlenproduktion konnte zwar Deutschland England, im Gegensatz zu Frankreich, nicht einholen, aber das Tempo, in dem Deutschland die Kohlenförderung vorantrieb, macht ein Vergleich der Ausgangspositionen Deutschlands und Englands deutlich. Hinter den USA blieb dagegen Deutschland weit zurück. Tabelle 42 Produktion von Stahl 1870 bis 1913
Jahr
Deutschland
England
Frankreich
USA
Welt
1870 1900 1910 1913
0,2 6,6 13,7 18,3
0,2 4,9 6,4 7,7
0,1 1,6 3,4 4,7
0,1 10,2 26,1 31,3
0,7 28,0 60,3 76,4
Quelle: Kuczynski,
J., Bd. 4, 1967, S. 63. — In Mio. T o n n e n .
In der Stahlproduktion eilten die USA allen anderen Ländern voraus. Doch der deutschen Stahlindustrie gelang es, nachdem 1870 Frankreich überholt war, England zu überflügeln. Die sich verstärkende Ungleichmäßigkeit der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Länder bildete eine Grundlage der besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus. Deutschland — ohne wesentlichen Kolonialbesitz —, gezwungen, zunehmend Rohstoffe zu importieren und industrielle Fertiggüter zu exportieren, fand beachtliche Rohstoffquellen und Absatzmärkte bereits von den alten Industriemächten besetzt. Deshalb drängte der deutsche Imperialismus seit dem Ende der neunziger Jahre auf die 102
N e u a u f t e i l u n g der Welt. Dies zu sehen ist auch deshalb von Bedeutung, weil die technische Entwicklung der deutschen Schwerindustrie durch den Erlaß der Flottenbaugesetze am Ende des 19. J a h r h u n d e r t s u n d anderer Rüstungsm a ß n a h m e n wesentlich beeinflußt wurde. Lagen die Militärausgaben 1890 f ü r das Heer pro Kopf der Bevölkerung bei 10,11 M und f ü r die Marine bei 0,95 M, so erreichten sie 1913 für das Heer 26,34 M und f ü r die Flotte 6,63 M.246 Betrug der prozentuale Anteil der Militärausgaben am Volkseinkommen 1890 2,5 %, so erhöhte er sich bis 1913 auf 4,5 %,247 und bis 1917 auf 61 %.248 Dieser A u f w a n d ließ in Teilen der Industrie die Verwendung modernster Produktionstechnik und den Produktionsausstoß anschwellen. Letztlich waren aber beide Faktoren nicht Ausdruck der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern der massiven Entwicklung von Destruktivmitteln, die in dem M a ß e zun a h m wie sich die parasitären Züge des Imperialismus verstärkten. Die so imposante Entwicklung in einigen Industriezweigen kann deshalb nicht o h n e Vorbehalt als Weiterentwicklung der Produktivkräfte bewertet werden, sondern sie war auf die Verschwendung u n d Vernichtung gesellschaftlicher Produktivkräfte gerichtet. Diese Erscheinung — in der Geschichte kein N o v u m — erhielt mit der Herauslösung der Rüstungsindustrie aus dem Maschinenbau in den achtziger und neunziger Jahren insofern eine neue Qualität, als dieser Verselbständigungsprozeß mit der Entstehung des Imperialismus zusammenfiel u n d die bis dahin lokal begrenzten militärischen Konflikte sich in Weltkriege verwandelten, die unter riesigem Einsatz von Kriegstechnik u n d Massenheeren geführt werden.
Bergbau Jahr (1913 = 100) 1913 1914 1918
100 84 83
Quelle: Kuczynski.
Eisen u n d Stahl
Nichteisenmetalle
Textilien
Genußmittel
Wohnungsbau
100 78 53
100 89 234
100 87 17
100 92 63
100 68 4
Tabelle 43 Produktion wichtiger Industriegruppen und -zweige
J., Bd. 4, 1967, S. 190.
Bedeutete die forcierte Weiterentwicklung der Rüstungsindustrie in der Vorkriegsperiode eine Verschwendung der ökonomischen, technischen, menschlichen und wissenschaftlichen Potenzen, so wurden die geschaffenen Destruktivkräfte im Verlauf des Krieges nicht nur zur Zerstörung gesellschaftlicher Produktivkräfte im weitesten Sinne benutzt. Die Industrieanlagen einschließlich der Rüstungsindustrie verschlissen außerordentlich schnell. Dies macht der in Tabelle 43 gegebene Index deutlich. Mit A u s n a h m e der für die Kriegsführung so bedeutsamen Nichteisenmetallproduktion gelang es keinem Industriezweig, sein Vorkriegsniveau zu halten. Die K o n s u m g ü t e r p r o d u k t i o n verfiel besonders drastisch.
246 E b e n d a , S. 18. 247 E b e n d a , Bd. 14, 1962, S. 184. 248 E b e n d a , S. 196.
103
2.2.2. Umfang und Konsequenzen der beginnenden Elektrifizierung
Tabelle 44 Zahl der Motorenbetriebe Haupt- und Nebenbetriebe und Art der genutzten Motoren einschließlich Bergbau und Baugewerbe in der deutschen Industrie 1907
249 MEW, Bd. 35, 1967, S. 444. 250 Miller, R. v., 1936, S. I I I . 251 Nussbaum, H., 1968, S. 128.
Mit der durch Deprez begründeten und in der Folgezeit weiterentwickelten effektiven Fernübertragung elektrischer Energie, der Überwindung der Schwächen der ersten Generation der Elektromotoren, vollzog sich zwar nach den Worten von Engels keine „elektrotechnische Revolution" 2 4 9 , aber für die industrielle Produktion — und nicht nur f ü r sie — entstand eine neue energetische Grundlage. Durch die Möglichkeit, Erzeugung und Verbrauch der Elektroenergie immer weiter voneinander zu entfernen, konnte Elektroenergie in jedem Landesteil profitabel genutzt werden. War im Zeitalter der D a m p f m a s c h i n e die Übertragung der Energie an den Transport der Brennstoffe gebunden, so begann sich diese Fessel nun zu lösen. Die Block- und Stadtzentralen verloren an Bedeutung. Sie wichen den sogenannten Überlandzentralen mit stark erweiterten Versorgungsgebieten. Der neue Kraftwerktyp wurde dort etabliert, wo Brennstoffe u n d Wasser vorhanden waren oder kostengünstig antransportiert werden konnten. Die Wasserkraft gewann neue Bedeutung. D e n n o c h war die Phase der Überlandwerke, die bis um 1914 datiert wird, 250 nur eine Übergangslösung zum Großkraftwerk. Erst mit dem Großkraftwerk konnten die Möglichkeiten des Ferntransportes der Energie voll ausgeschöpft und die Vorteile des Verbundsystems genutzt werden. Welche Vorzüge jedoch schon die Überlandwerke für die Elektroenergieversorgung brachten, weisen sehr deutlich die Anteile aus, die in den Jahren von 1896 bis 1915 auf Lichtstrom, Kraftstrom für das Handwerk u n d kleinere Industriebetriebe u n d auf die Großindustrie entfielen. 1896 lieferten die öffentlichen Elektrizitätswerke noch 77 % Lichtstrom und nur 23 % sogenannten Kleinkraftstrom. Bis 1915 fiel der Anteil des Lichtstroms auf 28 %, der Anteil des Kleinkraftstroms stieg dagegen auf 32 % und der des Kraftstroms für die Großindustrie auf 40 %, obwohl die Lieferungen an die Großindustrie erst 1910 eingesetzt hatten (vgl. Abb. 3). Welche Bedeutung die Werkzentralen in diesem Zeitraum besaßen, zeigen folgende Zahlen: Stieg die Gesamterzeugung von Elektroenergie in Deutschland von 60 M W im Jahre 1891 auf 10 200 M W im Jahre 1913, so fiel der Anteil der Werkzentralen von 83,5 % im Jahre 1891 nur auf 81,3 % im Jahre 1913.251 Wie zögernd der Drehstrommotor trotz seiner offenkundigen Vorzüge in die Produktion eingeführt wurde, zeigen folgende Werte: Lag die Abgabe der öffentlichen Werke für Drehstrom 1895 bei 3 % der Gesamtabgabe, so lag sie 1900 bei 15 %, kletterte bis 1910 auf 18 %, um d a n n bis 1915 auf 50 % anzusteigen. So beachtlich die Elektroenergieproduktion und die damit verbundene Zun a h m e der Elektrifizierung der Industrie auch war, so darf nicht verkannt werden, d a ß die D a m p f k r a f t absolut dominierte und andere motorische Kräfte noch eine beachtliche Rolle spielten. Tabelle 44 macht deutlich, d a ß zwar 71316 Betriebe Elektroenergie und nur 69 635 D a m p f k r a f t nutzten, aber von den 8 008 405 PS (5 926 219 kW), die in Zahl der M o t o r e n b e t r i e b e
233 360
davon: Windmotorenbetriebe Wasserkraftbetriebe Dampfkraftbetriebe Leuchtgasmotorenbetriebe
17 724 49090 69635 21941
Spiritusmotorenbetriebe Petroleummotorenbetriebe Benzin- u n d Ä t h e r m o t o r e n b e t r i e b e Heißluftmotorenbetriebe Druckluftmotorenbetriebe sonst. K r a f t m a s c h i n e n Elektrizität a
Z a h l e n in K l a m m e r n in kW. Quelle: SlDR, Bd. 214, II, 1910, S. 2 / 3 .
104
528 2250 11803 650 1098 3871 71316
PS-Leistung: 8008 405 (5 926 219) a
862467 6499602 173 057
(638 225) (4 809 705) (128062)
3 606 20931 56430 12119 94771 285422 1904702
(2668) (15488) (41758) (8968) (70130) (211 212) (1 360502)
1910 Epoche der Groß-
W ä nie
13 ,'0 5% kraftwerke
62%
20 % •
•
•
•
•
1010
•
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73%
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Verbund-
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17%
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4%
96%
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1» 1> » 1
Stadt-
100%
zentralen
IftftO
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100 % 105
3 Aufteilung der Stromabgabe für Licht, Kleinkraft, Großindustrie und Wärme in Prozenten Q u e l l e : Miller,
R.v.,
1936, S. 112
den 233 360 Motorenbetrieben der Industrie installiert waren, entfielen auf die D a m p f k r a f t 6 499 602 PS (4 809 705 kW). Dabei ist zu berücksichtigen, d a ß in Deutschland die Elektroenergieerzeugung fast ausschließlich in Wärmekraftwerken erfolgte. Geht man von der Zahl der Betriebe aus, die 1907 Elektroenergie einsetzten, so zeigt Tabelle 45 den Stand für die einzelnen Industriezweige. Tabelle 45 Zahl der Elektroenergie nutzenden Betriebe nach Zweigen 1907
Zweiga
Zahl der Betriebe
Industrie der N a h r u n g s - u n d G e n u ß m i t t e l
19653
Metallverarbeitung
9759
Industrie der H o l z - u n d S c h n i t z s t o f f e
8804
Industrie der M a s c h i n e n , Instrumente u n d A p p a r a t e
8 185
Textilindustrie
7020
P o l y g r a p h i s c h e Industrie
5006
Bekleidungsgewerbe
2145
Industrie der Steine u n d Erden
2047
Baugewerbe
1913
Papierindustrie
1587
Bergbau, Hütten- u n d S a l i n e n w e s e n , Torfgräberei
1 248
C h e m i s c h e Industrie
962
Lederindustrie u n d Industrie lederartiger S t o f f e
784
Industrie der f o r s t w i r t s c h a f t l i c h e n N e b e n p r o d u k t e , L e u c h t s t o f f e , S e i f e n , Fette, Öle, Firnisse a
673
nicht a u f g e n o m m e n w u r d e n das R e i n i g u n g s g e w e r b e u n d das künstlerische G e w e r b e .
Q u e l l e : SiDR,
Bd. 214, II, 1910, S. 2 / 3 .
Diese Werte zeigen zunächst, d a ß in den meisten elektrifizierten Betrieben relativ geringe Anforderungen an das Leistungsvermögen der Motoren gestellt wurden. Sie machen aber auch deutlich, d a ß sich der Elektromotor dort am schnellsten durchsetzte, wo — wie zum Beispiel in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, in der Holzverarbeitung usw. — eine relativ h o h e Zahl verschiedener Arbeitsmaschinen eingesetzt wurde. Schließlich — und dies ist bemerkenswert — setzte sich der Elektromotor zuerst dort durch, wo die Konzentration der Produktion relativ gering war. Wenn Elektromotoren auch im Bergund Hüttenwesen u n d in der chemischen Produktion zahlreich zu finden waren, so spricht das nicht gegen diese These, d e n n in der chemischen Industrie spielten das Röhren- und Gefäßsystem und der Dampfkessel ohne mechanische Wirkung eine ungleich größere Rolle als in anderen Industrien. Auch im Berg- u n d Hüttenwesen waren im Vergleich zur verarbeitenden Industrie nur wenige Arbeitsmaschinen eingesetzt. Vergleicht m a n dagegen die gleichen Industriezweige nach der Höhe der verbrauchten Kilowattstunden, so ergibt sich die Reihenfolge in Tabelle 46. Tabelle 46 Elektroenergieverbrauch in der deutschen Industrie nach einzelnen Industriezweigen 1907
Zweig
Kilowattstunden
Bergbau, Hütten- u n d S a l i n e n w e s e n , Torfgräberei
373290,9
Industrie der M a s c h i n e n , Instrumente u n d A p p a r a t e
260845,2
Industrie der N a h r u n g s - u n d G e n u ß m i t t t e l
141 292,2
Metallverarbeitung
129252,0
Industrie der Steine u n d Erden
91012,9
Textilindustrie
77 842,7
Industrie der H o l z - u n d S c h n i t z s t o f f e
63 898,4
Papierindustrie
53 578,5
C h e m i s c h e Industrie
51394,8
P o l y g r a p h i s c h e Industrie
40377,9
Baugewerbe
20074,9
Lederindustrie u n d Industrie lederartiger S t o f f e
19 567,8
Industrie der f o r s t w i r t s c h a f t l i c h e n N e b e n p r o d u k t e , L e u c h t s t o f f e , S e i f e n , Fette, Öle, Firnisse
16747,8
Bekleidungsgewerbe
11221,8
Q u e l l e : StDR,
106
Bd. 214, II, 1910, S. 2 / 3 .
Die Verschiebungen in der Rangfolge resultierten in erster Linie aus den verschiedenen Anforderungen, die die einzelnen Zweige an die Leistungsfähigkeit u n d damit auch an den Energieverbrauch der Elektromotoren stellten. Wenn der Bergbau und das Hütten- und Salinenwesen von Platz 11 an die erste Stelle rückten, so deshalb, weil Elektromotoren im Berg- und Hüttenbetrieb im starken M a ß e zum Antrieb von Transportmaschinen, wie Elektrolokomotiven, Fahrstühlen u n d Aufzügen verschiedener Art, eingesetzt wurden — für Zwecke also, die bedeutender motorischer Kräfte bedurften. Wenn dagegen die Bekleidungsindustrie von Rang sieben auf den letzten Platz glitt, so deshalb, weil hier Arbeitsmaschinen einen sehr geringen Kraftverbrauch hatten u n d Muskelkraft die entscheidende Rolle spielte. Beide Tabellen zeigen jedoch, d a ß der Elektromotor nur zum Teil die D a m p f k r a f t ersetzte, anderenteils der Vertiefung der Mechanisierung diente und dort — was noch zu belegen sein wird — dominierte, wo neue Betriebe entstanden oder bestehende Betriebe technisch ausgestattet wurden. D e n n o c h wies die Produktion von G a s / W a s s e r / E l e k t r i z i t ä t zwischen 1900 u n d 1913 das stärkste Wachstum unter allen Industriezweigen auf. Setzt man sie im Jahr 1900 = 100, so lag der Index des Zuwachses 1913 bei 459. Der Index f ü r die Metallerzeugung u n d die Chemie stieg dagegen nur auf 236, der der Metallverarbeitung auf 211.252 Der hohe Zuwachs im Index der Elektroenergieerzeugung beruhte darauf, d a ß diese Produktion erst im Entstehen begriffen war. Er kündet aber auch von dem stark wachsenden Bedarf an der neuen Energieform. Das Drehstromsystem von Michael Ossipowitsch von Dolivo-Dobrowolski bildete n u n m e h r die Grundlage für die Weiterentwicklung der industriellen Verwertung der Elektrizität. Bereits 1895 wurde in Berlin das erste Drehstromwerk erbaut, eine Anlage, die 1909 47 000 PS (34 780 kW) leistete. 253 Ferner wurde die Leistungsfähigkeit der Antriebsaggregate und Generatoren wesentlich erhöht. Ein Schritt auf diesem Wege war die Ablösung der Flammrohrkessel durch Röhrenkessel, die mit Überhitzer und Vorwärmer ausgestattet waren und eine beträchtliche Steigerung des D a m p f d r u c k s ermöglichten. Z u m Problem wurden aber die eigentlichen Antriebsmaschinen — die K o l b e n d a m p f m a schinen. Sie genügten immer weniger den steigenden A n f o r d e r u n g e n besonders an die Umdrehungszahlen. Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Kolb e n d a m p f m a s c h i n e n ließ zudem sowohl den Raumbedarf als auch die Anschaffungs- und Wartungskosten anschwellen. 2 5 4 Dem deutschen D a m p f m a s c h i n e n b a u gelang es zwar — nachdem für den Antrieb der Generatoren zunächst kleine, schnellaufende D a m p f m a s c h i n e n benutzt worden waren —, leistungsstärkere D a m p f m a s c h i n e n zu entwickeln. Aber die erste G r o ß d a m p f m a s c h i n e der Berliner Elektrizitätswerke des Jahres 1889, die 1 000 PS (740 kW) leistete, kam aus Belgien. Die deutschen Maschin e n b a u e r waren nicht in der Lage, G r o ß d a m p f m a s c h i n e n mit einem wirtschaftlichen Brennstoffverbrauch und dem für den Antrieb der Generatoren notwendigen gleichmäßigen G a n g zu bauen. 2 5 5 Erst am Ende des J a h r h u n d e r t s und nach dem Auszug der Elektrizitätswerke aus den Innenstädten gelang es auch deutschen Unternehmen, diesen Anforderungen durch den Bau liegender D a m p f m a s c h i n e n zu entsprechen. 2 5 6 Da D a m p f m a s c h i n e n mit einer Leistung von 1 000 PS (740 kW) schon als außerordentlich leistungsstark galten, war die weitere Verbreitung der Anwend u n g von Elektroenergie wesentlich von einem neuen Antriebsaggregat — der D a m p f t u r b i n e — abhängig. Sie zeichnete sich durch Leistungsstärke bei einem geringen technologischen, ökonomischen und räumlichen A u f w a n d aus. 257 Auch hier zeigt sich, daß die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, ganz anders als bei der D a m p f m a s c h i n e , u n a b d i n g b a r an die A n w e n d u n g solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie den ersten Hauptsatz der Thermodynamik (1892) und das Prinzip von der Erhaltung der Energie (1847), gebunden war. Die D a m p f t u r b i n e setzte die Existenz wärmebeständiger u n d fester Stahllegierungen ebenso voraus wie die Kenntnis der Eigenschaften des D a m p f e s und der Strömungsgesetze. Ihre Entwicklung war an die N u t z u n g der Thermodyna107
252 Baudis, D./Nussbaum, H., 1978, S. 58. 253 Matschoß, C.. 1909, S. 62. 254 Borchardt, K„ 1926, S. 490. 255 Matschoß, C.. 1916, S. 16. 256 Ebenda. 257 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 34.
mik im Maschinenbau und an die Fähigkeit dieses Produktionszweiges gebunden, Metall genau bearbeiten zu können. 2 5 8 Das Arbeitsprinzip der D a m p f t u r b i n e besteht darin, den D a m p f über eine Düse auf ein Laufrad einwirken zu lassen und dadurch in sehr einfacher Weise eine kontinuierliche Drehbewegung zu erzeugen. Die Umlaufgeschwindigkeit des Laufrades (Turbinenläufers) konnte vervielfacht werden. Durch die direkte K u p p l u n g der Turbinenwelle mit der Generatorwelle wurden beide Maschinenteile zum Turbogenerator verbunden. 2 5 9 Da sich die D a m p f t u r b i n e im Vergleich zur K o l b e n d a m p f m a s c h i n e preisgünstiger stellte, eine effektivere Ausnutzung der Brennstoffe gestattete und außerordentlich raumsparend war, wurde sie von den Unternehmern sofort aufgegriffen. Mit dem Einsatz der D a m p f t u r b i n e war der H ö h e p u n k t in der Entwicklung der Wärmekraftmaschinen erreicht. Etwa gleichzeitig mit der D a m p f t u r b i n e entstand die Wasserturbine, deren Arbeitsprinzip grundsätzlich dem der D a m p f t u r b i n e entsprach. Ihre Nachteile gegenüber der D a m p f t u r b i n e waren im wesentlichen mit denen identisch, die das Wasserrad gegenüber der D a m p f m a s c h i n e aufwies. 260 Wie rasch der D a m p f t u r b i n e n b a u erweitert wurde, zeigt unter anderem, d a ß die A E G 1903 mit den Vorarbeiten für den Bau einer speziellen Dampfturbinenfabrik begann. Im April 1904 nahm die Fabrik mit 365 Arbeitern die Produktion auf. 1909 waren bereits mehr als 2 000 Arbeiter in diesem Zweigwerk beschäftigt — und rund 570 Turbinen mit einer Leistung von 731 000 PS (540 000 kW) ausgeliefert. 261 Die Maschinenfabrik Nürnberg produzierte 1900/ 1901 die erste Turbine. Innerhalb der folgenden zehn Jahre konnte sie den D a m p f v e r b r a u c h ihrer Turbinen um etwa 50 % reduzieren und die Leistung auf das Z e h n f a c h e steigern. Bis 1913 stellte das U n t e r n e h m e n D a m p f t u r b i n e n mit einer Gesamtleistung von 682 030 PS (504 680 kW) her. 262 Mit der D a m p f t u r b i n e war nach der Entwicklung der Fortleitungstechnik eine weitere Bedingung für die massenhafte Produktion von Elektroenergie entstanden. Die Elektrizitätswirtschaft konnte nun die gegebenen technischen Möglichkeiten zur Elektrifizierung des Landes voll ausschöpfen. Das hieß vor allem, die Versorgungsnetze technisch auszubauen. Einen Eindruck von der Leistung der deutschen Energiewirtschaft vermitteln folgende Zahlen: Wurden 1900 von den öffentlichen Elektrizitätswerken, die zu dieser Zeit noch den geringeren Teil Strom lieferten, je Einwohner 4,4 kWh erzeugt, so stieg die Erzeugung bis 1903 auf 7,0 kWh. 1914 lag sie bereits bei 41,0 kWh. 1919 erreichte sie 80,5 kWh. 263 Bedenkt man, d a ß vor dem ersten Weltkrieg nur etwa 10 % der deutschen Haushalte an das Stromnetz angeschlossen waren, 264 d a ß in Berlin erst im Jahre 1900 die Zahl der Anschlüsse für Kraftstrom schneller zu wachsen begann als die Zahl der Anschlüsse für Lichtstrom, d a n n werden die großen Möglichkeiten deutlich, die der Elektroenergieerzeugung noch offenstanden.
258 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 296. 259 Ebenda, S. 297. 260 Ebenda, S. 299. 261 Matschoß.C., 1909, S. 68. 262 Ders., 1913, S. 285. 263 Die Elektrizitätswirtschaft im Deutschen Reich, 1934, S. 7. 264 Ebenda, S. 8. 265 Nussbaum, H., 1968, S. 137. 266 Ebenda, S. 131.
1884 wurde in Berlin die erste Blockstation in Betrieb genommen. 1911 gab es in Deutschland 2 504 Kraftwerke, 2 6 5 1913 mehr als 4 000.266 Dabei handelte es sich allerdings zu einem wesentlichen Teil um Kleinkraftwerke mit örtlicher Bedeutung. Deckte die Elektroenergiewirtschaft den Bedarf durch ihre quantitative Erweiterung, so machte sich bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Gegentendenz bemerkbar: das Großkraftwerk. Die G r ü n d u n g von Elektrizitätswerken hatte in Großstädten wie Berlin und H a m b u r g ihren Ausgangspunkt genommen. In dem M a ß e aber, in dem der Bau von Großkraftwerken technisch möglich wurde, verlagerte sich der Schwerpunkt der Elektroenergieerzeugung um die J a h r h u n d e r t w e n d e in die Industriezentren. D a d u r c h wurden nicht nur die Transportkosten für die Brennstoffe — in der Regel Steinkohle — gesenkt. In den schwerindustriellen Produktionszentren standen auch reichlich Abfallprodukte, wie minderwertige Kohle, Abgase und Gichtgase, zur Verfügung. Sie bildeten die Brennstoffbasis f ü r die Versorgung der Schächte und Hüttenwerke mit Elektroenergie. O f t reichte sie aus, um angrenzende Wohngebiete, Städte u n d Dörfer versorgen zu können. Beispiel d a f ü r ist das 1898 gegründete Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk, ein Unternehmen, in dem sich Elektroindustrie, Banken, Schwerindustrie u n d lokale Staatsgewalt mit 108
dem Ziel verbanden, die Elektroenergieversorgung — neben der Gasversorgung — für das Rheinisch-Westfälische Industriegebiet und angrenzende Territorien zu monopolisieren. 2 6 7 Ähnliches spielte sich zum Beispiel in Schlesien u n d Oberschlesien ab. Wenn die kleinen Kraftwerke nicht von den Großbetrieben, wie in anderen Teilen der industriellen Produktion, niederkonkurriert werden konnten, so deshalb, weil ein Einbrechen in das Versorgungsnetz eines anderen Elektrizitätswerkes den A u f b a u eines zweiten, sehr teuren Leitungsnetzes erfordert hätte. 268 Der Ruin der kleinen Kraftwerke konnte deshalb nur auf dem Wege des Aufkaufs durch die größeren Werke vor sich gehen. Diese Situation hemmte den Konkurrenzkampf innerhalb der Energiewirtschaft. Sie stabilisierte das Preisniveau, das nur durch die Expansion der Energieerzeugung u n d deren kontinuierliche A b n a h m e — Elektrizität kann nur bedingt gespeichert werden — zu senken war. 1886 waren in England die ersten Versuche zur Stromspeicherung mit Hilfe von Akkumulatoren u n t e r n o m m e n worden. Drei Jahre später hatte sich die deutsche Industrie diese M e t h o d e zu eigen gemacht. D e n n o c h erwies sich der Akkumulator letztlich als ungeeignet, die Elektrifizierung voranzubringen. Sein entscheidender Mangel bestand darin, d a ß er nur für die Speicherung von Gleichstrom genutzt werden konnte. Es war möglich, während des Tages die Batterien aufzuladen, um Lichtstrom für die Nacht zu speichern; es war auch möglich, dieses Aggregat als Pufferbatterie zu nutzen, um Schwankungen im Stromverbrauch auszugleichen 2 6 9 — so zum Beispiel bei Straßenbahnen, bei Aufzügen, in Walzwerken, aber auch in Warenhäusern und Theatern. Eine grundsätzliche Lösung des Problems der Elektroenergiespeicherung war auf diesem Wege aber ausgeschlossen. Deshalb unterlag die Entwicklung der Anwendung von Elektrizität zunächst einer generellen Hemmung. Erst zu Beginn des ersten Weltkrieges, als die Isolierung der einzelnen Elektrizitätswerke durch die beginnende Herausbildung des Verbundsystems zwischen den entstehenden Großkraftwerken allmählich aufgehoben wurde, bahnte sich eine Wende an. Der in ungefähr einem Vierteljahrhundert vollzogene Übergang von der ersten Blockstation zum Großkraftwerk brachte eine wesentliche Veränderung der energetischen Basis der Industrie. Dieser Wandel — dessen Grundlagen wissenschaftlich fundiert waren — bedeutete einen gewaltigen Fortschritt in der Beherrschung der N a t u r durch den Menschen u n d unter den konkreten historischen Bedingungen eine weitere U n t e r j o c h u n g des unmittelbaren Produzenten unter die kapitalistisch angewandte Produktionstechnik. Doch gerade die beginnende Elektrifizierung der Volkswirtschaft drängte auf die gesellschaftliche Regulierung der Elektroenergieerzeugung, Verteilung und Anwendung. Die kapitalistische Gesellschaft entsprach diesem Drang: Die Elektroindustrie blieb zwar nach wie vor privat — wenn auch in der Regel als Aktiengesellschaft und Konzern organisiert. Aber die Erzeugung der Elektroenergie beruhte von vornherein auf der Kooperation von K o m m u n e n und dem entstehenden Finanzkapital — zum Teil sogar direkt auf öffentlichem Eigentum. Deshalb stellte die Elektroenergieerzeugung einen Ausgangspunkt für die Herausbildung staatsmonopolistischer Formen der Leitung u n d Lenkung der Produktion dar.
267 268 269 270
Dehne, G., 1925, S. 18 ff. Nussbaum, H., 1968, S. 133 ff. Hoppe, E., 1909, S. 170 f. Gross, A. Th., 1936, S. 133.
Sowohl die elektroenergieerzeugende Industrie als auch die Elektroindustrie waren Ausgangspunkte der Massenproduktion. Die Spezifik ihrer Produktion drängte nicht nur zum Massenabsatz ihrer Erzeugnisse, sondern ihre Erzeugnisse mußten von einer gewissen Vereinheitlichung, von der Normierung ausgehen. Wie die Elektroenergieerzeugung von den neunziger Jahren bis zu Beginn des ersten Weltkrieges stieg, wurde bereits gezeigt. Folgerichtig wuchsen die Anforderungen an die Erzeugung von Kabeln und Installationsmaterial, an die Quantität u n d Qualität der Glühlampenerzeugung und die Produktion von Elektromotoren. 1911 betrug der mittlere Stromverbrauch in Berlin pro Einwohner 170 kWh, in Chicago dagegen 310 kWh, in London allerdings nur 110 kWh. 270 1913 überschritt die Jahreshöchstleistung der Berliner Elektrizitätswerke erstmals 100 000 kWh. Zwei Jahre später bezogen bereits 20 % der Orte 110
in Deutschland Strom, das heißt auch, 75 % der deutschen Bevölkerung wurde mit Strom versorgt.271 Produzierte die AEG 1890/91 eine Million Glühlampen, so stellte sie zehn Jahre später bereits zehn Millionen her.272 Analoge Entwicklungstendenzen zeigten sich in der Elektromotorenproduktion. Die Leistungsaufnahme der Elektromotoren in Industrie und Handwerk wird für 1907 mit rund 1 515 000 kWh beziffert, was einer PS-Leistung von mehr als 2 Mio. PS entspricht. 273 Der Nachfrage nach Elektromotoren konnte nur durch die Normierung der Motorenteile und den Übergang zur Serienfertigung, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzogen wurde, entsprochen werden. 274 Allein die 1897 erbaute Elektromotorenfabrik der AEG produzierte jährlich etwa 30 000 Elektromotoren, deren Leistung zwischen 0,5 PS (0,37 kW) und 6 PS (4,44 kW) lag. Mit der Serienproduktion von Elektromotoren, aber auch von Transformatoren und anderen Elektromaschinen, schuf die Elektroindustrie Grundbedingungen für den Übergang zur Serienfertigung auch in anderen Teilen der Industrie. Die Massenproduktion industrieller Güter war an sich keine neue Erscheinung. Man denke an die Textilproduktion, die Gewinnung von Kohle, Eisen und Stahl, aber auch an die Produktion von Chemikalien, an militärische Ausrüstungen und an Teile des Schwermaschinenbaus. Dabei muß gesehen werden, daß diese Formen der Massenproduktion zum Beispiel im Bergbau auf dem massenhaften Einsatz von Arbeitskräften beruhten, während sich die Massenproduktion in der Stahl- und Chemikalienerzeugung vorrangig auf die industrielle Anwendung chemischer und thermischer Verfahren im Rahmen eines gewaltigen Röhren- und Gefäßsystems stützte. Lediglich in Teilen der Leichtindustrie, des Schwermaschinenbaus und in der Rüstungsproduktion spielte die Arbeitsmaschine eine bedeutende Rolle. Der qualitative Wandel, den der Elektromotor für die industrielle Produktion brachte, bestand zunächst darin, daß er eine Bewegungsmaschine darstellte, die fast unbegrenzt mobil war. Industrie und Handwerk konnten sich nun einer motorischen Kraft überall dort bedienen, wo die Dampfkraft ökonomisch — auch zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Räumlichkeiten — nicht vertretbar gewesen wäre. Deshalb setzte mit dem Elektromotor eine neue Mechanisierungswelle ein.275 Zum anderen war der Elektromotor eine sehr effektive Bewegungsmaschine. Er konnte im Gegensatz zur Dampfmaschine zu jedem beliebigen Zeitpunkt und an jedem beliebigen Ort in Betrieb gesetzt werden. Seine geringen Abmessungen gestatteten die Mechanisierung der Fertigung auch dort, wo bis dahin die Arbeitsmaschine keinen Zugang gefunden hatte. Der starke Impuls, der vom Elektromotor ausging, bestand darin, daß er, ohne die materiell-technische Basis des Kapitalismus zu sprengen, der industriellen Produktion neue Möglichkeiten eröffnete. 276 Das in der Industriellen Revolution entstandene dreigeteilte Maschinensystem (Arbeitsmaschine — Transmissionen — Antriebsmaschine) wuchs nunmehr zu einem geschlossenen Aggregat zusammen. Die neue Antriebsmaschine löste die Arbeitsmaschine aus ihrer Abhängigkeit von der Dampfmaschine und der Störanfälligkeit der Transmissionen. Der Elektromotor brachte daher nicht nur einen rigorosen Abbau der mit der Verlängerung der Transmissionen ständig wachsenden Energieverluste durch die Reibung. Er erlaubte durch seine relative Standortungebundenheit die räumliche Erweiterung des betrieblichen Produktionsprozesses, die Vertiefung der innerbetrieblichen Arbeitsteilung und damit die Erhöhung der Arbeitsproduktivität. 277 Die Zerlegung der Arbeitsoperationen war bis dahin, bedingt durch den Dampfmaschinenbetrieb und die damit verbundenen Transmissionen, an die ersten Grenzen ihrer Ausdehnungsfähigkeit gestoßen. Das herrschende Werkstattprinzip, das in der Phase des zentralen Dampfkraftantriebs üblich war, faßte zahlreiche gleichartige Arbeitsmaschinen räumlich zusammen. Die Arbeitsmaschinen waren über eine Transmissionswelle mit der Antriebsmaschine verbunden. Dieses System erforderte nicht nur einen umfangreichen innerbetrieblichen Transport der Werkstücke, sondern beschränkte die Möglichkeiten der Zergliederung der Arbeitsoperationen. Durch die Einführung des Elektro111
271 Ebenda. 272 Matschoß. C.. 1909, S. 63. 273 Die Elektrizitätswirtschaft Deutschen Reich, 1934, S. 8. 274 Geyer, W., 1926, S. 274. 275 Rübberdt, R., 1972, S. 102. 276 Sonnemann, R./Richter, 1974, S. 41. 277 Ebenda.
S„
278 Mottek, A./Becker, W./Schröter, A„ 1975, S. 29. 279 Malschoß, C./Schlesinger, G„ 1930, S. 37. 280 Barth, E., 1973, S. 95. 281 Mensch,G., 1975, S. 161. 282 Matschoß, C„ 1909, S. 60. 283 Sterner-Rainer, R., 1924, S. 124.
motors, der die Mobilität des Antriebs vergrößerte, erhöhte sich die Mobilität der Arbeitsmaschinen. An die Stelle des Werkstattprinzips trat immer stärker die erzeugnisgebundene Fertigung. Sie ging bei der A n o r d n u n g des Maschinenparks von den für die Herstellung eines E n d p r o d u k t s notwendigen Arbeitsoperationen aus. An die Stelle der räumlichen Konzentration gleichartiger Maschinen trat die räumliche Konzentration von verschiedenen Spezialmaschinen, an denen die arbeitsteilig bedingten Arbeitsoperationen ausgeführt werden. Damit waren erste Grundlagen f ü r die Einführung des Fließbandes gelegt. Zwar lassen sich mit dem beginnenden Jahrhundert immer zahlreichere Beispiele für die erzeugnisgebundene Fertigung finden und Ansätze zur Fließb a n d p r o d u k t i o n aufspüren, aber erst im Verlauf des ersten Weltkrieges nahm die Fließbandproduktion festere Gestalt an. Die Marktbedingungen in Deutschland verboten — ganz anders als in den USA — ein rasches Vordringen der mechanischen Fließfertigung. Deshalb sind die beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Übergangsphase vom D a m p f m a s c h i n e n a n t r i e b zum elektrischen Einzelantrieb, eine Phase, in der der Elektrogruppenantrieb — nach dem Zentralantrieb — dominierte. Der G r u p p e n a n t r i e b faßte bestimmte Maschinengruppen zusammen u n d ersetzte die D a m p f m a s c h i n e durch einen oder mehrere Elektromotoren. D a d u r c h wurde zunächst die Verkleinerung der Produktionseinheiten ermöglicht. Die Verluste an Antriebsenergie, die bei den traditionellen Transmissionen zwischen 60 und 80 % lagen, konnten verringert werden. 278 Vor allem aber reduzierte der elektrische G r u p p e n a n t r i e b den durch die Entwicklung des Werkzeugmaschinenbaus entstandenen Widerspruch zwischen der möglichen Arbeitsgeschwindigkeit der Arbeitsmaschinen u n d der begrenzten Arbeitsgeschwindigkeit der D a m p f m a s c h i n e n . Z u m anderen waren mit Elektroantrieb ausgestattete Betriebe des Maschinenbaus insofern im Vorteil, als durch den um die J a h r h u n d e r t w e n d e a u f k o m m e n d e n Schnellstahl die Schnittgeschwindigkeiten stark erhöht werden konnten, wenn die Konstruktion der Arbeitsmaschinen sich als ausreichend erwies. Hatte das schon mehrfach zitierte Berliner M a s c h i n e n b a u u n t e r n e h m e n Ludwig Loewe bereits 1889/90 die ersten Elektromotoren, gespeist aus dem öffentlichen Netz, 279 eingesetzt, so ging das aus einer eigenen Kraftzentrale versorgte Unternehmen 1896 zum G r u p p e n a n t r i e b über. 280 Der Elektroantrieb dehnte sich seit der J a h r h u n d e r t w e n d e stetig aus, und die Elektroenergie spielte im innerbetrieblichen Transport, besonders durch den Einsatz elektrisch betriebener Hebezeuge eine wachsende Rolle. Die Verfügbarkeit großer Mengen Elektroenergie ermöglichte die Entstehung der Aluminiumindustrie. Diese Industrie, b e r u h e n d auf einer etwa 100 Jahre währenden wissenschaftlichen Arbeit (vgl. 6.4.), auf deren Basis es schon Robert Bunsen 1854 gelang, Aluminium herzustellen, wurde von Paul-Louis Heroult begründet. Er setzte 1887 einen K a t h o d e n o f e n zur industriellen Produktion des Aluminiums auf elektrolytischem Wege ein. 281 G e b u n d e n war jedoch die Aluminiumherstellung an einen hohen Entwicklungsstand der Elektroenergieerzeugung. Da Elektroenergie im Gegensatz zur D a m p f k r a f t nicht nur auf thermodynamischem Wege, sondern auch durch die Nutzung kinetischer Energie gewonnen werden konnte, entwickelte sich die Aluminiumproduktion dort am günstigsten, wo genügend Wasserkräfte vorhanden waren (vgl. 5.). Die Investitionskosten f ü r Wasserkraftwerke lagen zwar über denen der Wärmekraftwerke, aber in Wasserkraftwerken konnte die Elektroenergie profitabler erzeugt werden. Deutschland verfügt über ungleich weniger Wasserkraft als zum Beispiel die USA, Norwegen und Italien. Die Entwicklung der Elektroindustrie, des Luftschiff- und U-Bootbaus, der Kraftfahrzeugproduktion und des Flugzeugbaus führten dennoch zur Begründung einer Aluminiumproduktion. Bereits 1888 begann die A E G , sich die entstehende Elektrochemie zu erschließen. Sie gründete — gemeinsam mit dem Bankkapital — die AluminiumIndustrie-A. G. in N e u h a u s e n in der Schweiz und kaufte in Gastein (Österreich) Wasserkräfte auf. 282 Die deutsche Aluminiumproduktion erlangte jedoch bis in den ersten Weltkrieg hinein keine größere Bedeutung 2 8 3 — obwohl Alumi112
nium sich durch geringes Gewicht, große Widerstandsfähigkeit gegen Temperatur, Feuchtigkeit usw. auszeichnet und Aluminiumlegierungen bei Erhaltung dieser Grundeigenschaften große Festigkeit und Härte aufweisen. Die deutsche Industrie deckte ihren Aluminiumbedarf zunächst durch Importe. Gleichzeitig war man aber sehr bemüht, die wissenschaftliche Durchdringung dieser Produktion voranzutreiben. 1909 nahm das Dürener Metallwerk zum Beispiel die Produktion des Duraluminiums auf, das in der Zentralstelle für wissenschaftliche Untersuchungen in Neubabelsberg entwickelt worden war. Duraluminium war durch sein geringes Gewicht bei hoher Festigkeit für den Luftschiffbau, den Motorenbau, die Kraftfahrzeugindustrie und den Geräte- und Apparatebau von großer Bedeutung. Ähnlich wie die chemische Technologie in die industrielle Produktion eindrang, gewann seit der Wende von den neunziger Jahren zum 20. Jahrhundert die Elektrizität immer mehr an Bedeutung, wobei die Grenzen zwischen Chemie und Elektrizität zu verschwimmen begannen. Man denke dabei an den 1892 entwickelten Acetylenbrenner zum Schweißen, 284 an das 1886 geschaffene Verfahren des Widerstandsschweißens, 285 , an das Lichtbogenschweißen, das 1898 patentiert wurde, 286 an das Induktionsschweißen. 287 Aber auch die elektrische Prüf- und Meßtechnik, die sich in diesen Jahrzehnten herausbildete, oder die zahlreichen medizinischen Geräte und Wärmegeräte, die in dieser Zeit entstanden, gehören zu diesem Komplex. 288 Durch diese Entwicklungen wurden die Elektroindustrie und die Elektroenergiewirtschaft im Bunde mit der chemischen Industrie und dem Verbrennungsmotorenbau zur Grundlage der Weiterentwicklung der materiell-technischen Basis. Sie steigerten die Anforderungen an die bestehenden Industrien, veränderten gleichzeitig nachhaltig deren Grundlagen und schufen Voraussetzungen zur Entstehung neuer Produktionszweige. 289 Welche Bedeutung innerhalb dieses Verschmelzungsprozesses die Elektrotechnik und die Elektroenergieerzeugung erlangten, drückt das Wachstum beider Zweige aus. Beschäftigte die Elektroindustrie 1875 in 80 Unternehmen 1 150 Arbeitskräfte, so arbeiteten in diesem Zweig 1913/14 bereits 200 000 Arbeitskräfte. 290 Für das Ausmaß der wissenschaftlichen Durchdringung der Elektroenergieerzeugung durch die Beschäftigung wissenschaftlicher Kader liegen keine durchgehenden Werte vor. Die Beschäftigtenstruktur zum Beispiel der Berliner Elektrizitätswerke am Ende des Jahrhunderts erlaubt aber einen gewissen Einblick. Das Personal des Unternehmens rekrutierte sich aus 334 Arbeitern, 30 kaufmännischen Angestellten, sowie aus sieben Betriebsleitern und 60 technischen Angestellten. 291 Wurde die AEG mit sechs Beamten gegründet, 292 so bestand zu Beginn des Jahrhunderts der Vorstand des Aufsichtsrates der AEG aus jeweils drei Ingenieuren und drei Ökonomen. Den einzelnen Fabriken standen jeweils ein Techniker und ein Ökonom als Direktoren vor. 1906 arbeiteten bei der AEG 6 427 Beamte. Davon waren 3 935 in Berlin tätig, 940 in den inländischen Ingenieurbüros und 1 552 in Ingenieurbüros im Ausland. 293 Diese Zahlen zeigen sowohl das quantitative Wachstum des Unternehmens als auch die hohe Zahl der technischen Angestellten. Betrachtet man die elektrotechnische Industrie im weitesten Sinne unter dem Aspekt des in ihr investierten Kapitals, so wird gleichfalls ihre gewaltige Entwicklung und zentrale Stellung deutlich. Betrug 1896 allein das Aktienkapital in der elektrotechnischen Industrie und in der Elektroenergieerzeugung rund 240 Mio. M, so stieg es bis 1907 auf etwa 1 186 Mio. M.294 Damit nahm das Aktienkapital in der Elektroindustrie und der Elektroenergieerzeugung 1907 — nach dem Aktienkapital der Banken von etwa 3 560 Mio. M und dem der Schwerindustrie mit etwa 2 674 Mio. M — die dritte Position ein.295
284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295
113
Mensch, G., 1975, S. 157. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Rübberdt.R., 1972, S. 106. Baudis, D./Nussbaum, H., 1978, S. 58. Rübberdt, R., 1972, S. 104. StDR, Bd. 119,1899, S. 162. Matschoß, C„ 1909, S. 68. Ebenda. Baudis, D./Nussbaum, H„ 1978, S. 58. Ebenda.
2.2.3. Der Wandel in den Arbeitsmitteln, Arbeitsgegenständen und technologischen Verfahren in den bestimmenden Industrien
2.2.3.1. Die Stabilisierung der materiell-technischen Basis des Monopolkapitalismus
296 Vgl. Kuczynski, J., Bd. 15, 1963, S. 49. 297 Sonnemann, R./Richter, 5., 1974, S. 41. 298 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 64. 299 Krupski, Fr., 1926, S. 13. 300 E b e n d a , S . U . 301 Ebenda. 302 Qeitel, M., Bd. 2, 1908/09, S. 286. 303 Ebenda.
Die Entwicklung der Produktivkräfte unter dem Eindruck der kapitalistischen Rationalisierung einschätzend, stellte die Kommunistische Internationale im September 1928 fest: „Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Technik der kapitalistischen Länder einen bedeutenden Aufschwung durchgemacht hat, der in einigen von ihnen . . . den Charakter einer technischen Umwälzung annimmt. Die riesige Zahl der Verbrennungsmotoren, die Elektrifizierung, ausgedehnte Anwendung der Chemie in der Industrie, die neuen Methoden der synthetischen Gewinnung von Heizmaterial und Rohstoffen (Benzin, Kunstseide usw.), die Verwendung von Leichtmetallen, die große Entwicklung des Autotransportwesens auf der einen, und die mit der ungewöhnlich raschen Entwicklung des Fließbandsystems verbundenen neuen Formen der Organisation der Arbeit auf der anderen Seite haben die Produktivkräfte des Kapitalismus enorm gesteigert." 296 Die Grundlagen dieses in den zwanziger Jahren erreichten Niveaus der Produktivkräfte entstanden, wenn auch noch zaghaft, zum Teil schon im vormonopolistischen Kapitalismus. Sie stabilisierten sich jedoch vor allem im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, denn erst jetzt wurden die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technik und Produktion so intensiv, daß die Wissenschaft erstmals in der Geschichte der Produktivkräfte nachhaltig wirksam wurde. 297 Zum anderen trat — bedingt durch die Entfaltung der Verwissenschaftlichung der Produktion — eine starke Verquickung der einzelnen Industriezweige ein, veränderte sich die Struktur der Industrie, trat die wissenschaftliche Betriebsführung durch die Umsetzung der Vorstellungen Taylors in den Ford-Werken als produktionswirksamer Faktor auf, entstanden wissenschaftlich fundierte Industrien. Elektrifizierung, Chemisierung und Motorisierung wurden neben den Großbetrieben zu den die weitere Entwicklung der Produktivkräfte, aber auch der Destruktivkräfte, bestimmenden Faktoren. Die chemische Industrie, die um die Jahrhundertwende den Übergang zur Großchemie einleitete und in weitere Bereiche der industriellen und agrarischen Produktion vordrang, konnte ihre Produktion zwischen 1900 und 1913 etwa verdreifachen. 298 Lag die Leistung der Kraftmaschinen in der chemischen Industrie 1895 mit 84 000 PS (62 160 kW) weit unter der der anderen Industriezweige, so stieg sie bis 1907 auf 193 000 PS (142 820 kW). Damit verblieb die chemische Industrie zwar weiterhin an letzter Stelle, aber die Steigerung verlief besonders rasch. Gleiches gilt für die Zahl der Arbeitskräfte, die zwischen 1895 und 1907 von 101 000 auf 175 000 stieg.299 In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß die Zahl der Beamten — und zu ihnen zählen nicht nur die kaufmännischen Angestellten, sondern auch die Wissenschaftler und Techniker — in der chemischen Industrie des Jahres 1907 mit 19,7 % aller Beschäftigten besonders hoch war und nur vom Maschinenbau mit 19,8 % und der Maschinenindustrie mit 26,5 % übertroffen wurde. 300 Dem hohen Anteil kaufmännischer, wissenschaftlicher und technischer Kader stand, gemessen an anderen Industrien, mit 10,5 % ein extrem niedriger Facharbeiteranteil gegenüber. 301 Diese Verhältnisse sind durch die Spezifik der chemischen Produktion zu erklären. Sie schuf Erzeugnisse, die auf wissenschaftlicher Forschungsarbeit beruhten, deren Erkenntnisse von Wissenschaftlern und Technikern in die Produktion technologisch umgesetzt wurden. Die Produktion selbst gründete sich auf Leistungen von Wissenschaftlern, Technikern und Facharbeitern des Maschinen- und Apparatebaus. Für große Teile der Beschäftigten in der chemischen Industrie blieb deshalb vor allem die Versorgung und die Entsorgung sowie die Pflege der Anlagen. Eine Vorstellung von der Größenordnung einiger chemischer Unternehmen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vermitteln folgende Werte: Das Unternehmen von Friedrich Bayer, gegründet 1863, umfaßte 1907 Betriebe in Elberfeld, Barmen-Rittershausen, Leverkusen, Schelploh und in Frankreich — und es beschäftigte 1 200 Beamte und 5 000 Arbeiter. 302 Eine ähnliche Entwicklung nahm die Aktiengesellschaft für Anilinfarben in Berlin, die 1873 gegründet wurde und neben Fabriken in Berlin Zweigwerke in Greppin, Frankreich und Moskau besaß. Sie beschäftigte 230 Beamte und 1 700 Arbeiter. 103 114
29 I n d i g o l a b o r a t o r i u m der BASF, Ludwigshafen
Ein genaueres Bild bieten Quellen zur Entwicklung der Badischen Anilinu n d Sodafabrik. 1907 beschäftigte das Unternehmen, dem zu diesem Zeitpunkt Zweigbetriebe in Frankreich und Rußland angeschlossen waren, mehr als 8 000 Arbeiter, 918 k a u f m ä n n i s c h e Angestellte, 142 Ingenieure und 217 Chemiker. Der Kohlenverbrauch lag bei etwa 355 0001, der jährliche Wasserverbrauch bei etwa 46 Mio. m \ der Eisverbrauch bei 12 Mio. kg. Eine eigene Gasfabrik lieferte etwa 22 Mio. m 3 Gas. Die technischen Grundlagen des Betriebes bildeten 158 Dampfkessel mit einer Heizfläche von 26 072 m 2 , 386 D a m p f m a s c h i n e n mit einer Leistung von 24 369 PS (18 033 kW), 13 D y n a m o m a s c h i n e n mit einer Leistung von 9 000 PS (6 660 kW) zum Betrieb von 472 Elektromotoren u n d zur Speisung von 1 336 Bogenlampen u n d 20 044 Glühlampen. 3 0 4 Die gewichtige Z u n a h m e der technischen Ausstattung der chemischen Großbetriebe bildete einen wesentlichen Faktor zur weiteren Entfaltung der chemischen Industrie. Der Maschinen- und der Apparatebau hatten sich auf die Bedürfnisse der chemischen Industrie eingestellt. Sie waren in der Lage, dem Mitte der neunziger Jahre auftretenden Trend in der chemischen Industrie, nur genormte Röhren, Ventile, Kessel, Behälter usw. zu verwenden, ohne Schwierigkeiten zu entsprechen. Verschiedene Rührwerkformen mit wechselnden Laufgeschwindigkeiten wurden ebenso geliefert wie Trockenanlagen, feuerfeste Behälter, Großförderanlagen, Zisternen und Röhrensysteme. Auch f ü r den Bau von Siebvorrichtungen, Granulierungsanlagen, Mischund Knetmaschinen, mechanischen Tablettenpressen usw. lagen ausreichende Erfahrungen vor. Die Elektroenergie gewann nicht nur durch die Verwendung von Lichtstrom und die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts beginnende Ersetzung der kleinen u n d mittleren D a m p f m a s c h i n e n durch Elektromotoren an Bedeutung, sondern durch die Elektrolyse, die zu einem wesentlichen Element der chemischen Produktion wurde. In Verbindung damit gelang es auch, die Herstellung der Elektrodenkohlen zu verbessern. N o c h vor dem ersten Weltkrieg lösten hydraulische Pressen die bis dahin verwendeten Walzen ab, wie auch die Vorbrand- u n d H o c h b r a n d ö f e n durch Ringöfen ersetzt wurden. Im Jahre 1900 gelang es erstmals, Phosphor in Elektroofen herzustellen. Ein zweiter G r u n d für die positive Entwicklung der chemischen Produktion war die Zielstrebigkeit der wissenschaftlichen Forschung in den Unternehmen. Während in den Laboratorien der Industrie jede Idee schnell aufgegriffen u n d gründlich auf eine industrielle Verwertbarkeit geprüft wurde, verblieb die G r u n d l a g e n f o r s c h u n g an den Hochschulen u n d Universitäten. 105 England u n d Frankreich hatten dagegen der Forschung weniger Aufmerksamkeit geschenkt u n d ihre Führungspositionen an Deutschland abgeben müssen. England geriet immer stärker in die Stellung eines Rohstofflieferanten der deutschen chemi-
304 E b e n d a . 305 Beer, J. J., 1975, S. 112 f.
306 Ebenda, S. 113. 307 Mottek, H./Becker, W./Schröter.A., 1975, S. 64. 308 Liiley, S., 1976, S. 155. 309 Mahr, O., 1938, S. 185. 310 Mensch, G., 1975, S. 160. 311 Mahr, O., 1938, S. 185. 312 Beer, J. J., 1975, S. 113. 313 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 25. 314 Sworykin, A. A./Osmowa, N.l. u. a., 1967, S. 288. 315 l.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft. Werk Griesheim, 1938, S. 99 f. 316 Sworykin, A. A./Osmowa, N.L u. a., 1967, S. 284.
sehen Industrie und des Abnehmers von deutschen Farbstoffen, pharmazeutischen Produkten und fotochemischen Erzeugnissen. 306 Die deutschen Chemiekonzerne — sie stellten die typische M o n o p o l f o r m dieses Zweiges dar — hatten bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e die traditionellen Führungsländer in der chemischen Produktion überholt, und es gelang ihnen, bis zum ersten Weltkrieg den Abstand weiter zu vergrößern. Auch innerhalb der deutschen chemischen Produktion vollzog sich ein Wandel. Der Erfolg der chemischen Industrie in Deutschland beruhte wesentlich auf den Fortschritten, die ausgehend von der Teerfarbenproduktion erzielt worden waren. D e n n o c h herrschte bis zur J a h r h u n d e r t w e n d e die auf der anorganischen Chemie b e r u h e n d e Produktion, wie Soda, Schwefelsäure usw. vor. Nach der J a h r h u n d e r t w e n d e begann dagegen die Produktion von Farben, Ammoniak, pharmazeutischen Erzeugnissen, des Kohlenwasserstoffs und selbst von synthetischen Fasern zu dominieren. 3 0 7 Die im 19. J a h r h u n d e r t neu entstandenen wissenschaftlichen und technologischen G r u n d l a g e n der chemischen Produktion wurden in den Konzernen wirksam. Zu den hervorstechendsten Leistungen der Farbchemie (vgl. 6.4.) gehörte die 1897 nach mehr als dreißigjähriger Forschung gelungene Herstellung des synthetischen Indigos, eines Farbstoffes, der in kürzester Zeit den natürlichen Farbstoff verdrängte. 308 Seine Produktion war vor allem auf die Farbwerke Höchst und die BASF konzentriert. 309 In der Kunstfaserproduktion trat neben die Kunstseide aus Naturzellulose (1884) u n d die Produktion von Nitrozellulosekunstseide (1890) seit 1898 die Herstellung der bereits 1890 entwickelten Kupferkunstseide. 3 ' 0 Zu den Neuentwicklungen der pharmazeutischen Industrie gehörten unter anderem die industrielle Herstellung des Salvarsans (1910) u n d des Neosalvarsans (1912). Neben diesen positiven Leistungen der chemischen Industrie entstanden zur gleichen Zeit nicht nur Verfahren zur Erzeugung künstlichen Nebels für militärische Zwecke, 3 " sondern Giftgase, die zu verheerenden Verlusten an Menschen u n d auch Tieren während des ersten Weltkrieges führten. Handelte es sich hier um quantitative und qualitative Weiterentwicklungen grundsätzlich bekannter Produktionsverfahren u n d wissenschaftlicher G r u n d lagen, so führte die Entwicklung neuer Techniken in anderen Produktionszweigen zu neuen Anforderungen an die chemische Industrie. Beispielsweise verursachte die Entwicklung in der feinmechanisch-optischen Industrie einen wachsenden Bedarf an fotochemischen Erzeugnissen. 312 Umgekehrt führte die Ausbreitung elektrochemischer Verfahren in der Metallurgie, etwa die Entwicklung hochlegierter Stähle oder des Aluminiums, zu neuen Anforderungen an den Maschinenbau. 3 1 3 Zu deren Lösung trug wiederum die Chemie insofern bei, als sie die theoretischen G r u n d l a g e n für das autogene Schweißen u n d das Brennschneiden schuf. 314 Mit der Verbreitung der Elektrolyse von Chloralkalien entstand zu Beginn des Jahrhunderts ein so hoher Anfall an Wasserstoff, d a ß ihn die Luftschiffahrt und Kleinabnehmer nicht zu absorbieren vermochten. Ausgehend von der Behälterlötung in den Chemieunternehmen arbeitete man in Deutschland, Frankreich und England fast gleichzeitig an der Entwicklung von Wasserstoff- und Acetylen-Schweißbrennern, denen autogene Schneidbrenner folgten. Diese Schneidbrenner, die auch die Bearbeitung schwer schmelzbarer metallischer Werkstoffe ermöglichten, wurden zunächst mit der H a n d geführt. U m die dadurch bedingten Ungenauigkeiten auszuschalten, wurden zwischen 1906 und 1914 zahlreiche Führungsmaschinen entwikkelt, die die Einsatzmöglichkeiten der Schneidbrenner bei erhöhter Leistung u n d Qualität erweiterten. 315 Die chemische Industrie entsprach dem Bedarf nach Schwefelsäure durch die Weiterentwicklung des Bleikammerverfahrens, durch das effektivere Turmverfahren u n d das Kontaktverfahren. 3 1 6 Die Produktion von G u m m i u n d die Petrolchemie, nicht zuletzt durch die Kraftfahrzeugproduktion, und die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft gewannen insofern an Bedeutung, als dadurch technologische G r u n d l a g e n für Teilbereiche der chemischen Industrie gelegt wurden, die für die Weiterent116
wicklung der Produktivkräfte erst längerfristig außerordentlich große Wirkungen hatten. 317 Mit der Entwicklung von Verbrennungsmotoren als Antriebsaggregate in Industrie und Landwirtschaft, aber auch im Kraftfahrzeugverkehr, erlangte das Benzin — bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Abfallprodukt der Petrolchemie — an Bedeutung. Der Weltbedarf an Benzin, der 1902 mit 3 267 t beziffert wurde, stieg bis 1912 auf 376 000 t318 — obwohl die Benzolgewinnung bis 1913 auf dem Wege der einfachen Destillation vor sich ging u n d sowohl die Ausbeute als auch die Qualität dieses Brennstoffes außerordentlich niedrig waren. 319 Die Industrie hatte noch wenige Einsatzgebiete f ü r Schwerbenzol, u n d auch der Verwendung des Benzols als Kraftfahrzeugtreibstoff waren enge Grenzen gesetzt, da die Kraftfahrzeugmotoren vor dem ersten Weltkrieg nur bedingt mit diesem Brennstoff arbeiten konnten. 3 2 0 Deshalb mühten sich über Jahrzehnte Wissenschaftler in Europa, besonders aber in den USA, um die Verbesserung der Technologie. 1913 gelang schließlich in den USA die thermische Erdölspaltung nach dem sogenannten Crack-Verfahren. Es beruhte auf der Spaltung hochsiedender Kohlenwasserstoffmoleküle bei h o h e m Druck und h o h e n Temperaturen. 3 2 1 Dieses zuerst 1916 in den USA industriell verwertete Verfahren verdoppelte die Ausbeute des Erdöls, verbesserte die Qualität des Benzins und schuf für den Kraftverkehr zunächst eine stabile Treibstoffbasis. Nicht minder bedeutend waren die Arbeiten des deutschen Chemikers Fritz Haber — dessen N a m e allerdings mit der Giftgasproduktion verbunden ist — für die großtechnische Synthese von Ammoniak. H a b e r entwickelte 1909 die Ammoniaksynthese und damit die Stickstoffgewinnung aus der Luft. Dieses Verfahren, bereits 1909 von der BASF großtechnisch eingesetzt, führte zu Qualitätsverbesserungen und zu einem solchen Preisverfall, d a ß die Kokereien, die seit dem Beginn des J a h r h u n d e r t s verdichtetes Ammoniakwasser hergestellt hatten, diese Produktion aufgaben. 3 2 2 Mit dem Haber-Bosch-Verfahren waren die G r u n d l a g e n f ü r die kontinuierliche G r o ß p r o d u k t i o n in der Chemie gelegt, einer G r o ß p r o d u k t i o n , von der gewichtige Impulse sowohl für die Metallurgie, den Maschinen- und A p p a r a t e b a u als auch für die Energiewirtschaft ausgingen. Die kontinuierliche chemische G r o ß p r o d u k t i o n , die mit hohen Drücken arbeitete, verlangte größere chemotechnische Anlagen von hoher Qualität. Z u m anderen konnte sich die Großchemie nur d a n n entwickeln, wenn die Elektrotechnik sich als fähig erwies, dieser energieintensiven Produktion zu entsprechen. Die Beziehung zwischen der Entwicklung zur Großchemie und dem um 1910 einsetzenden Übergang von sogenannten Überlandwerken zu G r o ß k r a f t w e r k e n und der beginnenden Verbundwirtschaft ist offenkundig. Die Herausbildung der chemischen Industrie als Fabrikindustrie war bereits in der Industriellen Revolution erfolgt; ihre Weiterentwicklung zum Großbetrieb im vormonopolistischen Kapitalismus verlief mit dem Beginn der Teerfarb e n p r o d u k t i o n auf einer wohlfundierten naturwissenschaftlichen Basis. Diese Grundlage konnte nur erhalten und ausgebaut werden, weil in der chemischen Produktion — ähnlich wie in der Elektroindustrie — schon zu Beginn des Übergangs zum Monopolkapitalismus der Konzern, diese kapitalkräftige u n d unter einer einheitlichen Leitung stehende M o n o p o l f o r m , in der chemischen Produktion dominierte. Wesentlich anders stellt sich die Herausbildung der feinmechanisch-optischen Industrie dar. Sie entstand erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bis dahin herrschte der Klein- und Mittelbetrieb vor. Die Zahl der in dieser Industrie Beschäftigten war außerordentlich gering. 1895 waren in der feinmechanisch-optischen Industrie nur 17 941 Personen tätig. Davon arbeiteten 74,4 % in Unternehmen bis zu 50 Beschäftigten. Bis 1907 erhöhte sich die Zahl der Beschäftigten auf 37 518, der Anteil der in Betrieben bis zu 50 Beschäftigten war auf 42,4 % gefallen, die Zahl der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten stieg gleichzeitig von 43 im Jahre 1895 auf 121 im Jahre 1907.323 Die ZeissWerke, 1846 gegründet, verfügten 1883 über 250 Arbeitskräfte, 3 2 4 1 8 9 5 über 540 Arbeiter und Angestellte, 1900 über 1 071 Beschäftigte u n d 1913 über 4 678 Arbeiter u n d Angestellte. 325 117
317 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 25. 318 Sworykin, A. A./Osmowa, N. /. u. a., 1967, S. 288. 319 Ebenda. 320 Johannsen, 0., 1939, S. 16. 321 Sworykin, A. A./Osmowa, N. I. u. a., 1967, S. 288. 322 Johannsen, O., 1939, S. 16. 323 Carl Zeiss Jena, 1962, S. 167. 324 Ebenda, S. 49. 325 Ebenda, S. 166.
30 Schreibsaal
Die Ursachen dieser raschen Entwicklung waren verschiedener Natur. Zunächst gilt es auch hier festzuhalten, daß ähnlich wie in der chemischen Industrie die Verbindung zwischen Wissenschaft und Produktion, die schon im vormonopolistischen Kapitalismus entstanden war, außerordentlich intensiviert wurde. Dies geschah sowohl durch eigene Forschungs- und Entwicklungsarbeit als auch durch enge Zusammenarbeit zwischen G r o ß u n t e r n e h m e r n , Universitäten und Hochschulen. Diese Politik, gepaart mit einem außerordentlich großen Reservoir an handwerklich geschickten Arbeitskräften, die trotz der Mechanisierung zum Beispiel in der optischen Industrie ein wesentlicher Faktor für die Qualität der Erzeugnisse blieben, führte dazu, d a ß dieser Industriezweig sich bald weit über das Niveau der englischen und der französischen Industrie erhob. 32 '' Zum anderen hatte der sich nach dem Ende der Industriellen Revolution abzeichnende Trend in den metallverarbeitenden Industrien zur Serien- und Massenproduktion dazu geführt, d a ß die Maßgenauigkeit der Einzelteile — als Voraussetzung ihrer Austauschbarkeit — notwendige Bedingung der Produktion war. Die Industrie war zunächst gezwungen, die notwendigen Meßgeräte — mit A u s n a h m e zum Beispiel der Mikroskope — selbst zu konstruieren und zu bauen oder nachzubauen. 3 2 7 Diese Selbsthilfe genügte mit der Entwicklung des Werkzeugmaschinenbaus, der Verwendung von Fräsmaschinen, Präzisionsschleifmaschinen, neuen Schmirgelstoffen usw., insbesondere mit der maschinellen Massenproduktion austauschbarer Einzelteile, immer weniger. Um den wachsenden Bedarf nach Meßgeräten decken zu können, lösten sich seit der J a h r h u n d e r t w e n d e aus dem Maschinenbau Betriebe heraus, die sich auf die Herstellung von Meßgeräten spezialisierten. ,2I< Die Mechanisierung dieser Produktion ermöglichte eine breite A n w e n d u n g moderner Feinmeßgeräte in der Industrie, was wiederum die Produktion austauschbarer Einzelteile stimulierte. 326 Beer, J. J., 1975, S. 113. 327 Voigt, H., 1923, S.41. 328 Buxbaum, B., 1919, S. 124.
Die Massenproduktion industrieller Erzeugnisse verlangte deren massenhaften Absatz über entsprechende Verkaufsorganisationen im Herstellerbetrieb, aber auch außerhalb der Unternehmen. Das K a u f h a u s entstand. Zur Erweite-
31 M o d e r n e R e m i n g t o n - M a s c h i n e (um 1900)
rung des Verkaufssektors gesellte sich ein erhöhter Verwaltungsaufwand in den Unternehmen und im Staatsapparat, zu denen der des a u f b l ü h e n d e n Versicherungswesens trat. Es lag deshalb nahe, auch in diesem Sektor der Wirtschaft die Maschinenarbeit, zum Beispiel die Mechanisierung der Schreib- und der einfachen Rechenarbeit, einzuführen. Von der Z u n a h m e des Verwaltungsaufwandes zeugt unter anderem der Anteil der Angestellten an der Zahl aller Beschäftigten im Bergbau, in der Industrie, im Bauwesen, im Handel und im Verkehr. Betrug er 1882 3,0 %, so erhöhte e r s i e h bis 1895 auf 4,9 % und stieg bis 1907 auf 8,1 %.-129 Die Mechanisierung der Schreibarbeit n a h m in den USA ihren Anfang. Mitte der siebziger Jahre stellte die Gewehrfabrik E. Remington & Co. das erste b r a u c h b a r e Schreibmaschinenmodell her. 130 In Deutschland bestand dagegen noch in den achtziger Jahren kein Interesse an der Schreibtechnik. 111 Die Büromaschinenproduktion, aber auch zum Beispiel die N ä h m a s c h i n e n p r o d u k tion, wurde zuerst in Waffenfabriken a u f g e n o m m e n , weil diese Fabriken über ausgezeichnete Revolverdrehbänke, zylindrische Schleif-, Fräs- oder Universalschleifmaschinen verfügten, die die Feinbearbeitung unregelmäßiger Metallformen gestatteten. Z u m anderen besaßen die Waffenproduzenten reiche Erfahrungen in der Produktion genormter Erzeugnisse. Beide Faktoren waren von grundsätzlicher Bedeutung für die Herstellung von Büromaschinen, Nähmaschinen usw. In Deutschland entwickelte sich die Büromaschinenproduktion aus den gleichen G r ü n d e n aus der Nähmaschinenindustrie und der Fahrradindustrie. Zwei Beispiele seien d a f ü r genannt. Die Braunschweiger Nähmaschinenfabrik G r i m m e und Natalis & Co., 1871 gegründet, nahm 1892 zusätzlich die Produktion von Rechenmaschinen und Registrierkassen auf, während die Wanderer-Werke in Schönau bei Chemnitz neben der Fahrradproduktion seit der J a h r h u n d e r t w e n d e mit der Schreibmaschinenfertigung begannen. 1 1 2 Die Wanderer-Werke, die 1904 nur 24 Schreibmaschinen produziert hatten, konnten ihre Produktion bei qualitativen Verbesserungen bis 1907 auf mehr als 4 000 Maschinen steigern u n d mit ihren Erzeugnissen auf den Weltmarkt vordringen. Doch konnte der Büromaschinenbedarf
329 Kuczynski, J„ Bd. 4, 1967, S. 301. 330 Wittmann, O., 1960, S. 96. 331 Pfeiffer, D., 1923, S. 97. 332 Barth, E., 1973, S. 59 f.
der deutschen Wirtschaft vor dem ersten Weltkrieg nur durch zusätzliche Importe besonders aus den USA gedeckt werden. Ursächlich dafür war, daß die deutsche Büromaschinenproduktion, obwohl zweifellos eine hohe Nachfrage entstanden war, nur neben der Nähmaschinen- und Fahrradproduktion als Ausgleich saisonaler Schwankungen betrieben wurde. Entsprechend niedrig war daher auch die wissenschaftliche Durchdringung dieses Teiles der feinmechanisch-optischen Industrie, der sich stark auf die Kopierung ausländischer Modelle orientiert hatte. Die optische Industrie dagegen, auf eine lange, vom Handwerk geprägte Tradition zurückblickend, stieg sehr rasch zur spezialisierten Großindustrie auf. Handwerkliches Können wurde mit sinnvoller Mechanisierung, Verwissenschaftlichung und Spezialisierung verbunden. Davon zeugt die Geschichte der Zeiss-Werke, deren Aufstieg mit dem Eintritt des Wissenschaftlers Ernst Abbe in das Unternehmen im Jahre 1866 einsetzte. Abbe vereinigte in sich die Fähigkeiten eines Wissenschaftlers und Technikers mit denen eines Organisators, der Zug um Zug durch die Schaffung spezieller Produktionsabteilungen unter Leitung von geeigneten Wissenschaftlern den Aufbau des Unternehmens vorantrieb. Die Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in leistungsstarke optische Geräte wurde, beginnend mit den achtziger Jahren, in einer wachsenden Zahl spezieller Betriebsabteilungen realisiert. Drehbänke, Fräsen, Bohrmaschinen und Stanzen dienten zur Fertigung der Einzelteile optischer Geräte.
333 334 335 336 337
Carl Zeiss Jena, 1962, S. 58 ff. Ebenda, S. 167. Ebenda, S. 180. Ebenda. Ebenda, S. 181.
Obwohl das Glasschmelzen, im Gegensatz zur Produktion der Geräte, noch lange eine von der Empirie geprägte Kunst blieb, wurde eine besondere Glasschmelze eingerichtet. 1890 bildete sich eine eigene Abteilung für die Produktion von Fotoobjektiven heraus, der 1893 eine Abteilung zur Fertigung von Prismenfeldstechern folgte. 1897 wurde die Produktion von astronomischen Geräten aufgenommen, während um die Jahrhundertwende Abteilungen für die Herstellung von Bildmeßgeräten und für den medizinischen Bedarf entstanden. Einen gewissen Abschluß dieser Spezialisierung bildete die 1908 entstandene Geodätische Abteilung.333 Entsprach die Produktion der Zeiss-Werke zunächst dem Bedarf von Industrie und Wissenschaft, aber auch allgemeinen Konsumbedürfnissen, so war ihr Erfolg besonders nach der Jahrhundertwende von der Produktion optischer Geräte geprägt, die militärische Verwendung fanden. Neben der Optischen Anstalt C. P. Goerz in Berlin, die seit Mitte der neunziger Jahre zur Produktion optischer Geräte für den militärischen Bedarf übergegangen war,334 entwickelten sich die Zeiss-Werke zum führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Herstellung militäroptischer Geräte. 335 Eingeleitet wurde dieser Prozeß durch die Aufnahme der Produktion von Zielfernrohren im Jahre 1893 und die damit entstehende Militärabteilung des Werkes unter Leitung von Abbe.336 Der sich mit dem Übergang zum Monopolkapitalismus vollziehende Wandel in der Produktion von Geräten für zivile und humanitäre Zwecke — wenn auch immer unter dem Aspekt der Profitschöpfung — zur Rüstungsproduktion, ein Wandel, der identisch mit dem Mißbrauch der Wissenschaft zu antihumanitären Zielsetzungen war, zeigt sich deutlich an der Entwicklung des prozentualen Anteils der Militärabteilung der Zeiss-Werke am Gesamtumsatz des Unternehmens. Er betrug im Geschäftsjahr 1895/96 7,3 % und war bis 1900/01 auf 15,8 % gestiegen. 1913/14 überschritt er mit 57,9 % den Umsatz für den zivilen Bedarf. 337 Damit wurde ein gewichtiges Potential an Arbeitskraft, Produktionstechnik und Organisation, an wissenschaftlicher Schöpferkraft in den Dienst der Zerstörung von Produktivkräften gestellt. Entstand die feinmechanisch-optische Industrie an der Nahtstelle zwischen dem Kapitalismus der freien Konkurrenz und dem Monopolkapitalismus,so war die Kraftfahrzeugindustrie ein Produkt des beginnenden Imperialismus. Die Grundlagen dieser Industrie lassen sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Kraftfahrzeugmotor hatte seine Wurzeln in dem 1860 von dem französischen Ingenieur Jean Joseph Etienne Lenoir geschaffenen Gasmotor. Seine weiteren Verbesserungen, die mit den Namen Otto, Eugen Lan120
gen, Gottlieb Daimler, Wilhelm Maybach und Carl Friedrich Benz verbunden sind, richteten sich auf höhere Leistungsfähigkeit und bessere Durchgestaltung. Waren die Verbrennungsmotoren zunächst und vor allem als Kraftmaschinen für den Antrieb von Arbeitsmaschinen entwickelt worden, so provozierten die Unzulänglichkeiten der im 19. Jahrhundert geschaffenen Dampfwagen sehr früh Versuche, Verbrennungsmotoren auch für den Antrieb von Straßenfahrzeugen zu nutzen (vgl. 4.2.2.). Bereits 1885 hatte Benz mit Benzinmotoren ausgestattete Kraftfahrzeuge gebaut. Doch erst Daimler und Maybach gelang es, schnelle und gleichzeitig leichte Benzinmotoren zu entwickeln und die Voraussetzungen für die Produktion gebrauchsfähiger Kraftfahrzeuge zu schaffen. Rudolf Diesel schuf dagegen einen zweiten Grundtyp des Verbrennungsmotors, den effektiveren Schwerölmotor. Der Vorzug des Dieselmotors, vor allem als Antriebsmaschine in der Industrie und im Handwerk gedacht, lag in einer intensiveren Kraftstoffausnutzung. Er war zudem leistungsfähiger als der Benzinmotor und wesentlich sicherer, da er mit nichtexplosiven Kraftstoffen gespeist wurde. Obwohl die Kraftfahrzeuge bis zum ersten Weltkrieg systematisch verbessert wurden und der Staat schon seit 1899 die militärische Bedeutung des neuen Verkehrsmittels erkannte, 338 blieb das Kraftfahrzeug in Deutschland letztlich ein Luxusartikel. Dennoch erhöhte sich der Kraftfahrzeugbestand beachtlich. Waren 1907 in Deutschland 27 026 Kraftfahrzeuge vorhanden, von denen 25 815 vorwiegend der Personenbeförderung dienten und 1211 vorwiegend für den Gütertransport benutzt wurden, 339 so stieg ihre Zahl bis 1912 auf 65 450. Davon fanden 59 901 vorwiegend für die Personenbeförderung und 5 549 vorwiegend für den Transport von Gütern Verwendung. 340 Noch 1908 war Deutschland in der Kraftwagenproduktion international führend. 341 Diese Führung resultierte ebenso aus den Leistungen deutscher Techniker und Ingenieure auf dem Gebiet des Kraftfahrzeugbaus, wie sie auf dem um die Jahrhundertwende erreichten Niveau des Werkzeugmaschinenbaus und der Übertragung technologischer Verfahren aus der Fahrradproduktion und der Feinmechanik auf die Kraftfahrzeugproduktion beruhte. Baute der Kraftfahrzeugbau auf die Leistungen der genannten Industrien auf, so gingen von ihm stimulierende Wirkungen auf diese und andere Industrien aus, etwa auf die Einführung der Schnelldrehstähle, die Verbesserung der Schleif- und Polierverfahren,342 die Verbesserung des Drillbohrens, Gewindeschneidens, Fräsens, Drehens, des Pressens und Stanzens. 343 Der Bedarf an Kraftstoffen, Schmierölen und Gummi wirkte sich auf die chemische Industrie positiv aus. Ähnliche Impulse entstanden für die Elektroindustrie. 344 Die Enge des Marktes und die begrenzten Exportmöglichkeiten hemmten jedoch — trotz des gegebenen Vorlaufs — das Aufblühen der deutschen Kraftfahrzeugproduktion. Zwar baute zum Beispiel die Firma Benz um die Jahrhundertwende schon Kraftfahrzeuge in Kleinserien unter Verwendung von Werkzeugmaschinen, 345 aber die Herstellung der Einzelteile wie auch die Montage der Kraftfahrzeuge wurden noch größtenteils auf der Basis manueller Arbeit durchgeführt. So gesehen gehörte die Kraftfahrzeugproduktion vor dem ersten Weltkrieg keineswegs zu den hochentwickelten Industrien. Ihr ursprünglicher technischer Vorsprung ging verloren. Dies umso mehr, als Ford nicht nur die von Taylor in mehr als zwanzigjähriger Arbeit entwickelte sogenannte wissenschaftliche Betriebsführung aufgriff, sondern 1913 die mechanische Fließfertigung in seinem Unternehmen einführte. Dadurch begann sich der Schwerpunkt der Kraftfahrzeugproduktion in die USA zu verlagern. Die USA wurden über Jahrzehnte in der Fließband- und Massenfertigung zum führenden kapitalistischen Land.
121
338 Einbaum — Dampflok — Düsenklipper, 1969, S. 218. 339 StJbDR, 1908, S. 92. 340 Ebenda, 341 Steiner, H., 1935, S. 53. 342 Rosenberg, N., 1975, S. 229. 343 Ebenda, S. 231 ff. 344 Rübberdt, R., 1972, S. 122. 345 Ebenda, S. 120.
2.2.3.2. Die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl
346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358
Storni, E„ 1926, S. 58. Mahr, O., 1935, S. 145. Matschoß, C.. 1922, S. 97. Mahr, O., 1935, S. 145. Ebenda. Klein, G., Bd. 3, 1935, S. 7. Ebenda. Storm, E., 1926, S. 59. Mielhe, A., Bd. 1,1911, S. 57. Storm, E., 1926, S. 58. Ebenda. Klein, G., Bd. 2, 1935, S. 525. Ebenda, S. 711.
Die beschleunigte Mechanisierung der industriellen Produktion, die Großchemie, die gewaltige Z u n a h m e der Elektroenergieerzeugung erzwangen nicht nur die E r h ö h u n g und qualitative Verbesserung der Eisen- und Stahlproduktion, wie ü b e r h a u p t der metallischen Werkstoffe, sondern sie steigerten auch beträchtlich den Energiebedarf u n d die Nachfrage nach Roh- und Brennstoffen. Während bei der Produktion metallischer Werkstoffe die Palette der Erzeugnisse verbreitert und ihre Qualität insbesondere durch die Schaffung immer neuer Legierungen verbessert wurde, trat im Kohlenbergbau insofern ein Wandel ein, als die Braunkohle, deren Heizwert weit unter dem der Steinkohle lag, stärker genutzt wurde. Die im ausgehenden vormonopolistischen Kapitalismus v o r h a n d e n e n ersten Ansätze zur Mechanisierung der Abraum- u n d der Kohlegewinnung wurden nun mit dem zügigen Übergang vom Tiefbaubetrieb zum Tagebaubetrieb wesentlich verstärkt. Wurden zu Beginn der neunziger Jahre noch mehr als 75 % der geförderten Braunkohle im Tiefbaubetrieb gewonnen, so waren es zu Beginn des ersten Weltkrieges nur noch etwa 20 %.346 Mit dem Übergang zum Tagebau entstanden der Großbetrieb im Braunkohlenbergbau u n d erste Formen der Kartellierung. 1885 wurden in Halle, also inmitten eines Braunkohlenzentrums gelegen, der Deutsche Braunkohlen-IndustrieVerein 347 und 1893 das Kohlensyndikat gegründet. 348 H a u p t a b n e h m e r der Braunkohle waren nach der Zuckerindustrie die Kaliindustrie und die Ziegeleien. 349 Dazu kamen der H a u s b r a n d u n d die Nutzung der Braunkohle zur G e w i n n u n g von Schwelteer, Gas und Leuchtöl. Dieser Verbraucherkreis stabilisierte sich, als es 1900 gelang, einen G r u d e o f e n zu entwikkeln und damit für die Produktion von Schwelkoks alle notwendigen Bedingungen zu schaffen. 3 5 0 Selbst Brennereien, Brauereien und D a m p f m ü h l e n nutzten diesen Brennstoff, als der Maschinenbau lernte, die Feuerungsanlagen so zu gestalten, d a ß sie den spezifischen Ansprüchen der Braunkohle genügten. 351 Bildete die Veränderung der Feuerung eine Grundlage für die rasch steigende Nutzung der Braunkohle, so war ihre großindustrielle Verarbeitung zu Briketts eine zweite Voraussetzung. 352 Durch die Verbesserung der Rohbraunkohlentrocknung und leistungsfähige Pressen, die zunächst mit D a m p f k r a f t oder Preßluft und schließlich mit Elektromotoren betrieben wurden, wurde die Braunkohle in Brikettform versandfähig. 1913 wurden 75 % der geförderten Braunkohle zu Briketts verarbeitet. 353 Wesentliche Bedingung f ü r die Steigerung der Braunkohlenproduktion war ihre Mechanisierung und die Ausschaltung der Handarbeit. 3 5 4 Wie stark der Übergang vom Tiefbau zum Tagebau die Produktion stimulierte, zeigt schon die Tatsache, d a ß 1913 die Arbeitsleistung im Tagebau dreimal so groß war wie im Tiefbau. 3 5 5 Der Tiefbau und ebenso der Steinkohlenbergbau setzten der Mechanisierung enge Grenzen. Die Arbeit vor Ort erlaubte lediglich die Verwendung von Sprengstoffen, Bohrmaschinen u n d Bohrhämmern. Im Tagebau dagegen konnte durch den Einsatz von Baggern die physische Kraft des Menschen sowohl bei der Abraumgewinnung als auch beim Abbau der Kohle nachhaltig zurückgedrängt werden. War der Tagebau zunächst nur dort profitabel, wo das Verhältnis von Flöz- und Abraumförderung sich wie 1:1, höchstens aber wie 1:1,5 darstellte, so war schon vor dem ersten Weltkrieg der Abbau auch d a n n profitabel, wenn dieses Verhältnis wie 1:4 war. 356 Diese in wenigen Jahrzehnten völlig veränderten Produktionsbedingungen ergaben sich aus dem massiven Maschineneinsatz im Tagebau. Bis zu den neunziger Jahren bestimmten D a m p f b a g g e r und Abraumlokomotiven die Abraumgewinnung u n d den fast lückenlosen Transport. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts wurden diese beiden Prozesse allmählich elektrifiziert. 1901 wurde die erste elektrische Grubenlok eingesetzt, zwei Jahre später n a h m der erste mit einem Elektromotor ausgestattete Bagger die Arbeit auf. 357 Obwohl der Löffelbagger die wichtigste Baggerform war, spielten Sonderbauarten wie Kratzbagger, Schaufelradbagger u n d Kabelbagger für spezifische Operationen eine gewichtige Rolle. So wurde 1910 der erste Gurtförderer in der Kombination mit einem Löffelbagger eingesetzt 358 u n d noch vor dem ersten Weltkrieg 122
32 Löffelbagger und Grubenbahn mit Dampfantrieb
f a n d e n Kabelkrananlagen Verwendung. 3511 Damit gelang auch z u n e h m e n d — der allgemeinen Tendenz folgend — eine kontinuierliche A b r a u m f ö r d e r u n g . Die Fortschritte in der Mechanisierung der Abraumgewinnung schufen auch prinzipielle Lösungen für die Mechanisierung des Abbaus der Kohle. Sie verlangten d a n e b e n die Mechanisierung sowohl des Transports als auch der Kohlengewinnung. Schritt die Mechanisierung des Transports — wie dargestellt — durch die Elektrifizierung der G r u b e n b a h n e n u n d den Einsatz von Schwebeb a h n e n usw. zügig voran, so begann die maschinelle G e w i n n u n g der Kohle erst nach der Jahrhundertwende. Den ersten Versuchen im Jahre 1901 mit dem sogenannten Kohlenpflug folgten zwei Jahre später Versuche, den Baggerbetrieb a u f z u n e h m e n . Schon ab 1905 kam man zum Erfolg. Wieder erlangte der Löffelbagger eine besondere Bedeutung, d e n n mit seiner Hilfe konnten Verunreinigungen der Flöze unterschrämmt werden. 360 Relativ schnell wurden technische Lösungen entwickelt, die eine kontinuierliche Produktion erlaubten. Schöpfbecherwerke waren zwar schon seit den siebziger Jahren bekannt, aber erst 1908 gelang es, Becherwerke erfolgreich zu betreiben, 1911 sogar ein bewegliches Schachtbecherwerk zu konstruieren. 3 6 1 Der Durchbruch zum kontinuierlichen Abbau der Flöze, die wachsende räumliche A u s d e h n u n g der Tagebaue, die noch d a d u r c h gesteigert wurde, d a ß auch der Abbau weniger mächtiger Flöze profitabel wurde, führte nicht nur zu leistungsfähigeren Abbaugeräten. Er stellte auch erhöhte Anforderungen an die Transporteinrichtungen. Durch den Ausbau der Ketten- u n d Seilbahnen beziehungsweise der G r u b e n b a h n e n setzte, beginnend im Lausitzer Braunkohlenbergbau, die G r o ß r a u m f ö r d e r u n g ein — die durch große Transportbehälter charakterisiert ist.362 Waren im Braunkohlenbergbau zu Beginn des ersten Weltkrieges alle Produktionsstufen vom Abraum bis hin zur Brikettierung grundsätzlich mechanisiert, so blieb der Steinkohlenbergbau, aber auch der Erzbergbau, hinter dieser Entwicklung zurück. Der Tempoverlust in der Ersetzung der Handarbeit durch die maschinelle Arbeit im Bergbau — mit A u s n a h m e des Braunkohlenbergbaus — äußert sich am deutlichsten im Index der Arbeitsleistung. Setzt m a n die Arbeitsleistung im Steinkohlenbergbau im Jahre 1900 gleich 100, so lag sie zwischen 1893 u n d 1902 bei 98, in den Jahren von 1902 bis 1913 sogar bei 96.363 Der Rückstand des Bergbaus läßt sich auch indirekt und mit Einschränkungen an einem Vergleich der Leistung der Kraftmaschinen im Berg- u n d Hüttenwesen in den Jahren 1895 u n d 1907 ablesen. D a n a c h erbrachten die Antriebsmaschinen im Bergund Hüttenwesen 1895 eine Leistung von 995 000 PS (736 300 kW) u n d 1907 über 2 112 000 PS (1 562 880 kW). Das heißt, der Vervielfachungswert der Antriebsmaschinenleistung betrug 2,1. Unterboten wurde dies nur durch die Tex-
359 360 361 362 363
Ebenda, S. 747. Ebenda, S. 905. Ebenda, S. 1079. Ebenda, S. 1084. Kuczynski, J„ Bd. 3, 1962, S. 395.
33 Elektrische Drehbohrmaschine (1897)
tilindustrie, während die Gesamtindustrie und solche Zweige wie die Metallverarbeitung, Maschinenindustrie und Chemische Industrie zum Teil weit über diesen Werten lagen. 364 Wenn der Steinkohlenbergbau dennoch seine Produktion steigern konnte, so vor allem durch die Erhöhung der Zahl der Arbeitskräfte u n d deren Auspowerung auf der einen und die Mechanisierung der Transportprozesse auf der anderen Seite. Aber gerade die Steigerung der physischen Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft stieß schon seit Beginn der neunziger Jahre auf objektive Grenzen. Die Verbesserungen in der Sprengtechnik, die Entwicklung und A n w e n d u n g von Bohrmaschinen und Bohrhämmern setzten sich zwar fort, und gegen Ende des Jahrhunderts entstanden zum Beispiel schwenkbare Stoßbohrmaschinen, die einen beliebigen Arbeitswinkel erlaubten. Diese Geräte wurden aber in der Regel mit Luftdruck betrieben u n d waren störanfällig. Selbst fahrbare Kompressoren,. die seit 1890 in Anlehnung an das Vorbild der USA A n w e n d u n g fanden, 365 brachten nur partielle Fortschritte. Deshalb wurden um die Jahrhundertwende zahlreiche Versuche unternommen, elektrische Bohrmaschinen zu entwickeln, die die Druckluftleitungen überflüssig machten und die notwendige Sicherheit beim Einsatz im Tiefbau boten. 366 1903 war die Entwicklung elektrischer Bohrmaschinen so weit gediehen, d a ß sie in größerem U m f a n g und auf der Grundlage austauschbarer Teile produziert werden konnten. 3 6 7 Ihre effektive Wirkung sollte jedoch nicht überschätzt werden. 1913 waren neben sechs A b b a u h ä m m e r n und 14 Schrämmaschinen im oberschlesischen Steinkohlenrevierzwar 1 101 Bohrmaschinen mit Druckfuftantrieb, aber n u r 76 mit elektrischem Antrieb vorhanden. 3 6 8 Insgesamt verfügte dieses Steinkohlenrevier im Abbau über folgende Hilfsmittel: 420 Pferde, 14 Seilbahnen mit Preßluftantrieb und 14 mit elektrischem Antrieb, 83 Benzollokomotiven u n d 29 Elektroloks, 118 Schüttelrutschen mit Preßluftantrieb, 100 Förderhaspeln mit Preßluftantrieb und 37 mit Elektroantrieb. Außerdem liefen einige Dutzend Ventilatoren, Pumpen und Fördermaschinen. 3 6 9 Natürlich war dies eine beachtliche Mechanisierung. Ihre Relativität wird aber schon offenkundig, wenn m a n bedenkt, d a ß zum Beispiel der Transport unter Tage im wesentlichen mit Hilfe tierischer und menschlicher Muskelkraft bewältigt werden mußte. 364 365 366 367 368 369 370
Krupski. Fr., 1926, S. 13. Malschoß, C„ 1922, S. 169. Ebenda, S. 170. Ebenda, S. 170 f. Borchardt, K., 1926, S. 215. Ebenda. Mielhe.A-, Bd. 1, 1911, S. 112.
Die wesentlichsten Fortschritte vollzogen sich im Bereich der Wasserhaltung und der Förderung. Wenn auch die Fördermaschinen vorrangig mit D a m p f b e trieben wurden, 370 so setzte sich ihre allmähliche Umstellung auf den Elektroantrieb besonders seit 1903 durch, als es gelang, die Elektromotoren den spezifischen Sicherheitsanforderungen des Bergbaus anzupassen. Das spiegelte sich in verbesserten Isolationen, guter Regelung der Drehzahlen, der Si-
34 H o c h o f e n a n l a g e mit S c h r ä g a u f z u g
cherung der Fahrer von G r u b e n b a h n e n gegen Stromschläge usw. wider. Welche Bedeutung mit Elektromotoren betriebene Fördermaschinen gegenüber jenen mit D a m p f a n t r i e b hatten, zeigt allein die E r h ö h u n g der Fahrgeschwindigkeit von 6 auf 10 m/s. 1 7 1 Grundsätzlich lagen die gleichen Probleme im Steinkohlen-, Erz- und Kalibergbau vor, wobei der Kalibergbau durch die weniger große Beengtheit im Abbaubereich gegenüber dem Erzbergbau im Vorteil war. W ä h r e n d im Bergbau — u n d vor allem im Braunkohlenbergbau — durch die Technolologie des Tagebaues minderwertige Brennstoffe massenhaft erschlossen werden konnten, gelang es in der Eisen- und Stahlproduktion, die Ausbeute der weniger reichen und unreineren Erze zu vervollkommnen. Darüber hinaus führte die wissenschaftliche Durchdringung der Metallurgie u n d die A n w e n d u n g der Elektrizität zu neuen u n d hochwertigen metallischen Werkstoffen. In Zahlen stellt sich die Eisen- und Stahlproduktion so dar: Roheisen wurde 1894 in 102 Hochofenwerken, die 258 H o c h ö f e n besaßen und davon 208 betrieben, bei einer mittleren Belegschaft von 24 110, in H ö h e von 5 380 000 t erzeugt. Bis 1905 wuchs die Zahl der H o c h o f e n w e r k e um zwei, die Zahl der vorh a n d e n e n H o c h ö f e n auf 277. Die mittlere Belegschaft dieser Werke war auf 38 458 gestiegen, die Roheisenerzeugung betrug 10 987 600 t.372 Der Anstieg der 125
371 Philippi, W., 1928, S. 29. 372 Zöllner. A„ 1907, S. 3.
Pro-Kopf-Produktion war beachtlich. Gleichzeitig ging aber das T e m p o der Steigerung der Arbeitsleistung ständig zurück. Wurde in den Jahren zwischen 1876 u n d 1886 im Vergleich zum vorangehenden Wirtschaftszyklus noch eine Steigerung um 87 % erzielt, so betrug die Steigerung in den Jahren zwischen 1887 u n d 1893 nur noch 41 %. Im Zyklus der Jahre von 1893 bis 1902 konnte die Arbeitsleistung nur noch um 20 %, im unvollständigen Wirtschaftszyklus von 1902 bis 1911 um 17 % erhöht werden. 373 Ursache dieser Krise war ähnlich wie im Tiefbau die Ausschöpfung der Reserven der menschlichen Arbeitskraft u n d die Schwierigkeit, die sich der A n w e n d u n g der D a m p f k r a f t bei der weiteren Mechanisierung des Arbeitsprozesses im Hüttenbetrieb entgegenstellte. 374 Die Stahlproduktion, die 1887 nur 1,7 Mio. t betragen hatte, erhöhte sich dagegen bis 1913 auf 17,6 Mio. t, wobei die wachsende Schrottverwertung eine gewichtige Rolle spielte. Die Produktion von Schweißeisen beziehungsweise Schweißstahl erreichte 1889 ihren Höhepunkt, um d a n n ständig abzusinken. Die Produktion von Bessemerstahl nahm seit der J a h r h u n d e r t w e n d e wieder deutlich zu, während die Thomasstahl- u n d Siemens-Martin-Stahlproduktion gleichmäßig anwuchsen. 1 7 5 Die Konzentration der Produktion u n d die Zentralisation des Kapitals wuchsen ebenso wie die Pro-Kopf-Leistung. Möglich wurde dieser Aufschwung durch die zwar gehemmte, aber keineswegs stagnierende technische Entwicklung. Dabei spielte die Vernichtung nicht so leistungsfähiger Betriebe durch die 1904 vollzogene G r ü n d u n g des Stahlwerkverbandes in Düsseldorf eine b e d e u t e n d e Rolle. Da der Stahlwerkverband die Preise stabil zu halten wußte, wurden jene- Mittel gewonnen, die zur Modernisierung der Produktionstechnik notwendig waren. Er faßte die 36 bedeutendsten Stahlproduzenten zusammen u n d vereinigte etwa 95 % der Stahlproduktion auf sich. 376 Der Anstieg der Stahlproduktion kündete, insbesondere als die Edelstahlproduktion Gestalt a n n a h m , eine Strukturveränderung der metallischen Werkstoffe an. Die positive Entwickung der Stahlproduktion ist aber „nicht durch die E i n f ü h r u n g neuer hüttentechnischer Verfahren erzielt worden, sondern durch die Verbesserung der bekannten Verfahren und durch Fortschritte im Hüttenmaschinenbau, wobei die z u n e h m e n d e A n w e n d u n g des elektrischen Stroms eine b e d e u t e n d e Rolle gespielt hat". 377 Wiederum waren es die USA, die für die deutsche Stahlindustrie zum Vorbild wurden. D a die Industrie in den USA in besonderer Weise bemüht sein mußte, die Ablösung lebendiger Arbeit durch die Maschinenarbeit zu forcieren, wurden dort zuerst die Hochofenleistungen durch den Bau von Riesenhochöfen gesteigert und die mechanische Begichtung eingeführt. In E u r o p a sah man dieser Entwicklung zunächst mit Zurückhaltung entgegen. 1899 begann schließlich die deutsche Hüttenindustrie Riesenhochöfen zu bauen u n d die mechanische Begichtung mit Kantilkränen einzuführen. Diesem ersten Schritt folgte die Nutzung von senkrechten und schrägen Aufzügen, die mit Elektromotoren betrieben wurden. 3 7 8
373 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 396. 374 Mottek, H./Becker, W./ Schröter, A., 1975, S. 30. 375 Zöllner, A., 1907, S. 19. 376 Ebenda, S. 21. 377 Johannsen, O., 1939, S. 13. 378 Ebenda, S. 18. 379 Ebenda, S. 21. 380 Ebenda, S. 22.
Betrachtet man die Verbesserung der einzelnen Stahlerzeugungsverfahren, so zeigt sich, d a ß sie sich vor allem auf die Vergrößerung der Behälter u n d die Mechanisierung von Nebenprozessen konzentrierte. Das Thomasverfahren — um die J a h r h u n d e r t w e n d e technisch ausgereift — setzte um 1900 Birnen mit einem A u f n a h m e v e r m ö g e n von 12 bis 201 ein. 1909 lag das Fassungsvermögen schon bei 25 t u n d 1911 n a h m in den Thyssen-Werken ein 30-Tonnen-Konverter den Betrieb auf. Flankiert wurde diese Entwicklung durch die um 1900 aus den USA ü b e r n o m m e n e n Rollenmischer, deren Fassungsvermögen 1908 bis zu 7501, drei Jahre später aber bereits 1 200 t erreichte. 379 Das steigende Fassungsvermögen der Konverter verlangte leistungsstärkere Antriebe. Deshalb wurden die Pfannenwagen verbessert und mit Elektromotoren ausgestattet. M o d e r n e Gießwagen, zum Teil mit elektrischem Antrieb, fanden Verwendung. Hydraulische D r e h k r ä n e wichen Elektrokränen. K a u m anders verlief die Weiterentwicklung des Siemens-Martin-Verfahrens, wobei die deutschen Siemens-Martin-Öfen trotz der Vergrößerung ihres Fassungsvermögens von 25 auf 30 t weit hinter dem der amerikanischen u n d selbst der englischen zurücklagen. 3 8 0 126
Die Verarbeitung großer Mengen Roheisens gebot die Anwendung des sogenannten Duplex-Verfahrens, bei dem in einer sauren Birne das Roheisen zunächst vorgefrischt wurde. Allerdings erlangten in Deutschland das schon 1894 entwickelte Bertrand-Thiel-Verfahren — es arbeitete mit zwei Martin-Öfen — und das sogenannte Hoesch-Verfahren — es arbeitete mit einem Martin-Ofen — große Verbreitung. In England, aber auch in den USA griff dagegen das 1898 entwickelte Talbot-Verfahren rasch um sich. Es erlaubte einen kontinuierlichen Herdschmelzprozeß und führte nicht nur zur Schaffung größerer und verbesserter Martinöfen, sondern begann, das Duplex-Verfahren zu verdrängen.181 Dem allgemeinen Trend der Amerikanisierung der Eisen- und Stahlerzeugung, wie ihn Zeitgenossen nannten, also der systematischen Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit folgend, kam es zur Einführung der Chargiermaschinen. Schon 1893 in den USA benutzt, beschleunigten sie die Beschickung der Öfen und erzielten dadurch Wärmeenergieeinsparungen. Die Chargiermaschine war aber, solange sie mit Dampf oder Druckluft betrieben wurde, relativ groß. Ihr Antrieb erwies sich als kompliziert, da die starre Verbindung des Löffels mit der Maschine seine Beladung an der Maschine erzwang. Als diese Mängel beseitigt und die Umstellung auf den Elektroantrieb erfolgt war, fanden die Chargiermaschinen auch in Europa Zugang. 1895 wurde im Eisenwerk Rheinau die erste elektrisch betriebene Chargiermaschine in Betrieb genommen. 382 In den Gießereien wurde schon Ende der achtziger Jahre die Handputzerei durch Sandstrahlgebläse ersetzt.383 Durch Veränderungen im thermischen Bereich, im Transport und durch den Einsatz neuer Arbeitsmaschinen löste sich dieser Bereich der Metallindustrie endgültig aus seinem handwerklichen Stadium. Soweit noch Herdflammöfen benutzt wurden, wichen sie verbesserten Kupolöfen, zu denen sich Trommelöfen und Elektroofen gesellten. An die Stelle raumverschwendender Drehkräne traten elektrisch betriebene und schnellaufende Elektrokräne. Damit entstanden für den Transport der Formkästen, Gießpfannen und für das Beschicken der Kupolöfen neue Bedingungen. Kannte man seit 1895 mit Hydraulik ausgestattete Masselbrecher, so benutzte man seit 1902 auch solche mit Elektroantrieb. 384 Der wachsende Bedarf der Elektroindustrie, des Landmaschinen- und Eisenbahnbaus, der Fahrradund Nähmaschinenindustrie und der sich entwickelnden Kraftfahrzeugindustrie an Gußteilen bedingte eine seit 1890 wachsende Zahl mechanischer Preßform- und Rüttelformmaschinen, 385 wobei letztere 1907 in den USA entwickelt wurden. 386 Die Fortschritte in der Walzwerktechnik beruhten seit dem beginnenden 20. Jahrhundert vor allem auf der Einführung des Elektromotors als Bewegungsmaschine für den eigentlichen Walzvorgang und bei den Nebenarbeiten.387 Dies führte zu Detailverbesserungen und Veränderungen an den Walzengerüsten und Hilfseinrichtungen, zum Beispiel zu elektrischen Warmsägen. 388 Entscheidend war jedoch, daß der Elektromotor den Walzwerkbetrieb effektiver gestaltete und die durch den Dampfantrieb gezogenen Grenzen der Mechanisierung überwinden half. Die Entwicklung der am Ende der Industriellen Revolution und in den folgenden Jahrzehnten entstandenen Verfahren zur Eisen- und Stahlproduktion verlief insofern kontinuierlich, als diese systematisch verbessert wurden. Als dagegen auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 die Bethlehem Steel Company eine Reihe neuer hochlegierter Chromwolframstähle vorstellte, kündete sich eine neue Ära der Stahlproduktion, der Weiterverarbeitung des Stahls und des Maschinenbaus an. Während der Industriellen Revolution war die Stahlerzeugung so gering, daß Stahl vor allem nur für Werkzeuge verwendet werden konnte. Das Thomas-Verfahren hatte die Anwendungsmöglichkeiten des Stahls wesentlich erweitert. Dagegen revolutionierten die von Taylor und White in jahrzehntelanger Arbeit entwickelten Edelstähle die Schneidwerkzeuge in der Metallverarbeitung. Schnittwerkzeuge aus Hochleistungsstählen erhöhten die Schnittgeschwindigkeiten um das Vier- bis Fünffache. 389 127
381 382 383 384 385 386 387 388 389
Ebenda. Matschoß, C.. 1922, S. 205. Lohse, U., 1910, S. 131. Ebenda, S. 135. Johannsen, O., 1939, S. 25. Ebenda. Ebenda. Matschoß, C., 1922, S. 206. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., S.283.
390 391 392 393 394
Die Bemühungen um Stahllegierungen hatten schon in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den Arbeiten Michael Faradays eingesetzt. Mitte der fünfziger Jahre wurden in Österreich und in England Wolframstähle erschmolzen. Kurze Zeit später folgten Chromstähle. In den achtziger Jahren wurde Mangan zu Legierungen benutzt, u n d Nickelstähle wurden bekannt. 3 9 0 Eine nachhaltige Weiterentwicklung der Legierungstechnik konnte jedoch erst d a n n eintreten, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Elektrometallurgie entstand. Es gab zwar schon seit etwa 1850 besonders in Frankreich Versuche mit Elektroschmelzöfen, doch erst am Ende des Jahrhunderts, mit der Entwicklung der Starkstromtechnik, wie ü b e r h a u p t der Elektrotechnik, gelang es, industriell a n w e n d b a r e Elektrostahlöfen zu schaffen und den Tiegelstahl allmählich durch Elektrostahl zu ersetzen. Paul Girod hatte zunächst versucht, durch die Erhitzung des Schmelzgefäßes von außen den Schmelzprozeß herbeizuführen. Dieses Verfahren setzte sich nicht durch. Effektiver waren die Versuche des Italieners E. Stassano, der 1897 waagerecht angebrachte Elektroden benutzte, um die Schmelzung mit Hilfe der Lichtbogenhitze zu bewirken. Dieses in Italien angewandte Verfahren erlaubte die Stahlerzeugung direkt aus dem Erz. 391 Der Franzose Paul-Louis Heroult ordnete 1899 die Elektroden senkrecht an und schuf damit den Lichtbogenofen, der sich letztlich in vielen Ländern durchsetzte. Gleichzeitig entwikkelte der Schwede Frederic A. Kjellin einen Induktionsschmelzofen, in dem der Schmelzprozeß unter Ausnutzung des Wärmeeffekts elektrischer Ströme stattfand. Der Induktionsofen, von Röchling und R o d e n h a u s e r verbessert, wurde unter anderem in dem Röchlingschen Unternehmen in Völklingen eingesetzt. 392 Da Elektroschmelzöfen zunächst vor allem zum Nachraffinieren von Thomasstahl beziehungsweise Siemens-Martin-Stahl benutzt wurden, wurde der Induktionsofen zu einem starken Konkurrenten des Heroultschen Ofens. Einen dritten Elektroofentyp schuf der Russe Vasiii P. Ishevski in Gestalt eines Widerstandsschmelzofens im Jahre 1901. 3,3 Als es gelang, die Qualität des Siemens-Martin-Stahls zu verbessern u n d niedriglegierte Stahlsorten zu erzeugen, wurde das Nachraffinieren unnötig. Das Schwergewicht der Elektrostahlerzeugung verlagerte sich auf die Produktion hochlegierter Stahlarten. Da der Induktionsofen komplizierter war als der Lichtbogenofen, setzte sich der letztgenannte durch. Die Produktion von Elektrostahl an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte grundsätzliche Bedeutung, denn sie war — obwohl keineswegs frei von empirischen Elementen — wissenschaftlich fundiert u n d leitete eine neue Phase in der Entwicklung von Schneidwerkzeugen ein. 1912 führte das Stahlwerk Becker in Krefeld das sogenannte Becker-Iridium ein, dem bald das bei K r u p p entwickelte Widia-Hartmetall folgte. 394 Dennoch, m u ß gesehen werden, d a ß die Elektrometallurgie vor dem ersten Weltkrieg keine größere Ausdehnung erlangte. Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg waren vielmehr eine Phase des Übergangs zu einer neuen Technologie, von der gewichtige Impulse auf andere Bereiche ausgingen. Dazu gehörten die Werkstofforschung u n d Werkstoffprüfung. In dem Maße, in dem in einzelnen Zweigen der industriellen Produktion der Übergang zur Massenproduktion vollzogen wurde, zum Beispiel die massenhafte Erzeugung von Stahl oder Zement,und die Zahl der metallischen Werkstoffe sich besonders durch die Verwendung von Legierungen vergrößerte, waren die seit der Industriellen Revolution entstandenen und fortentwickelten Materialprüfungsverfahren fragwürdig geworden. Deshalb bahnte sich schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Übergang von der vorwiegend empirischen zur wissenschaftlichen W e r k s t o f f p r ü f u n g an, die besonders die Erkenntnisse der Mathematik, Chemie, Physik u n d der Mechanik nutzte (vgl. 6.). Ebenda. Institutionell drückt sich dieser Wandel in den nach 1870 an den HochschulZöllner, A., 1907, S. 20. einrichtungen entstehenden technischen Laboratorien u n d in der G r ü n d u n g Johannsen, O., 1939, S. 24. Brentjes, B./Richter, S./Sonne- von Laboratorien in den Großbetrieben aus. Technisch manifestierte sich dieser Wandel in der Entwicklung u n d A n w e n d u n g einer immer größeren Zahl mann, R., 1978, S. 283. Johannsen, O., 1939, S. 24. von Materialprüfungsmaschinen, die von der bereits 1852 entwickelten Wer128
Grundtrend der Anwendung von Materialprüfmaschinen in der deutschen Industrie 1885 bis 1910 Quelle: S. 177
derschen Festigkeitsmaschine ausgingen. Diese Maschine, die bis in den ersten Weltkrieg hinein der Prototyp der Materialprüfungsmaschinen blieb, testete die Elastizität und die Festigkeit des Konstruktionsmaterials. 1871 f a n d sie an der Polytechnischen Schule in M ü n c h e n , die als erste deutsche Hochschule ein technisches Laboratorium einrichtete, Verwendung. 1 9 5 Bis zur Mitte der achtziger Jahre entstanden an den technischen Schulen in M ü n c h e n , Berlin, Chemnitz und Stuttgart mit staatlicher Unterstützung Materialprüfungsanstalten. 3 9 6 Während in Deutschland die Verwissenschaftlichung der Werkstofforschung in den G r o ß u n t e r n e h m e n und an den Hochschulen betrieben wurde, blieb sie in England in den H ä n d e n von Privatunternehmen, deren finanzielle Möglichkeiten geringer waren. Die besondere Förderung der Werkstoffprüf u n g in Deutschland hob zudem noch die Abhängigkeit der deutschen Untern e h m e n von England am Ende der Industriellen Revolution auf. Vor dem Übergang zum Monopolkapitalismus konzentrierte sich die W e r k s t o f f p r ü f u n g auf die Feststellung der Elastizitäts- und Streckgrenzen, die Zerreißfähigkeit und Bruchdehnung der Werkstoffe sowie Biege-Druck-, Verdrehungsversuche u n d Kerbschlagproben. Die Laboratorien benutzten dazu maschinelle Einrichtungen u n d führten chemische Analysen und mikroskopische Untersuchungen durch. 197 Bevorzugte Felder der W e r k s t o f f p r ü f u n g waren Eisen, Stahl u n d Baustoffe. Um die J a h r h u n d e r t w e n d e dehnte sich das Arbeitsgebiet durch Entwicklung neuer Werkstoffe u n d erhöhte Ansprüche, die der Maschinenbau stellte, aus. Es wurden neue Stahlsorten, aber auch die veränderten Anforderungen, die der Bau von D a m p f t u r b i n e n , Motoren usw. stellte, geprüft. War die Werkstofforschung vor 1900 im hohen M a ß e auf besonders hochwertige Materialien konzentriert, griff sie nun auch auf Massenstähle über. 198 129
395 396 397 398
Baumann,
R.,
1912,
Baumann, R., 1912, S. 152. Ebenda, S. 154. Schwinning, IV., 1939, S. 2 f. Ebenda, S. 3.
Zum anderen trat als neue Institutionsform die direkt von den Monopolen finanzierte, dennoch öffentliche Materialprüfung auf. So die Zentralstelle für wissenschaftlich-technische Untersuchungen in Neubabelsberg, für deren Einrichtung die Industrie etwa 2,1 Mio. M aufbrachte und deren laufende Ausgaben unter starker Beteiligung der deutschen Pulver- und Waffenindustrie abgedeckt wurden. 399 1 9 1 0 richtete der Verband Deutscher Portlandzementfabriken in Berlin-Karlshorst ein eigenes Laboratorium ein.400 1910 entstand unter nachdrücklicher Förderung des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute an der Technischen Hochschule in Aachen ein Institut für Hüttenkunde. 4 0 1 In welchem Umfang die Anwendung von Materialprüfmaschinen und anderen Prüfgeräten zunahm, deutet Abbildung 5 an. Sie zeigt den Absatz von vier Firmen, die Prüfmaschinen herstellten. Nach Schätzungen wurden nach 1900 jährlich mehr als 250 Materialprüfmaschinen in der deutschen Industrie in Betrieb genommen. 402 Einen Einblick in die Entwicklung des Materialprüfwesens vermitteln auch folgende Zahlen: Bei der Gelsenkirchner Bergwerks A. G., Abteilung Aachener Hüttenverein, entwickelte sich die Zahl der Versuche zwischen 1886 und 1910 wie 1:44, das heißt, daß beispielsweise 1905 rund 50 000 Versuche durchgeführt wurden, 403 wobei seit der Jahrhundertwende die Zahl der metallographischen Untersuchungen eine immer stärkere Verbreitung fand. 404 Das Borsigwerk in Tegel wandte 1910 35 000 M für die Materialprüfung auf. In der chemo-physikalischen Versuchsanstalt des Kruppschen Unternehmens wurden 12 000 chemische Analysen im Jahre 1889 durchgeführt, 1899 waren es bereits 84 000 und 1910 475 000.405 Die technischen Hilfsmittel, die der Werkstoffprüfung zur Verfügung standen, reichten von Kontrollstäben, Feinmeßgeräten verschiedener Art über elektrische Prüfmaschinen bis zu schwersten Geräten, zum Beispiel Kettenzerreißmaschinen. 4 0 6
2.2.3.3. Der Maschinenbau
399 400 401 402 403 404 405 406 407 408
Baumann, R., 1912, S. 175. Ebenda, S. 193. Ebenda, S. 175. Ebenda, S. 177. Ebenda, S. 179. Ebenda. Ebenda, S. 182. Ebenda, S. 179. Vgl. Wittmann, K., 1960, S. 49. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 283. 409 Wittmann, K., 1960, S. 104.
Stand der deutsche Werkzeugmaschinenbau bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des amerikanischen und englischen Maschinenbaus, so bahnten sich schon auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1900 sichtbare Veränderungen an. Ein sachkundiger Zeitgenosse schrieb: „Im Jahre 1893 befand sich Deutschland in einem Stadium, in dem sich Frankreich jetzt befindet, seitdem fand jedoch eine starke Entwicklung statt, von der auf der Ausstellung Zeugnis abgelegt wurde. Nachdem zuerst amerikanische Vorbilder nachgeahmt wurden, kann der deutsche Werkzeugmaschinenbau heute eigene Bauformen nach Amerika ausführen!" 4 0 7 Trotz dieses keineswegs unberechtigten Kompliments sollten die Impulse für das Herzstück des Maschinenbaus, einer Grundbedingung für die weitere Mechanisierung der industriellen Produktion, wiederum von den USA ausgehen. Auf der Pariser Weltausstellung wurden erstmals amerikanische Werkzeugmaschinen mit elektrischem Einzelantrieb und Schnelldrehstählen vorgestellt. 408 Mit diesem neuen leistungsfähigen Maschinentyp wurde zugleich im Maschinenbau — und von dort ausgehend auch in anderen Zweigen der industriellen Produktion — eine neue Organisation der Produktion, der Übergang vom Werkstattprinzip zum wesentlich effektiveren erzeugnisgebundenen Organisationsprinzip, ermöglicht. Als Taylor und White 1880 die Untersuchung der Zusammenhänge von Schnitt, Schnittgeschwindigkeit und Vorschub begannen, meinten sie, ihre Arbeiten in einem halben Jahr abschließen zu können. Tatsächlich sollte es fast ein Vierteljahrhundert dauern, bevor industriell verwertbare Ergebnisse vorlagen. Die Kosten der Arbeiten wurden mit etwa 700 000 M beziffert. 409 Erhöhte die Verwendung von Schnittstählen mit Zusätzen von Chrom und Wolfram die Schnittgeschwindigkeit bis zu 400 %, so war um 1906 erwiesen, daß die Belastung des Chrom-Wolfram-Stahls durch den Zusatz von Vanadium weiter gesteigert werden konnte. Dennoch sollte sich die Revolutionierung des Werkzeugmaschinenbaus keineswegs problemlos durchsetzen, da die vorhandenen Werkzeugmaschinen sich für die A u f n a h m e der mit der Anwendung des Schnelldrehstahls entstehenden Kräfte als untauglich erwiesen. 130
35 R u n d s c h l e i f m a s c h i n e (1905)
Als zum Beispiel das Berliner Unternehmen Ludwig Loewe 1903 versuchte, eine mit einem Schnellstahlbohrer ausgerüstete Bohrmaschine in Betrieb zu nehmen, war diese Maschine innerhalb von vier Wochen ruiniert. Die Keile fielen aus den Rädern und Wellen, G u ß r ä d e r brachen, die Hauptspindel war verdreht, das Hauptkugellager zerstört. 410 Ähnlich verlief der Versuch, eine Drehbank traditioneller Bauart mit Schnelldrehstahl auszustatten. 4 " Die neuen Drehstähle und die von der Elektroindustrie angestrebte A n w e n d u n g des elektrischen Einzelantriebs 4 1 2 verlangten daher wesentliche konstruktive Umgestaltungen der Werkzeugmaschinen und die Verwendung neuer Werkstoffe, wie zum Beispiel die Ersetzung gußeiserner Z a h n r ä d e r durch solche aus Nickelu n d Chromnickelstahl. Hier liegt eine Ursache d a f ü r , d a ß die wissenschaftliche Durchdringung einschließlich der Maßgenauigkeit des Maschinenbaus nach 1900 systematisiert wurde und die „Untersuchung der Maschinen, Werkzeuge und Werkstoffe in Deutschland gründlicher entwickelt wurde, als anderswo". 4 1 3 Z u m anderen erwies sich das Unvermögen der deutschen Maschinenbauer des 19. Jahrhunderts, dem von den USA ausgehenden Trend zu leichten Werkzeugmaschinen zu folgen, als sehr hilfreich, da es n u n m e h r darauf ankam, stabilere Konstruktionen zu schaffen, um den Anschluß an die Entwicklung in den USA nicht zu verlieren. Die Arbeitsmaschine mit Elektroantrieb erhöhte nicht nur die Arbeitsgeschwindigkeiten, sondern auch die Arbeitsgenauigkeit. D a d u r c h wurde besonders in der metallverarbeitenden Industrie u n d im Maschinenbau die Weiterentwicklung des Serienbaus begünstigt, der unter anderem auf der Austauschbarkeit der Einzelteile beruhte. 4 1 4 Dieser Trend drückte sich auch in der sich seit der J a h r h u n d e r t w e n d e verändernden technischen Ausstattung der Maschinenbaubetriebe aus. Dominierten bis dahin letztlich Universalmaschinen, so trat n u n m e h r ein relativer, zum Teil auch absoluter Rückgang der Zahl der Drehbänke, Bohrmaschinen und vor allem der Hobelmaschinen ein — während die Zahl der Fräsmaschinen stark anstieg. 415 Des weiteren wurde in den neugegründeten Maschinenfabriken und in den größeren Unternehmen der Elektroantrieb zur Regel. Nutzten 1895 nur 1,3 % der deutschen Maschinenfabriken die Elektrizität, so waren es 1907 bereits 47,7 %.416 Neben der generellen Z u n a h m e der Leistungsfähigkeit der Werkzeugmaschinen u n d der Transporteinrichtungen in Form von Elektrokränen wurden die Maschinenbaubetriebe spezialisiert und mit einem entsprechenden Maschinenpark ausgestattet. 417 Gleichzeitig gewannen die Schleifmaschinen größere Bedeutung, und es wurde, um in größeren, profitableren Stückzahlen arbeiten zu können, teilweise eine Typenverminderung der Erzeugnisse bis zu 50 % herbeigeführt. 4 1 8 Schleifmaschinen für Präzisionsschliff, Rundschleifmaschinen und verbesserte Poliermittel — wie Silikonkarbid — erlaubten den Betrieben nun auch die Produktion hochwertiger Maschinenteile. 131
410 Matschoß, 1930, S. 144. 411 412 413 414 415 416 417
C./Schlesinger,
Ebenda. Ebenda. Buxbaum. B., 1919, S. 128. Barth, E., 1973, S. 53. E b e n d a , S. 91. Doogs, K., 1928, S. 88. Barth, £., 1973, S. 91 f.
418 Matschoß, 1930, S. 142.
C./Schlesinger,
419 420 421 422 423 424 425
Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 114. Barth, E., 1973, S. 2. Krupski, Fr., 1926, S. 10. Ebenda. Ebenda, S. 13. StDR, Bd. 214, II, 1910, S. 2f.
Es gelang dem deutschen Maschinenbau bis zum ersten Weltkrieg, sowohl hinsichtlich seiner Erzeugnisse als auch der ihm zur Verfügung stehenden Arbeitsmittel u n d Arbeitsgegenstände zur Weltspitze vorzustoßen. Seine Bemühungen, die gegebenen technischen Möglichkeiten in eine kontinuierliche Serien- und Massenproduktion umzusetzen, waren jedoch begrenzt. Die Enge des Marktes und die Konkurrenz besonders der USA schufen unüberwindbare Barrieren. Es war wohl möglich, Meßgeräte, Werkzeuge und Lehren in großen Stückzahlen herzustellen, der Bau von Werkzeugmaschinen bewegte sich jedoch nur in einer G r ö ß e n o r d n u n g von fünf bis 100 Stück. 419 Selbst in der Produktion von Gewehren war zu Beginn des ersten Weltkrieges keine voll mechanisierte austauschbare Produktion möglich. 420 D e n n o c h nutzten die deutschen M a s c h i n e n b a u u n t e r n e h m e r mit Hilfe der Spezialisierung und der Reduzierung der in einem Betrieb gebauten Maschinentypen die vorhandenen Möglichkeiten optimal aus. Dem kam entgegen, d a ß der Wachstumsprozeß nach Betriebsgrößen im Maschinenbau schneller als in anderen Industrien 4 2 1 verlief und seit der J a h r h u n d e r t w e n d e die Zahl der Spezialbetriebe sichtbar wuchs. So stellte die Firma Orenstein & Koppel bestimmte G r u n d t y p e n des rollenden Eisenbahnmaterials her. Durch die Normierung eines Teils der in allen Lokomotivarten vorhandenen Einzelteile konnte das Unternehmen diese Teile serienmäßig herstellen. Der Werkzeugmaschinenbau selbst, aber auch die feinmechanische Industrie gingen noch vor Beginn des ersten Weltkrieges zur Serienproduktion über. Ebenso die Fahrradproduktion, der Land-, Schwer- u n d Textilmaschinenbau und ganz besonders die W a f f e n p r o d u k t i o n und die Elektroindustrie. Die Bedeutung, die der Maschinenbau innerhalb weniger Jahrzehnte erlangte, sein Wachstum besonders an der Wende von den neunziger Jahren bis in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, drücken unter anderem folgende Zahlen aus: Waren 1882 nur 110 000 Arbeitskräfte in der Maschinenindustrie beschäftigt, so stieg deren Zahl bis 1895 auf 147 000, und 1907 waren schon 469 000 Arbeitskräfte tätig. Damit hatte die Maschinenindustrie zwischen 1895 und 1907 mit weitem Abstand die höchste Steigerung vor allen anderen Industrien erzielt. 422 Gleichzeitig waren in der Maschinenbauindustrie 62 % der Beschäftigten Facharbeiter. Sie rangierte damit an zweiter Stelle unter den wichtigsten Industrien. 4 2 1 Ebenso eindeutig führte die Maschinenindustrie im T e m p o der Leistungssteigerung der benutzten Kraftmaschinen. Die 1907 installierte Kraftmaschinenleistung war um das 6,9fache größer als die von 1895. Die Steigerung in der nächstfolgenden G r u p p e , der Metallverarbeitung, betrug nur das 3,1 fache. 424 Von der Modernität der Produktionstechnik im Maschinenbau zeugen auch, die nachstehenden Werte: Zwar nahm die Industrie der Maschinen, Instrumente u n d Apparate in der Rangfolge der Betriebe, die Elektrizität benutzten, mit 8 185 Betrieben nur den vierten Platz ein. Aber im Verbrauch an Elektroenergie lag sie mit 260 845 kWh nach dem Bergbau, Hütten- und Salinenwesen u n d der Torfgräberei auf dem zweiten Platz. Das zeigt, d a ß sich im Maschinenbau schon mehr Betriebe der Elektroenergie bedienten als der D a m p f k r a f t , denn die D a m p f k r a f t nutzten nur 6 244 Betriebe, allerdings mit einer Kapazität von 1 128 269 PS (834 919 kW). 425 Die wesentlichsten Ergebnisse der Entwicklung der Produktivkräfte im Maschinenbau jener Zeit bestanden nicht nur in seiner quantitativen Ausdehnung, in der Z u n a h m e der Arbeitsteilung und Spezialisierung, im partiellen Übergang zur Serienfertigung, sondern darin, d a ß sich der Werkzeugmaschinenbau als Zweig des Maschinenbaus formierte. Diese Entwicklung resultierte aus den neuen Anforderungen, die der N ä h m a s c h i n e n b a u , der Motoren- und Turbin e n b a u usw. stellten und daraus, d a ß die Funktionstüchtigkeit der Arbeitsmittel an die optimale Genauigkeit ihrer Teile gebunden war, eine Genauigkeit, die mit relvativ grob arbeitenden Metallbearbeitungsmaschinen und manueller Nacharbeit nicht erzielt werden konnte. Umgekehrt stimulierte die maschinelle Produktion von Werkzeugmaschinen nicht nur quantitativ den Maschinenbau, sondern sie trug zur Entfaltung der feinmechanisch-optischen Industrie, der Kraftfahrzeugproduktion, des Elektromaschinenbaus usw. bei. 132
D e r Bedarf an W o h n b a u t e n , Industrie- und Verkehrsbauten wuchs durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach 1870 schnell an. Bei der Bauproduktion im engeren Sinne handelte es sich aber in der Regel um eine saisonale Produktion unter freiem Himmel, deren Standort häufig wechselte. Die Mechanisierung verlief deshalb im Bauwesen äußerst schleppend. Die Entwicklung u n d Anw e n d u n g von Arbeitsmaschinen und mechanischen Hebezeugen waren nur dort gewinnbringend, wo Antriebsmaschinen, in der Regel Lokomobile, rentabel eingesetzt werden konnten. Die Zahl der größeren Bauten, die den Einsatz von dampfgetriebenen Hebezeugen, D a m p f r a m m e n oder D r u c k l u f t h ä m m e r n für die Unternehmer profitabel gemacht hätte, blieb jedoch in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern relativ unbedeutend. So spektakuläre Bauten wie den Pariser Eiffelturm (1889) oder das 1884 in Eisenskelettbauweise errichtete H o m e Insurance Building in Chicago kannte Deutschland vor der Jahrh u n d e r t w e n d e nicht. Dies um so weniger, als es in Deutschland nicht eine so umfangreiche Bodenspekulation wie in den USA gab. Deshalb bestand kein intensiver ökonomischer Zwang zur Errichtung von Hochbauten. Da Arbeitskräfte in ausreichender Zahl zur Verfügung standen, fehlte auch von dieser Seite her der notwendige Druck zur Mechanisierung der Bauarbeit. Die Handarbeit blieb daher, besonders im Wohnungsbau, bis in das 20. J a h r h u n d e r t hinein vorherrschend. Die Verwendung mechanischer Hebezeuge, von Baggern und anderen Transportmaschinen beschränkte sich auf größere öffentliche Bauten, Verkehrsbauten und den Bau von Großbetrieben, da hier z u n e h m e n d die Skelettbauweise und die monolithische Bauweise A n w e n d u n g f a n d e n . Obwohl in den Jahrzehnten zwischen den siebziger Jahren und dem ersten Weltkrieg die Arbeiterviertel in den Städten emporschössen, zahlreiche Städte erst jetzt zu G r o ß s t ä d t e n und Industriezentren wurden, die erste Generation der Fabrikgebäude durch die zweite ersetzt wurde u n d auch neue Fabriken einen gewaltigen B a u a u f w a n d erforderten, kam es nur zu geringfügigen Veränderungen der Produktionstechnik im engeren Sinne. Die gewaltigen Bauleistungen beruhten vielmehr auf dem massenhaften Einsatz von Bauarbeitern, deren Arbeitsorganisation der des Handwerks und der M a n u f a k t u r entsprach, und auf wesentlichen Verbesserungen der Technologie der Baustoffproduktion. Vom geringen Mechanisierungsgrad der Bauproduktion zeugt, d a ß das preußische Baugewerbe 1877/78 nur 43 stehende Dampfkessel besaß, 426 und die deutsche Bauwirtschaft 100 feststehende D a m p f m a s c h i n e n nutzte. 427 Der konservative Charakter der Bautechnik konnte erst ü b e r w u n d e n werden, als mit der Entwicklung von Kleinkraftmaschinen, besonders aber von Elektromotoren, die Kraftmaschinen auch in der Bauwirtschaft Einzug hielten. Die Zu133
2.2.3.4. Das Bauwesen
426 Engel. E„ 1880, S. 21. 427 Ebenda, s. 199.
n ä h m e der Produktionstechnik in der entstehenden Bauindustrie läßt sich an Zahl, Art und Leistung der motorischen Kräfte, die in den Tabellen 47 und 48 ausgewiesen sind, indirekt ablesen. Tabelle 47 Zahl, Art und Leistungsfähigkeit der motorischen Kräfte im deutschen Baugewerbe 1907
Art der Antriebsenergie a
Z a h l der Betriebe
PS-Leistung der K r a f t m a s c h i n e n
Wind Wasser Dampf Elektrizität
36 152 1850 2145
4093 142 849 127418
(3 028) (105 708) (91012,9)
a
unberücksichtigt bleiben Leuchtgas-, Spiritus-, Petroleum-, Benzin-, Äther-, D r u c k l u f t m o t o r e n u n d sonstige K r a f t m a s c h i n e n . — Zahlen in K l a m m e r n in kW. Errechnet n a c h : SlDR, Bd. 214, II, 1910, S. 2 / 3 .
Tabelle 48 Art und Zahl der Kleinkraftmaschinen im deutschen Baugewerbe 1907
Art der M o t o r e n
Zahl der Betriebe
PS-Leistung
(kW)
Leuchtgas Spiritus Petroleum Benzin u. Äther Heißluft Druckluft sonst. K r a f t m a s c h i n e n
584 17 88 634 15 17 73
4542 141 550 4586
(3 361) (104) (407) (3 393) .
Errechnet n a c h : SlDR,
—
278 1588
(205) (1 175)
Bd. 214, II, 1910, S. 2 / 3 .
Die Werte zeigen, d a ß das Baugewerbe zu den Zweigen der Produktion gehörte, die über die wenigsten Antriebsmaschinen und die geringste Zahl von Arbeits- u n d Transportmaschinen verfügten. D e n n o c h hatte auch in der Bauproduktion die Ablösung der Handarbeit durch die Maschinenarbeit begonnen. Mit der Motorisierung im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verstärkte sich auch in Deutschland die Verwendung von D a m p f r a m m e n u n d dampf- wie elektrisch betriebenen Hebezeugen, von Preßlufthämmern, Mörtelmischmaschinen und Schmalspurbahnen. Die eigentliche Bauproduktion blieb zunächst konservativ und war auf die Arbeitsweise von Klein- und Mittelbetrieben beschränkt," u n d die Mechanisierung erfaßte zunächst nur die mit Muskelkraft nicht mehr zu bewältigenden Transportprozesse. In der Baustoffproduktion vollzogen sich schon vor der J a h r h u n d e r t w e n d e außerordentlich positive Entwicklungen. Die Produktion der traditionellen Baustoffe, wie Ziegel, Holz und Kalk, wurde stärker mechanisiert. Lehm als Bindemittel wurde in ländliche Gegenden verdrängt. Mit der Steigerung der Kohlenproduktion wurde es möglich, die thermischen Verfahren zur Herstellung von Baustoffen zu verbessern und eine kontinuierliche G r o ß p r o d u k t i o n zu entwickeln. Als Mitte der fünfziger Jahre die ersten Ringöfen eingeführt wurden, hatte das nicht nur eine Verminderung des Brennstoffbedarfs um etwa 60 % zur Folge, sondern der Ringofen erlaubte einen kontinuierlichen Ziegelbrand. 4 2 8 Der in den siebziger Jahren beginnende Einsatz von dampfgetriebenen Ziegelpressen wirkte sich nicht nur positiv auf die H ö h e der Produktion aus; auch Qualität und Vielfalt der Ziegelformen konnten verbessert werden. Allerdings blieb Deutschland auch in dieser Hinsicht hinter den USA zurück. War dort der Hohlziegel, der sich durch eine gute Wärmedämmung und ein geringeres Gewicht auszeichnet, schon am Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, so kamen geschlossene Hohlziegel in Deutschland erst unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg auf.
428 Rübberdl.R.,
1972, S. 155.
Mit der Verbesserung der Ziegelproduktion verlor der Naturstein als Bauelement an Bedeutung. D e n n o c h spielten Natursteine im H o c h b a u — besonders aber bei Verkehrsbauten — weiter eine große Rolle. An der J a h r h u n d e r t w e n d e setzte bei der Gewinnung und Verarbeitung von Natursteinen die Ablösung der 134
gwTTT^T-g 7 7
yy r r m
37 Fabrik u n d Lager f ü r M o n i e r r ö h r e n , Berlin-Rixdorf (1894)
Handarbeit durch die Maschinenarbeit ein. Motorbetriebene Zerkleinerungsmaschinen, Gesteinsägen, Fräsen und Poliermaschinen, Schmalspurbahnen und Kabelkräne sind dort erste Zeugen der Mechanisierung. Die Maschinenarbeit trieb insbesondere den Abbau und die Verarbeitung der Hartsteine voran. Gleichzeitig gewann Glas in Form von Ziegeln mit verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten an Bedeutung. Die wohl seit J a h r h u n d e r t e n wichtigste Veränderung in der Baustoffproduktion bildete die Erfindung des Stahlbetons. Stahlbeton erhöhte die Bruchfestigkeit, Tragfähigkeit und Feuersicherheit der Bauten; er schloß die Fäulnisbild u n g und die Schwammbildung aus. Vor allem aber ermöglichte Stahlbeton — neben der industriellen Vorfertigung von Bauelementen — eine völlig neue konstruktive und architektonische Gestaltung der Bauwerke. Als Erfinder dieser Technologie gilt der französische Gärtner Joseph Monier. 1868 erhielt er f ü r nach diesem Verfahren hergestellte Kübel und Rohre für gärtnerische Zwecke sein erstes Patent. Ein Jahr später wurde ihm ein zweites Patent für die Produktion von Stahlbetonplatten erteilt. Die ersten Versuche in dieser Technologie waren allerdings schon in den fünfziger Jahren in den USA angestellt worden, u n d bereits 1861 hatte der Franzose François Coignet mit Eisenstäben beziehungsweise mit Eisennetzen bewehrte Träger hergestellt. Trotz der offenkundigen Vorzüge des Monierverfahrens erwarben erst 1880 und 1885 zwei deutsche Unternehmen die Patente. Die Portlandzementproduktion wurde in Deutschland schon in den fünfziger Jahren a u f g e n o m m e n . Der eigentliche Betonbau setzte jedoch erst in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ein. D a d u r c h wurde die Zementproduktion nachhaltig belebt. Die technologische Basis dieses Aufschwungs bildete der partielle Übergang vom Ringofen zum leistungsfähigeren u n d effektiveren Schachtofen. Waren 1855 für die Produktion von 1 000 t Zement noch 25 Arbeitskräfte und eine Dampfmaschinenleistung von 10 PS (7,4 kW) notwendig, so verringerte sich die Zahl der Arbeitskräfte bis 1895 auf acht, während die notwendige Maschinenkraft auf 12 PS (8,88 kW) anstieg. Bis 1907 sank die Zahl der Arbeitskräfte auf sechs, die Maschinenleistung erhöhte sich dagegen auf 20 PS (14,8 kW). 429 Der Umsatz der deutschen Zementindustrie stieg von 1,55 Mio. t im Jahre 1895 auf 5,73 Mio. t im Jahre 1914.4W Diese Leistungssteigerung beruhte vor allem auf dem Übergang zur Großproduktion und die damit verbundene um 1900 einsetzende Ablösung der Schachtöfen und auch der Ringöfen durch den 1885 in England entwickelten D r e h o f e n . Ergänzt wurde auch hier die Verbesserung des thermischen Verfahrens durch die Mechanisierung der Nebenprozesse und der Gewinnung der Rohmaterialien f ü r die Zementherstellung. Der Erfolg der deutschen Zementindustrie beruhte auch darauf, daß die deutschen Unternehmer sehr früh erkannten, d a ß der Betonbau sich nur d a n n durchsetzen konnte, wenn es gelang, die wissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Baustoffherstellung zu berücksichtigen, das heißt seine Eigenschaften ex-
429 Kühn, G., 1937, S. 2. 430 E b e n d a , S. 50.
akt zu bestimmen, die Produktion einer bestimmten Zementsorte bei gleichmäßiger Qualität und in beliebiger Quantität zu gewährleisten. 411 Während in England jede Zementfabrik darauf bedacht war, ihr Herstellungsverfahren Außenstehenden vorzuenthalten, schlössen sich 1877 alle 23 deutschen Portlandzementproduzenten mit dem Ziel zusammen, ihre Produktion technisch und wissenschaftlich zu vervollkommnen, einheitliche Qualitätsvorschriften und Prüfverfahren auszuarbeiten und die Werkstofforschung zu fördern. Fünf Jahre später lagen die ersten Richtlinien vor, während es in England erst 20 Jahre später zu analogen Regelungen kam. 432 Der deutschen Zementindustrie kam es besonders darauf an, die in der Hüttenindustrie in immer größerer Menge anfallende Hochofenschlacke sinnvoll zu verwenden — ein Bestreben, das sich 1892 und später in den Richtlinien zur fabrikmäßigen Herstellung des Hüttenzements manifestierte. Dieser Baustoff fand seit 1901 als Eisenportlandzement mit einer Beimischungvon 30 % Hochofenschlacke Verwendung. 4 3 1 Die Zementindustrie war die eine Säule der Massenproduktion von Baustoffen, die E r h ö h u n g der Leistungsfähigkeit der Eisen- und Stahlproduktion bis hin zur Walzwerktechnik die zweite. Von besonderer Bedeutung war dabei seit E i n f ü h r u n g des Bessemerverfahrens die Produktion von homogenem Stahl mit hoher Belastbarkeit, vor allem aber die Berechnung von Stählen. Beide Faktoren waren G r u n d b e d i n g u n g e n sowohl für die A u s d e h n u n g des Betonbaus als auch der Skelettbauweise. Seit Mitte der neunziger Jahre entstand innerhalb der Baustoffindustrie ein weiterer Zweig, der Baustoffe massenhaft herstellte: die Kalksandsteinindustrie. Während keramische Ziegel eine außerordentlich zeitaufwendige Produktion erforderten, konnten Kalksandsteinziegel und andere Bauelemente, die aus Kalk und Sand gepreßt wurden, innerhalb weniger Stunden hergestellt werden. Deshalb dehnte sich diese Produktion seit der J a h r h u n d e r t w e n d e ebenso rasch aus wie S o n d e r b a u s t o f f u n t e r n e h m e n , die D a c h p a p p e , Fliesen, Bauplatten, Fassadenverkleidungselemente usw. produzierten. 434 Der Zusammenschluß der Zementproduzenten, gerichtet auf die Maximierung der Profite, war sehr hilfreich für die Verbesserung der Zementproduktion. Die Monopolisierung des Eisenbetonbaus brachte dagegen zunächst nachteilige Folgen. 1884 kaufte die Firma Freytag & Heidschuh in Neustadt a. d. Hardt — aus der später das Unternehmen Wayß & Freytag hervorging — Moniers Patent für Süddeutschland auf. Ein Jahr später erwarb die Firma G. A. Wayß das Vorkaufsrecht des Patents f ü r die anderen Teile Deutschlands. 435 Beide Unternehmen bemühten sich zwar um die Verbesserung des Monierverfahrens und tauschten die Ergebnisse ihrer Untersuchungen aus, aber beide hüteten das Verfahren vor anderen Bauunternehmen. Die Ausschaltung der Konkurrenz führte deshalb hier seit Mitte der neunziger Jahre zu einer Erstarrung. Der Eisenbeton ersetzte zwar, wo das sinnvoll war, die traditionellen Baustoffe Holz, Ziegel und Eisen, aber eine konstruktive Weiterentwicklung unterblieb. 4 3 6
431 432 433 434 435 436 437
Becker, F., 1931/1932, S. 43. Ebenda, S. 44. Ebenda. Rübberdl, R., 1972, S. 160. Becker. F., 1931/1932, S. 49. Ebenda, S. 52. Ebenda.
Es bedurfte des Anstoßes aus dem Ausland, um den Stillstand in der Entwicklung der Eisenbetonbauweise zu überwinden. Wieder war es ein Franzose, der Bauunternehmer François Hennebique, der eine Entwicklung einleitete, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt hat. Bis dahin wurden im H o c h b a u nur Einzelteile — wie Deckplatten und Gewölbe — in Eisenbeton ausgeführt. Für Säulen, Unterzüge usw. verwendete man dagegen metallische Werkstoffe. Hennebique entwickelte u n d realisierte nun die Idee der monolithischen Bauweise. Er stellte alle Teile aus einem Baustoff her und verband sie konstruktiv. 437 Da Hennebique auch in Deutschland Agenturen einrichtete und den ansässigen Firmen Pläne gegen eine G e b ü h r von nur 10 % der Bausumme überließ, waren Unternehmen wie Wayß & Freytag gezwungen, sich mit der monolithischen Bauweise zu befassen. Schon 1899 errichtete das U n t e r n e h m e n zum Beispiel in Straßburg ein achtgeschossiges Lagerhaus, dem zahlreiche Fabrikhallen, Lagerhäuser, Warenhäuser, aber auch Flüssigkeitsbehälter folgten. Diese Bauten, denen Brücken mit großen Spannweiten, Tunnel- und Wasserbauten u n d 1906 Eisenbahnschwellen aus Eisenbeton folgten, brachten nicht 136
nur eine höhere Feuersicherheit und geringe Unterhaltungskosten bei wesentlich erhöhter Funktionstüchtigkeit. Sie führten zu Materialeinsparungen u n d erheblichen Senkungen der Lohnkosten, sowohl durch die Verkürzung der Bauzeiten als auch durch den Wegfall lohnintensiver Arbeiten. 438
Seit dem E n d e der Industriellen Revolution hatte sich das Entwicklungstempo der K o n s u m g ü t e r p r o d u k t i o n verlangsamt, während das T e m p o der Produktion von Produktionsmitteln stetig wuchs. U m die J a h r h u n d e r t w e n d e erreichte die Produktion schwerindustrieller Güter den U m f a n g der Konsumgüterindustrie, um in der Folgezeit ständig an Bedeutung zu gewinnen. Die Ursachen dieser Erscheinung lagen in den ständig intensiveren Bemüh u n g e n um die allgemeine Mechanisierung der Produktion. Seit der Jahrhund e r t w e n d e entfalteten sich jene Zweige der industriellen Produktion am nachhaltigsten, die mit der Rüstungsproduktion verbunden waren. Die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts systematisch betriebene Politik der herrschenden Klasse um die Neuaufteilung der Welt, hervorgerufen durch die ungleichmäßige ökonomische und politische Entwicklung der kapitalistischen Hauptländer, bildete den politischen Hintergrund der Entwicklung des Rüstungssektors. Da die Schwerindustrie am stärksten monopolisiert und technologisch der Leichtindustrie weit überlegen war, mußte diese Politik die Relationen zwischen der Leicht- u n d der Schwerindustrie weiter verändern. Die Rüstungsproduktion war durch den gesicherten Absatz von Serien- und Massenerzeugnissen in j e d e m Fall profitabel. Damit war aber auch die Finanzierung der technischen Entwicklung, der Forschung, der Ausbildung usw. in der Schwerindustrie gesichert. Die expansive Politik des deutschen Monopolkapitalismus begünstigte die schwerindustrielle Produktion ebenso, wie sie die Entwicklung der Konsumgüterproduktion hemmte und deren Wachstumstempo einschränkte.
2.2.3.5. Die Konsumgiitererzeugung
Der relative Rückgang zeigte sich in allen Zweigen der Konsumgüterproduktion, in der Holzindustrie, Nahrungs- und Genußmittelproduktion wie in der Bekleidungsindustrie. Er erfaßte mit der Textilindustrie — die älteste kapitalistische Industrie — und der Holzindustrie auch solche Industrien, in denen erst nach der Industriellen Revolution eine umfassende Mechanisierung eingesetzt hatte. Der Bedeutungswandel in der Textilproduktion äußerte sich darin, d a ß die Z u n a h m e der Zahl der Arbeitskräfte sich im Vergleich zur Gesamtindustrie, aber auch zum Bergbau, zur Eisenhüttenindustrie, zur chemischen und zur Maschinenindustrie zwischen 1895 u n d 1907 am langsamsten erhöhte. 439 Ähnliches gilt f ü r die Leistung der Kraftmaschinen, die im gleichen Zeitraum nur um das l,7fache z u n a h m u n d damit hinter der Entwicklung in den anderen genannten Industrien zurückblieb. 4 4 0 Doch schon die Relation zwischen der Z u n a h m e der Zahl der Beschäftigten und der genutzten Kraftmaschinenleistung macht deutlich, d a ß sich die Textilindustrie, wie alle anderen Konsumgüterindustrien, durchaus weiterentwikkelte. Dies sowohl durch neue u n d leistungsfähigere Arbeits- und Antriebsmaschinen als auch durch neue Techniken der Textilveredlung. Seit E n d e der neunziger Jahre f a n d e n in der Regel in England, der Schweiz, in Sachsen u n d dem Elsaß produzierte Ringspinnmaschinen in den Spinnereien Verwendung. Notwendig wurde die leistungsfähigere Ringspinnmaschine, weil seit Mitte der neunziger Jahre automatische Webstühle aus den USA Eingang in die deutsche Textilproduktion g e f u n d e n hatten, deren hoher Bedarf an Gespinst die Verbesserung der Spinnerei verlangte. 441 Die automatischen Webstühle der Bauart N o r t h r o p , 1903 zum Beispiel in einem der bedeutendsten deutschen Textilunternehmen, der Augsburger Kammgarnspinnerei, eingeführt, steigerten Arbeitsproduktivität u n d Arbeitsintensität wesentlich. Eine Arbeitskraft war in der Lage, acht bis zehn Webstühle zu bedienen. 4 4 2 Auch für die textilen Randin137
438 439 440 441 442
Ebenda, S. 54f. Krupski, Fr., 1926, S. 10. Ebenda, S. 12. Hassler, Fr., 1939, S. 91. Mahr. O., 1937, S. 158.
443 444 445 446 447 448 449 450 451 452 453 454
Barth, 1973, S. 72. Mahr, O., 1937, S. 158. Hassler, Fr., 1939, S. 92. Ebenda. Gross, A. Th., 1933, S. 71. Hassler, Fr., 1939, S. 92. Ebenda, S. 93. Rübberdl, R., 1972, S. 102. StDR, Bd. 214, II, 1910, S. 2f. Hölken, M., 1926, S. 4. Ebenda, S. 93. Mahr, O., 1937, S. 159.
dustrien, zum Beispiel die Stickerei, wurden um die J a h r h u n d e r t w e n d e Automaten entwickelt, die sich rasch durchsetzten. 4 4 3 Ist in der Textilindustrie die E i n f ü h r u n g leistungsfähigerer Arbeitsmaschinen u n d deren rasche Verbreitung festzustellen, so zeigt sich gleichzeitig das Bemühen der Unternehmer, diese Maschinen profitgünstiger zu nutzen. Z u r Vermeidung von Stillstandzeiten am Webstuhl wurde der längst bekannte sogenannte „Kettenwächter" verstärkt eingeführt. Die volle Auslastung der modernen Produktionstechnik wurde durch die Einführung des Schichtbetriebes gewährleistet. 444 Dem kam entgegen, d a ß Teile der deutschen Textilindustrie bereits seit dem Ende der achtziger Jahre Arbeitsräume elektrisch beleuchteten und versuchten, den G r u p p e n a n t r i e b der Arbeitsmaschinen einzuführen. 4 4 5 Die Entwicklung der Röhrenkessel und der D a m p f m a s c h i n e mit Ventilsteuerung hatte zwar eine Anpassung dieser Aggregate an die Bedürfnisse der Textilindustrie gebracht, aber erst die D a m p f t u r b i n e führte zum großen Durchbruch in der Elektrifizierung der Textilproduktion, der sich im stärkeren Einsatz von Elektromotoren nach der J a h r h u n d e r t w e n d e äußerte. 446 Siemens hatte bereits 1879 — zu einer Zeit also, in der die Handweberei in Deutschland noch eine beträchtliche Rolle spielte — bei der Berliner Gewerbeausstellung einen mit einem Elektromotor betriebenen Webstuhl vorgeführt. 4 4 7 Der Elektromotor wurde auch zur Verbesserung des innerbetrieblichen Transports genutzt. Sowohl die waagerechte Förderung der Rohstoffe, der Halb- und Fertigfabrikate, als auch die senkrechte Beförderung konnten mit Hilfe von Transportbrücken und Laufkränen schneller bewältigt werden. 448 Die Elektroenergie erwies sich für die Entwicklung der Textilproduktion auch insofern als außerordentlich hilfreich, da sich insbesondere auf ihrer A n w e n d u n g b e r u h e n d e Bleichverfahren in der Veredelungsindustrie nach der Jahrhundertwende durchsetzten. 4 4 9 Gewiß wäre es unrichtig, davon auszugehen, d a ß schon vor dem ersten Weltkrieg die D a m p f m a s c h i n e in der Weberei und Spinnerei durch den Elektromotor abgelöst worden wäre. 450 Aber bereits 1907 wurden 7 020 Textilbetriebe mit Strom versorgt. Damit stand die Textilbranche an f ü n f t e r Stelle in der deutschen Industrie. Im Stromverbrauch nahm sie den sechsten Platz ein. Allerdings — und das m u ß auch gesehen werden — gewannen zur gleichen Zeit 8 323 Textilunternehmen ihre Antriebsenergie mit Hilfe von D a m p f m a s c h i n e n , deren Kapazität 779 652 PS (576 942 kW) betrug. 1 685 Textilbetriebe arbeiteten noch mit Wasserkraft. Ihre Leistung lag bei 82 621 PS (61 139 kW). 451 Neu unter den vorhandenen Spinnstoffen war die Kunstseide. 1891 hatte Hilaire de C h a r d o n n e t in Frankreich und in der Schweiz mit dem A u f b a u von Fabriken zur Produktion der von ihm entwickelten Kunstseide begonnen. 4 5 2 In Deutschland erlangte dieser neue Spinnstoff vor dem ersten Weltkrieg keine wirtschaftliche Bedeutung. D e n n o c h war die Kunstseidenproduktion von Bedeutung, weil sie davon kündet, d a ß auch die textile Produktion sich die Wissenschaft dienstbar machte. Die Beziehung von Wissenschaft und Textilproduktion bewährte sich jedoch viel nachhaltiger in der Nutzung der Teerfarben, der Verbesserung der Bleichverfahren, der Bleichtechnik und der Mercerisation (Veredlung von Baumwollstoffen). Verbunden war damit die um die Jahrhundertwende einsetzende Ablösung der primitiven Sortier- und Musterzimmer durch chemische Laboratorien, die mit allen erforderlichen Prüfgeräten bis hin zum Mikroskop ausgestattet waren. 453 Der Übergang zum Großbetrieb verlief in der Textilproduktion einfacher als zum Beispiel im Maschinenbau, weil die Textilindustrie zwar auch auf die Zusammenarbeit mit den Banken angewiesen war, aber nicht in dem M a ß e wie eine Reihe anderer Zweige einer größeren Zahl von Technikern und Wissenschaftlern bedurfte. 4 5 4 Die Konfektionsindustrie blieb dagegen sowohl in der Organisationsform der Produktion als auch in der Technologie weit zurück. Obwohl schon in der vormonopolistischen Ära größere Produktionseinheiten entstanden waren, so in der Produktion von Wäsche u n d Oberbekleidung, basierte das Bekleidungsgewerbe letztlich auf der Kleinproduktion, in der das handwerkliche Geschick 138
38 G a t t e r s ä g e n in einer S c h n e i d e m ü h l e
39 M a s c h i n e n r a u m eines Holzverarbeit u n g s b e t r i e b e s (um 1900)
40 Bohrmaschinen und Fräsen zur H o l z b e a r b e i t u n g
41 Vollgatter und B a n d s ä g e n
139
42 Berliner Konfektionsarbeiterinnen im Heimgewerbe (vor 1900)
43 Singer-Doppelsteppstichnähmaschine für Treibriemen
455 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R„ 1978, S. 348. 456 StDR, Bd. 214, II, 1910, S. 2f. 457 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann. R., 1978, S. 348.
der unmittelbaren Produzenten ausschlaggebend war. Die Masse der verbesserten Spezialmaschinen, wie Knopfloch- oder Zuschneidemaschinen, wurde nicht nur mit Hilfe der menschlichen Muskelkraft betrieben — die D a m p f b ü gelmaschine wurde erst 1907 eingeführt—, 4 5 5 sondern sie verlangte ein hohes M a ß handwerklicher Befähigung. Wenn 1907 nur 654 Betriebe des Bekleidungsgewerbes D a m p f k r a f t — mit einer Leistung von 22 542 PS (16 681 kW) — einsetzten, so zeugt das von technologischer Unterentwicklung. Lag das Bekleidungsgewerbe, gemessen an der Zahl der Dampfmaschinenbetriebe, an letzter Stelle in der Industrie, so wurde es in der Dampfmaschinenleistung nur von der polygraphischen Industrie unterboten. Noch geringfügiger war die Verwendung der Elektroenergie. Zwar verfügten 2 145 Betriebe des Bekleidungsgewerbes über Elektroenergie, aber im Verbrauch lag dieser Zweig mit 11 221 kWh an letzter Stelle. 456 Ähnlich langsam entwickelte sich der Maschineneinsatz in der Schuhproduktion. Während in den USA die Herstellung von Schuhen um die Jahrhundertwende mechanisiert war, 457 blieb die deutsche Industrie — obwohl die industrielle Fertigung zunahm — weit zurück. Wurde 1871 erstmals die D a m p f k r a f t in der deutschen Schuhproduktion eingesetzt, so bedienten sich 1895 bereits 140
449 Schuhfabriken der motorischen Kraft. Bis 1911 erhöhte sich ihre Zahl auf etwa 2 000. 458 Existierten 1882 in Deutschland 71 Schuhfabriken mit mehr als 50 Beschäftigten und 163 182 sogenannte Alleinbetriebe, so stieg die Zahl der Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten bis 1895 auf 258 u n d bis 1907 auf 484. Die Zahl der Alleinbetriebe erhöhte sich auf 169 434, um d a n n auf 140 090 abzusinken. 4 5 9 Während aber in den Fabriken arbeitsteilig produziert wurde und Spezialmaschinen Verwendung fanden, wurden die Kleinbetriebe zum Teil schon aus der Position des Produzenten in die des Reparateurs gedrängt. In der Nahrungs- u n d Genußmittelproduktion, dem Industriezweig mit den meisten Betrieben, trat der Kleinbetrieb, ja der Alleinbetrieb, am häufigsten auf. Dieser Zweig blieb deshalb technologisch außerordentlich rückständig. Z w a r liefen 1907 in mehr als 20 000 Betrieben D a m p f m a s c h i n e n mit einer Leistung von 770 510 PS (570 177 kW), aber diese h o h e Maschinenkapazität verteilte sich auf eine große Zahl von Brennereien, Brauereien, D a m p f m ü h l e n (vgl. 3.6) und D a m p f b ä c k e r e i e n . Die 17 097 Wind- u n d 26 923 Wassermühlen sind umgekehrt ein Ausweis des niedrigen technischen Standards der zahlreichen Kleinbetriebe dieses Zweiges. In keinem anderen Produktionszweig waren Wind- und Wassermühlen so verbreitet wie gerade in der Nahrungs- und Genußmittelproduktion. Wenn dieser Zweig 1907 auch gleichzeitig die größte Zahl der mit Elektrizität ausgestatteten Unternehmen aufwies und im Stromverbrauch mit 141 292,2 kWh nach dem Bergbau und der Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate den dritten Platz in der deutschen Industrie einnahm, so deshalb, weil der Elektromotor in Fleischereien, Bäckereien usw. zum Antrieb einfacher Arbeitsmaschinen gebräuchlich wurde. 460 Auf den ersten Blick mag es erstaunlich erscheinen, d a ß die erste in E u r o p a eingesetzte Fließförderanlage 1905 in der Backwarenfabrik Bahlsen in H a n n o ver ihren Betrieb aufnahm. 4 6 1 Die Backwarenproduktion war aber, soweit sie fabrikatorisch betrieben wurde, Massenproduktion. Sie konnte leicht zergliedert werden und eignete sich daher für die Fließarbeit gut. Bereits in den sechziger Jahren war Fließarbeit in den Schlachthöfen von Cincinnati und Chicago in einfachster Form bekannt. Diese Schlachthöfe waren der Ausgangspunkt der Fließbandarbeit in den USA, die in solcher Weise perfektioniert wurde, d a ß sich Ford, als er das Fließband in die Kraftfahrzeugproduktion einführte, an der Arbeitsorganisation der Schlachthöfe orientierte. 462 W ä h r e n d in den USA wissenschaftlich fundierte Konservierungsverfahren entwickelt wurden, die Herstellung von Konserven und deren Verschluß durch die Entwicklung entsprechender Arbeitsmaschinen ihre Massenproduktion ermöglichte, beharrte die deutsche Industrie noch weitgehend auf den traditionellen Konservierungsverfahren, wenn auch die Kühltechnik durch die Verbreitung der von Linde entwickelten Ammoniakkältemaschine seit den neunziger Jahren das Natureis zu verdrängen begann.
Die G r u n d l a g e n der veränderten Situation der Produktivkraft Mensch bildeten die seit der Mitte der neunziger Jahre beschleunigt verlaufende Entwicklung zur kontinuierlichen G r o ß p r o d u k t i o n besonders in den G r u n d s t o f f i n d u strien, die Weiterentwicklung der Arbeitsmaschinen u n d Antriebsmaschinen u n d der Transportbehälter. Sie erfuhren mit dem beginnenden 20. J a h r h u n d e r t insofern eine neue Qualität, als die Nutzung der Elektroenergie als Antriebsenergie die Leistungsfähigkeit der Arbeits-, Antriebs- u n d Transportmaschinen erhöhte. Der Braunkohlenbergbau konnte größere Bagger u n d Wagen einsetzen u n d noch vor dem ersten Weltkrieg zur G r o ß r a u m f ö r d e r u n g übergehen. Die Eisen- und Stahlindustrie steigerte die Dimension ihrer Anlagen wesentlich u n d erhöhte die Produktivität der Versorgung u n d Entsorgung der Hochofenanlagen mit Hilfe der Elektromotoren nachdrücklich. Analoges gilt f ü r die Walzwerke und den Gießereibetrieb, wo der D a m p f a n t r i e b durch den Elektroantrieb ersetzt wurde und Drehkräne durch M e h r m o t o r e n k r ä n e mit hohen Laufgeschwindigkeiten abgelöst wurden. Die sogenannte Amerikanisierung 141
2.2.4. Die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen der Produktionstechnik und der Produktivkraft Mensch 458 459 460 461 462
Rehe, 1911, S. 209. Ebenda, S. 210. StDR, Bd. 214, II, 1910, S.2f. Bahlsen 1889-1964, 1964, S. 79. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann.R., 1978, S. 312.
der Grundstoffindustrie, die darauf abzielte, lebendige Arbeit durch vergegenständlichte Arbeit zu ersetzen, griff auch auf andere Zweige über. So in der Zementproduktion durch die Einführung der Drehöfen, wie generell im Übergang zu Wasserrohrgroßkesseln mit Kettenrostfeuerung, oder im Einsatz von automatischen Webstühlen und der beginnenden Mechanisierung in der Büroarbeit. Die technischen Verbesserungen in der Grundstoffindustrie zielten auf die Einsparung von Arbeitskräften und einen tiefgegliederten kontinuierlichen Produktionsfluß. Die so geschaffene Kontinuität der Produktion von Grundstoffen stellte erhöhte Anforderungen besonders an den Maschinenbau. Diesen wurde entsprochen, als durch die Verbindung von Arbeitsmaschine, Antriebsmaschine und Transmission in einem geschlossenen Komplex ein neuer Maschinentyp zunächst in der metallverarbeitenden Industrie entstand und, sich von dort ausbreitend, in immer zahlreichere industrielle Produktionen vordrang. Dieser neue Maschinentyp zeichnete sich in seiner Fortentwicklung durch eine große Antriebsleistung, eine hohe Arbeitsgeschwindigkeit mit ausgezeichneter Regulierbarkeit und durch die Möglichkeit der schnellen und einfachen Bedienung aus. Die Bedeutung des neuen Arbeitsmaschinentyps, der „zielbewußt und stoßkräftig" von der Elektroindustrie befürwortet wurde, 463 bestand vor allem darin, daß er die technologische Grundlage für den Übergang vom sogenannten Werkstattprinzip zur erzeugnisgebundenen Fertigung schuf. Damit entstanden neue Möglichkeiten zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur Steigerung der Arbeitsintensität. Die Bedeutung der Muskelkraft sank weiter. Für die Vertiefung der Spezialisierung der Produktion und der Produzenten entstanden neue Bedingungen. Dies wiederum begünstigte die maschinelle Herstellung austauschbarer Einzelteile, die eine Grundbedingung für die mechanische Fließfertigung zum Beispiel in der metallverarbeitenden Industrie war. Der Kreis von der kontinuierlichen Produktion von Eisen und Stahl über die Mechanisierung der Transportprozesse in der Schwerindustrie bis hin zum Maschinenbau schloß sich. Dies um so mehr, als das scientific management nach 1900 „in allen Industrieländern praktische Anwendung fand". 464 Die „wissenschaftliche Betriebsführung", die in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg kaum wirksam wurde, führte jedoch, wie selbst bürgerliche Wissenschaftler einräumen, „häufig zu einem inhumanen Arbeitsdrill . . . , der die Person des Arbeiters zum Sklaven der Maschine erniedrigte". 465 Dies ist insofern falsch, als die Unterwerfung des unmittelbaren Produzenten unter die Maschinerie bereits mit der ersten kapitalistischen Anwendung der Maschinenarbeit einsetzte. Sie ist zutreffend, weil sich das Taylorsystem wissenschaftlicher Methoden zur Perfektionierung der Unterwerfung des Produzenten bediente.
463 Matschoß, C./Schlesinger, G„ 1930, S. 144. 464 Rübberdt, R., 1972, S. 195. 465 Ebenda. 466 Jonas, W./Linsbauer, V./Marx, H„ 1969, S. 14 ff.
Das Tempo, in dem sich zwischen der Mitte der neunziger Jahre bis hin zum ersten Weltkrieg die Mechanisierung der industriellen Produktion vollzogen hatte, die Zunahme der Arbeitsgeschwindigkeit der Arbeitsmaschinen besonders durch die Anwendung des Elektromotors, die Vereinfachung der Arbeitsmaschine und die Möglichkeit der Mehrfachbedienung, führten zu neuen Anforderungen an den unmittelbaren Produzenten. Im Verlauf der Industriellen Revolution schied er aus einigen Teilfunktionen des Fertigungsprozesses aus. Die handwerkliche Geschicklichkeit und die Muskelkraft verloren an Bedeutung. Die Muskelkraft diente — neben der Durchführung von Transportprozessen — vor allem der Bewältigung der Steuer-, Regel- und Kontrollfunktionen. Dadurch trat eine erste Verlagerung in der Beanspruchung des Produzenten von der physischen zur psychischen Seite ein, die sich aus der einseitigen Entwicklung des Maschinenarbeiters ergab. Die Maschinenarbeit erforderte im Gegensatz zur Arbeit des Handwerkers ein logisches, abstraktes Denken, ein ständiges Beobachten und Analysieren der Arbeit der Maschine. 466 In dem Maße, wie sich die relativ einfachen Maschinen der Industriellen Revolution in der Phase der intensiven Produktion zu Maschinenkomplexen entwickelten, die Arbeitsgeschwindigkeiten wuchsen, die Steuer-, Regel- und Kontrollfunktionen zunahmen, eine größere Vielfalt besonders der metallischen Werkstoffe 142
eintrat, 467 die Anforderungen an die Arbeitsgenauigkeit stiegen, stieß die Produktionstechnik an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit der Produzenten. In der deutschen Industrie wurde in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg versucht, den sich mit der Entwicklung von Arbeitsmaschinen mit Elektroantrieb verstärkenden Widerspruch zum psychischen Leistungsvermögen des Maschinenarbeiters zu verringern, indem man besonders die Schaltvorrichtungen an den Maschinen so einfach wie möglich gestaltete. 468 Erwiesen sich dabei die Fortschritte in der Elektrotechnik insofern als vorteilhaft, als sie die elektrische Steuerung, Bremsung usw. ermöglichten, so war es umgekehrt gerade die Elektrotechnik, die die schnellere Arbeitsgeschwindigkeit, die präzisere Bearbeitung metallischer Werkstoffe usw. hervorrief. 469 Das heißt letztlich, Wissenschaft und Technik entwickelten Maschinen und Maschinensysteme, die auf eine optimale Auspowerung der psychischen Substanz der unmittelbaren Produzenten ausgerichtet waren. Wuchsen dadurch die Anforderungen an die Reproduktion der unmittelbaren Produzenten, so veränderten sich die Reproduktionsbedingungen der menschlichen Arbeitskraft keineswegs positiv. Die Anwendung der kindlichen Arbeitskraft und die Entwicklung der Arbeitszeit zeigten zwar eine rückläufige Tendenz, doch die Frauenarbeit nahm zu. Gleichzeitig stiegen sowohl die Arbeitsproduktivität als auch die Arbeitsintensität. Die Reallöhne dagegen — und sie sind für die Reproduktion der Arbeitskraft im weitesten Sinne der entscheidende Faktor — stagnierten. 470 Der Übergang von den extensiven Methoden der Produktion und der Ausbeutung zu den intensiven Methoden in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte den Bedarf an gelernten Arbeitern zunächst gesteigert. Die Herausbildung der komplexen Maschinensysteme an der Wende zum 20. Jahrhundert, die die Maschinenarbeit insofern vereinfachten, als sie die Zahl der notwendigen manuellen Arbeitsoperationen reduzierten, führten dagegen zu einem erneuten Abbau der notwendigen Qualifizierung der unmittelbaren Produzenten. Dieser Wandel drückte sich unter anderem darin aus, daß der im Handwerk ausgebildete Facharbeiter dem in der Industrie ausgebildeten Facharbeiter wich und die Maschinenarbeit selbst die Unterschiede zwischen dem in der Industrie ausgebildeten Facharbeiter und dem angelernten, also ungelernten Arbeiter, zu nivellieren begann. 471 Wie unterschiedlich groß allerdings die Anteile der Facharbeiter an der Anzahl der Arbeiter in den wichtigsten Industrien 1907 waren, zeigt Tabelle 49.
Zweig M e c h a n i s c h e Industrie
77,5
Maschinenindustrie
62,0
Bergbau
55,0
Textilindustrie
46,0
E l e k t r o t e c h n i s c h e Industrie
40,5
Eisenhüttenindustrie
29,5
C h e m i s c h e Industrie
10,5
G e s a m t e Industrie
58,5
Q u e l l e : Krupski,
Tabelle 49 Prozentualer Anteil der Facharbeiter an der Gesamtzahl der Arbeiter in ausgewählten deutschen Industrien 1907
in Prozent
F., 1926, S. 11.
Handelte es sich bei den Facharbeitern im Bergbau nicht um Industriearbeiter im eigentlichen Sinne, sondern in ihrer Masse um Häuer, deren Qualifikation grundsätzlich die eines Handwerkers war, und zum Teil um Maschinisten, so erklärt sich der niedrige Facharbeiteranteil in der chemischen Industrie aus der Spezifik dieser Produktion. Die Facharbeiter in den anderen Industrien waren nicht mehr Facharbeiter in dem Sinne, daß sie in der Lage gewesen wären, alle Arbeiten — sei es durch manuelle Arbeit, sei es mit Hilfe von Maschinen, die zur Erzeugung eines Produkts notwendig waren — durchzuführen. Es 143
467 Minchinton, 468
Wittmann,
469
Ebenda.
4 7 0 Kuczynski,
W., 1976, S. 108. K., 1960, S. 159. J., Bd. 4, 1967,
S. 326 ff. 471 E b e n d a , S. 300.
44 Lehrwerkstatt eines M a s c h i n e n b a u unternehmens
472 Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1975, S. 58. 473 Krupski, Fr., 1926, S. 65. 474 Malschoß. C./Schlesinger, G., 1930, S. 137 f. 475 E b e n d a , S. 139.
handelte sich vielmehr um Produzenten, die in der Industrie für eine spezifische Tätigkeit, für die Bedienung verwandter Maschinengruppen, zur Erzeugung bestimmter Erzeugnisse ausgebildet worden waren. Bestand der G r u n d t r e n d in den Anforderungen an die Produzenten in der Anpassung ihrer Fähigkeiten an die generelle Spezialisierung der Produktion, so wirkte dem entgegen, d a ß die Unternehmen einer gewissen Disponibilität ihrer Arbeitskräfte bedurften. 4 7 2 Deshalb verzichtete die Industrie zunehmend auf im H a n d w e r k allseitig ausgebildete Arbeitskräfte und ging um die Jahrhundertwende dazu über, eigene Lehrwerkstätten und Werkschulen einzurichten. Dabei dienten die Werkschulen nicht nur der Ausbildung der Lehrlinge, sondern auch der Anlernlinge und der Praktikanten. Zu den Großbetrieben, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts derartige Bildungseinrichtungen schufen — und nur sie führten diese Form der Aus- und Weiterbildung durch —, gehörten die Ludwig Loewe AG, die M A N , die Borsigwerke, Siemens & Halske u n d andere. 4 " Das Ausbildungsprogramm, ausgearbeitet und verwirklicht von Ingenieuren, Chemikern, aber auch von leitenden kaufmännischen Angestellten, war neben der Vermittlung allgemeinbildender technischer Fächer auf die Bedürfnisse der Produktion abgestimmt. 474 Der Lehrling wurde, wie es zum Beispiel in einer Festschrift der Ludwig Loewe AG heißt, in den beiden ersten Ausbildungsjahren f ü r den produktiven Betrieb „gängig" gemacht. 475 Diente das Ausbildungsprogramm der Heranbildung von Metallarbeitern, die die Maschinen und Werkstoffe ihres Zweiges beherrschen und damit über die notwendige Mobilität und Anpassungsfähigkeit verfügen sollten, so wurden sie nach Abschluß der Lehre an den Maschinen oder der Maschine eingesetzt, deren Produktion das Unternehmen bedurfte. Damit unterlagen sie der Monotonie der Maschinenarbeit bei höchster psychischer Belastung. Die technische Perfektionierung der Maschinen und der Maschinensysteme vergrößerte nicht nur das Proletariat, sondern brachte f ü r den unmittelbaren Produzenten eine weitere Verkümmerung seiner schöpferischen Fähigkeiten, sowohl im Vergleich zum Handwerker als auch zum Facharbeiter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Verkümmerung begann mit der E i n f ü h r u n g der Schreib- und Rechentechnik auch die Büro- und Verwaltungsarbeit zu erfassen. Sie wirkte um so nachteiliger auf die Persönlichkeitsbildung, je mehr das allgemeine Bildungsniveau wuchs (vgl. 7.). Die Bedeutung der schöpferischen Arbeit der Wissenschaftler, Techniker und Ö k o n o m e n gewann dagegen gerade durch die Schaffung und die Weiterentwicklung von Maschinensystemen und deren profitablen Einsatz in der Produktion an Gewicht. Wenn auch keine exakten Angaben über die Zahl und Struktur der in der Industrie tätigen Angehörigen der Intelligenz vorliegen, so nahm die Zahl der
Zweig
in Prozent
Elektrotechnische Industrie
26,1
Maschinenindustrie
19,8
C h e m i s c h e Industrie
19,7
M e c h a n i s c h e Industrie
10,0
Textilindustrie
9.1
Eisenhüttenindustrie
9,0
Bergbau
5.2
G e s a m t e Industrie
8,0
Quelle: Krupski,
Tabelle 50 Der prozentuale Anteil der Beamten an der Gesamtzahl der Beschäftigten in ausgewählten Zweigen 1907
F., 1926, S. 11.
Konstruktionsbüros, der privaten und öffentlichen Versuchsanstalten ebenso zu, wie die technisch-wissenschaftliche Durchdringung der Produktion rasch voranschritt. Elektrifizierung, Chemisierung u n d Motorisierung der Wirtschaft und die mit diesen Prozessen verbundenen Industrien stellten dabei neue Aufgaben. 476 Einen gewissen Einblick in die Entwicklung der Rolle der Intelligenz — allerdings auch der Angestellten — vermitteln die Zahlen aus dem Jahre 1907 (Tabelle 50). Die Angaben zeigen, mit Einschränkungen, das A u s m a ß der Rolle der Wissenschaftler u n d der Techniker in der Industrie u n d in den einzelnen Industriezweigen. Z u m anderen gelang es den M o n o p o l e n nach 1900, obwohl sie sich nur in geringem M a ß e an der Finanzierung der Ausbildung von Hochschulkadern u n d der G r u n d l a g e n f o r s c h u n g beteiligten, den Staat zu immer höheren Bildungsinvestitionen zu veranlassen und d a d u r c h einen beachtlichen Vorlauf in der Forschung zu erreichen (vgl. 6.1.).477 Schufen Wissenschaftler und Techniker jene Maschinensysteme, deren Regelung und Steuerung an die Grenzen der psychischen Leistungsfähigkeit der Produzenten stieß, so war es der amerikanische Autoindustrielle Ford, der — gestützt auf die Arbeiten Taylors — 1913 diesen Widerspruch insofern löste, als er die Schnelligkeit u n d Komplexität der Steuerung u n d Regelung der Maschinensysteme in kleinste u n d leicht überschaubare Einheiten auflöste u n d mit Hilfe des Fließbandes wieder verband. 4 7 8 Diese Form der Organisation der Arbeit, die verbunden mit dem Akkordsystem in Ansätzen auch in der deutschen Industrie praktiziert wurde, stellte zunächst den H ö h e p u n k t in der Vereinseitigung und Verkrüppelung der schöpferischen Kräfte des Menschen durch die kapitalistisch angewendete Produktionstechnik u n d Produktionsorganisation dar. Die entstandene erzeugnisorientierte Fließfertigung charakterisierte Lenin 1918 so: „ D a s letzte Wort des Kapitalismus in dieser Hinsicht, das Taylorsystem, vereinigt in sich — wie alle Fortschritte des Kapitalismus — die raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung und eine Reihe wertvollster wissenschaftlicher Errungenschaften in der Analyse der mechanischen Bewegungen bei der Arbeit, der Ausschaltung überflüssiger u n d ungeschickter Bewegungen, der Ausarbeitung der richtigsten Arbeitsmethoden, der E i n f ü h r u n g der besten Systeme der R e c h n u n g s f ü h r u n g und Kontrolle usw." 479 Das Fließband war, kapitalistisch angewandt, trotz seiner verheerenden Auswirkungen auf das Proletariat eine notwendige Stufe auf dem Wege zur Weiterentwicklung der Produktivkräfte. Bestand der Fortschritt der M a n u f a k t u r unter anderem in der Arbeitsteilung der manuellen Fertigung bis zu d e m Punkt der Vereinfachung der Arbeitsoperationen, der die A n w e n d u n g einfacher Arbeitsmaschinen erlaubte, so wurden am Fließband die Steuerungsoperationen wiederum in kleinste Einheiten aufgelöst. Damit entstand aber die Möglichkeit, das „Steuerungsproblem auf technischem Wege zu lösen." 480
476 Mottek, ter.A.,
H./Becker,
W./Schrö-
1975, S. 4 9 f f .
477 Ebenda, S. 59. 478 Jonas,
W./Linsbauer,
V./Marx,
H., 1969, S. 19. 479 Lenin,
W. /.,
Werke,
Bd.
27,
1960, S. 306. 480 Jonas,
W./Linsbauer,
H., 1969, S. 20.
145
V./Marx,
2.3. Die Produktivkräfte im Dienst der Vernichtung 1914 bis 1918481 2.3.1. Veränderte Anforderungen und Produktionsbedingungen482
481 Eine Gliederung nach Industriezweigen ist für diesen Abschnitt weder sinnvoll noch aus Umfangsgründen möglich. Auf die quantitative Entwicklung der Produktivkräfte und der Kriegsproduktion kann nur knapp eingegangen werden. 482 Die folgende Darstellung fußt großenteils auf Baudis, D., 1978, berücksichtigt aber auch Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 193 ff.; Schröter, A., 1965; Motlek, H./Becker, W./Schröter, A., 1974, S. 1 9 8 - 2 2 5 ; Otto, H./ Schmiedel, K., 1977, S. 9 - 2 1 . 483 Lenin, W. /., Bd. 27, 1978, S. 420. 484 Otto, H./Schmiedel, K„ 1977, S. 116.
Am ersten weltweiten Krieg waren sämtliche entwickelten Industriestaaten beteiligt. In ihm wurden „zum erstenmal in der Geschichte . . . . die gewaltigsten Errungenschaften der Technik in solchen Ausmaßen, so zerstörerisch und mit solcher Energie zur Massenvernichtung von Millionen Menschenleben verwendet". 4 8 1 Drastisch zeigte sich der im Imperialismus wachsende Stellenwert der Industrie für Militär und Kriegsführung. Das hohe Niveau der Produktivkräfte lag auch dem Einsatz riesiger Heere u n d der langen Kriegsdauer zugrunde. Als der deutsche Imperialismus in seinem abenteuerlichen Drang nach einer Neuaufteilung der Welt das Völkermorden auslöste, hatte er auf G r u n d international verbreiteter Vorstellungen über den Charakter des Krieges nur eine kurze Auseinandersetzung programmiert. Nach dem Scheitern seiner Überraschungsstrategie m u ß t e er daher der ökonomischen Sicherung eines länger währenden und überaus materialaufwendigen Krieges seine volle Aufmerksamkeit widmen. Bereits nach wenigen Wochen hing nicht nur bei den Mittelmächten, sondern auch auf Seiten der Entente der Munitionsverbrauch an den Fronten und damit die Kampffähigkeit der Streitkräfte von der laufenden Produktion ab. Der Krieg wurde zu einem Kampf der Industrien und zwang zu komplexen Veränderungen in der Wirtschaft, die international weitgehend übereinstimmten. Zu besonderen Anforderungen an die Rüstungsproduktion führten seit Herbst 1914 vor allem der Übergang zu dem technikintensiven Stellungskrieg, dem „hervorstechendsten Merkmal des ersten Weltkrieges", 484 und die auf seiner Grundlage seit 1916 entstehenden Materialschlachten sowie der zeitweilig als kriegsentscheidend betrachtete U-Boot-Krieg und schließlich die erstmalige umfangreiche Nutzung des Luftraumes für militärische Zwecke. Wie bereits zuvor die Entwicklung der industriellen Produktion, so schritt auch die der Destruktivkräfte 1914 bis 1918 vorrangig in den Grundrichtungen der Mechanisierung und Motorisierung, der Elektrifizierung u n d der Chemisierung sowie hinsichtlich der Anwendung feinmechanisch-optischer Geräte voran. Die sogenannten neuen Industrien waren daher an der z u n e h m e n d e n Technisierung des Krieges maßgeblich beteiligt. Die technische K o m p o n e n t e der Produktivkraftentwicklung beruhte während des Krieges prinzipiell auf den bisherigen Entwicklungstendenzen, wurde aber nun entscheidend von militärischen Aspekten beeinflußt. A u ß e r dem riesigen Bedarf an Rüstungsmaterial verschärfte kurz nach Kriegsausbruch ein weiterer zu wenig ins Kalkül gezogener Faktor die Lage des imperialistischen Deutschland. Die Entente verband seit November 1914 in ungleich wirksamerer Weise als die Mittelmächte den militärischen Kampf mit einem ökonomischen. Durch die Sperrung des Zugangs zu den Weltmeeren und die Behinderung des Handels mit und über neutrale Länder konnte sie weitgehend eine Isolierung Deutschlands von der hochentwickelten internationalen Arbeitsteilung und dem Warenaustausch erreichen, woran es in besonders starkem M a ß e beteiligt gewesen war. Noch stärker als der Wegfall der Exporte — bei Fertigwaren immerhin etwa ein Drittel der Erzeugung — wirkte sich der nunmehrige Mangel an importierten Rohstoffen aus (vgl. 2.3.2.). Die nicht vorausgesehenen Bedingungen u n d Erfordernisse des Krieges zwangen zu einer umfassenden wirtschaftlichen Mobilmachung mit dem Ziel, die industrielle Produktion soweit als möglich f ü r militärische Zwecke zu nutzen. Der deutsche Imperialismus verfügte zwar über eine hochentwickelte Rüstungsindustrie, zu der mit wertmäßig rund 40 % der Erzeugung auch staatliche Betriebe in Preußen und anderen größeren Einzelstaaten gehörten. Aber obwohl nun ihr bisheriger umfangreicher Export im wesentlichen auf die Verbündeten beschränkt wurde, war sie unfähig, den sprunghaft steigenden Bedarf zu decken. Diesem Bedarf standen jedoch auch nach vollzogener Umstellung der übrigen Industrie — die gleichfalls exportintensiv gewesen war — vor allem hinsichtlich der Produzenten (durch die Einberufungen zum Militär) und der Arbeitsgegenstände (infolge der Blockade) wesentlich verschlechterte Voraussetzungen der Erzeugung gegenüber. Die Unzulänglichkeit der Produk146
tionsfaktoren, mit denen der deutsche Imperialismus seine Hegemonie durchsetzen wollte, zeigte sich mit wachsender Kriegsdauer immer mehr im militärischen Kräfteverhältnis. Die auch in der Industrie über eine weitaus höhere Kapazität verfügende Entente gewann die materiell-technische und personelle Überlegenheit. Zwischen den an die deutsche Industrie gestellten Anforderungen und den Möglichkeiten ihrer Realisierung existierte daher ein latenter Widerspruch. Er ergab sich unter den besonderen Bedingungen des Krieges auch aus den PrQduktionsverhältnissen, insbesondere dem privaten Verfügungsrecht über die Produktionsmittel einschließlich der Rohstoffe und über die Art der Produktion. D e m Einzelinteresse vieler nichtmonopolisierter Unternehmer, speziell in der Konsumgüterindustrie, stand das nunmehrige Gesamtinteresse der herrschenden Klasse an einer maximalen N u t z u n g aller Elemente der Produktivkräfte f ü r Kriegszwecke sowie an einer Reduzierung der zivilen Produktion gegenüber. Auf der Grundlage des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte wurde es daher für Monopolkapital u n d Staat zu einem objektiven Erfordernis, bei grundsätzlicher Wahrung des Privateigentums an den Produktionsmitteln partielle Veränderungen der Produktionsverhältnisse vorzunehmen. Zugunsten einer zentralisierten Leitung und Planung der Produktion wurde nach und nach ein Komplex von Zwangs- und Regulierungsmaßnahmen erlassen (Rohstoffbewirtschaftung, Preisregulierung, Ausfuhrverbote, Arbeitskräfteeinsatz usw.). Auch durch die neue Funktion des Staates als Hauptauftraggeber und -abnehmer der Industrie wurde das spontane Wirken einzelner ökonomischer Gesetze im ohnehin stark gestörten Reproduktionsprozeß weiter eingeschränkt. Die Kriegswirtschaft bedingte eine wachsende funktionelle, institutionelle u n d personelle Verschmelzung der Rüstungsmonopole mit dem Staat. Als ihr H a u p t i n s t r u m e n t entstand ein mehrstufiger Lenkungsapparat, in dem der Staat nun in außerordentlich verstärktem M a ß e ökonomische Aufgaben w a h r n a h m , w ä h r e n d die M o n o p o l e umgekehrt staatliche Funktionen ausübten (vor allem die Kriegsrohstoffabteilung des preußischen Kriegsministeriums, die zumindest bis Oktober 1916 faktisch die zentrale Kriegswirtschaftsbehörde war, u n d die ihr untergeordneten Kriegsrohstoffgesellschaften). D a d u r c h stimulierte der Krieg sprunghaft die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, insbesondere der direkten Formen, so d a ß dieser einen ersten H ö h e p u n k t erreichte. Letztendlich lag diesem forcierten Prozeß, der aus ähnlichen G r ü n d e n auch in Frankreich und England erfolgte, die Verschärfung des Widerspruchs zwischen Produktivkräften u n d Produktionsverhältnissen zugrunde. Das Ergebnis bestand zwar in einem wesentlich verstärkten Einsatz der Produktivkräfte für Destruktivzwecke, aber die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mußten dazu auf eine bereits ihre Ablösung vorbereitende Stufe gehoben werden. „Entgegen aller zur Schau gestellten .vaterländischen', p a t r i o t i s c h e n ' Gesinnung war das Profitmotiv bei allen Handlungen der die deutsche Wirtschaft beherrschenden M o n o p o l e . . . . die eindeutig treibende Kraft." 4 8 5 Bereits die relativ rasche Umstellung auf die Kriegsproduktion zeigte, d a ß die Eigentümer vieler dazu geeigneter Betriebe nicht nur einen Ersatz für bisherige Exporte u n d andere Lieferungen suchten, sondern ein lukratives Geschäft bei gesichertem Absatz erwarteten. Während die Soldaten auf die Schlachtfelder getrieben wurden, nutzten die Rüstungsproduzenten den Krieg skrupellos zur Bereicherung. So taten sie alles, um nur besonders profitable Lieferaufträge — auch u n a b h ä n gig vom bestehenden Bedarf — zu erhalten oder zumindest Zugeständnisse bei den Lieferbedingungen zu erwirken. 486 Von G e n u g t u u n g über den Abschluß eines solchen Geschäfts zeugt zum Beispiel der Brief des Aufsichtsratsvorsitzenden der Aktiengesellschaft L a u c h h a m m e r an die Direktion vom N o v e m b e r 1915: „Ihre sehr freundliche Karte verschönte mir den Montagskaffee! — Das ist ja famos, d a ß Sie einen so bedeutenden Heeresauftrag hereinbringen konnten! — Ich beglückwünsche uns dazu . . ."487 Die G e w i n n e vieler Rüstungsproduzenten erreichten eine in Friedenszeiten 147
485 Baudis, D., 1978, S. 294. 486 Müller. H., 1961, S. 122 ff, 487 Ebenda, S. 126 f., zitiert.
u n d e n k b a r e Höhe. Durch den „mächtigen Goldstrom" 4 8 8 , der in ihre Kassen floß, erfolgte eine riesige Umverteilung des Nationaleinkommens. Dazu trug auch bei, d a ß der Staat umfangreiche Mittel zur Schaffung von kriegswichtigen Produktionskapazitäten (z. B. Leuna-Werke) u n d für militärische Neuentwicklungen (z. B. im Flugzeugbau) bereitstellte und den M o n o p o l e n das damit zum Teil verbundene Profitrisiko im Hinblick auf die Nachkriegszeit a b n a h m . Wie es den entscheidenden G r u p p e n der Finanzoligarchie gelang, den Staat weitaus stärker für ihre Zwecke auszunutzen und bestimmenden Einfluß auf die gesamte Industrie zu gewinnen, zeigt auch das beschleunigte Fortschreiten der Konzentration und Zentralisation der Produktion u n d des Kapitals, mit dem eine verstärkte Monopolisierung verbunden war. Gestützt auf den objektiven Zwang zur rationellsten Erzeugung, die nur im Großbetrieb 4 8 9 erfolgen konnte („Höchstleistungsbetriebe"), gingen die M o n o p o l e und führenden Kapitalisten eines Zweiges mit staatlicher Hilfe gegen die Vielzahl der kleineren Konkurrenten vor und ließen deren Produktivkräfte in vielen Fällen stillegen oder umsetzen. Insgesamt mußten 13 % der Betriebe die Produktion einstellen. In weniger kriegswichtigen Zweigen mit einem geringen Konzentrationsgrad lag der Anteil weitaus höher und betrug bei der Industrie der Steine und Erden 27 %, im Baugewerbe 30 % und in der Textilindustrie sogar 43 %.490 In den Hauptzweigen der Rüstungsindustrie änderte sich die Zahl der Unternehmen nur geringfügig. Eine starke Konzentration und Zentralisation erfolgte hier vor allem durch die Einrichtung staatlicher, privater und gemischter Riesenbetriebe, durch Fusion und andere Zusammenschlüsse sowie durch das enorme Wachstum der bereits existierenden Großbetriebe zwischen Kriegsbeginn und -ende. So stieg die Belegschaft der K r u p p AG als der wichtigsten deutschen Waffenschmiede von 80 000 auf 165 000 (206 %) und bei der Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik in Düsseldorf von 3 400 auf 43 600 (1 282 %).491
2.3.2. Produktion zur Destruktion
Zwischen 1914 und 1918 wuchs in Deutschland der Anteil der Kriegsproduktion an der gesamten Industrieproduktion von 35 auf 75 % und in Frankreich von 30 auf 70 %. 1917 wurden in der deutschen Kriegsproduktion 58,3 % der Arbeiter und in der französischen 57 % beschäftigt. 4 9 2 Bestimmend für die Behandlung der einzelnen Industriezweige in der staatsmonopolistischen deutschen Kriegswirtschaft (Förderung oder Drosselung, Erteilung von Lieferaufträgen, Arbeitskräftezuteilung, Versorgung mit Rohstoffen usw.) und damit f ü r ihre unterschiedliche Entwicklung war primär die Kriegswichtigkeit, nach der drei G r u p p e n zu unterscheiden sind: 491
488 Brandt, O., 1915, S. 67. 489 Auf solche wurde 1915 in Frankreich die gesamte Rüstungsproduktion verlagert und dadurch eine bedeutende Steigerung erreicht. 490 Wirtschaftsgeschichte. faden., 1979, S. 82.
Ein
Leit-
491 Ebenda, S. 84. 492 Fürs, J., 1980, S. 44. 493 Wagenführ. R„ 1933, S. 22f.; Kuczynski. X, Bd. 4, 1967, S. 189 f. 494 Kocka, J., 1973, S. 29 f.
1. Die bisherige Produktionsmittelindustrie (Bergbau, Eisen und Stahl, Maschinenbau, Chemie, Elektroindustrie usw.) arbeitete von der Rohstofferzeugung bis zur Endfertigung großenteils für die Rüstung u n d ist daher als Destruktivmittelindustrie zu klassifizieren. 2. Den Gegenpol bildeten Zweige, die nicht oder nur in geringem M a ß e für diesen Zweck umprofiliert werden konnten (Wohnungs-, Handelsschiffbau, Möbel, Spielwaren usw.). 3. Zwischen beiden Extremen lag eine weitere G r u p p e (Nahrungsmittel, Textilien, Bekleidung, Schuhe), die sowohl für das Militär als auch für die Bevölkerungsversorgung tätig war. Ihre Produktion wurde erheblich reduziert, sollte aber im Interesse der Fortsetzung des Krieges auch die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten aufrechterhalten. Zugunsten der ersten G r u p p e erfolgte eine radikale Umverteilung der Arbeitskräfte. Den höchsten Zuwachs hatte die chemische Industrie zu verzeichnen, deren Beschäftigtenzahl von 1913 bis 1918 auf 170 % stieg. Ihr folgten der Maschinenbau einschließlich Elektroindustrie mit 49 % und die Metallverarbeitung mit 8 %.494 Insgesamt stand der maximalen Förderung der kriegswichtigen Erzeugung eine ebensolche Vernachlässigung der zivilen gegenüber. Das war — um es in 148
formelhafter Kürze zu sagen — Produktion zur Destruktion und damit eine völlige D e f o r m i e r u n g u n d ein Mißbrauch der Produktivkräfte. Statt zumindest im R a h m e n der in einer Ausbeuterordnung bestehenden Möglichkeiten verwertbare G ü t e r zu erzeugen, wurden jahrelang Destruktivmittel geschaffen, die zerstörten u n d selbst meist zerstört wurden. Wenn m a n die Kriegsproduktion zunächst hinsichtlich ihrer Materialgrundlage 495 untersucht, so zeigt sich ein stark differenziertes Bild. Die mit weitem Abstand am stärksten benötigten Ausgangsstoffe Eisen und Kohle standen den Mittelmächten auf eigenem Territorium sowie in den besetzten Gebieten in relativ u m f a n g r e i c h e m M a ß e zur Verfügung u n d ermöglichten ihnen wesentlich, den Krieg m e h r als vier Jahre zu führen. Bei zahlreichen anderen Rohstoffen traten hingegen vor allem durch die Blockade u n d den gestiegenen Verbrauch zeitweilig oder ständig und in zum Teil extremem A u s m a ß Mangelerscheinungen auf — zumal der deutsche Import vorher über dem Weltdurchschnitt gelegen hatte. Einige der sogenannten kriegswichtigen Sparstoffe wurden im Inland nicht erzeugt oder gewonnen (u. a. Salpeter, Baumwolle, Kautschuk), andere zwar in größeren, aber nicht ausreichenden Mengen (u. a. Kupfer, Blei, Zinn, Wolle, Leder). Mitunter standen sie auch nur in ganz geringem M a ß e zur Verfügung — Auswirkungen des geographischen Milieus (Klima, Lagerstätten) u n d der langfristig entwickelten internationalen Arbeitsteilung. Zur ersten und zur dritten G r u p p e gehörten die Stahlveredler beziehungsweise Stahlhärtungsmetalle (vor allem C h r o m , Nickel, Molybdän, Wolfram, Mangan), die für den Schnelldrehstahl unbedingt benötigt wurden, aber auch als unentbehrlich für W a f f e n galten. So versuchte m a n in großem Umfange, den Verbrauch der „Sparstoffe", zum Beispiel durch neue Legierungen, zu reduzieren oder völlig zu beseitigen. Noch stärker als bei den Waffen, wo zum Beispiel Geschützrohre aus nickelfreiem Stahl entwickelt wurden, erfolgten Änderungen bei den Geschossen mit ihrem anfänglich sehr hohen Buntmetallanteil. Auch Maschinenteile wie Lager wurden aus Ersatzstoffen hergestellt. Da mit geringerwertigem Material — zum Beispiel Eisen und Zink statt Messing — zumindest bei der kriegswichtigen Fertigung ein gleich hoher Wirkungsgrad erzielt werden sollte, waren komplizierte Entwicklungs- u n d Erprobungsarbeiten erforderlich. Sie führten zu neuen Verarbeitungstechnologien u n d zu Veränderungen an den Produktionsinstrumenten. Allerdings war damit vielfach ein Sinken der Qualität nicht zu verhindern. Um die Eigenerzeugung von Rohstoffen zu erhöhen, wurden selbst sogen a n n t e arme Erze gefördert oder aus Halden gewonnen, Rückstände wieder verarbeitet und vor allem seit 1916 die G e w i n n u n g von Sekundärrohstoffen intensiviert. Im R a h m e n der „Metallmobilmachung" wurden aus Produktionsstätten wie den in dieser Hinsicht besonders ergiebigen Betrieben der Nahrungs- u n d Genußmittelindustrie (Zuckerfabriken, Brauereien, Brennereien) A p p a r a t u r e n und andere Teile ausgebaut. Da kein völliger oder gleichwertiger Ersatz erfolgte, war damit eine Zerstörung beziehungsweise Beeinträchtigung von Produktivkräften verbunden. Die Hüttenindustrie entwickelte neue Aufbereitungsverfahren, vor allem auf der Basis der elektrolytischen Raffination, durch die selbst aus bisher nicht verwertbaren Ausgangsstoffen wie minderwertigen Legierungen reine Metalle gewonnen werden konnten. Als Mitte 1916 auch Eisen k n a p p wurde, kam es zu einer wesentlich stärkeren Verarbeitung von Schrott, die wiederum zu Verschiebungen zwischen den in der Eisenhüttenindustrie angewandten Technologien beitrug. Die Zahl der dazu geeigneten Siemens-Martin-Öfen nahm beträchtlich zu, während das Thomas- und das Bessemerverfahren an Bedeutung verloren. In die gleiche Richtung wirkten Verbesserungen des Siemens-Martin-Verfahrens, die im Unterschied zum bisher verwendeten Tiegelofen eine massenhafte Produktion von hochwertigem legierten Stahl (u. a. f ü r Geschützrohre) zuließen. Unter dem Deckmantel der Schrottgewinnung ließen die deutschen Schwerindustriellen in den besetzten Gebieten sogar belgische und nordfranzösische Eisenwerke abbrechen, um für die Nachkriegszeit die ausländische Konkurrenz zu verringern. 149
495 Vgl. dazu vor allem Müller. A., 1955; Baudis, D., 1978, S. 2 6 1 - 2 7 1 ; Goebel, O., 1930; Schwarte, M. (Hrsg.), 1920, insbes. S. 90 ff. sowie die speziellen Aufsätze; Friedensburg, F., 1934.
496 Sworykin, A.A., u. a., 1967, S. 688ff.; Mitlasch, A„ 1951, Schwarte. M., 1920, S. 537-551; Kauffeldt, A. (Hrsg.), 1963, S. 108,144 ff.; 50 Jahre Leuna, Teil l , o . O . (1966), Lau, K„ 1978.
In der Textilindustrie wurden Spinnfasern z u n e h m e n d aus Lumpen und Stoffabfällen hergestellt und die Technologien d a f ü r verbessert. Der besonders nachteilige Mangel an Kautschuk zwang zu seiner Rückgewinnung aus alten Reifen u n d Schläuchen (Kautschukregenerat). Konnte bereits bei den in Deutschland begrenzt vorhandenen Rohstoffen die stärkere Nutzung den Importausfall meist nicht kompensieren, so bestand diese Möglichkeit f ü r eine Anzahl zum Teil besonders kriegswichtiger ausländischer Erzeugnisse ü b e r h a u p t nicht. Für diese ausschließlich, für jene in gewissem M a ß e wurde daher Ersatz benötigt u n d auf der Grundlage des hohen Niveaus der chemischen Wissenschaft und Industrie in Deutschland zum Teil auch g e f u n d e n (vgl. dazu 6.4.). Durch Importausfall einerseits und den steigenden indirekten und direkten militärischen Bedarf an Aluminium andererseits — unter anderem Ersatz für K u p f e r als Hauptrohstoff der Elektroindustrie; Herstellung von Feldflaschen, Kochgeschirren, Flugzeugen — entstand durch den Krieg die Notwendigkeit, eine umfangreiche Eigenproduktion dieses besonders wichtigen Leichtmetalls zu entwickeln. Die Rohstoffgrundlage bildeten 1915 in Siebenbürgen entdeckte Bauxitlagerstätten und nach erfolgreichen Versuchen auch einheimische Tonerde, die durch Kalzinieren nutzbar gemacht wurde. 1915 begann der Bau der ersten Aluminiumhütten. Durch den hohen Verbrauch von Elektroenergie bei der in ihnen angewandten Elektrolyse wurde der Standort (u. a. bei Köln und Bitterfeld) meist von neuen Wärmekraftwerken bestimmt. Ihre Kapazität lag so hoch, d a ß Deutschland in diesem Zweig in der zweiten Kriegshälfte nach den allerdings mit weitem Abstand f ü h r e n d e n USA die zweite Stelle einnahm. Ein technischer Fortschritt wurde auch in einem Teil der ansonsten rückläufigen Textilindustrie erzielt, die zum Beispiel durch Gewebe für Uniformen, Sandsäcke, Pulverbeutel an der Kriegsproduktion beteiligt war. In diesem Zweig bestand eine extrem starke Importabhängigkeit, da die einheimische Faserstofferzeugung vor Kriegsbeginn mit nur 1,5 % des Gesamtbedarfs einen Tiefstand erreicht hatte. Besonderen Stellenwert gewann n u n m e h r die Nutzung der in einheimischem Holz ebenso wie in der Baumwolle vorhandenen Zellulose. Durch chemischen Aufschluß gewonnen, wurde aus Zellulose neben dem noch relativ geringwertigen Zellwollgarn Kunstseide hergestellt u n d in größerem U m f a n g industriell produziert. Beruhte die Kunstseidenherstellung im ersten Weltkrieg noch auf einem chemisch abgewandelten Naturstoff, so wurde auf einem anderen Gebiet bereits die vollsynthetische Produktion erreicht. Die Unterbrechung der Einfuhr des Chilesalpeters gefährdete den deutschen Imperialismus stärker als jede andere M a ß n a h m e seiner Gegner. Aus ihm wurde ein Großteil der für die Sprengstoffproduktion u n d damit f ü r die Fortsetzung des Krieges unentbehrlichen Salpetersäure hergestellt. Außerdem benötigte die Landwirtschaft dringend Stickstoffdünger. Das in der deutschen chemischen Industrie besonders enge Zusammenwirken von wissenschaftlich-technischer Forschung und Produktion ermöglichte es jedoch, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden und die Importabhängigkeit über die Kriegszeit hinaus zu beseitigen. 496 In großem Maßstab wurde nun die Ammoniaksynthese von Fritz Haber und Carl Bosch industriell durchgeführt — ein neues aufsehenerregendes Verfahren zur Bindung des Luftstickstoffs. Nach langwierigen Versuchen war es der BASF kurz vor dem ersten Weltkrieg gelungen, dieses Verfahren zur Produktionsreife zu entwickeln und in enger Zusammenarbeit mit der Stahlindustrie — vor allem den Krupp-Werken große Kontaktöfen u n d andere Apparaturen zu schaffen, die den extremen Beanspruchungen durch hohe Drücke und Temperaturen standhielten. 1913 hatte in O p p a u bei Ludwigshafen die fabrikmäßige Erzeugung von synthetischem Ammoniak zur Herstellung von Düngemitteln begonnen. Die nach Kriegsbeginn entstehende „Munitionskatastrophe" löste bei der BASF fieberhafte Anstrengungen aus, um die Oxidation des Ammoniaks zu Salpetersäure über den bisherigen Labormaßstab hinaus auf industrieller Basis 150
45 in
den
Leuna-Werken zur Produktion
1917
fertiggestellte
Anlage
von
A m m o n i a k als A u s g a n g s m a t e r i a l f ü r die Sprengstoffherstellung
46 E r s t e r K e s s e l w a g e n mit A m m o n i a k aus den L e u n a - W e r k e n ( 1 9 1 7 )
und unter Verwendung eines wirksamen Katalysators durchzuführen, der in D e u t s c h l a n d in a u s r e i c h e n d e r M e n g e vorhanden war, und die dafür benötigten Anlagen zu errichten. Die im M a i 1915 b e g i n n e n d e G r o ß p r o d u k t i o n von Salpetersäure setzte wiederum einen steilen Anstieg der A m m o n i a k e r z e u g u n g voraus. Die B A S F erweiterte deshalb bis 1917 ständig die Kapazität der F a b r i k in O p p a u . A u ß e r d e m errichtete sie ab M a i 1916 in L e u n a bei Merseburg mit einem R e i c h s d a r l e h e n von 3 5 0 M i l l i o n e n M a r k eines der größten und modernsten C h e m i e w e r k e E u r o p a s , das nach k n a p p einem J a h r die Produktion aufn a h m . Es gilt als D u r c h b r u c h zur c h e m i s c h e n G r o ß s y n t h e s e , bei der aus einfachen und weitverbreiteten G r u n d s t o f f e n im kontinuierlichen Prozeß mittels K a t a l y s a t o r e n hochwertige R o h s t o f f e erzeugt werden — ein
wegweisender
Fortschritt für die c h e m i s c h e Industrie des 20. J a h r h u n d e r t s . D u r c h die L e u n a - W e r k e gewann die B A S F über die Kriegszeit hinaus eine f ü h r e n d e Position in der deutschen stickstoffverarbeitenden Industrie und ließ i n s b e s o n d e r e die konkurrierenden Bayrischen Stickstoffwerke, die 1915 Fabriken in Piesteritz bei Wittenberg sowie in C h o r z o w ( O b e r s c h l e s i e n ) errichtet hatten, weit hinter sich zurück. D e r dort n a c h dem Verfahren von F r a n k und C a r o produzierte K a l k s t i c k s t o f f wurde vor allem als Düngemittel verwendet, in
497 z. B. wurde 1917 wegen Materialmangel die Bausicherheit der Flugzeuge gesenkt. Seifert, K.-D., 1960, S. 34. 498 Vgl. zum folgenden vor allem Dehne, G., 1925; Galz. W., 1936. 499 Im folgenden kann nur die mechanische Fertigung von Waffen und Munition für den Landkrieg berücksichtigt werden, auf dem das Schwergewicht lag. Vgl. dazu, soweit keine andere Literatur genannt wird, Schwarte, M., 1920, vor allem S. 71 f., 81 ff., 552 ff; Frölich, F., 1918; Wrisberg, E.V., Bd. 3, 1922. 500 Zur Massenfertigung bzw. -Produktion vgl. Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 355 ff. Bei der Verwendung dieses Terminus wird im folgenden die Großserienproduktion impliziert.
der zweiten Kriegshälfte trotz ungünstiger Eignung und einer aufwendigen Technologie aber auch als Ausgangsmaterial für die Salpetersäureherstellung eingesetzt. Was bei Chilesalpeter gelungen war, wurde — allerdings ohne vergleichbare Ergebnisse — auch bei Kautschuk und Treibstoff versucht (Forschungen Friedrich H o f f m a n n s und katalytische Kohlehydrierung nach Friedrich Bergius). Trotz wachsenden Stellenwertes konnte daher die Heeresmotorisierung im Unterschied zur Entente nicht forciert werden. Insgesamt war die intensive Rohstofforschung u n d -produktion im ersten Weltkrieg keineswegs nur durch herausragende Fortschritte mit gleich- oder höherwertigen, einfacher und billiger zu gewinnenden Produkten gekennzeichnet. Diesen standen in weitaus größerer Zahl Lösungen gegenüber, die nur einen notdürftigen Ersatz darstellten (z. B. Stoffe aus Zellwolle). Sie führten zu negativen Auswirkungen auf die Produzenten, die Arbeitsmittel u n d auch auf das Militär 497 oder erforderten einen f ü r Friedensbedingungen zu hohen K a p i t a l a u f w a n d . Die Materialschwierigkeiten nahmen im Durchschnitt mit der Kriegsdauer zu und trugen wesentlich zum Produktionsrückgang der meisten Industriezweige bei. Insbesondere die breite A n w e n d u n g der Technologien zur Gewinnung von Stickstoff beziehungsweise Salpetersäure u n d Aluminium (Katalyse, Elektrolyse), aber auch die auf Hochtouren laufende Erzeugung in anderen Bereichen der Rüstung erforderten eine rationelle G r o ß p r o d u k t i o n von Elektroenergie 498 , die durch die vorhandenen Kraftwerke nicht erfolgen konnte. Der Braunkohlenbergbau, in dem durch die günstigeren Voraussetzungen des Tagebaubetriebs ein wesentlich höherer G r a d der Mechanisierung und des Einsatzes von Ungelernten erreicht worden war als im Steinkohlenbergbau, gewann erhöhte Bedeutung. Abgesehen von dem bereits 1913 in Angriff genommenen Goldenberg-Werk im Rheinland wuchsen etwa seit 1914 G r o ß k r a f t w e r k e empor, die den dazu erstmals in großem Umfange genutzten Brennstoff unmittelbar von der G r u b e zugeführt erhielten u n d mit hochleistungsfähigen Turbogeneratoren ausgestattet waren. 1915 entstand bei Bitterfeld das Kraftwerk Golpa-Zschornewitz als damals größtes der Welt mit einer Nennleistung von 128 000 kW. Es hatte einen täglichen Kohleverbrauch von 7 0001 und belieferte vor allem das Stickstoffwerk Piesteritz. Gleichzeitig kam es zu Fortschritten beim Bau von großen Transformatoren u n d von Fernleitungen, die nach 1918 auch die einzelnen Kraftwerke verbanden. Dadurch wurde in der Elektrizitätserzeugung der Konzentrationsprozeß wesentlich forciert und ein neuer Entwicklungsabschnitt, die Epoche der G r o ß k r a f t w e r k e und der Verbundwirtschaft, eingeleitet. Führte der Krieg bereits in der Rohstoff- und Energieerzeugung zu tiefgreifenden Veränderungen, so waren diese in der Halb- und Fertigfabrikate produzierenden Industrie noch stärker. 499 Soweit die Umstellung auf Rüstungsproduktion erfolgte, wurde meist eine völlig neue Fertigung a u f g e n o m m e n und dadurch auch ein Teil der bisherigen Produktionsinstrumente wie Spezialmaschinen stillgelegt oder zumindest umgestaltet. Ausgereifte Technologien verloren über Nacht ihren Wert, so daß ein Verlust an Produktivkräften eintrat. Zweierlei hatten aber die neuen Produktionsstätten von Kriegsmaterial mit den bisherigen Rüstungsbetrieben vielfach gemeinsam. Erstens wurde der Übergang zur modernen Massenfertigung von mehrteiligen Erzeugnissen wie Geschossen und H a n d f e u e r w a f f e n sowie zur Produktion größerer Serien (u. a. Geschütze, Flugzeuge, Kraftfahrzeuge) mit Stückzahlen in bis dahin unbekannter H ö h e vollzogen. Diese Prozesse waren in der deutschen Konsumgütererzeugung vor 1914 durch die weitaus geringere G r ö ß e des inneren Marktes als in den darin f ü h r e n d e n USA gehemmt worden. 500 Zweitens mußte die Produktion nach der Mobilisierungskrise und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den Bedingungen eines wachsenden Mangels an Arbeitern im allgemeinen u n d an Facharbeitern im besonderen erfolgen. Dieser Engpaß war neben dem Rohstoffdefizit das Kardinalproblem der Kriegswirtschaft. Er konnte auch durch den Übergang zur direkten Arbeitskräfteregulierung auf der Grundlage des sogenannten Hilfsdienstgesetzes vom Dezember 1916 nicht beseitigt werden. 152
190 —
Produktion von einigen Roh- und Brennstoffen sowie von Elektroenergie 1913 bis 1918
180 —
N a c h : Hoffmann.
170 -
S.342,354,388
Elektroenergie 160 —
150 — Kupfer 140 -
130 —
120 -
Braunkohle
110 Kupfererz
100 —
90Steinkohle 80Stahl
70-
Zink
60-
50 -
40 -
30 Eisenerz 20
-
10 -
1913
1914
1915
1916
1917
1918 153
W. G., 1965,
501 Frölich, F., 1918, S. Schwarte, M., 1920, S. Schröter, A., 1965, S. 97.
Eine riesige Zahl männlicher Arbeiter im leistungsfähigsten Alter wurde ständig der Industrie entzogen und an die Front geschickt. Der überwiegende Teil der unmittelbaren Produzenten bestand nun aus Un- beziehungsweise Angelernten, darunter vielen Frauen, Jugendlichen und sogar Kindern. Dadurch trat ein hoher quantitativer und qualitativer Substanzverlust bei der Hauptproduktivkraft Mensch ein. Gerade in der metallverarbeitenden Industrie, dem Zweig der Rüstungsproduktion, der im Krieg der Arbeiterzahl nach die erste Stelle einnahm, war bis dahin der Anteil der ungelernten Arbeiter noch besonders niedrig gewesen (vgl. 8.1.3.). Um dennoch den Übergang zur Massenfertigung vollziehen zu können, versuchten die Unternehmer, durch komplexe Änderungen bei den Arbeitsmitteln, der Technologie und der Organisation der Produktion einen Ausgleich zu schaffen. Damit sollte nicht nur der Einsatz von Nichtfacharbeitern ermöglicht werden, sondern diese Maßnahmen zielten gleichzeitig auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität und -intensität ab. Entscheidend war dabei die Vereinfachung des Herstellungsprozesses, der häufig eine Vereinfachung der Konstruktion der Produkte vorausging, durch ein stärkeres Zergliedern. Dem kam entgegen, daß sich viele Betriebe auf bestimmte Erzeugnisse spezialisierten. Die enorm hohen Stückzahlen und die bereits vorhandene größere Einheitlichkeit des Rüstungsmaterials boten dafür günstigere Voraussetzungen als der vielseitige zivile Bedarf, den zum Beispiel die Maschinenbauindustrie in der Vorkriegszeit zu befriedigen hatte. Die staatsmonopolistischen Organe förderten diesen Prozeß durch eine entsprechende Verteilung der Heeresaufträge und ließen als Novum Einzelteile von Gewehren und Maschinengewehren durch zahlreiche Firmen anfertigen und in den Heereswerkstätten zusammenbauen. Diese Teile mußten daher wie generell bei der Massen- und Großserienfertigung so genau produziert werden, daß sie austauschbar waren und keine Nacharbeit erforderten. Die Einhaltung des festgelegten Genauigkeitsgrades wurde unter anderem durch die verstärkte Benutzung von Lehren und Toleranzlehren erzielt. Im Zusammenhang mit der Massenfertigung, aber auch bei der Anwendung und Instandhaltung des Kriegsmaterials (u. a. Reparaturen fernab von der Fabrik) trat im ersten Weltkrieg verstärkt die Notwendigkeit zutage, zur überbetrieblichen Normung überzugehen und vor allem solche-Maschinen- und Konstruktionselemente wie Schrauben und Paßstifte zu vereinheitlichen, die häufig und in verschiedenen Erzeugnissen vorkamen. Systematische Bemühungen setzten auf diesem auch für die Friedensproduktion wichtigen Gebiet aber erst 1917 ein (Fabrikationsbüro Spandau, Normenausschuß der deutschen Industrie). Ihre Resultate erlangten vor Kriegsende keine nennenswerte Bedeutung.501 Auch zu einer umfassenden Typisierung des Militärbedarfs ist es nicht gekommen, so daß zum Beispiel die unterschiedlichen Geschoßarten und Kaliber die Kampfkraft beeinträchtigten. Innerhalb der Betriebe besaß das bereits genannte Zerlegen des Produktionsprozesses, den oftmals nur Facharbeiter beherrscht hatten, einen besonderen Stellenwert für den Übergang zur Massenfertigung. Die dadurch geschaffenen Detailoperationen bestanden aus einem oder wenigen monotonen Handgriffen. Auf dieser Grundlage konnten in großem Umfang Angelernte Granaten drehen, an den Automaten in den Zünderfabriken und an Geschoßpressen arbeiten und auch Geschützteile herstellen, die besonders maßhaltig sein mußten. Die Massenfertigung erzeugte in Verbindung mit dem Arbeitskräftedefizit sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit einer verstärkten Mechanisierung der Produktion und des innerbetrieblichen Transports. Neue und zum Teil hochproduktive Spezialmaschinen und Vorrichtungen für einzelne Arbeitsgänge ersetzten mitunter die bisherige qualifizierte Handarbeit; die auf ein Vielfaches gestiegene Nachfrage machte ihren Einsatz für den Unternehmer profitabel. Durch den Bedarf an Arbeitsmitteln für die Massenfertigung 541; 88 f; und für die neuen Technologien der Rohstofferzeugung hatte der Maschinenbau auch in seiner bisherigen Funktion umfangreiche Aufgaben zu lösen. 154
47 Frauen an einer
125-Tonnen-Zieh-
presse f ü r G e s c h o ß h ü l s e n
Proportional zur Entwicklung der Arbeitsteilung und der Maschinenarbeit wurden gelernte Arbeiter entbehrlich und damit im Krieg ein bereits zuvor begonnener Prozeß erheblich forciert. Zugleich wuchs aber die qualitative Bedeutung der noch vorhandenen Fachkräfte. Sie ü b e r n a h m e n neben besonders schwierigen Teilarbeiten das Einrichten, -stellen und Instandhalten der Maschinen sowie die kurze Ausbildung, die Anleitung und Kontrolle der Angelernten und der anderen Hilfskräfte. Insgesamt kam es deshalb zu einer stärkeren Differenzierung der unmittelbaren Produzenten. Mit der verstärkten Arbeitsteilung und Mechanisierung war im ersten Weltkrieg ein Bedeutungsanstieg des Elektromotors verbunden. Vor allem in Großbetrieben machten die A n w e n d u n g des Einzelantriebs der Arbeitsmaschinen gegenüber dem G r u p p e n - u n d Werkstattantrieb und damit auch die Beseitigung des klassischen Fabriksystems Fortschritte. 502 Die mit einem eigenen Antriebsaggregat ausgestatteten Arbeitsmaschinen als Hauptvoraussetzung f ü r den Übergang zu der in den USA entwickelten fließenden Massenfertigung 5 0 3 — oftmals auch als mechanische Fließfertigung bezeichnet — spielten allerdings noch eine untergeordnete Rolle. Aber die erhöhte interne Arbeitsteilung bei Vereinfachung und weitgehender Mechanisierung der Teiloperationen stellte schon ein wesentliches Element des neuen Produktionssystems dar. Der Krieg führte auch in den europäischen Ententestaaten zu ähnlichen Veränderungen in der Technologie der Produktion sowie in der Struktur und Funktion der Produzenten. Unter dem Zwang der militärischen Anforderungen mußte zum Beispiel in England schnellstens ein komplexer Rückstand beseitigt werden, der vor 1914 im Niveau der Industrie gegenüber Deutschland unter anderem durch ihre wesentlich geringere Verbindung mit der Wissenschaft entstanden war. 5 " 4 Wie bereits angedeutet, waren die erläuterten M a ß n a h m e n darauf gerichtet, eine maximale Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten zu gewährleisten. 505 Vorwiegend in der ersten Kriegshälfte gingen die deutschen Unternehmer wieder zu extensiven Formen der Ausbeutung über. Sie dehnten vor allem die tägliche Arbeitszeit bis über die im Krieg ohnehin sinkende physiologische Grenze aus und waren daher zum Teil wieder zu einer Verkürzung gezwungen. Dieser Reduzierung folgte aber der verstärkte Übergang zur Dreischichtarbeit u n d vor allem die Steigerung der Arbeitsintensität. Nicht zufällig widmeten die deutschen Unternehmer im ersten Weltkrieg der Betriebsorganisation nach amerikanischem Vorbild (Taylor-System usw.) als Form der wissenschaftlich fundierten Ausbeutung noch größere Aufmerksamkeit als zuvor. 506 Auch die Errichtung der offenen Militärdiktatur in der zweiten Jahreshälfte 1916 diente dem Ziel, nicht nur die Arbeitskräfte noch stärker für die Rüstungsproduktion zu mobilisieren (vgl. 8.1.3.), sondern ihre Ausbeutung zu intensivieren. 507 Nach
502 Henniger,
G., 1980.
503 Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 355—58. 504 Wendt, B.-J., 1974, S. 131 ff. 505 Vgl. z u m f o l g e n d e n , soweit keine a n d e r e Literatur angegeb e n wird, vor allem Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 389 ff. 506 Woldt.R., 1915, S. 5. 507 Weber. H., 1966, S. 50 f., 54, 124 ff.
508 Lenin, W. /., Bd. 25, 1960, S. 368. 509 Friedensburg. F., 1934, S. 68, vgl. auch S. 69 und Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 391,401,406. 510 Handbuch der deutschen Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Bd. 2, 1976, S. 801; Weber, H., 1966, S. 32; Wagenführ, R., 1933, S. 22; G. Hardach, 1973, S. 267, spricht im Hinblick auf die am Krieg beteiligten Staaten davon, daß in der Waffen- und Munitionsproduktion die Arbeitsproduktivität gesteigert wurde, während er im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt ein Sinken für wahrscheinlich hält. 511 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 394ff.; Goebel, O., 1930, S. 120, 151. 512 Henning, H., 1957, S. 114f.; Baudis, D., 1978, S. 305; Feldman, G. £>., 1965, S. 410 f. 513 Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 397. 514 Zum folgenden vgl. ebenda, S. 328ff., 348ff., 397f., 400ff.; Bd. 5, 1966, S. 168, 173f.; Hardach, G., 1973, S. 211 ff. 515 Diese Faktoren führten jedoch dazu, daß wahrscheinlich trotzdem der Grad der Anstrengung bei der Arbeit erheblich stieg. Kuczynski. J., Bd. 4, 1967, S. 397. 516 Hardach. G., 1973, S. 81; vgl. auch Baudis, £>., 1978, S. 305, 309, 325 und Feldman, G. D., 1966, S . 4 1 0 f . 517 Vgl. dazu u . a . Sworykin, A.A., u. a., 1967, S. 338ff.; Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 360 ff.
Lenins Urteil wurde Deutschland für die durch außerökonomischen Zwang infolge des Hilfsdienstgesetzes immer mehr entrechteten Arbeiter zu einem „Militärzuchthaus". 5 0 8 Das Hauptmittel zur Intensivierung bildete die Arbeitsteilung und Mechanisierung, durch die jede überflüssige Bewegung und natürliche Arbeitspausen ausgeschaltet wurden. Hinzu kamen das verstärkte Ausüben ökonomischen Zwangs durch Akkordlöhne einschließlich sogenannter Akkordpreiskürzungen. Diese Formen der Antreiberei, bei denen die Unternehmer häufig das Drängen der militärischen Beschaffungsstellen nach raschen und steigenden Lieferungen als Motiv vorschoben, wurden durch einen starken psychologischen Druck ergänzt — zum Beispiel mit der demagogischen Parole „Eure Kameraden brauchen W a f f e n " . Auf diese Weise entstand eine Arbeitshetze, die auch bei der kurzfristigen Schaffung neuer Rüstungskapazitäten in Leuna, Piesteritz usw. an der Tagesordnung war. Sie führte zur „überaus scharfen Ans p a n n u n g der Arbeitskraft" u n d damit zu einem stärkeren Kräfteverbrauch. 5 0 9 Wie sich durch diese und noch zu n e n n e n d e Faktoren die Arbeitsleistung während des ersten Weltkrieges entwickelte, ist für die erste Hälfte des Krieges noch ungenügend erforscht. In einzelnen Zweigen der Rüstungsproduktion (Waffen- und Munitionserzeugung, chemische Industrie, Teile des Braunkohlenbergbaus) erfolgte zeitweilig ein Anstieg. 510 Vor allem in den insgesamt weniger kriegswichtigen und daher „unterbeschäftigten" Zweigen wie der Textilindustrie sowie in den nach wie vor besonders auf Facharbeiter angewiesenen wie dem Steinkohlenbergbau sank die Arbeitsleistung jedoch bereits seit 1914. 5 " 1917/18 ist dieser Prozeß schließlich als allgemeine Erscheinung nachweisbar. Selbst in den Rüstungsbetrieben betrug der Rückgang bis zu 40 %.512 Nach einer Schätzung von J. Kuczynski wurde die Arbeitsleistung im ersten Weltkrieg im Durchschnitt wieder auf das Niveau der neunziger Jahre zurückgeworfen. 5 ' 3 Die Hauptursache 5 1 4 liegt in der z u n e h m e n d e n physischen und psychischen Erschöpfung der Arbeiter, die auch im Anstieg der Rate der tödlichen Unfälle um über 50 %, der noch stärkeren Z u n a h m e der Erkrankungen und der hohen Sterblichkeit während des Krieges zum Ausdruck kommt. Diese Symptome der Vernichtung von menschlicher Produktivkraft auch im Hinterland (vgl. 8.1.3.) resultierten einerseits aus der Überforderung in der Kriegsproduktion. Andererseits stand der extrem gesteigerten Arbeitshetze keine entsprechende Reproduktion der Arbeitskraft gegenüber, so d a ß es zu einem erhöhten R a u b b a u an ihr kam. Insbesondere durch sinkende Bruttoreallöhne und die qualitativ immer unzureichender werdende Ernährung, Kleidung usw. verschlechterte sich das Allgemeinbefinden. Dazu kam die hohe psychische Belastung, die bei den Frauen am stärksten war. Wesentlichen Anteil am Rückgang der Arbeitsleistung hatten a u ß e r d e m die zum Teil ungenügende Eignung der Frauen und Jugendlichen für eine körperlich schwere Arbeit, die zunächst fehlende Arbeitserfahrung, die durch die hohe Fluktuation besonders ins Gewicht fiel, der oftmalige Mangel an Material und dessen sich verschlechternde Qualität sowie der heruntergekommene Zustand vieler Arbeitsmittel. 515 In die gleiche Richtung wirkte der z u n e h m e n d e passive und aktive Widerstand der Arbeiter gegen Ausbeutung und Krieg, der seit der Februarrevolution 1917 in Rußland in großen Rüstungsarbeiterstreiks gipfelte. Auf diese Weise stieß der Versuch der Herrschenden, mit dem Hindenburg-Programm die Rüstungsproduktion besonders zu forcieren, auf eine immer deutlicher hervortretende Grenze: die „Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit" 516 der unmittelbaren Produzenten. N e b e n der massenhaften Fertigung von erprobten Modellen arbeitete die Rüstungsindustrie im ersten Weltkrieg an Neu- und Weiterentwicklungen als einem zweiten Aufgabenbereich. 5 1 7 1914 wurden zwar viele militärtechnische Neuerungen erstmals angewandt, aber die ständige Konfrontation mit der dem gleichen Zwang unterworfenen Kriegstechnik der Entente und die sich herausbildenden neuen K a m p f f o r m e n (Stellungskrieg, Luftkrieg, U-Boot-Krieg) machten ständig weitere Entwicklungen notwendig. Gleichzeitig mußte das 156
48 F r a u e n an D r e h b ä n k e n mit G r u p p e n a n t r i e b in einer p r e u ß i s c h e n Artilleriewerkstatt
v o r h a n d e n e Kriegsmaterial den neuen Bedingungen der Produktion (Rohstoffmangel, Massenfertigung) u n d der A n w e n d u n g angepaßt werden. So sollten bei der Artillerie Schußweite, -zahl und Geschoßwirkung gesteigert, Spezialgeschosse (Gas-, Brand-, Nebel- u n d Rauchgeschosse) entwickelt und Flugabwehrmittel geschaffen werden. Menschliche Schöpferkraft wurde unablässig eingesetzt, um die K a m p f m i t tel immer furchtbarer und zerstörender zu gestalten und daneben auch Schutzmittel zu schaffen (Stahlhelm, Gasmaske usw.). Die Entwicklung der Kriegstechnik trieben in engem Zusammenwirken mit militärischen Stellen vor allem Techniker und Wissenschaftler in den Konstruktionsbüros und Laboratorien der traditionellen Rüstungsbetriebe voran. Wissenschaftliche Einrichtungen wie die Institute der durch Monopolkapital und Staat getragenen „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" leisteten Unterstützung. Im Institut für physikalische u n d Elektrochemie wurde die Forschung mit besonderer Skrupellosigkeit bei den wissenschaftlichen Vorarbeiten von Haber f ü r das Giftgas als völlig neuem u n d besonders grausamem Destruktivmittel mißbraucht. 5 1 8 Die Arbeiten zur Entwicklung der Militärtechnik mußten in der Regel unter großem Zeitdruck und streng zweckorientiert betrieben werden. Sie waren jedoch meist nicht an finanzielle Grenzen gebunden. Das führte zwar gegenüber der Friedenszeit zu einer wesentlichen Beschleunigung, aber zugleich vielfach zu Behelfslösungen u n d Fehlentwicklungen. M a n c h e r militärisch notwendige Bedarf wie ein leichtes u n d handliches Infanterie-Maschinengewehr oder die A u f n a h m e der Produktion von Tanks nach deren überraschendem Einsatz durch die Entente im September 1916 konnte nicht oder nur sehr begrenzt befriedigt werden. 519 Teils waren die Rüstungsbetriebe objektiv überfordert, wenn sie unter unzulänglichen Voraussetzungen eine auf Hochtouren laufende Erzeugung sichern u n d zugleich Neuentwicklungen schaffen sollten. Teils lag auch den Unternehmern wenig daran, eine profitträchtige Produktion umzustellen. Um zu erreichen, d a ß die Flugzeugwerke über dem Großserienbau von eingeführten Modellen die kapitalintensive Entwicklung neuer nicht vernachlässigten, gewährte der Staat ihnen Vergünstigungen und ü b e r n a h m das entsprechende Risiko. Zweifellos führte der Krieg trotzdem auch in Deutschland zu einer beträchtlichen Entwicklung von Teilen der Militärtechnik: unter anderem Artillerie, Flugzeuge, U-Boote, Torpedos u n d N a h k a m p f m i t t e l wie Handgranaten u n d Minenwerfer sowie feinmechanisch-optische Beobachtungs- und Richtmittel. 520 M a n c h e davon waren komplizierte Vernichtungsmaschinen und wirkten gerade deshalb so zerstörend, weil sie technische Höchstleistungen darstellten. Ihr Z u s t a n d e k o m m e n hing wesentlich vom Niveau der Produktivkräfte in der
518 Kauffeldt, A., 1963, S. 144; Schröter, A., 1965, S. 148 f. 519 Schwarte, M., 1920, S. 20 ff., 32 f. 520 Sworykin, A.A., u. a., 1967, S. 3 3 8 f f . ; Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 360 ff.
Industrie ab. Noch stärker als der Konkurrenzkampf bei zivilen Produkten bedingte der bei militärischen — und das ganz besonders zwischen Kriegsgegnern — die A n w e n d u n g des jeweils modernsten Standes der industriellen Technik. Die Weiterentwicklung der Destruktivmittel hat jedoch ihrerseits nur in sehr begrenztem M a ß e zu wissenschaftlich-technischen Ergebnissen geführt, die nach dem Kriege auch in der zivilen Produktion genutzt werden konnten.
2.3.3. Die Bilanz des ersten Weltkrieges im Hinblick auf die Produktivkräfte der Industrie
521 Marx, K., Grundrisse, 1953, S. 47. 522 Wagenführ, R., 1933, S. 23; vgl. auch Kuczynski, J., Bd. 4, 1967, S. 189 f.
Entgegen ihrer eigentlichen Funktion wurden die Produktivkräfte fast ein halbes Jahrzehnt völlig deformiert und dazu mißbraucht, Mittel zur massenhaften Vernichtung von Menschen und materiellen Werten zu schaffen. Was zu diesem Zweck entstand, ging dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß ebenso verloren wie der parasitäre Konsum der herrschenden Klasse, worauf Karl Marx mit einem einprägsamen Vergleich hingewiesen hat: „Krieg (ist) unmittelbar ökonomisch dasselbe, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Wasser würfe." 521 In einem noch nie dagewesenen A u s m a ß kam es daher 1914 bis 1918 zur Verschwendung von Produktivkräften u n d von gesellschaftlicher Arbeit. Der die staatsmonopolistische Kriegswirtschaft charakterisierende Widerspruch zwischen Anforderungen u n d Realisierungsmöglichkeiten löste komplexe M a ß n a h m e n zum maximalen Einsatz aller Elemente der Produktivkräfte aus, die ein Vorläufer der kapitalistischen Rationalisierung der zwanziger Jahre waren. Da die bestehenden Engpässe trotzdem nicht ü b e r w u n d e n werden konnten, sank namentlich in der zweiten Kriegshälfte das durchschnittliche qualitative Niveau des Produktionsprozesses beträchtlich und wurde zun e h m e n d von Improvisation, Hektik und Diskontinuität gekennzeichnet. Obwohl die Industrieanlagen 1914 bis 1918 im Unterschied zum zweiten Weltkrieg nur wenig von direkter militärischer Einwirkung betroffen wurden, fiel auch ein Teil der materiellen Produktivkräfte der Vernichtung anheim, lag brach oder war zumindest in seiner Wirksamkeit beeinträchtigt. Dazu trugen mehrere Faktoren bei: in den nicht oder minder kriegswichtigen Zweigen insbesondere die Stillegungen u n d die „Arbeitsstreckung", in der Rüstungsproduktion hingegen der technische Verschleiß eines wesentlichen Teiles der Arbeitsmittel als Folge der Produktion auf Hochtouren bei Vernachlässigung von Wartungs- und Reparaturarbeiten u n d bei Verarbeitung minderwertiger Ersatzstoffe. Die verheerendsten Auswirkungen hatte der Krieg jedoch auf die H a u p t p r o duktivkraft Mensch und ganz besonders auf die Arbeiter (vgl. 8.1.3.). Ob an der Front oder innerhalb Deutschlands, überall mußten die Proletarier die Hauptlast des Krieges tragen, riesige Entbehrungen u n d O p f e r auf sich nehmen. Millionenfach wurde ihre Arbeitskraft teilweise oder völlig vernichtet. Die Unternehmer versuchten, den erheblichen Substanzverlust an menschlicher Produktivkraft durch eine verstärkte extensive und intensive Ausbeutung zu kompensieren, die zusammen mit dem Fehlen entsprechender Reproduktionsmöglichkeiten zu einem R a u b b a u an der Arbeitskraft führte. Die absolute und relative Verelendung erreichte ein seit der Industriellen Revolution nicht mehr gekanntes A u s m a ß und trug zum Entstehen einer revolutionären Massenbewegung bei. Auch das quantitative Resultat der Produktion im ersten Weltkrieg ist negativ. Nach Angaben von Wagenführ 5 2 2 sank zwischen 1913 u n d 1918 in den von ihm erfaßten Industriezweigen beziehungsweise Industriezweiggruppen die Erzeugung mit A u s n a h m e der Nichteisenmetalle (Aluminium!), denen allerdings noch mindestens die Elektroenergieproduktion u n d höchstwahrscheinlich auch die Chemie hinzuzufügen sind (vgl. Abb. 7). Die „Kriegsindustrien" wiesen jedoch einen weit geringeren Rückgang auf als die besonders stark betroffene zweite und auch als die dritte G r u p p e (vgl. 2.3.2.). Insgesamt ergibt sich eine Verringerung von 100 % (1913) auf nicht weniger als 57 % (1918), so daß durch das Fehlen der erweiterten u n d großenteils 158
190 —
Produktion einiger Industriezweige und -zweiggruppen 1913 bis 1918
180 —
Nach: Wagenführ, R., 1933, S. 23
170 —
160 —
150 — 140 — NE-Metalle (Aluminium, Kupfer u.s.w.)
130 -
120 —
110 —
100 —
9080-
{ergbau
70-
60
-
50-
Eisen und Stahl
4030-
] laustoffe
20-
extilien
10
-
1913
Wohnungsbau
1914
1915
1916
1917
1918 159
523 Otto, H./Schmiedel, S. 360 ff., 400 ff. 524 Mottek, H./Becker, ter.A., 1974, S. 225 f.
K.,
1977,
W./Schrö-
525 Vgl. für den zweiten Weltkrieg Brentjes, B./Richter, S./Sonnemann, R., 1978, S. 420.
sogar der einfachen Reproduktion ein Verfall der Industrie zu konstatieren ist. Bei den wichtigsten Waffenarten mit A u s n a h m e der an Bedeutung verlierenden traditionellen Gewehre, bei der entsprechenden Munition sowie bei Flugzeugen u n d U-Booten stieg zwar bis 1917, zum Teil auch bis zur ersten Jahreshälfte 1918 die Erzeugung. 523 Immer klarer trat jedoch zutage, d a ß die meisten Zweige der Rüstungsindustrie überfordert und nicht in der Lage waren, die Überlegenheit der Entente auszugleichen. Der maximale Mißbrauch der Produktivkräfte für militärische Zwecke konnte ihre Entwicklung nur partiell und fast nur indirekt voranbringen. Technische u n d arbeitsorganisatorische Neuerungen stellten lediglich einen Nebeneffekt von M a ß n a h m e n zur gesteigerten Rüstungsproduktion und zur Überwindung von materiell-technischen Engpässen dar, die auch in der Friedenszeit den Anstoß zu Produktivkräfte-Fortschritten gaben. Relevant waren in dieser Hinsicht unter anderem ein Teil der neuen Verfahren u n d Produktionskapazitäten zur verstärkten u n d rationellen Eigenerzeugung von Rohstoffen, unter denen die großtechnische vollsynthetische Produktion von Stickstoffverbindungen einen wegweisenden Fortschritt darstellte, ferner die Massenerzeugung von Elektroenergie in neuen Wärmekraftwerken auf Braunkohlenbasis sowie ihre erhöhte A n w e n d u n g in der Industrie. Für zivile Zwecke genutzt werden konnten a u ß e r d e m die M e t h o d e n der austauschbaren Massen- und Großserienproduktion. Zu nennen sind in diesem Z u s a m m e n h a n g auch die umfangreichen Investitionen von Monopolkapital und Staat in solchen Zweigen wie der chemischen Industrie, die zusammen mit den akkumulierten Fonds nach dem Kriege die Umstellung und den erneuten Aufschwung der Industrie begünstigten. 524 Stellt m a n dem die Rückschritte u n d Verluste von Produktivkräften der Industrie gegenüber, d a n n ergibt sich eindeutig, d a ß diese bei weitem dominierten. Die Entwicklung der Produktivkräfte wurde durch den ersten Weltkrieg nicht nur aufgehalten, sondern erheblich zurückgeworfen. Einzelne technische Fortschritte kamen auf Kosten des Gesamtfortschritts zustande, indem mit staatsmonopolistischen M e t h o d e n die vorhandenen Potenzen einseitig und ohne Rücksicht auf den erforderlichen A u f w a n d und den Konsumgüterbedarf auf bestimmte kriegswichtige Vorhaben konzentriert wurden. Unschwer ist erkennbar, d a ß sie zum größeren Teil auch ohne den Krieg objektiv notwendig waren. So wurde mit der Produktion synthetischen Ammoniaks und dem Bau des ersten Wärmekraftwerkes auf Braunkohlenbasis bereits vor 1914 begonnen. Der Krieg trug vor allem dazu bei, bestimmte Entwicklungen oder deren A n w e n d u n g zu beschleunigen u n d die Dimension ihres Einsatzes zu vergrößern. Es ist eine Ignorierung des dialektischen Z u s a m m e n h a n g s von Allgemeinem, Einzelnem u n d Besonderem, wenn Apologeten des Imperialismus Kriege zur Bedingung des technischen Fortschritts in der Industrie erklären. Noch deutlicher wird die die Entwicklung der industriellen Produktivkräfte h e m m e n d e Rolle des Krieges, wenn in die Betrachtung die riesigen Rüstungs-, Kriegs- u n d Wiederaufbaukosten einbezogen werden, die bei Verwendung f ü r friedliche Zwecke ein Vielfaches an industriell-technischen Verbesserungen ermöglicht hätten. 525 W ä h r e n d die Jahre vor dem ersten Weltkrieg ein H ö h e p u n k t der deutschen Industrieproduktion gewesen waren, stellten die ihm folgenden das völlige Gegenteil dar. Endete der Krieg bereits mit der Zerrüttung der deutschen Industrie, so wurden seine Auswirkungen durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages von Mitte 1919 vergrößert. N a c h d e m der deutsche Imperialismus in den 1914 bis 1918 besetzten Gebieten die Produktivkräfte für die Rüstungsproduktion mißbraucht, geraubt oder zerstört hatte, wollten die ähnlich profitgierigen Siegermächte Deutschland die gesamten Kosten des Krieges a u f b ü r d e n und als ökonomischen Konkurrenten aus dem Felde schlagen. Sie erzwangen zum Beispiel beträchtliche Gebietsabtretungen, durch die große Rohstofflagerstätten u n d Produktionskapazitäten in der Grundstoffindustrie verlorengingen, u n d schränkten die künftige industrielle Entwicklung auch durch zahlreiche andere Bestimmungen, Abgabe- und Lieferverpflichtungen ein. Nach den 160
Untersuchungen von J. Kuczynski hatte die deutsche Industrie erst 1928/29 wieder den Produktionsstand von 1913 erreicht. 526 Hinzu kommt noch die durch den Krieg verhinderte Weiterentwicklung. Da sich im ersten Weltkrieg der Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems und dessen zahlreiche andere Widersprüche außerordentlich verschärften, entstanden in verschiedenen Ländern die objektiven Bedingungen einer Lösung auf revolutionärem Wege. Der seit Sommer 1918 nahende militärische Zusammenbruch des deutschen Imperialismus bot günstige Voraussetzungen dafür, ihm auch im Inneren eine entscheidende politische Niederlage zu bereiten. In der Novemberrevolution „wurde die Herrschaft der Monopolherren, Junker und Militaristen tief erschüttert. Die deutsche Arbeiterklasse erzwang die Beendigung des Krieges", wobei sie in nicht wenigen Betrieben auch die sofortige Einstellung der Rüstungsproduktion durchsetzte, und „wichtige politische und soziale Veränderungen". 527 Was dem deutschen Proletariat jedoch noch nicht gelang, hatten im Herbst 1917 bereits seine Klassenbrüder in Rußland unter Führung der Bolschewiki erreicht. Sie erkämpften in der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution die politische Macht und beseitigten das Privateigentum an Fabriken und Werken. Durch die sozialistischen Produktionsverhältnisse entstanden völlig neue Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Produktivkräfte als dialektische Einheit von subjektiven und objektiven Faktoren zu entwickeln. Erstmalig konnten die Werktätigen ihre Fähigkeiten schöpferisch entfalten und die Produktionsmittel zu ihrem Vorteil anwenden. Es begann die „in der Geschichte der Menschheit gewaltigste Ablösung der unfreien Arbeit durch die Arbeit für sich selbst", wie Lenin im Dezember 1917 schrieb. 528
526 Kuczynski, J., Bd. 5, 1966, S.3 f; Mottek, H./Becker, W./Schröter, A., 1974, S. 239, schreiben jedoch, daß das bereits 1922 in etwa der Fall war. Vgl. auch S. 225. 527 Geschichte der SED, 1978, S. 37. 528 Lenin. W. /., Bd. 26, 1972, S. 405.
161
3. Die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft
Stationäre D r e s c h m a s c h i n e um 1900
162
Die rasche Industrialisierung, die nach 1871 einsetzte, erfolgte vor dem Hintergrund der Reichseinigung und des Übergangs vom Agrar-Industriestaat zum Industriestaat (vgl. 1.2.). Sie schloß eine relative u n d absolute A b n a h m e der landwirtschaftlichen Bevölkerung ein und verminderte das volkswirtschaftliche Gewicht der Landwirtschaft, hervorgerufen durch ein gegenüber der Industrie langsameres Wachstum der Produktion. D e n n o c h blieb ihr Gewicht immer noch bedeutend 1 — sie hatte jetzt volkswirtschaftliche Anforderungen zu erfüllen, die nicht mehr mit jenen Produktivkräften zu meistern waren, wie sie vor 1870 üblich gewesen waren. Die Anforderungen ergaben sich aus einer stark a n w a c h s e n d e n Bevölkerung, wovon ein immer größerer Teil in die Industrie ging, und dem z u n e h m e n d e n Verbrauch der Industrie an landwirtschaftlichen Rohstoffen. Schließlich f a n d auch die Industrie in der Landwirtschaft einen gewichtigen Absatzmarkt ihrer Produkte. D a die landwirtschaftliche Nutzfläche kaum noch erweitert werden konnte, blieb nur noch die Intensivierung der Produktion. Nach 1871 begann daher die zweite Etappe der kapitalistischen Intensivierung. Ihre Kennzeichen: Gegenüber der ersten Etappe vollzog sie sich auf einer ausgebildeten kapitalistischen Basis, deren Ausbau zu Beginn der siebziger Jahre abgeschlossen war. Die Produktion erfolgte jetzt nicht nur auf dieser Grundlage, sondern auch beeinflußt durch naturwissenschaftliche Disziplinen, 2 die sich insbesondere in Gestalt der beginnenden Mechanisierung, mineralischen Düngung, Pflanzenzüchtung sowie durch stärkere Berücksichtigung wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse auswirkten. Sie war geprägt durch, die z u n e h m e n d e Konzentration von Kapital pro Flächeneinheit und verlief zugleich in enger Wechselwirkung mit der Industrie, die an der landwirtschaftlichen Erzeugung durch die Bereitstellung von Maschinen u n d Düngemitteln n u n m e h r ebenso beteiligt war wie die Landwirtschaft selbst. Das Ausmaß der Kapitalkonzentration in der Landwirtschaft, in dem sich der Fortschritt der Produktivkräfte widerspiegelt, verdeutlichen einige wenige Zahlen, die zudem noch das sprunghafte Anwachsen der Kapitalinvestition gegenüber der vor 1870 erkennen lassen: Der Wert des Maschinen- und Geräteinventars betrug um 1870 etwa 50 M pro ha. Er stieg bis 1912 auf 150 bis 400 M. 1870 wurden etwa 50 Mio. M für mineralische Düngemittel verbraucht, 1912 waren es bereits 600 Mio. M. Um 1870 verfütterte m a n Futtermittel eigener Produktion im Werte von etwa 500 Mio. M ; diese Produktion verdoppelte sich bis 1912, und zusätzlich wurden noch Futtermittel im Werte von 1 Mrd. M eingeführt. 3 Diese Entwicklung ist verknüpft mit der endgültigen weltwirtschaftlichen Verflechtung der deutschen Landwirtschaft, verursacht durch die langwierige, Mitte der siebziger Jahre einsetzende, bis über die Mitte der neunziger Jahre a n d a u e r n d e Agrarkrise. Sie zeigte die Geburtswehen eines Weltagrarmarktes und unterwarf die deutsche Landwirtschaft der internationalen Arbeitsteilung, die wiederum die Entwicklung der Produktivkräfte beeinflußte. Die nationalen A b w e h r m a ß n a h m e n gegen die Agrarkrise, in ihrem Wesen eine importierte Getreidekrise, verlangsamten zeitweilig das Wachstum der Produktion und der Produktivkräfte — insbesondere das der Getreidewirtschaft. Deren Entwicklung wurde durch das eingeführte Schutzzollsystem stabilisiert. Im Endeffekt wurde so die Existenzgrundlage des längst untergangsreifen Junkertums subventioniert. Die Agrarkrise beschleunigte aber im großen u n d ganzen den gesellschaftlichen Fortschritt. Sie erzwang die A n w e n d u n g von Maschinen u n d die Spezialisierung der Landwirtschaft, „einer der G r u n d f a k t o r e n des landwirtschaftlichen Fortschritts in der kapitalistischen Gesellschaft". 4 Die in Deutschland erfolgte Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion äußerte sich in einem „Strukturwandel". Er bestand vor allem im Übergang zu einer Intensivierung der tierischen Produktion, in einer Veredlungswirtschaft, in der die Verfütterung pflanzlicher Erzeugnisse an das Nutzvieh im Interesse einer Steigerung des A u f k o m m e n s tierischer Produkte eine immer größere Rolle spielte. Die Entwicklung des Maschineneinsatzes, die Anw e n d u n g wissenschaftlicher Erkenntnisse u n d der Strukturwandel, durch den 163
3.1. Einleitung
1 Baudis, D./Nussbaum, H., 1978, S. 189. 2 Wußing, H., 1979, S. 61, Anm. 11. 3 Christoph. F., 1918, S. 8 f. 4 Lenin, W. /., Bd. 4, 1958, S. 150.
die agraren Produktivkräfte in der Zeit von 1871 bis 1914 ihre Akzente erhielten, sowie die Veränderung in der Bodennutzung u n d die Entwicklung der Arbeitskräfte geschahen a u f g r u n d der herrschenden Betriebsgrößenstruktur in höchst differenzierter und ungleichmäßiger Weise. Einigen dieser Tendenzen und ihren Auswirkungen gehen wir in den folgenden Abschnitten nach, viele Probleme harren noch ihrer eingehenden Untersuchung.
3.2. Der Boden und seine Bebauer Tabelle 51 Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe, Umfang ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche und prozentualer Anteil an der Gesamtzahl und -fläche 1882 bis 1907
Nächst dem arbeitenden Menschen ist der Boden die wichtigste Produktivkraft der agraren Produktion. Er ist nicht nur Standort der Produktion, sondern zugleich Produktionsinstrument: nicht nur auf seiner Grundlage, sondern unter A n w e n d u n g des Bodens einschließlich all seiner Naturbedingungen (Lage, Beschaffenheit, Klima) vollzieht sich der agrare Produktionsprozeß. 5 Wie der Boden sich unter seine unmittelbaren Bebauer oder Bewirtschafter verteilte, ersehen wir aus den landwirtschaftlichen Betriebszählungen von 1882, 1895 und 1907 (Tabelle 51). G r ö ß e n k l a s s e (ha)
3 236367
58,2
3 378 509
5,7
1 808444
5,6
1731311
5,4
984407
18,6
1016318
18,3
1 006277
17,5
3190203
10,0
3285984
10,1
3304878
10,4
926605
17,6
998 8 0 4
18,0
1065 539
18,6
9 158398
28,8
9721875
29,9
10421564
32,7
281510
5,3
281 767
5,0
262191
4,6
9908170
31,1
9 8 6 9 837
31,3
9322103
29,3
J
20
J
Zahl
Gesamt
J
Q u e l l e : SlDR,
0/ /o
58,0
5
j
1907
1 825 938
2-
ü b e r 100
0/ /o
3 0 6 1 831
Zahl
J
1895
Fläche
2 J
20-100
0/ /o
Zahl
unter
5-
1882
Fläche Fläche Zahl Fläche Zahl Fläche Zahl Fläche
58,9
24991
0,5
25 061
0,5
23 566
0,4
7 786263
24,4
7 831 801
24,1
7055018
22,2
5 276344
100,0
5558317
100,0
5 737082
100,0
31 8 6 8 9 7 2
100,0
32517941
100,0
31 8 3 4 8 7 4
100,0
Bd. 212, 2 b, 1912, S. 12.
D i e N u t z f l ä c h e n a h m nur g e r i n g f ü g i g ab ( 3 4 0 8 8 ha), die Betriebe v e r m e h r t e n sich u m k n a p p 9 %. D i e Betriebe unter 2 ha n a h m e n u m 9,4% zu, ihre F l ä c h e verringerte sich u m 5 %. D i e Zahl der K l e i n b a u e r n b e t r i e b e w u c h s u m 2,5 % u n d deren F l ä c h e u m fast 4 %; die Zahl der Mittelbauern vergrößerte sich um 15 % u n d deren F l ä c h e u m 14%. D i e Zahl der G r o ß b a u e r n verminderte sich um 7 u n d deren F l ä c h e u m 6 %, die der G r o ß b e t r i e b e sank u m 6 u n d deren N u t z f l ä c h e um 9 %.
5 MEW,
Bd.
23,
1962, S.
Bd. 25, 1964, S. 789. 6 Röhm,
H., 1956.
195;
D a n a c h besaß 1907 in der deutschen Landwirtschaft eine verschwindende Minderheit von 5 % die reichliche Hälfte des anbaufähigen Landes, während die proletarisch-kleinbäuerliche Mehrheit von 76,5 % aller Betriebe nur über 16 % des Landes verfügte. Ein Drittel des Bodens gehörte den Mittelbauern, die k n a p p ein Fünftel aller Betriebe innehatten. Natürlich m u ß man die regionalen Unterschiede in der Betriebsgrößenstruktur beachten, wie sie in Tabelle 52 und Karte 2 zum Ausdruck k o m m e n u n d in denen sich die einstigen Agrarverfassungen Guts- u n d G r u n d h e r r s c h a f t reflektieren. Die Betriebsgrößen- und soziale Struktur, die Basis der agraren Produktivkraftentwicklung, hat sich zwischen 1882 u n d 1907 nicht grundlegend verändert — was wir auch auf die Zeit von 1871 bis 1914 übertragen können. Lediglich die kleine bäuerliche Warenproduktion hat sich etwas vergrößert (Tabelle 51). Was blieb, war eine ungeheure Besitzzersplitterung, eine Zersplitterung des Bodens in 5,7 Mio. Produktionseinheiten. Selbst wenn wir die Betriebe unter 2 ha ausklammern, die k a u m als Voll-Bauernstellen zu betrachten sind, war die Besitzzersplitterung mit 2,35 Mio. Produktionseinheiten sehr groß und ungünstig f ü r eine Produktivkraftentwicklung. Die Betriebe unter 2 ha gehörten meistens industriellen Lohnarbeitern, die nebenbei eine kleine „Landwirts c h a f t " betrieben: ihre Ernährung als wichtiger Teil der Reproduktion der Arbeitskraft wurde so voll oder teilweise gewährleistet. Gefördert wurde die „Nebenerwerbslandwirtschaft" in jenen Regionen, in denen die Industrie einzudringen begann 6 u n d nahm in dem M a ß e zu, wie sich die Arbeitszeit verkürzte.
164
5 - 2 0 ha
20-100 ha
Landwirtschaftliche Bevölkerung auf 100 ha landwirtschaftliche ü b e r 100 ha Fläche
Landwirtschaftliche 14,7 15,8 14,2 64,5 16,4 68,9 53,6 25,3 38,6 26,2
Betriebe 17,4 14,0 16,4 13,0 18,7 29,5
7,2 6,6 4,5 1,6 2,3 5,6
1,1 0,2 0,4 0,1 0,1 0,1
45,8 50,2 51,8 86,4 77,7 62,7
58,2
18,0
5,1
0,4
54,8
Landwirtschaftliche 5,2 Östliches D e u t s c h l a n d 3 3,4 Nordwest-Deutschlandb 5,9 9,7 Mittel-Deutschland0 6,9 9,3 Mittel w e s t - D e u t s c h l a n d d 12,3 19,9 Südwest-Deutschlande 9,9 21,7 Südost-Deutschlandr 14,7 5,0
Nutzfläche 19,0 27,7 33,4 43,3 45,0 48,5
28,5 47,4 30,9 21,0 19,7 29,2
43,9 9,3 19,5 3,5 3,7 2,6
45,8 50,2 51,8 86,4 77,7 62,7
Insgesamt
29,9
30,3
24,1
54, f
Territorien
unter 2 ha
Östliches D e u t s c h l a n d 3 Nordwest-Deutschland 1 1 Mittel-Deutschland0 Mittel w e s t - D e u t s c h l a n d d Südwest-Deutschlande Südost-Deutschlandf
59,6 63,4
Insgesamt
5,6
2 - 5 ha
18,3
10,1
Tabelle 52 Verteilung der Betriebe und der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Deutschen Reich 1895
a
Ost- u n d W e s t p r e u ß e n , P o m m e r n , M e c k l e n b u r g , Posen, Schlesien, B r a n d e n b u r g . Schleswig-Holstein, Lübeck, H a n n o v e r , Westfalen, O l d e n b u r g etc. c Kgr. Sachsen, Altenburg, Provinz Sachsen, Thüringische Staaten, Reg.-Bez. Kassel, Braunschweig, Anhalt. d Rheinland. e Reg.-Bez. W i e s b a d e n , Bayerische Pfalz, Birkenfeld, Hessen, Baden, H o h e n z o l l e r n , Elsaß-Lothringen, westl. Württemberg. f Östl. Württemberg, Bayern o h n e Pfalz. Q u e l l e : Rauchberg, H., 1900, S. 566. b
Karte 2 Durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland 1895 ( n a c h : Die D e u t s c h e schaft, 1913, S. 144f.)
2.¥2-6 Hektar in 208 Bezirken 6-8 Hektar in 769 Bezirken 8-10 Hektar in 160 Bezirken 10-15 Hektar in 155 Bezirken 15-30 Hektar in 156 Bezirken 30-61.99 Hektar in 42 Bezirken Grenze des Deutschen Reiches
165
Landwirt-
Es gehören ferner die ländlichen Lohnarbeiter dazu, zumeist in Gebieten mit überwiegendem Großgrundbesitz, die mit etwas „ D e p u t a t l a n d " ausgestattet waren. Die industriellen und ländlichen Zwergbauern waren „notwendiges Zub e h ö r " des Kapitalismus — billige Arbeitskräfte u n d ständige Ausbeutungsobjekte, die die kapitalistischen Industrie- u n d Landwirtschaftsbetriebe benötigten. Zu ihnen gesellten sich noch ländliche Handwerker und Gewerbetreibende, die landwirtschaftlichen Nebenerwerb trieben, Fuhrunternehmen und Kleinkaufleute, aber auch kapital- u n d arbeitsintensive Garten-, Obst- u n d Weinbaubetriebe ebenso wie deklassierte Bauern. U m den Wirkungsraum der Produktivkräfte etwas zu erweitern, rückten Zwerg-, Klein- u n d Mittelbauern durch Zukauf oder Pacht von Land in die nächsthöhere Größenklasse auf. 1907 belief sich der Pachtanteil an der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Deutschen Reich bei den Betrieben unter 2 ha auf k n a p p 25, bei Kleinbauern auf 17 und bei Mittelbauern auf etwas über 9 %, erreichte jedoch in südwest- und westdeutschen Regionen weit höhere Anteile. In Thüringen hatten etwa 40 bis 50 % aller Betriebe unter 20 ha mehr als 50 % Pachtland in der bewirtschafteten Fläche, das hier u n d anderswo zumeist aus kapitalistischen Betrieben stammte. In Württemberg u n d Baden ergänzte etwa ein Drittel aller Betriebe ihre Nutzfläche durch die Nutzung von Allmenden, die vor allem für die Futterwirtschaft der Kleinbetriebe von nahezu lebenswichtiger Notwendigkeit waren. 7 Pachtgebühren bedeuteten für viele Kleinbetriebe Entzug von Geldern f ü r produktivere Verbesserungen und Intensivierung der Arbeitskraft. Die A b n a h m e der Zahl der Betriebe und der Nutzfläche bei den kapitalistischen Wirtschaften hat nichts mit einer Stagnation des kapitalistischen Produktions- und Konzentrationsprozesses gemein. Im ausgereiften Kapitalismus, in dem sich die Produktivkräfte rasch entwickelten, war die Bodenbewegung kein entscheidendes Kriterium mehr f ü r den kapitalistischen Konzentrationsprozeß u n d damit gesteigerter Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft. Das entscheidende Merkmal war n u n m e h r die Kapitalkonzentration auf der vorhandenen Fläche. In der B o d e n a b n a h m e der kapitalistischen Betriebe, insbesondere der Großbetriebe, äußerte sich gewissermaßen eine Umdisponierung der Kapitalanlage zugunsten des industriellen Profits. Diese ergab sich aus der Verbindung von G r u n d r e n t e und industriellem Profit, hervorgerufen durch die Kombination von agrarer Produktion und industrieller Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte auf den kapitalistischen Wirtschaften. Diese für den Großbetrieb vorteilhafte Verbindung erlaubte es denn auch, „überflüssigen" oder unrentablen Boden abzustoßen oder zu verpachten, um die vorhandenen Produktivkräfte rationeller, produktiver u n d profitträchtiger einzusetzen. 8 Insgesamt m u ß man aber feststellen, d a ß im Jahre 1907 die k n a p p e Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche von Betrieben bewirtschaftet wurde, deren Betriebsweise auch nicht im entferntesten den kapitalistischen A n f o r d e r u n gen entsprach. Die Bodenzersplitterung und Rückständigkeit der Betriebsgrößenstruktur in der deutschen Landwirtschaft kann man aus Tabelle 53 ersehen. Vom Standpunkt der Produktivkraftentwicklung besaßen a u f g r u n d historischer und ökonomischer Erfahrungen erst die G r o ß b a u e r n im Durchschnitt eine Fläche, die einen rationellen u n d produktiveren Ackerbau gewährleistete. Tabelle 53 Durchschnittliche Betriebsgröße in der Landwirtschaft
7 Rolfes, M., 1976 (a), S. 513; Bucher, K., 1924; Bäuerliche Zustände, Bd. 1 , 2 , 3 , 1 8 8 3 , passim. 8 Dillwitz, S., 1973, S. 53 ff.
Größenklasse (in ha)
Gesamtfläche 1882 1895
1907
Landwirtschaftliche Nutzfläche 1882 1895 1907
unter 2 25 5 - 20 20-100 über 100
0,8 4,0 12,4 44,1 411,3
0,7 4,3 12,9 48,1 420,8
0,6 3,2 9,9 35,2 311,6
Berechnet nach: StDR,
Bd. 212, 2 b, 1912, S. 12.
166
0,7 4,1 12,6 46,7 440,2
0,6 3,2 9,7 35,0 312,5
0,5 3,3 9,8 35,6 299,4
49 Erntezeit a u f einem g r o ß e n G u t — eine Mechanisierung der Erntearbeit ist zu e r k e n n e n (nach e i n e m Stich von 1909)
Die Lage der Klein- und Mittelbauern wurde noch erschwert durch die Zersplitterung des bewirtschafteten Landes in eine große Vielzahl von Parzellen, vor allem in der Eifel, im Spessart und im Westerwald, in Baden und in Württemberg, in der Pfalz, in Franken, in Hessen und in Thüringen. So besaßen im Eisenacher Oberlande 230 Besitzer der Gemeinde Wiesenthal 935 ha Land, das in 13 197 Parzellen lag. In Bärenbach im Regierungsbezirk Koblenz teilten sich 130 Eigentümer mit 429 ha Land in 5 116 Parzellen. Einer dieser Eigentümer, dessen Besitz 8 ha umfaßte, hatte ihn in 145 Parzellen, ein anderer mit 23 ha in 346 Parzellen — Beispiele wie es sie zu Hunderten gab. 9 Es herrschte in den genannten Gebieten vielerorts noch ausgeprägte Gemengelage, kaum ein Wegenetz und daher wenn auch kein rechtlicher, so doch faktischer Flurzwang. Er unterwarf die Besitzer bei der Organisation des Ackerbaus traditionellen Beeinträchtigungen (gemeinsame Bestellung, Ernte und Viehtrift), die den produktionstechnischen Fortschritt erschwerten. Es unterblieben Meliorationen, Viehzucht in großem Maßstab u n d progressive Anwendung der Wissenschaft. 1 0 Das Parzelleneigentum verschlechterte die Produktionsbedingungen und war ein „Unglück fruchtbarer Jahreszeiten für diese Produktionsweise". 1 1 » Die Arbeitsteilung in den Klein- und Mittelbauernbetrieben — und selbst in den Großbauernwirtschaften — war unentwickelt. Innerhalb einzelner Produktionsprozesse oder sogar ganzer Produktionszweige ist sie höchstens in den bäuerlichen Wirtschaften mit intensiverer Viehhaltung (vgl. Tab. 64) oder in der Gutswirtschaft, in der Getreideanbau dominierte, anzunehmen. Intensivere Viehhaltung bedeutete aber lediglich höheren Viehbesatz und intensivere Arbeitsleistung. Die traditionelle Arbeitsteilung nach Geschlechtern bestand weiter. Von einer Spezialisierung kann dennoch kaum die Rede sein, denn fast jede männliche Arbeitskraft mußte alle Männerarbeiten und fast jede weibliche alle Frauenarbeiten leisten. Nur die Pflugarbeiten blieben in der Regel dem Bauern vorbehalten. Mit arbeitssparenden Maschinen waren weder Klein- noch Mittelbauern ausreichend ausgerüstet (vgl. Tab. 56). Die Handarbeit war vorherrschend — bei langen Arbeitstagen von 12 bis 14 Stunden, in Spitzenzeiten sogar von 14 bis 18 Stunden — wie überhaupt die Arbeitszeit in der Landwirtschaft neben der in der Heimindustrie und in den häuslichen Diensten zu den längsten zählte. Erholung und Reproduktion der Arbeitskraft mußten daher mangelhaft bleiben. Fortschritte in der Produktion bedeuteten Intensivierung der Arbeitskraft. Sie zwangen den Bauern, sich abzuschinden und Raubbau an seiner Arbeitskraft zu treiben — was gleichbedeutend war mit Vergeudung von Arbeitskraft, gemessen an den erreichten Möglichkeiten einsetzbarer moderner Produktionstechnik. 1 2 Gegenüber den kapitalistischen Wirtschaften waren die Parzellen- und Kleinbauernbetriebe, die auch nur ganz wenig Lohnarbeiter beschäftigten, für die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktion ökonomisch eine unbedeutende Größe. Ihren Besitzern waren sie jedoch unentbehrlich für die Ernährung. Dagegen waren die mittelbäuerlichen Betriebe, von denen viele ohne ständige Lohnarbeiter nicht mehr auskamen, eine wichtige Grundlage einer in-
9 Conrad, J., 1909, S. 123. 10 Bäuerliche Zustände.Bd.l, 1883, S. 3 7 , 5 1 , 103, 123, 170, 199,253; Bd. 3, 1883, S. 117, 139, 154, 174, 186,224,262,273. 11 MEW, Bd. 25, 1964, S. 816. 12 Vgl. Lenin, W. /., Bd. 16, 1973, S. 454.
tensiv betriebenen Viehhaltung. Die Großbauernwirtschaften, deren Inhaber die Betriebe überwiegend selbst leiteten, hatten fast immer mehr Familienmitarbeitende als die mittelbäuerlichen Betriebe, und viermal mehr Lohnarbeiter, die wesentlichen Anteil an der Entwicklung auf diesen Wirtschaften n a h m e n . Deshalb sind die Großbauernbetriebe zu den kapitalistischen Wirtschaften zu rechnen. Je größer die bäuerliche Wirtschaft, um so rascher wuchs die Zahl der Lohnarbeiter. Für den ausgeprägt kapitalistischen Charakter der Betriebe über 100 ha spricht die durchschnittliche Zahl von 51 Lohnarbeitern je Großbetrieb im Jahre 1907 (Tab. 54).
Tabelle 54 Durchschnittlicher Arbeitskräftebesatz pro Betrieb in den einzelnen Betriebsgrößenklassen 1907
Größenklasse
Arbeitskräfte je Betrieb
in ha unter 2 25 5 - 20 20-100 über 100 Quelle: StDR,
1,29 2,90 4,31 7,89 52,50
Betriebsleiter absolut
%
0,27 0,75 0,92 0,98 1,01
20,9 25,9 21,3 12,4 1,9
Mithelfende Familienangehörige absolut %
Fremde Arbeitskräfte absolut %
0,87 1,74
0,15 0,41 1,13 4,72 50,88
2,26 2,19 0,61
67,4 60,0 52,4 27,8 1,2
11,7 14,1 26,3 59,8 96,9
Bd. 212, 2 b, 1912, S. 61, 67.
U n d in den Wirtschaften über 100 ha gab es auch eine sichtbare Arbeitsteilung im Produktionsprozeß, zwar nicht immer fest abgegrenzt, auch lokal unterschiedlich, doch im allgemeinen entwickelt genug, um eine höhere Arbeitsproduktivität zu erreichen als in den Bauernwirtschaften. Soweit die Besitzer ihre Wirtschaften nicht selbst leiteten, besorgten es Administratoren, Inspektoren oder Güterdirektoren. Unter ihnen standen Hofmeister, Aufseher, Futter-, Rinder-, Schweine- und Schafmeister sowie Buchhalter, die die Verwertung des agrikolen Kapitals und den Produktionsablauf zahlenmäßig kontrollierten. Es gab vor allem Lohnarbeiter (Gesinde, kontraktlich g e b u n d e n e u n d freie Tagelöhner, Wanderarbeiter usw.), die entweder ständig nur in der Feldwirtschaft oder nur in der Viehwirtschaft oder Hauswirtschaft eingesetzt waren. Diese Arbeitsteilung schuf Voraussetzungen, d a ß sich auch eine recht ansehnliche Zahl von Junkern der Pflanzen- und Tierzucht widmen konnte. Durch ihre Leistungen trugen sie erheblich zum Fortschritt der Produktivkräfte bei. 13 Der weit größere Teil von ihnen suchte sein Betätigungsfeld jedoch in der reaktionären Agrarpolitik. 1882 waren in der Landwirtschaft 8,064 Mio. Arbeitskräfte hauptberuflich tätig. Nach einem leichten Rückgang um 19 000 bis zum Jahre 1895 stieg die Zahl der Erwerbstätigen auf 9,6 Mio. im Jahre 1907. Die männlichen Arbeitskräfte verminderten sich jedoch im gleichen Zeitraum um 514 250 auf 5,023 Mio., verursacht durch A b w a n d e r u n g in die Industrie, in das Verkehrswesen und nach Übersee. An ihre Stelle traten Frauen, deren Zahl um 2,032 Mio. auf 4,6 Mio. zunahm. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Erwerbstätigen hatte sich dadurch von 31,2 auf 46,5 % erhöht. D a n e b e n arbeiteten aber auch noch 2,5 Mio. Frauen nebenberuflich in der Landwirtschaft. 1 4 Damit wies die Landwirtschaft zugleich innerhalb der gesamten Volkswirtschaft den höchsten Anteil an weiblichen Arbeitskräften aus.
13 Hillmann, P., 1911. 14 StDR, Bd. 4, 1884, S. 2 f f ; Bd. 102, 1897, S. 4 f f ; Bd. 202, 1909, S. 6 ff. 15 Kuczynski, S. 167 ff.
J., Bd. 18,1963,
Wenn Deutschland vor dem ersten Weltkrieg eine f ü h r e n d e Stellung in der agraren Produktion und Produktivität erreichte, so beruhte diese Leistung nicht zuletzt auf der Arbeit der Frauen. Aber dieser Einsatz bedeutete schwerste Handarbeit, langen Arbeitstag und schlechte Bezahlung. Während die Frauen im Durchschnitt niedriger bezahlt wurden als die Männer, mußten sie im Durchschnitt länger arbeiten, im Sommer bis zu 18 Stunden, wobei dies meist auf Kosten der Haus- u n d Mutterpflichten ging. 15 Besonders die Frau des Kleinbauern, der in der Industrie oder auf dem Gutsbetrieb arbeiten gehen mußte, war ein „abgehetztes Lasttier", gehetzter als das Leben der schon gehetzten Dienstboten. Die Bewirtschaftung lag fast allein auf ihren Schultern. 168
„ D a finden wir die Besitzerinnen, die pflügen, aufladen, Säcke tragen, kurz schwerste Muskelarbeit tun. Während es bei der Arbeitsteilung im Großbetriebe doch immerhin eine große A u s n a h m e ist, wenn Frauen diese eigentliche Männerarbeit verrichten." 1 6 Vor allem in Süd- und Westdeutschland waren die Kleinbetriebe oftmals zu Frauenbetrieben geworden. U n d auch die Töchter der Kleinbauern, die „unbezahlten Mägde im Elternhause", mußten hart arbeiten, sie unterschieden sich kaum von der Stellung eines Dienstboten u n d kannten nur ein Ziel: in ein Hauswesen ohne Landwirtschaft zu heiraten, um der schweren Landarbeit zu entgehen. 1 7 Ertrug die Bäuerin die schwere Arbeit u n d den langen Arbeitstag noch mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, da alles dem eigenen Besitztum diente, so e m p f a n d e n die Mägde, das weibliche Gesinde und die Tagelöhnerinnen der verschiedensten Kategorien die Landarbeit als schwere Last. Die Landarbeiterinnen, die im Süden und Westen zumeist aus den Arbeiter-, Klein-, Mittelu n d sogar G r o ß b a u e r n f a m i l i e n stammten u n d sich in Ostelbien aus dem „erblic h e n " Landarbeiterstand rekrutierten, waren „ M ä d c h e n für alles". Mähen, D u n g l a d e n , Führen der G e s p a n n e mit A u s n a h m e der Pferdegespanne, Aufgabeln, Melken, Füttern usw. wurden von ihnen verlangt. Zuweilen m u ß t e n sie in Süddeutschland nach dem Abendbrot auch noch spinnen u n d nähen, in Brandenburg und Schlesien Rüben schälen u n d Kartoffeln f ü r das Vieh waschen. Vielfach gab es den „Begriff Ü b e r s t u n d e n ' bei der Verwendung der Magd nicht, d a sie keine fest umgrenzte Arbeitszeit zugestanden b e k o m m e n hat". 1 8 Die lange Arbeitszeit führte oft dazu — wie es aus Mecklenburg bezeugt ist — d a ß die jüngeren Landarbeiterinnen „immer m ü d e sind und schlafen, wo sie nur können, ein paar M i n u t e n " während der Arbeitszeit. 19 Stall- und Melkarbeit war jedoch bei der Landarbeiterin verpönt u n d wurde auf größeren Bauern wirtschaften und Gutsbetrieben im Laufe der Zeit durch Schweizer erledigt. Die ungeheure Ausbeutung der Mägde, deren Arbeitszeit 1913 größer war als 100 Jahre davor, war auch vielfacher Anlaß zur Landflucht. Das wurde noch gefördert durch die große Abhängigkeit der Frau auf dem Lande. „In keinem Berufe ist die Frau so fest in alter Hörigkeit verblieben wie in der Landwirtschaft, daher die allgemeine Landflucht der Frauen, von der einfachen Arbeiterin bis hinaus zur Gutsbesitzerstochter. Die Landarbeiterin ist von ihrem M a n n e oder Vater genau so abhängig wie die Gutsbesitzers- oder Bauersfrau." 2 0 Weibliche wie männliche Lohnarbeiter stellten in der Landwirtschaft eine zahlenmäßig starke Bevölkerungsschicht dar. Von den 9,6 Mio. landwirtschaftlichen Erwerbstätigen gehörten 1907 genau ein Drittel zu den Lohnarbeitern der verschiedensten Kategorien (Insten, Büdner, Kontraktarbeiter, Gesinde, freie Tagelöhner, Hofgänger, D e p u t a n t e n usw.), die vor allem in Ostelbien und in der Provinz Sachsen konzentriert waren und in Ostpreußen, Pommern und Mecklenburg noch in „halber Leibeigenschaft" lebten. 21 Die Lohnarbeiter waren das ausgeprägteste Kennzeichen des agraren Unternehmertums u n d die wichtigsten unmittelbaren Produzenten in den kapitalistischen Wirtschaften. Sie waren Teil des arbeitsteiligen Gefüges des landwirtschaftlichen Großbetriebes. Dort leisteten sie überwiegend Handarbeit und waren je nach E r f a h r u n g u n d Fertigkeiten in den Bereichen Feld-, Stall- u n d Viehwirtschaft, Hauswirtschaft oder in den technischen Nebengewerben eingesetzt. Abhängig von den anfallenden Arbeiten in den verschiedenen Jahreszeiten wurden sie hauptsächlich in der Zeit der Bestellung u n d in der Ernte, besonders beim Hackfruchtbau, vor allem beim Zuckerrübenbau, aber auch beim Getreideschnitt (Schnitter, Garbenbinder, Aufgabler) u n d Getreidedrusch (Drescher) eingesetzt. Ein kleinerer Teil der Lohnarbeiter besorgte Gespann- u n d Fuhrarbeiten (Knechte, Kutscher), Melkarbeiten (Melkerin, Schweizer) u n d Stallarbeiten, wie Ausmisten, Dungbereitung, Einstreu, Füttern, Viehpflege (Knechte, Mägde), oder war als herrschaftliches Dienstpersonal (Wirtschafterin, Stubenmädchen, Wäscherin, Leuteköchin, Diener u. a.) tätig. Die Landarbeiter waren ökonomisch, rechtlich, politisch und kulturell bedeutend schlechter gestellt als die Industriearbeiter. Gesindeordnung, fehlen169
16 Dyhrenfurth, G., 1916, S. 51. 17 Ebenda, S. 50, 31, 96; Seufert, H., 1914,S. 164, 171,261. Seufert. H., 1914, S. 258; vgl. auch Dyhrenfurth, G., 1916, S. 24. Priester, 1914, S. 56 f. Wegner, M., 1905, S. 4 ff. u. 23. Zu den verschiedenen Landarbeiterkategorien mit und ohne Bodenanteilen sowie den verschiedenen Tätigkeitsbereichen vgl. Verhältnisse der Landarbeiter, Bd. 3, 1892 u. Plaul, H., 1979, S. 90 ff.
des einheitliches Arbeitsrecht, fehlender Arbeitsschutz, Züchtigungsrecht, Koalitionsverbot usw. b a n d e n die Landarbeiter an die Arbeitsplätze beziehungsweise erschwerten die Abwanderung in die besser zahlende Industrie u n d unterwarfen sie einer rigorosen Ausbeutung. Wenn dennoch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihre Reallöhne stiegen, so waren damit keineswegs die sozialökonomische Lage oder die Reproduktionsbedingungen besser geworden. Denn mit der Intensivierung der Arbeit, die die produktionstechnischen Fortschritte mit sich brachten, stieg auch das Existenzminimum, mußten die Landarbeiter mehr und bessere Nahrungsmittel zu sich nehmen, um die steigende Arbeitskraftausgabe zu kompensieren. 2 2 Besonders rücksichtslos wurden die ausländischen Saisonarbeiter, vor allem aus Polen und Rußland, ausgebeutet. Sie schlössen die mit dem Übergang zur intensiveren Kultur u n d dem z u n e h m e n d e n Arbeitskräftemangel infolge Abwanderung in die Industrie u n d nach Übersee entstehenden Lücken im Arbeitskräftebedarf der ostelbischen Landwirtschaft. Eingesetzt vor allem im Kartoffel- und Zuckerrübenbau (Hackarbeiten, Rübenverziehen, Ernte) u n d als Schnitter, waren sie insbesondere in den östlichen Provinzen halbfeudal gefesselt, in unwürdige Zustände gepreßt u n d wurden teilweise mit terroristischen Mitteln zur Arbeitsdisziplin gezwungen. 2 3 Der Landarbeiter wurde im Interesse kapitalistisch-junkerlicher Profiterzielung noch weitgehend mit feudalen oder halbfeudalen Methoden ausgebeutet. Der dem Kapitalismus entsprechende wirklich „freie" Landarbeiter entstand erst nach der Novemberrevolution.
3.3.
Wissenschaft und Ausbildungswesen
Unter den Faktoren, die die Entwicklung der agraren Produktivkräfte beschleunigten u n d wichtige Voraussetzungen der Intensivierung der Produktion schufen, gehörte vorrangig die Wissenschaft, die selbst immer stärker als Produktivkraft wirkte. Die z u n e h m e n d e n Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung an Nahrungsmitteln und der Industrie an landwirtschaftlichen Rohstoffen konnten nicht mehr mit einer Erweiterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche gedeckt werden. Letztere hatte um 1878/80 ihre größtmögliche Ausdehnung erfahren u n d ihr Zuwachs aus der Verminderung der Brache und des Ö d l a n d e s bis 1914 war nur noch von geringfügiger Bedeutung. Die notwendige Steigerung der agraren Produktion erforderte daher auch den verstärkten Einsatz der Wissenschaft; er erfolgte, indem der vor 1870 geschaffene wissenschaftliche Vorlauf n u n m e h r systematischer und konzentrierter angewendet wurde, oder indem Produktionsprobleme auf G r u n d neuer Erkenntnisse in Chemie und Biologie sowie in der Technik und Wirtschaftswissenschaft schneller gelöst werden konnten (vgl. 6.1.). Die A n w e n d u n g wissenschaftlicher Erkenntnisse geschah in der Landwirtschaft mit ihrer Besitz- u n d Bodenzersplitterung sehr ungleichmäßig; sie war abhängig von der G r ö ß e und Kapitalkraft der Betriebe, das heißt die agrarkapitalistischen Betriebe berücksichtigten die Wissenschaft weit eher und umfangreicher als die bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe. Dient die Agrarwissenschaft im Kapitalismus allgemein dazu, die größten Gewinne aus dem Boden zu ziehen, so schuf die langfristige Agrarkrise für die kapitalistischen Wirtschaften noch einen zusätzlichen, geradezu gebieterischen Anreiz zur Anw e n d u n g wissenschaftlicher Erkenntnisse, wenn sie in dem an Schärfe zunehm e n d e n Konkurrenzkampf bestehen wollten.
22 Kuczynski, J., 1979, S. 164; vgl. a u c h Fränkel, H., 1882, S. 38. 23 Vgl. Nichtweiss, J., 1959, S. 138 ff., 224 ff., 239 f.
Fast alle Gebiete der Agrarwissenschaften machten seit 1870 beträchtliche Fortschritte. Ihre institutionellen Grundlagen dehnten sich rasch aus. Bestehende Einrichtungen wurden ausgebaut oder neu strukturiert, in einem weit größerem M a ß e wurde aber neues Forschungspotential geschaffen. Universitäten erhielten landwirtschaftliche Institute. Eine Vielzahl von Versuchsstationen wurde gegründet. Sie unterstanden entweder dem Ministerium für Landwirtschaft (z. B. Institut für Gärungsgewerbe u n d Stärkefabrikation in Berlin, gegründet 1874, oder Kaiser-Wilhelm-Institut f ü r Landwirtschaft in Bromberg, gegründet 1906), zentralen staatlichen Kommissionen, den Provinzialregierun170
gen, landwirtschaftlichen Zentralvereinen, den Landwirtschaftskammern oder Interessenverbänden der landwirtschaftlichen Verarbeitungsindustrie (z. B. das schon 1866 eröffnete Institut f ü r Zuckerindustrie des Vereins der deutschen Zuckerindustrie in Berlin oder die 1906 ins Leben gerufene Versuchsanstalt f ü r Getreideverarbeitung des Verbandes Deutscher Müller in Berlin). Die Interessenverbände, die in ihren Unternehmen, zum Beispiel den Rübenzukkerfabriken, oft eigene Forschungslaboratorien besaßen, bestimmten nicht nur Leitung und wissenschaftliche Richtung ihrer Institute. Sie n a h m e n auch erheblichen Einfluß auf staatliche und vereinseigene Versuchsanstalten u n d somit auf die Landwirtschaft, die sie zum Teil durch Forschungsaufträge finanzierten. Um die J a h r h u n d e r t w e n d e bestand ein dichtes Netz von Versuchsanstalten 24 , in denen bekannte Gelehrte wirkten, die b a h n b r e c h e n d e Leistungen vollbrachten. Sie berieten eine Anzahl landwirtschaftlicher Großbetriebe auf Honorarbasis, vor allem auf dem Gebiet der Agrikulturchemie, Pflanzen- u n d Tierproduktion, und erhielten von ihnen wiederum ausreichend Daten zur Ü b e r p r ü f u n g der wissenschaftlichen Ergebnisse. Die G r ü n d u n g landwirtschaftlicher Institute an den Universitäten erfolgte vor dem Hintergrund der scharfen Angriffe Justus von Liebigs gegen die landwirtschaftlichen Akademien, die er 1861 als neugewählter Präsident der Bayrischen Akademie der Wissenschaften in seiner vielbeachteten, aber auch heftig umstrittenen Rede über „Wissenschaft u n d Landwirtschaft" aussprach. Er warf den vielfach nur praxisbezogenen, nicht selten von wissenschaftlichen Zentren abgelegenen Akademien vor, d a ß sie sich überlebt hätten und d a ß nach seiner Überzeugung die Landwirtschaft letzthin nur als angewandte Naturwissenschaft betrieben werden könne. Obwohl Liebigs Kritik einseitig war, bewirkte sie die Durchsetzung des Studienfaches Agrarwissenschaft an den Universitäten. N a c h d e m schon 1862 der erste landwirtschaftliche Lehrstuhl an der Universität Halle eingerichtet wurde (geleitet von Julius Kühn), kam es zu weiteren G r ü n d u n g e n 1869 in Leipzig, 1871 in Gießen, 1873 in Königsberg, 1881 in Breslau. Ein Teil der den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht mehr genügenden Akademien wurde aufgelöst, andere bestanden fort, Weende wurde 1872 der Universität Göttingen eingegliedert. 1881 wurde die landwirtschaftliche Hochschule in Berlin gegründet, u n d diesen Status erhielt 1904 die Akademie zu Hohenheim, die schon vor Liebigs Polemik die Naturwissenschaften im Lehrprogramm a u f g e n o m m e n hatte. Es war zunächst der steigende Einfluß der Naturwissenschaften, vor allem agrikulturchemische, phythopathologische u n d züchterische Erkenntnisse u n d Erfahrungen, die die landwirtschaftliche Produktionssteigerung und Intensivierung vorantrieben. G r o ß e Fortschritte wurden in der Erforschung u n d Bek ä m p f u n g der Pflanzenkrankheiten u n d tierischen Schädlinge, die beträchtliche Ernteverluste verursachten, erzielt. Bahnbrechend hat hier K ü h n gewirkt, der in seinem 1858 erschienenen Buch „Die Krankheiten der Kulturpflanzen, ihre Ursachen u n d Verhütung" die wissenschaftlichen Grundsätze der Bek ä m p f u n g entwickelte. D a f ü r boten auch Heinrich A. de Barys Forschungen über die Getreidepilze und Kartoffelkrankheiten unerläßliche Voraussetzungen. Auf deren G r u n d l a g e n begann in den sechziger Jahren der A u f b a u eines systematischen Pflanzenschutzes in Deutschland, und nach einem grundsätzlichen Vortrag K ü h n s (1889) vor der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft ( D L G ) in Magdeburg entstand im gleichen Jahre die erste Forschungsstelle für Pflanzenkrankheiten. Ein Jahrzehnt später (1898) ü b e r n a h m die im Kaiserlichen Gesundheitsamt eingerichtete Biologische Abteilung die Organisation des staatlichen Pflanzenschutzes, aus der 1905 die Biologische Reichsanstalt f ü r Land- u n d Forstwirtschaft hervorging, in die der Sonderausschuß der D L G f ü r Pflanzenschutz integriert wurde. Die Biologische Reichsanstalt verfügte über 14 eigene Pflanzenschutzstationen, die die eigentlichen Träger der Forschung waren, während in der Zentrale alle Bestrebungen des Pflanzenschutzes zusammenliefen. Sie leistete eine wirkungsvolle Aufklärungsarbeit (Flugblattaktionen). 2 5 Die von Liebig begonnene, in den Versuchsanstalten u n d Universitätsinstitu171
24 Das landwirtschaftliche suchswesen, 1912. 25 Ebenda, S. 79 ff; Mörstadt, 1920, S. 817 ff.
VerH.,
26 Wöhlbier, W., 1970, S. 289 ff.
ten a u f g e n o m m e n e agrikulturchemische Forschung wurde nun auf breiter Basis fortgeführt. Um 1870 setzte sich die von Philipp Carl Sprengel u n d Liebig begründete Auffassung endgültig durch, d a ß für die Erhaltung und Steigerung der Bodenfruchtbarkeit die mineralische Düngung neben der organischen unerläßlich sei. Dabei widerlegten Emil Wolff, Adolf Stöckhardt und andere Agrikulturchemiker die zeitweilig von Liebig vertretene These, d a ß für die Stickstoffversorgung aller Kulturpflanzen der in der Atmosphäre vorhandene A m m o n i a k ausreiche und demzufolge eine Stickstoffdüngung überflüssig sei. 1886 gelang schließlich H e r m a n n Hellriegel, Leiter der landwirtschaftlichen Versuchsstation in Bernburg, die Entdeckung, daß Schmetterlingsblütler fähig sind, durch Symbiose mit Knöllchenbakterien den Stickstoff der Luft zu binden u n d damit den Gehalt an N-Verbindungen im Boden zu erhöhen. Sein Vorgänger in der Praxis war Albert Schultz-Lupitz, der sich erfolgreich für den Leguminosenbau, insbesondere der Lupine, die G r ü n d ü n g u n g sowie die Verwendung von Kali u n d Phosphorsäure f ü r die E r h ö h u n g der Ertragsfähigkeit der leichteren Böden einsetzte. Er machte sich um den Zwischenfruchtanbau verdient. Seinen u n d Hellriegels Erkenntnissen u n d Methoden war es zu verdanken, d a ß in der ostdeutschen Landwirtschaft auf den leichten Böden eine bedeutende Ertragserhöhung erreicht wurde u n d besonders die Junkerwirtschaften ihren Kartoffelanbau intensivieren konnten. Zu A n f a n g des 20. Jahrhunderts gewann die entstehende Kolloidchemie f ü r die Bodenkunde an Bedeutung. Paul Ehrenberg veröffentlichte 1915 die ersten Ergebnisse in seinem Werk „Die Bodenkolloide", das Anregungen für die bessere Bindung der Nährstoffe im Boden und M a ß n a h m e n gegen ihre Auswaschungsverluste vermittelte. Die erfolgreich fortschreitende Agrikulturchemie führte auch in der Tierernährungs- u n d Fütterungslehre zu neuen Erkenntnissen. Ausgehend von Liebigs „Tier-Chemie oder die organische Chemie und ihre Anwendung auf Physiologie u n d Pathologie" (1842) untersuchte Wilhelm Henneberg die Bestimmungswerte der Futtermittel, wobei er feststellte, d a ß man außer der chemischen Rohstoffzusammensetzung auch ihre Verdaulichkeit zu berücksichtigen habe. Wesentlich gefördert wurde die Tierernährung durch Oskar Kellner, seit 1893 Leiter der bekannten Versuchsstation in Möckern bei Leipzig. Angeregt durch die Arbeiten des Mediziners Max Rubner, befaßte er sich eingehend mit den Nährwerten der Futtermittel. Er führte den Stärkewert als Maßeinheit der Futtermittel ein und ermöglichte damit den A u f b a u der Futterberechnung auf energetischer Grundlage. A n h a n d seiner berühmten Fütterungstabellen konnte der Landwirt den Nährwert seiner Futtermittel bestimmen, sie kombinieren u n d rationellere Futternormen festlegen. 26 Diese produktionsfördernden Erkenntnisse wurden allerdings erst nach dem Kriege Allgemeingut. Während Henneberg u n d Kellner sich jedoch fast nur mit Wiederkäuern befaßten, lieferte Franz L e h m a n n wichtige Fütterungslehren, vor allem Mastvorschriften, f ü r die Schweine- und Geflügelhaltung. Beachtliche Fortschritte f a n d e n in der Pflanzenzüchtung statt (vgl. 6.5.). Die E i n f ü h r u n g einer planmäßigen, systematischen Züchtung hing anfangs eng mit der E i n f ü h r u n g u n d A u s d e h n u n g des Zuckerrübenanbaues und der Rübenverarbeitung zusammen. Der damit verbundene Getreide-Hackfruchtwechsel, die Tiefkultur u n d starke D ü n g u n g erforderten neue Getreidesorten, die diese intensive Kultur vertrugen. Die bisherigen gewöhnlichen Landsorten genügten den neuen A n f o r d e r u n g e n nicht, ihr Stroh war schwach und nicht lagerfest genug. Schon die Saaten begannen zu lagern u n d erschwerten die Erntearbeiten. Die Rübe war die erste Feldfrucht, die systematisch züchterisch bearbeitet wurde und deren Zuckergehalt kontinuierlich stieg. Verknüpft ist diese Leistung mit Matthias Rabbethge aus Klein Wanzleben in der Magdeburger Börde. 1862 verbesserte sein Sohn Karl die Untersuchungsmethoden, indem er mit Hilfe des damals noch primitiven, aber f ü r den Fortschritt der Züchtung höchst wichtigen Polarimeters den Zuckergehalt der Rübe bestimmte u n d die besten Mutterrüben f ü r die weitere Züchtung auswählte. Durch diese Methoden, die 1879 verbessert wurden (Breipolarisation, später Alkoholdigestion), 172
50 H e r m a n n Hellriegel
51 Wilhelm R i m p a u
52 O s k a r Kellner
53 Friedrich A e r e b o e
54 M a x Eyth
u n d die vorgenommene Individual- und Stammbaumzucht gelang es, den Zukkergehalt der Rüben von 8,5 % im Jahre 1870 auf 16 % unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg zu steigern. 27 Z u c k e r r ü b e n b a u e n d e und naturwissenschaftlich gebildete D o m ä n e n p ä c h t e r und Großgrundbesitzer der preußischen Provinz Sachsen waren es dann, die auch die Züchtung ertragreicherer Getreidesorten in Angriff nahmen. Zu diesen landwirtschaftlichen Pionieren und Züchtern zählt Wilhelm Rimpau aus Schianstedt. 1867 begann er mit züchterischen Experimenten; wenig später entwickelte er den bekannten „Schlanstedter Roggen". Danach betrieb er viele Kreuzungsversuche mit den verschiedensten Getreidesorten, befaßte sich mit Fremd- und Selbstbefruchtung bei Getreide. 1889 entstand aus der Vereinigung der guten Ertragseigenschaften englischer Weizensorten mit der Winterfestigkeit deutscher und amerikanischer Landsorten der berühmte Schlanstedter rote Sommerweizen. Diese älteste deutsche Weizenzüchtung gehörte fast 50 Jahre zu den f ü h r e n d e n deutschen Sorten. Neben anderen wichtigen Sorten (Gerste, Rüben) führte Rimpau das Sortenprüfwesen ein und entwarf 1888 das „Hochzuchtregister der D L G " , : s das dazu beitrug, die ertragshohen Sorten ziemlich schnell zu verbreiten, wie man ü b e r h a u p t davon ausgehen kann, d a ß seit dieser Zeit die neuen Getreideso'rten nachhaltig die landwirtschaftliche Produktionssteigerung beeinflußten (vgl. Tab. 60). Umfangreiche Kreuzungsexperimente unternahm Ferdinand Heine aus Hadmersleben. Er bearbeitete Ende der siebziger Jahre englischen und dänischen Dickkopfweizen, der als Intensivsorte von den Landwirten sehr geschätzt wurde. 29 Eine hervorragende Stellung unter den Pflanzenzüchtern gebührt auch Ferd i n a n d von Lochow. Sein südlich von Berlin gelegenes G u t Petkus verfügte nur über wenig fruchtbaren Sandboden. Um seine Erträge zu steigern, züchtete er 173
27 Heinisch, O., 1960, S. 4 9 f f . ; Reitemeier, A., 1904, S. 60 ff. 28 Meyer, K., 1970, S. 275 f. 29 Reitemeier,
A., 1904, S. 89 f.
30 31 32 33 34 35 36
Aufliammer, G., 1970, S. 301 ff. Krzymowski, R„ 1951, S. 275. Haushofer, H., 1972, S. 233. Zirnstein, G., 1977, S. 34,149 ff. Ebenda, S. 76. Rolf es, M., 1976 (a), S. 496. Vgl. Goltz, Th. Frh. v. d., Bd. 2, 1903, S. 334,344.
für den Brotgetreidebau eine neue Roggensorte, den bekannten Petkuser Winterroggen. 1891 erklärte die DLG auf Grund vergleichender Prüfungen den Petkuser Roggen zur besten Sorte. Er fand ziemlich schnell internationale Verbreitung, schlug künftig alle Roggensorten der Welt. In Deutschland beherrschte er zusehends die Roggenanbaufläche (1930: ca. 75 %). Lag der Hektarertrag um 1870 bei 10,3 dt, so stieg er bis 1914 auf etwa 17,5 dt. Etwa ein Drittel des Mehrertrages wird auf die Züchtung zurückgeführt. Lochow erzielte auch beachtliche Leistungen in der Rindviehzucht. Er steigerte durch züchterische Maßnahmen die Milchleistung seiner schwarzbunten Kühe von 3 754 1 je Kuh im Jahre 1897 auf 4 417 1 im Jahre 1912 (Reichsdurchschnitt 1 800 1), den Fettgehalt von 3,6 auf nahezu 4 %, die Butterausbeute von 146 auf 195 kg im Jahr. 30 Große Fortschritte wurden auch in der Kartoffelzüchtung erreicht. Wenn der durchschnittliche Hektarertrag von 70,3 dt der Jahre 1870/75 auf 135,8 dt um 1914 gesteigert wurde, so war der Anteil der Züchter daran gewiß nicht gering; zugleich gelang es ihnen auch, den Stärkegehalt von 15 auf 18 % zu erhöhen. Doch im Gegensatz zur Getreidezüchtung war die Kartoffelzüchtung auf Massenertrag mit einer Qualitätsminderung der Speisekartoffeln einhergegangen.11 In der Viehzucht brachte erst das Ende des 19. Jahrhunderts entscheidende Veränderungen durch die planmäßige Einführung der Leistungsprüfungen. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Veredlung der Rassen durch Kreuzungen zumeist mit ausländischen Tieren im Vordergrund stand, verschob sich das Gewicht nunmehr auf die züchterische Bearbeitung der stabilisierten Rassen, wobei die von den Züchtern gebildeten Herdbuchgesellschaften das Zuchtmaterial systematisch erfaßten und auswerteten. 32 So groß die Leistungen in der Pflanzenzüchtung auch waren, sie waren zunächst praktischen Landwirten zu verdanken, die sich zwar überwiegend auf Universitäten naturwissenschaftliche Erkenntnisse erwarben, aber keine berufsmäßigen Wissenschaftler gewesen sind. Erst in den Jahren zwischen 1895 und 1905 ging die Pflanzenzüchtung allmählich aus der Hand des Empirikers in die des Wissenschaftlers über, der die Disziplin der Biologie beherrschte, die durch die Wiederentdeckung der Vererbungsgesetze Gregor Mendels einen großen Aufschwung erfuhr. Die Genetik konstituierte sich jetzt schrittweise als Wissenschaft. 33 Im wissenschaftlichen Ausbildungswesen begann sich dieser Wandel schon seit 1889 abzuzeichnen, als an der Universität Göttingen Kurt von Rümker die ersten selbständigen Vorlesungen zur Pflanzenzüchtung hielt.34 Die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erhöhte nicht nur außerordentlich stark die landwirtschaftliche Produktion, sondern auch ihre Wirtschaftlichkeit. Denn mit der planmäßigen Leistungszüchtung, mit der Schaffung besserer Wachstums- und Ernährungsverhältnisse für Vieh und Pflanzen wurden nun auch höhere Ausnutzungsquoten von Futter und Dünger erreicht. 35 Mit dem Ausbruch der schweren und langen Agrarkrise Mitte der siebziger Jahre wurde nun auch das Interesse an der Agrarökonomie geweckt und vor allem die betriebswirtschaftliche Forschung neu belebt. Zwar hatten schon Albrecht Thaer und Johann Heinrich von Thünen wichtige Grundlagen der bürgerlichen Agrarökonomie entwickelt, doch fanden ihre betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse bis in die achtziger Jahre kaum Anwendung. Die günstige wirtschaftliche Entwicklung, die steigenden Preise für agrarische Produkte 36 übten auf die Landwirte, insbesondere auf die Inhaber der Großbetriebe, keinen zwingenden Anreiz aus, betriebswirtschaftliche Methoden und Grundsätze groß zu berücksichtigen. Die Produktions- und damit auch die Profitsteigerung, hervorgerufen durch eine starke Nachfrage nach landwirtschaftlichen Erzeugnissen im Zeitalter des Kapitalismus der freien Konkurrenz, wurde noch mit „üblichen" Produktionsmitteln und -methoden gewährleistet, wie Ausdehnung des Ackerlandes, Einschränkung der Brache und Weide, Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft, 174
Einführung neuer Intensivrassen, Anwendung bekannter, aber verbesserter Akkergeräte, Einsatz verbesserter organischer Düngemittel. Und da in dieser Aufschwungsperiode eine Rohertrags- zu einer entsprechenden Reinertragssteigerung führte, war Betriebswissenschaft kaum gefragt. Rascher naturwissenschaftlich-technischer Fortschritt ließ die Ökonomik zurück, und Lehre und Forschung wurden nach dem Motto betrieben: Landwirtschaft ist angewandte Naturwissenschaft. Die hereinbrechende Agrarkrise aber, die Ostelbien stärker erfaßte als Westelbien und die sich den Landwirten bei steigenden Löhnen einschließlich Umwandlung der Natural- in Geldlöhne 17 als Preis- und Kostenkrise präsentierte, regte nun die Agrarwissenschaftler wohl oder übel an, sich mit neuen Produktions- und Ausbeutungsmethoden zu befassen, wobei man jetzt ganz stark auf Thünens Erkenntnisse zurückgriff. Die agrarökonomischen Disziplinen wurden nun erheblich aufgewertet, insbesondere die Betriebswirtschaftslehre wurde spezialisiert und „vertieft". Die beginnende Neubelebung der Agrarökonomie und genaueren betriebswirtschaftlichen Rechnungsführung kann man mit der Eröffnung einer Buchführungsstelle in Leipzig 1872 durch Hermann Howard datieren. Sie bestand als Howard-Gesellschaft von 1908 bis nach 1930 und besorgte gegen Entgelt die doppelte Buchhaltung landwirtschaftlicher Betriebe. Bis zum ersten Weltkrieg wurden 30 Buchführungsstellen gegründet, zumeist nur in Gebieten des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes, denen etwa 3 000 landwirtschaftliche Betriebe beigetreten waren. 18 Diese Buchführungsgesellschaften erfreuten sich auch der Förderung durch die betriebswirtschaftliche Forschung, da sie von ihnen notwendige statistische Angaben für die Ausarbeitung und Entwicklung der methodologischen und theoretischen Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre erhielt. Gegenüber der industriellen besaß die bürgerliche landwirtschaftliche Betriebswirtschaftslehre einen Vorlauf, aber innerhalb der Landwirtschaftswissenschaft war sie, wie von Rümker schrieb, bis zur Jahrhundertwende „zweifellos der wenigst entwickelte Zweig". 39 Von den Männern, die die Intensivierung der betriebswirtschaftlichen Forschung unter den durch Krise, Weltmarkt und Konkurrenz bedingten neuen Aspekten einleiteten und die Entwicklung der Produktivkräfte beeinflußten, sind vor allem Johann J. Fühling, Adolph Krämer, Theodor Freiherr von der Goltz, Johann Pohl und Jan Baptist Lambl zu nennen. Bis von der Goltz war die einzelbetriebliche, morphologische, isolierte Betrachtungsweise vorherrschend gewesen, die „Lehre von der Statik", wonach alle Betriebsorganisation auf das innerbetriebliche Gleichgewicht auszurichten war. Das hieß ausreichende Viehhaltung, um die Nährstoff- und Humusversorgung des Ackerlandes sicherzustellen, und wirtschaftseigene Futterbeschaffung auf der Basis eines ausgewogenen Acker-Grünland-Verhältnisses. Die Betriebsorganisation war noch unter der gerade erst aufkommenden Handelsdüngeranwendung und dem wenig entwickelten Futtermittelzukauf weitgehend auf Autarkie abgestellt. 40 Fühling und Krämer gingen jedoch schon darüber hinaus, indem sie Erkenntnisse von Thünen berücksichtigten und gewißermaßen die Brücke zur entscheidenden Neugestaltung der Betriebslehre unter den Bedingungen des Monopolkapitalismus durch Franz Waterstradt, Ernst Laur, Friedrich Aereboe und Theodor Brinkmann schlugen. Diese vier genannten und bedeutendsten landwirtschaftlichen Betriebslehrer jener Zeit waren vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt überzeugt und versuchten ihn nach Kräften zu fördern, sie waren auch mehr oder weniger Anhänger der internationalen Arbeitsteilung und betonten die „Vorteile der industriellen Arbeitsteilung", die die „Landwirtschaft in fortschreitendem Maße" befruchten. 41 Aereboe und Brinkmann haben die landwirtschaftliche Betriebslehre zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland endgültig zu einer selbständigen Wissenschaft mit eigenen Lehrstühlen gemacht und ihr Weltgeltung verschafft. Aereboe entwickelte die „Organismustheorie", die die wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Betriebszweigen und die Abhängigkeiten 175
37 Ebenda, S. 334, 392; Gläsel, £., 1916, S. 540 ff; Lichtenberger, B., 1914, S. 75. 38 Nöu, J., 1967, S. 166 ff. 39 Zit. nach: Gussek, K.-D., 1968, S. 138. 40 Rintelen, P., 1970, S. 372; Friedrich Aereboe, 1965, S. 20 ff. 41 Aereboe, F., 1920, S. 60.
42 Aereboe, 230 ff.
F., 1965, S. 19 ff.
43 Gussek, K.-D., 1968, S. 138. 44 Aereboe, F., 1928 (b), S. 297 f.
von äußeren Faktoren betonte. Brinkmann hat die betrieblichen Prozesse systematisierend durchdrungen und viel zur Klärung betriebswirtschaftlicher Begriffe beigetragen. Unter den komplizierten Bedingungen der Realisierung des Agrarprofits überwanden sie die einzelbetriebliche Betrachtungsweise. Sie erforschten die funktionalen Z u s a m m e n h ä n g e der betrieblichen Faktoren, verfeinerten das Rechnungswesen, beschäftigten sich mit besseren Berechnungen der Nutzeffekte u n d differenzierten Betrachtungen des Binnen- und Weltmarktes, mit Betriebs- u n d Verfahrensvergleichen, mit Analysen der Produktionskosten, vor allem mit Grenzgrößen-, Roh- u n d Reinertragsberechnungen, mit der Entwicklung von Intensitäts- u n d Landarbeitslehren u n d vielen anderen Faktoren mehr, um die Wahl der Produktionsmittel und A n w e n d u n g neuer u n d gewinnträchtigerer Produktionsmethoden zu erleichtern. 42 Die neu entwickelte Betriebslehre war trotz aller modernen wissenschaftlichen Aspekte eine systemerhaltende Lehre des kapitalistischen Großbetriebes, in der die Bauern zwar nicht subjektiv, aber objektiv eine „gewissenlose" Behandlung erfuhren. 4 3 Aus den Hochschulen kamen in der Regel naturwissenschaftlich und ökonomisch ausgebildete Kräfte, die entweder im Bereich der Forschung (Universitätsinstitute, Versuchsstationen) oder in Behörden und Interessenverbänden weiterwirkten oder auf größeren kapitalistischen Junkerwirtschaften als Inspektoren oder Güterdirektoren leitende Stellungen bekleideten. Die naturwissenschaftlichen, ökonomischen und technischen Erkenntnisse wurden in zahlreichen Lehrbüchern und landwirtschaftlichen Fachorganen verbreitet, wenngleich der Empfängerkreis in der Landwirtschaft zunächst relativ klein gewesen sein dürfte. Größerer Erfolg bei der Vermittlung neuen Produktivkraftwissens war dagegen der D L G beschieden, die 1884 unter Ausnutzung langjähriger Erfahrungen von dem bekannten Landmaschineningenieur u n d D a m p f p f l u g k o n s t r u k t e u r Max Eyth gegründet wurde und zwölf Jahre später bereits 12 000 Mitglieder zählte. Sie befaßte sich mit Getreidesorten- u n d Tierzuchtprüfungen, Saatenanerkennung, Untersuchung von Futtermitteln und D ü n g e r p r o b e n u n d Prüfungen von Landmaschinen u n d Geräten. Sie hat sich um die Verbreitung der neuesten Produktionstechnik außerordentlich verdient gemacht. Betriebsökonomischen Fragen wandte sie sich erst zwei Jahrzehnte nach ihrer G r ü n d u n g zu u n d gewann hierfür Aereboe, der die Buchführungsstelle der D L G einige Jahre leitete u n d einen Kampf gegen die doppelte B u c h f ü h r u n g mit ihrer Berechnung der Durchschnittsrentabilität und für die Anerkennung der Grenzrentabilität führte. „Mitteilungen" der D L G und Jahrbücher sorgten für die Vermittlung der wichtigsten Erkenntnisse, doch am stärksten wirkte die D L G durch ihre jährlichen Wanderausstellungen, die bald 100 000 Besucher zählten. Durch die Prämierungen von Tierzuchtleistungen, Ausstellungen u n d Vorführungen von Maschinen und Geräten, Vorträgen, Besichtigungen von Musterwirtschaften und anderes mehr hat sie nicht nur auf anschauliche Weise den technischen Fortschritt zusammengefaßt, sondern auch sehr viel zum Fortschritt der deutschen Landwirtschaft beigetragen. Nutznießer waren j e d o c h primär die kapitalistischen Betriebe, während dem größten Teil der werktätigen Bauern fast alle materiellen Voraussetzungen fehlten, um das in ihren Wirtschaften fruchtbringend zu verwerten, was ihnen auf den Ausstellungen geboten wurde. Es gelang der D L G und den Vereinen auch nicht, den Bauern eine systematische Ausbildung zu vermitteln. D a h e r entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte Ackerbauschulen, deren Besuch eine abgeschlossene Volksschulausbildung voraussetzte. Die Ackerbauschulen erteilten theoretischen u n d praktischen Unterricht in gängigen landwirtschaftlichen Fächern und besaßen eine Musterwirtschaft, in der das erworbene Wissen angewandt u n d ü b e r p r ü f t wurde. D a n e b e n wurde die Allgemeinbildung durch zusätzlichen Unterricht erweitert u n d vertieft. Von Nachteil war, d a ß die Söhne der elterlichen Wirtschaft als Arbeitskräfte zwei Jahre fehlten. Bei z u n e h m e n d e m Arbeitskräftemangel konnten viele Bauern f ü r eine so lange Zeit nicht auf ihre Söhne verzichten. D a der Besuch der meist privaten Schulen mit erheblichen finanziellen A u f w e n d u n g e n verbunden war, ging die Besucherzahl bald zurück. 4 4 176
Neben die Ackerbauschulen, die von Bedeutung für die mittel- u n d großbäuerlichen Betriebe waren, traten in z u n e h m e n d e m M a ß e die Winterschulen, die den wirtschaftlichen Belangen kleinerer Bauern entgegenkamen. Hier wurden die Schüler während der arbeitsarmen Winterzeit unterrichtet, u n d die landwirtschaftlichen Fachlehrer fungierten im Sommerhalbjahr als Berater der bäuerlichen Betriebe. Die Winterschulen waren zuerst Mitte der sechziger Jahre in Baden entstanden, von dort breiteten sie sich allmählich im gesamten Deutschen Reich aus. In Preußen n a h m ihre Zahl vor allem unter dem Druck der Agrarkrise zu. Von 1890 bis 1900 stieg die Zahl von 61 auf 110, u n d bis 1910 war sie schon auf 204 angewachsen. Kurz vor dem ersten Weltkrieg bestanden 239 Winterschulen, die von etwa 9 900 Schülern besucht wurden. Ferner entstanden landwirtschaftliche Fortbildungsschulen, an denen abends unterrichtet und N a t u r k u n d e , Landwirtschaftslehre u n d einige allgemeinbildende Fächer gelehrt wurden. In ganz Deutschland zählte m a n 1908 26 Landwirtschaftsschulen (Mittelschulen), 45 Ackerbauschulen, 43 niedere Fachschulen (Obst-, Wein-, Baumu n d Gartenbauschulen usw.), 279 landwirtschaftliche Winterschulen, 8 Wiesenbauschulen, 17 Molkereischulen, 52 Hufbeschlagschulen, 70 landwirtschaftliche Haushaltschulen, 213 Spezialkurse u n d 3 224 Fortbildungsschulen, die sich bis 1913 auf 6 675 erhöhten u n d 112 000 Schüler ausbildeten. 4 5 Im gleichen Jahre wurde eine weitere Form der landwirtschaftlichen Ausbild u n g eingerichtet, u n d zwar die landwirtschaftlichen Seminare. Sie bildeten eine Zwischenstufe von der Winterschule zu den Hochschulen oder Universitäten. Die A b s c h l u ß p r ü f u n g berechtigte zum Führen des Titels „Staatlich geprüfter Landwirt". Bewerben konnten sich nur erfahrene Praktiker, die mit dem notwendigen theoretischen, naturwissenschaftlichen und betriebsökonomischen Wissen ausgerüstet wurden, um die Landwirtschaftsbetriebe nach dem durchschnittlichen modernen Erkenntnisstand zu betreiben. D a ß im landwirtschaftlichen Ausbildungswesen die Rolle der Frau gänzlich unbedeutend war, entsprach der allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung der Frau im Kapitalismus und der besonderen in der Landwirtschaft. 4 6 Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten stand das landwirtschaftliche Hoch-, Fachschul- u n d Unterrichtswesen im Deutschen Reich auf einem relativ h o h e n Niveau. Es war ein gewichtiger Faktor bei der Entwicklung der agraren Produktion, die in den letzten drei Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg die höchste Zuwachsrate der landwirtschaftlichen Produktivität (1,9 pro Jahr) aufwies u n d damit vor der aller anderen kapitalistischen Länder lag (vgl. Tab. 65). Aber dieses relativ gut entwickelte Ausbildungswesen kam nur einem kleinen Teil der Bauern zugute. Die Zahl der mittleren und unteren Fachschulen reichte bei weitem nicht aus, um die Millionen von werktätigen Bauern mit dem notwendigen modernen Landwirtschaftswissen auszustatten. Die Mehrzahl der Klein- und Mittelbauern u n d auch viele G r o ß b a u e r n lebten weiterhin von den von ihren Vätern ererbten praktischen Erfahrungen. Schon aus diesem G r u n d e waren die in der Regel gut ausgebildeten Leiter der kapitalistischen Betriebe diesen Bauern von vornherein überlegen. 4 7 Und nicht selten dienten die landwirtschaftlichen Schulen auch weniger den Bauern als vielmehr den sich in weit größerem M a ß e der Kooperation und Arbeitsteilung bedienenden kapitalistischen Großbetrieben. Letztere erhielten aus diesen Schulen zahlreiche Verwalter, Buchhalter, Vorarbeiter, Angestellte aller Art, bestimmt, die kapitalistische Intensivierung der Großbetriebe fördern zu helfen. Das Verhältnis von hohem Niveau und hoher Zuwachsrate der deutschen Landwirtschaft und geringem bäuerlichem Bildungsfaktor, gemessen am Schulbesuch, mag als Widerspruch erscheinen. Tatsächlich besuchten 1913 wohl kaum mehr als 1,5 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten landwirtschaftliche Bildungseinrichtungen. Von 1870 bis 1914 mögen es vielleicht 10 bis 15 % gewesen sein. Das Verhältnis wird günstiger, wenn wir uns nur auf die Zahl der Wirtschaften beziehen, vorausgesetzt, die Ausgebildeten vertraten je eine Wirtschaft, und es erscheint noch günstiger, wenn wir die Zahl der Wirtschaften unter 2 ha ausschließen (etwa 5 % bzw. 25 bis 30 %). D e n n o c h wäre 177
45 Wholtmann, F., 1910, S. 386. 46 Wegner, M., 1905, S. 4 ff., 23. 47 Nagel, F., 1948, S. 50 ff.
das noch kein ausreichender G r u n d , um diesen Widerspruch zu erklären. Zu erklären ist er vielmehr mit der Vorbildwirkung fortschrittlicher oder sehr intensiv betriebener Wirtschaften auf die Masse der Bauern — ein Faktor, der in der Landwirtschaft eine unvergleichlich größere Rolle spielte als in der Industrie. Bauern ü b e r n a h m e n Neuerungen, wenn sie sich vom Nutzen neuer Erkenntnisse überzeugen konnten, wenn der eigene Anschauungsunterricht sie von der Richtigkeit neuer Betriebsmethoden auf fortschrittlich betriebenen Gütern der Nachbarschaft belehrte. 48 Schließlich sah sich der Bauer vor die Notwendigkeit gestellt, durch die Ü b e r n a h m e neuer Geräte u n d Methoden das Risiko ökonomischer Fehlinvestitionen zu umgehen, die ein größerer Betrieb unter U m s t ä n d e n viel eher verkraften konnte. Wenn die Bauern den Vorteil neuer Kulturen mit H ä n d e n greifen konnten, legten sie Vorurteile ab, schritten sie im R a h m e n ihrer finanziellen und technischen Möglichkeiten zu Verbesserungen, verwandten sie neue Saatsorten, änderten sie die Fruchtfolge, kauften sie Kunstdünger und fütterten das Vieh mit Kraftfutter usw. Sie entschlossen sich zu M a ß n a h m e n , wenn sie überzeugt waren, d a ß die zu erwartende Produktivität den Arbeits- und Kostenaufwand rechtfertigte. Sie wurden nicht zuletzt dazu in den landwirtschaftlichen Vereinen und Ausstellungen, aber auch auf Kirmessen und in Dorfschänken — den Umschlagplätzen praktischer Erfahrungen — angeregt. Wissenschaft und Ausbildung erreichten somit die Mehrzahl der Bauern, wenn auch in abgeschwächter Form, über den Anschauungsunterricht auf dem Feld und im Stall vorangeschrittener Güter, sie gingen bei den Bauern nach einer gewissen Zeit als nutzbares und verwertbares Erfahrungswissen ein, das wirkungsvoll genug war, um die landwirtschaftliche Produktion in ihrer Gesamtheit beträchtlich zu steigern.
3.4. Die Fortschritte der Mechanisierung und Düngung
48 Bäuerliche Zustände, Bd. 1, 1883, S. 51,136, 198, Bd. 3, S. 72. 49 Sartorius v. Waltershausen, A., 1923, S. 474. 50 Bensing, F., 1897, S. 4 2 , 4 5 . 51 Gläsel, £., 1916, S. 5 5 6 f . ; Wygodzinski, W., 1917, S. 7.
Nächst der Wissenschaft gewann die Anwendung von Maschinen und mineralischen Düngemitteln z u n e h m e n d e n Einfluß auf die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Beide waren bestimmende Faktoren der kapitalistischen Intensivierung von 1870 bis 1914. Im Prozeß der Industrialisierung verlor die Landwirtschaft ständig Arbeitskräfte (vgl. 8.2.1.). Das 1879 eingeführte Zollschutzsystem konservierte die junkerliche Besitzstruktur weitgehend und kam der Verhängung einer „Bodensperre" gegen landhungrige Bauern und eigentumslose Landarbeiter gleich. Es beschleunigte die Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte in westliche Industriegebiete. Von 1885 bis 1890 sind 840 000 Menschen, davon 600 000 aus dem Osten, 80 000 aus dem mittleren und 160 000 aus dem südlichen Deutschland, aus den agrarischen Gebieten abgewandert. 4 9 Dieser spürbar werdende Arbeitskräftemangel forderte die Anwendung der Maschinen geradezu heraus. Betriebsökonomen jener Zeit berechneten, daß die verschiedenen Ackerbausysteme, bezogen auf eine 60 ha große Wirtschaft, folgenden Arbeitskräftebedarf hatten: Dreifelderwirtschaft 712 Arbeitstage, Norfolker Fruchtwechsel 1 615 Arbeitstage und Fruchtwechsel mit starkem Rübenbau 3 179 Arbeitstage. Übertragen auf die gesamte deutsche Landwirtschaft hätte die Zahl der vorhandenen Arbeitskräfte gerade ausgereicht, um die Dreifelderwirtschaft zu bearbeiten. Fruchtwechselwirtschaft wäre ohne M a s c h i n e n a n w e n d u n g kaum möglich gewesen. 50 Mag diese Berechnung stimmen oder nicht, Tatsache bleibt, d a ß das ständige Arbeitskräfteproblem u n d die steigenden Lohnkosten zum Einsatz arbeitssparender Maschinen trieben, einmal, um die große Periodizität im Arbeitsbedarf durch arbeitszeitverkürzende Maschinen auszugleichen, u n d zweitens, um die einen hohen Kapitalaufwand benötigende Arbeitermenge bestmöglich auszunutzen und zu verringern. Gleichmäßigere Auslastung der Arbeitskräfte verringerte zudem die Lohnschwankungen bei den Lohnarbeitern, was sich in eine Profitsteigerung bei den kapitalistischen Betrieben ummünzte. 51 Der Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen n a h m nach 1870 beträchtlich 178
zu, wobei wir jedoch erst seit 1882 den zahlenmäßigen Umfang genauer kennen, der sich bis 1907 vervierfachte, bezogen auf die nur statistisch erfaßten Maschinen (Tab. 55). Maschinenart
1882
1895
1907
Dreschmaschinen (Göpelantrieb)
298,3 75,7
596,8
947
259,3
488,8 301 3
Dampfdreschmaschinen Sämaschinen
63,8
Mähmaschinen
19,6
169,5 35
Dampfpflüge
0,8
1,7
Lokomobile Düngersteumaschinen
2,6
Tabelle 55 Der Einsatz von Landmaschinen in Deutschland
(in l ooo a )
290
18,6 15,8
Hackmaschinen
2,7
Kartoffelpflanzmaschinen
II
Kartoffelerntemaschinen Schrotmühlen
29
Milchzentrifugen
337
a
D i e Z a h l e n b e z i e h e n sich n u r a u f die N u t z u n g v o n M a s c h i n e n . Es ist u n b e k a n n t , o b e i n z e l n e Bet r i e b e m e h r e r e M a s c h i n e n g l e i c h e r Art b e s a ß e n . D i e G e s a m t z a h l d e r t a t s ä c h l i c h v o r h a n d e n e n M a s c h i n e n läßt sich a u s d e r a m t l i c h e n Statistik n i c h t e r m i t t e l n . Q u e l l e : SlJbDR, Jg. 32, 1911, S. 3 2 f f . ; SlHbDR, T. 1, 1907, S. 122 f. - vgl. a u c h Winkel, H., 1979, S. 20 ff.
Größenklasse (in h a )
0,5-2
Insgesamt3
3,9
2-5
5-20
20-100
ü b e r 100
32,4
72,5
92,8
97,4
( A n g a b e n in P r o z e n t )
Dampfpflüge
Sämaschinen1'
1
0,0
0,0
0,0
0,1
10,8
2
0,0
0,0
0,0
0,0
1,5
1
0,9 0,0
1,6 0,4
8,3
28,0
66,2
5,9
25,9
65,9
0,3 0,0
0,5 0,4
11,8
50,1
81,9
3,1
11,7
39,6
0,1 0,0
0,7
12,0
51,9
82,4
2
0,2
2,3
10,7
39,4
2 Drillmaschinenc
1 2
Mähmaschinen
1
Hackmaschinen
1
0,0
0,1
0,4
2,3
11,9
2
0,0
0,1
0,3
2,1
11,9
Dampfdresch-
1
4,7
12,7
19,1
26,3
74,1
maschinen
2
0,1
0,1
0,3
1,6
42,0
Andere
1
3,0
16,2
50,6
71,7
38,4
Dreschmaschinen
2
0,8
11,5
47,2
70,9
36,7
Kartoffel-
1
0,0
0,0
0,0
0,3
5,7
pflanzmaschinen
2
0,0
0,0
0,0
0,3
5,7
2,1 1,9
5,3 5,2
Kartoffel-
1
0,0
0,0
0,4
erntemaschinen
2
0,0
0,0
0,3
a b c
Tabelle 56 Wirtschaften, die 1907 (1) folgende Maschinen benutzten und (2) als Eigentum besaßen
Zahl der Wirtschaften, die eine oder m e h r e r e M a s c h i n e n benutzen Breitsämaschinen Drill-und Dibbelmaschinen
Q u e l l e : StDR,
Bd. 212,'1 b, 1912, S. 58, 59.
Bei vielen Maschinen und Geräten, wie Walzen, Kultivatoren, Düngerstreuer, Strohschneidern und -pressen, Heuaufzügen, Milchkühlern, Rübenschneidern, Kartoffel- und Getreidesortierern, Reinigungsmaschinen, Futterdämpfen, Wagen usw. verfügen wir über keine Zahlenangaben. 179
Die Z u n a h m e der Maschinen und Geräte im agraren Arbeits- und Produktionsprozeß wurde gefördert durch eine nach 1870 a u f b l ü h e n d e eigene Landmaschinenindustrie, in der sich die Serienproduktion durchsetzte (vgl. 2.2.2.). Der deutsche Landmaschinenbau fußte zunächst auf bewährten ausländischen, insbesondere auf englischen und bei Mähmaschinen auf amerikanischen Vorbildern. Er verdrängte aber in den achtziger und neunziger Jahren zunehmend die ausländische Konkurrenz mit seinen an die deutschen Verhältnisse besser angepaßten, billigeren und in der Anwendungsmöglichkeit auch auf die Mittelbetriebe berechneten Fabrikaten. Die Verbilligung der Maschinen betrug von 1870 bis 1914 im Durchschnitt ein reichliches Drittel. 52 Die A n w e n d u n g landwirtschaftlicher Maschinen erfolgte natürlich in einer kapitalistischen Landwirtschaft mit einer höchst differenzierten Betriebsgrößenstruktur recht unterschiedlich (vgl. Tab. 56; Abb. 8). Betrachten wir die Abbildung, d a n n fällt uns vor allem der gleichmäßig und schnell ansteigende Prozentsatz der Maschinen a n w e n d e n d e n Betriebe vom Klein- zum Großbetrieb auf. Je größer der Betrieb, desto größer die Maschin e n a n w e n d u n g , desto stärker die Intensivierung. Setzen wir die Gesamtzahl der landwirtschaftlichen Betriebe (Tab. 51) in Beziehung mit der der maschin e n a n w e n d e n d e n Betriebe, so stellen wir aber fest, d a ß 1882 nur 7 %, 1895 nur 16,7 % und 1907 erst 26,1 % aller Betriebe Maschinen nutzten. Das heißt: 1907 wurden in drei Viertel aller Betriebe sämtliche Tätigkeiten noch von menschlicher u n d tierischer Arbeitskraft ohne moderne Maschinen verrichtet. Das Bild ändert sich ein wenig, wenn wir die Betriebe unter 2 ha, die keine Bauernwirtschaften im vollen Sinne des Wortes waren, ausklammern. Dann benutzten von den etwa 2,2 Mio. Betrieben über 2 ha im Jahre 1882 etwa 17 % Maschinen, für 1895 u n d 1907 sind die Werte 36 % und 57 1907 — als Deutschland bereits eine Industriemacht ersten Ranges war — setzten nur etwas mehr als die Hälfte aller Betriebe über 2 ha Maschinen ein. Darin dokumentiert sich die langsamere Entwicklung der Landwirtschaft gegenüber der Industrie. Wenn 43 % aller Betriebe über 2 ha noch keine modernen Maschinen benutzten, so heißt das vor allem, d a ß es sich hier um zwei Drittel der Kleinbauern u n d ein Drittel der Mittelbauern handelte. Sie verfügten zweifellos nicht über das notwendige Kapital, um sich die für sie immer noch zu teuren Maschinen kaufen zu können — was wahrscheinlich auch noch für etwa 7 % der G r o ß b a u ern zutrifft. Z u d e m wären sie nur mangelhaft ausgelastet worden, so daß das Produktionsmittel Maschine in ihren Betrieben kaum eine Rolle spielte. Diese Betriebe bedienten sich daher nach wie vor traditioneller Geräte und Arbeitsverfahren, die große Anforderungen an die Arbeitskraft stellten: Handaussaat, Schneiden des Getreides mit der Sense, Binden und Aufstellen der Garben, Ausdrusch mit dem Dreschflegel usw. Das wichtigste Bodenbearbeitungsgerät war der Pflug, trotz aller Mechani55 Pflug aus der Landmaschinenfabrik Heinrich Friedrich Eckert, Berlin (um 1900)
52 Gläsel, £., 1916, S. 544; Lichtenberger. B., 1914, S. 77 ff. 53 Vgl. Winkel, H„ 1979, S. 21 ff.
180
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N a c h : SiDR, Bd. 5, 1885, S. 6; Bd. 1 12, 1898, S. 6; Bd. 212, 2b, 1912, S.58 ff
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Maschinennutzung in den verschiedenen Betriebsgrößenklassen 1882, 1895 und 1907
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181
56 Rübenheber von H. Laaß & Co., Magdeburg
sierung das landwirtschaftliche Produktionsinstrument aller Betriebe. G r u n d sätzliche Neukonstruktionen waren in der Epoche von 1870 bis 1914 nicht zu verzeichnen. Es setzte sich vor allem der ganzeiserne, daher stabilere und dauerhaftere Pflug stärker durch, ohne damit die hölzernen Geräte vollends zu verdrängen. Neuerungen waren die Selbstführung des Pfluges seit den siebziger Jahren, die den Führer an den Sterzen unnötig machte und eine Arbeitserleichterung des Pflügers bedeutete, und die Austauschbarkeit verschiedener Teile am Grindel (Pflugbaum) des Karrenbeetpfluges, die zum Jäten, Häufeln, Kartoffel- u n d Rübenroden dienten oder den Pflug in einen Weinbergspflug, G r u b b e r oder Skarifikator usw. verwandelten. 5 4 Die „Universalgeräte", wie die Karrenbeetpflüge nun genannt wurden, sowie die Rahmen- und Kehrpflüge pflügten bis zu 35 cm tief u n d verdrängten in den norddeutschen Territorien die nur den Boden aufreißenden u n d unvollkommen wendenden Haken. Diese genügten der erforderlichen Tiefkultur nicht mehr und verloren zuerst in den Rübenanbaugebieten u n d auf den großen Gütern, später gänzlich ihre arbeitsökonomische Existenzgrundlage. 5 5 Bei der A u s d e h n u n g der Zuckerrübenanbaufläche (Tab. 66) gewann unter den Pflügen der einscharige Rübenrodepflug (1 ha pro Tag und zwei Pferde) an Bedeutung, wurde aber bald von ständig verbesserten Rübenhebern abgelöst, die gegenüber dem einscharigen Rübenrodepflügen die Leistung verdoppelten, da sie gleichzeitig die Rüben zweier Reihen hoben, jedoch eine höhere Zugleistung beanspruchten. 5 6
54 Strecker, IV., 1906, S. 88ff.; Die Geschichte der Landtechnik, 1969, S. 119 f. 55 Bentzien, U., 1969, S. 65. 56 Die Entwicklung des landwirtschaftlichen Maschinenwesens, 1910, S. 179 ff. 57 Dettweiler, F., 1905, S. 227; vgl. auch Die Geschichte der Landtechnik, 1969, S. 12 ff. mit geographischen Verbreitungsgebieten der Gespanne.
Bei der tierischen A n s p a n n u n g der Pflüge herrschten in Norddeutschland mit den überwiegenden Großbetrieben Pferdegespanne vor, während in Süddeutschland mit den massenhaften Kleinbetrieben die K u h a n s p a n n u n g bevorzugt wurde. Die Grenze zwischen beiden Anspannungsgebieten folgte etwa dem Lauf der Mittelgebirgsschwelle. Die Kuh blieb in den klein- u n d mittelbäuerlichen Betrieben die billigste Zugkraft, konnte ökonomisch besser verwertet werden als die kostspieligeren Pferde, die zumeist als unnötige Futterfresser betrachtet wurden. 1895 entfielen auf 100 ha Nutzfläche zum Beispiel in Mecklenburg-Schwerin 7,35 Pferde und nur 1,01 Kühe als Zugkraft, in Baden 4,32 Pferde u n d 27,81 Kühe. Diese Relation verschiebt sich erheblich, wenn wir die Kleinbetriebe (2 bis 5 ha) betrachten. D a n n spannten in MecklenburgSchwerin die Bauern 9,85 Pferde und 20,10 K ü h e vor die Pflüge, in Baden nur 4,24 Pferde, dagegen aber 45,79 Kühe. Bei den Mittelbauern (5 bis 20 ha) sind die Vergleichswerte: Mecklenburg-Schwerin 13,92 Pferde und 2,87 Kühe, in Baden 5 Pferde und 20,76 Kühe. 5 7 Der höhere Pferdebesatz in Mecklenburg läßt sich unter anderem darauf zurückführen, d a ß auch bei den Klein- und Mittelbauern arbeitsintensivere Anbauverhältnisse und Kulturen ausgeprägter waren als in Baden. In den Großbauernwirtschaften erfolgte die M a s c h i n e n a n w e n d u n g bedeu-
57 Drillmaschine mit zwei Meter Spurbreite, Erzgebirgische M a s c h i n e n f a brik, Schlettau
58 H a c k m a s c h i n e mit G e l e n k h e b e l der hinteren F ü h r u n g e n von G. Bölte, Oschersleben
tend umfangreicher als in den übrigen Bauernwirtschaften, und zwar nutzten k n a p p 93 % aller Betriebe moderne Maschinen, am meisten in den kapitalistischen Wirtschaften über 100 ha (etwa 97 % aller Betriebe). Dabei waren die bürgerlichen Gutsbesitzer zumeist die Initiatoren der Anwendung der neuesten Maschinen, wie sie auch den umfangreichsten Maschinenbesatz aufwiesen; die Adligen dagegen standen in der Regel zurück. 58 Die meisten Maschinen, wie sie in Tabelle 56 aufgeführt sind, waren in den USA Voraussetzung, um die riesigen Räume des amerikanischen Kontinents mit wenigen Menschen landwirtschaftlich zu erschließen, während sie in Deutschland — wenn auch mit verzögertem Einsatztempo — zur Arbeitserleichterung, Ersetzung von Arbeitskräften und schließlich zur Ertragssteigerung dienten. Die A n w e n d u n g von Maschinen erhöhte, wie vergleichende Betriebsanalysen ergaben, den Rohertrag: bei D a m p f p f l ü g e n um 10 %, bei Drillmaschinen um 10 %, bei Dreschmaschinen um 15 %. Die Drillmaschine sparte außerdem etwa 20 % Saatgut ein, u n d die gleichmäßige Rillensaat schuf wesentlich bessere Voraussetzungen für die ertragsfördernde und bodenverbessernde menschliche oder maschinelle Hackarbeit. Die Hackmaschine wiederum lag in ihrer Leistung bedeutend über der einer Arbeiterin, erreichte sie aber nicht in ihrer Wirkung, denn der Maschine fehlte die Feinheit in der Anpassung ihrer Bewegung an den wechselnden Pflanzenstand. Die Maschine konnte nur zwischen den Pflanzenreihen, aber nicht in ihnen arbeiten. Sie unterstützte die Handhackarbeit und leistete rasche u n d gründliche Vorarbeit. So wäre die Ausd e h n u n g der Z u c k e r r ü b e n a n b a u f l ä c h e wegen des bestehenden Arbeitskräftemangels o h n e die Hackmaschinen kaum denkbar gewesen. Die M ä h m a s c h i n e mit H a n d a b l a g e in Verbindung mit der Göpeldreschmaschine, zumeist in den bäuerlichen Wirtschaften und besonders in Süddeutschland verbreitet, erforderte je ha etwa 150 Stunden Arbeitskraft. Gegenüber dem H a n d m ä h e n und
58 Benlzien.U.,
1965, S. 69 f.
Ernte und Dreschverfahren um 1910 in Deutschland und in den USA mit dem benötigten Arbeitsaufwand (für die Vollernte) in A k h / h a (W = Winterdrusch, E = Erntedrusch) Quelle: Franz. G. (Hrsg.), Die Geschichte der Landtechnik im 20. J a h r h u n d e r t , F r a n k f u r t / M a i n 1969, S.308
Kleinbetriebe Süddeutschland um 1910 W 98 E 81
Großbetriebe Norddeutschland und Europa um 1910
Scheunen-Mieten- und Ernte-Drusch
USA um 1910
184
gepreßtes Stroh
59 Selbstablegende G e t r e i d e m ä h m a s c h i n e von Z i m m e r m a n n & Co., Halle
H a n d d r u s c h (Sense und Dreschflegel) ein bedeutender Fortschritt, da letztere Verfahren etwa 300 Stunden Arbeitskraft benötigten. Die nord- und ostdeutschen Gutsbetriebe setzten dagegen um die J a h r h u n d e r t w e n d e die M ä h m a schine mit selbsttätiger Ablage ein und zusammen mit der D a m p f d r e s c h m a schine reduzierte sie den Arbeitskraftaufwand im Winterdrusch auf 98, im Erntedrusch auf 81 Stunden. In den USA aber betrug der Arbeitskraftaufwand bei dem schon verbreiteten M ä h b i n d e r in Kombination mit dem Stahldrescher nur noch 40 Stunden je ha. 59 Allerdings lagen die Hektarerträge in den USA etwa um die Hälfte niedriger als in Deutschland (vgl. Abb. 9). Wenn sich der Maschineneinsatz von 1882 bis 1907 auch vervierfachte (und bis 1914 weiter zunahm), so konnte doch von einer durchgängigen Mechanisierung noch keine Rede sein. Die Einzelmaschine war in ihrer A n w e n d u n g vorherrschend. N u r in den kapitalistischen Großbetrieben begann sich „ein Maschinensystem herauszubilden", 6 0 bei dem verschiedene Maschinen im Arbeitsprozeß a u f e i n a n d e r abgestimmt u n d systematisch eingesetzt wurden. Sie ermöglichten somit einen gewissen kontinuierlichen mechanischen Arbeitsablauf — insbesondere konnten günstige Witterungsbedingungen besser ausgenutzt werden. Jeder Betrieb über 100 ha verwendete nahezu vier Maschinen, Betriebe über 1 000 ha setzten je fünf Maschinen ein. Die Maschine vergrößerte d a d u r c h den Unterschied zwischen Klein- und Großbetrieb und förderte die ökonomische Überlegenheit des letzteren. Die technisch-ökonomische Überlegenheit läßt sich zum Beispiel an ostpreußischen Wirtschaften überzeugend nachweisen, wonach die Ernteerträge des Großbetriebes (350 ha), der G r o ß b a u e r n w i r t s c h a f t (50 ha) u n d des Kleinbetriebes (5 ha) pro Morgen in Zentner folgende Werte zeigten: Weizen: 8,7 — 7,3 — 6,4; Roggen: 9,9 — 8,7 — 7,7; Gerste: 9,4 - 7,1 - 6,5; H a f e r : 8,5 - 8,7 - 8,0; Erbsen: 8,0 - 7,7 - 9,2; Kartoffeln: 63 - 55 - 42; Futterrüben: 190 - 156 - 117. Ähnliche Tendenzen waren auch in thüringischen Betrieben festzustellen. 61 Und es wurde ferner berechnet, d a ß gleichgroße Betriebe o h n e Maschineneinsatz einen Reinertrag von 1,37 M pro ha erwirtschafteten, während bei Verwendung aller wichtigen Maschinen der Reinertrag 59,76 M pro ha betrug. 62 Im allgemeinen war der Maschinenbesatz auf dem Großbetrieb, besonders in Nord- u n d Ostdeutschland, am höchsten, doch war er auch abhängig von den Anbauverhältnissen und Bodennutzungssystemen. In Betrieben mit starker Weidewirtschaft, wie zum Beispiel in Bayern, war die Maschinennutzung geringer. Es bestand vor allem ein Z u s a m m e n h a n g zwischen Maschinennutzung und Erweiterung des Hackfruchtbaues, dessen ertragssteigernde Wirkung auf andere Kulturen die M a s c h i n e n a n w e n d u n g förderte bzw. notwendig machte. D a h e r finden wir auch auf bäuerlichen Betrieben in starken Hackfruchtbaugebieten größere A n w e n d u n g von Maschinen. Bäuerliche Betriebe im Regierungsbezirk Stralsund u n d in Mecklenburg benutzten im Durchschnitt 185
59 Die Geschichte der Landtechnik, 1969, S. 3 0 6 f f . ; Bensing, F., 1897, S. 99; Die Entwicklung des Landwirtschaftlichen Maschinenwesens, 1910, S. 132 ff. 60 Lenin, W. /., Bd. 5, 1955, S. 140. 61 Klawki, K., 1899, S. 441; Huschke, L., 1902, S. 126, 144 ff. 62 Bensing, F., 1897, S. 167.
60 G a r b e n b i n d e r von Vereinigte Fabrik vorm. Epple & Buxbaum, Augsburg
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63 Ballwanz,!., 1977, S. 167. 64 Die Verhältnisse der Landarbeiter, Bd. 2, 1892, S. 618 ff.; Bd. 3, S. 151 ff.
3,5 Maschinen. In Bayern, wo zum Beispiel die Erweiterung der Zuckerrübenanbaufläche nach 1870 nur sehr gering war, verfügten die bäuerlichen Wirtschaften nur über 0,6 Maschinen pro Betrieb. 61 Daher war auch die zuckerrübenanbauende Provinz Sachsen, in der „Musterwirtschaften intensiver Kultur" (Lenin) verbreitet waren, schon frühzeitig mit dem höchsten Maschinenbesatz ausgestattet. Zuckerrübenanbau und industrielle Verwertung, hohe Erträge in allen Kulturen und in der Viehhaltung förderten die Kapitalakkumulation weit schneller als anderswo und schufen damit günstige Voraussetzungen zur Maschinenanschaffung. Die Provinz Sachsen vereinigte um die Jahrhundertwende ein Drittel aller Dampfpflüge auf sich und Drillmaschinen waren achtunddreißigmal soviel im Einsatz als im weniger entwickelten Ostpreußen. Dort lagen auch die Löhne der Landarbeiter weit niedriger als in der Provinz Sachsen (im Durchschnitt 400 zu 750/900 M im Jahr), so daß die höheren Löhne der Landarbeiter im Zuckerrübenrevier ein wichtiger Faktor zur Maschinenanwendung und Ersetzung von Arbeitskräften waren. 64 Die Zunahme der Landmaschinen war begleitet von einer Zunahme der Antriebskräfte. Der Anwendung von Dampf für die Mechanisierung der Feldarbeit waren enge Grenzen gesetzt. Sie beschränkte sich nur auf die Dampfpflüge, deren Zahl insgesamt gering war und die sich bei ihren hohen Kosten (30 000 bis 35 000 M für Pflugsatz mit zwei Lokomobilen) in der Regel nur auf
62 Funktionsmechanismus einer Dreschmaschine von R. Wolf, Magdeburg-Buckau
sehr großen Gütern lohnten — besonders auf den die Tiefkultur voraussetzenden Rübenwirtschaften, oder in D a m p f p f l u g g e n o s s e n s c h a f t e n . Sie bestellten auch kaum 1 % der Ackerfläche. 6 5 Vergrößerung der tierischen Antriebskräfte war zwangsläufig die Folge. Die Zahl der Pferde nahm daher in der Zeit von 1882 bis 1912 von 3,5 auf 4,5 Mio. zu. Ein Teil der agraren Produktion, der sonst zur Verbesserung der Ernährung der Bevölkerung hätte dienen können, mußte also für zusätzliches Viehfutter abgezweigt werden. Weit größer war die Anw e n d u n g der D a m p f m a s c h i n e n beim Dreschen, da sich hier eine unmittelbare profitable Wirkung einstellte u n d die stationäre Aufstellung auch problemloser war als beim D a m p f p f l u g . Die Drescharbeiten konnten in schnellerer Zeit bewerkstelligt werden u n d m a n gewann Zeit für andere notwendige Arbeiten und Reparaturen. Klein-, Mittel- und G r o ß b a u e r n benutzten D a m p f d r e s c h m a s c h i n e n weit mehr als Sä- und Mähmaschinen. N u r wenige besaßen sie als Eigentum, sondern waren infolge der hohen Anschaffungskosten (etwa 12 000 M je Lokomobil) auf die Dampfdreschgenossenschaften, Lohnunternehmen oder verleih e n d e Großbetriebe angewiesen. Doch es m u ß betont werden, d a ß auch ein Teil kapitalistischer Wirtschaften über 100 ha D a m p f p f l ü g e , Drill-, Mäh- und D a m p f d r e s c h m a s c h i n e n nicht als Eigentum besaß und sie von genossenschaftlichen oder L o h n u n t e r n e h m e n auslieh (vgl. Tab. 56). Am Schluß des 19. J a h r h u n d e r t s hielt auch die Elektrizität, deren revolutionäre Wirkung auf die Produktivkräfte weitblickende Landwirte sofort erkannten, 66 in die Landwirtschaft Einzug. Es waren zuerst Einzelfälle. 1894/95 folgten eine Reihe preußischer D o m ä n e n u n d nach der J a h r h u n d e r t w e n d e breitete sie sich aus, ohne Massencharakter a n z u n e h m e n . Zunächst wurde der
187
65
Haushof er, H., 1972, S. 141. Andere Autoren veranschlagen 55000 bis 70000 M für Dampfpflugsatz. Vgl. Christoph. F., S. 46; Krzymowski, R., 1951, S. 251.
66 Pringsheim, O., 1900, S. 412ff.; Mack, P., 1900.
63 Dreschmaschine für Göpelantrieb
64 D r e s c h m a s c h i n e mit Pferdetretm a s c h i n e — vor allem in den USA u n d Frankreich verbreitet, aber auch in D e u t s c h l a n d zu finden
Strom für Beleuchtungszwecke in Wohnungen, Höfen, Ställen und auf Dreschplätzen beansprucht, der d a n n manchen Bauern und Agrarunternehmer zur Verlängerung des Arbeitstages drängte. 67 Doch mit der Entwicklung des weit anpassungsfähigeren Elektromotors, der n u n m e h r einen effektiveren und variableren Produktionsablauf ermöglichte als die Dampfmaschine, 6 8 konnten bestimmte Produktionsprozesse der Hofwirtschaft mechanisiert werden. Dreschmaschinen, Schrotmühlen, Futterdämpfer, Milchzentrifugen, Pumpen und andere Geräte in Haus und Hof wurden elektrisch betrieben. Sie waren sofort betriebsbereit, verbilligten erheblich die Produktionskosten, sparten Arbeit ein ( A n f u h r von Wasser und Kohlen für Dampfmaschinen), verminderten die Störanfälligkeit der Maschinen (Platzen der Transmissionsriemen), arbeiteten gleichmäßiger und ruhiger und erlaubten die Einrichtung von gewissen Produktionsketten.
67 Pringsheim,
O., 1900, S. 416 ff.
68 Seufferheld, A., 1899, S. 39. 69 Christoph, F., 1918, S. 101. 70 Die Geschichte der Landtechnik, 1969, S. 108. - Von „einem raschen Siegeszug (der Elektrifizierung) bis z u m ersten Weltkrieg" in der I n n e n w i r t s c h a f t der L a n d w i r t s c h a f t , so Haushofer, H., 1972, S. 266, k a n n keine R e d e sein. 71 St DR, Bd. 2 1 2 , 2 b , 1912, S. 58.
Bis zum ersten Weltkrieg war jedoch die Elektrifizierung der Landwirtschaft noch wenig fortgeschritten. 1913 wurden erst 17 000 Orte im Deutschen Reich mit Strom versorgt, das waren kaum 21 % aller Orte, 69 wobei der Anteil der ländlichen G e m e i n d e n weit geringer gewesen sein dürfte. Und noch 1925 n a h m die Landwirtschaft erst 4 % der Energiedarbietung der Stromlieferwerke ab.™ Ein Indiz für die geringe Elektrifizierung der Hofwirtschaft bieten die Milchzentrifugen, von denen 1907 erst 325 000 in den Wirtschaften liefen. N u r 30,6 % aller G r o ß b a u e r n und 28,4 % aller Betriebe über 100 ha benutzten Milchzentrifugen, die teilweise noch mit der H a n d betrieben wurden. 7 1 Der Einsatz neuer Maschinen und Geräte stellte höhere Anforderungen an die beteiligten Arbeitskräfte, verlangte Spezialkenntnisse, Übung und Erfahrungen, die sie erst mit der G e w ö h n u n g an die neue Technik erwarben. Es wurde eine ungleich höhere geistige A n s p a n n u n g abverlangt, mehr Aufmerksamkeit und größere Umsicht, gepaart mit einem gewissen M a ß an technischem Verständnis. Das alles war besonders bei den Dampfaggregaten der Fall. Hierzu wurden bereits regelrechte Spezialisten, zum Beispiel Lokomobil-
Karte 3 Standorte der deutschen Landmaschinen-Industrie um 1913 (bearbeitet n a c h : Die S t a n d o r t e u n d Erzeugnisse . . 1 9 2 7 , S.29)
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