Gesamtausgabe (TG). Band 15 1923–1925: Innere Kolonisation in Preußen, Soziologische Studien und Kritiken - Erste Sammlung, Schriften 1923 [Reprint 2022 ed.] 9783110800272, 9783110158472


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Inhalt nach Abteilungen
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
I. Monographien. Part 1
I. Monographien. Part 2
II. Schriften
Apparat
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Gesamtausgabe (TG). Band 15 1923–1925: Innere Kolonisation in Preußen, Soziologische Studien und Kritiken - Erste Sammlung,  Schriften 1923 [Reprint 2022 ed.]
 9783110800272, 9783110158472

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 15

w DE

G

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe

der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen • Alexander Deichsel Cornelius Bickel • Rolf Fechner Carsten Schlüter - Knauer

Walter de Gruyter • Berlin • New York 2000

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 15 1923-1925 Innere Kolonisation in Preußen Soziologische Studien und Kritiken Erste Sammlung Schriften 1923 herausgegeben von Dieter Haselbach

Walter de Gruyter • Berlin • New York

2000

Die „Stiftung 200 Jahre Sparkasse Kiel", welche anlässlich dieses Jubiläums der ältesten Sparkasse Schleswig-Holsteins von ihr im Mai 1996 errichtet worden ist, unterstützte die redaktionelle Arbeit beim Band 15 der Tönnies-Gesamtausgabe.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche

Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Tönnies, Ferdinand: Gesamtausgabe : T G / Ferdinand Tönnies. Im Auftr. der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V. hrsg. von Lars Clausen ... — Berlin ; New York : de Gruyter ISBN 3-11-015348-3 Bd. 15. 1923 — 1925 : innere Kolonisation in Preußen, soziologische Studien und Kritiken — erste Sammlung, Schriften 1923 / hrsg. von Dieter Haselbach. — 2000 ISBN 3-11-015847-7

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH Sc Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Readymade, Berlin Druck: WB-Druck, Rieden/Allgäu Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen Abkürzungen und Siglen

V VII

Vorwort Dieter Haselbach I. Monographien Innere Kolonisation in Preußen. Insbesondere in den ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung Vorwort Inhalt [Text] Namenregister Sachregister Weitere Schriften von Ferdinand Tönnies II. Schriften

XI 1 3 25 27 29 31 499 501 505 507

Principielle bemerkninger til revolutionsteorien 509 Professor Aulard 516 Harald Höffding. Zum 80. Geburtstag, 11. März 525 Wiederaufnahme des Verfahrens 529 [Rede zur Eröffnung des III. Deutschen Soziologentages] . . . 534 Egoismus und Gemeinschaftsgeist 539 Hobbes und das Zoon Politikon 543 Sozialreform ehedem und heute 571 Enthüllte Diplomatie? 586 Macht und Wert der Öffentlichen Meinung 592 Zur Soziologie des demokratischen Staates 620 Zweck und Mittel im sozialen Leben 621

VI

Inhalt nach Abteilungen

Apparat Editorischer Bericht Bibliographie (auch: Drucknachweise der edierten Texte) . . . Register der Publikationsorgane Personenregister Sachregister Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

623 625 713 747 748 761 775

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen wurden sämtliche in Text und Anmerkungen vorkommenden Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen und gel. auch Nachnamen; denn diese erscheinen in Tönnies' Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenverzeichnis (siehe S. 7 4 8 - 7 5 9 ) . Ebenfalls nicht aufgelöst werden von Tönnies abgekürzte biographische Angaben, siehe dazu die Bibliographie (S. 7 1 3 - 7 4 6 ) . Kursi(z. B. SSK) bezeichnen Siglen tönniesscher Werke. ve Abkürzungen Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an [fehlt ein Hinweis, so entstammt es dem Englischen]. Abkürzungen zu Satzbeginn haben eine Majuskel, diese Form wird hier nicht aufgeführt. 3

det vil sige [dän.: d. h.]

A. a. a. O. a. d. a. o. Prof. A. T. AI. allgem. amerik.

Anm. ann. Art. Aufl. Ausg. austral.

Auflage am angegebenen Ort an der außerordentlicher Professor Altes Testament alinea [lat.: Absatz] allgemein amerikanisch [aus den Vereinigten Staaten von Amerika] Anmerkung annotation [Anmerkung] Artikel Auflage Ausgabe australisch

baltendeut. Bd. Bde. belg. belg. bezw. BGB.

baltendeutsch Band Bände belgisch belgisch beziehungsweise Bürgerliches Gesetzbuch

Bibl. bl. brit. bzw. c. ca. cap. Cb54

Ch chines. d. DGS d. h. d. i. d. Mts. D. R. dän. das. dergl.

Bibliothek blühte [hist.-fachsprachlich svw. wirkte] britisch beziehungsweise chapter circa Kapitel [= Signatur des Nachlasses Tönnies in der SHLB; vgl. Zander 1980] Chapter, Cbapitre [engl./ frz.: Kapitel] chinesisch der, die, das Deutsche Gesellschaft für Soziologie das heißt das ist des Monats Deutsches Reich dänisch daselbst dergleichen

Abkürzungen und Siglei

VIII ders. deut. dgl. dgl. m. Dott. Dr. dt.

derselbe deutsch dergleichen dergleichen mehr Dottore [ital.: Dr.] Doktor deutsch

eB ebd. ed.

editorischer Bericht ebenda edidit [lat.: hat herausgegeben] Edward [bezeichnet in britischen legalen Dokumenten die Regierungsperiode] englisch eingetragener Verein evangelisch eventuell English Works [Teil der Ausgabe von Hobbes]

F. f. finn. Fn. franz. Frhr. Frhrn. frz.

Folge für finnisch Fußnote französisch Freiherr Freiherrn französisch

lat. Lev.

geb. gefl. gel. gest. Gf.

geboren gefällig, gefälligst gelegentlich gestorben Graf griechisch griechisch

Edw.

engl. e. V. evang. evtl. E. W.

grgriech. H. ha hebr. Hg., hg. Hgg., hgg. Hr. Hrn.

Heft Hektar hebräisch Herausgeber, herausgegeben [mehrere] Herausgeber, herausgegeben Herr Herrn

H. W.

Handwörterbuch

ib., ibid. internat. ital.

ibidem [lat.: ebenda] international italienisch

Jahrb. Jahrg. JbJgJh. jr., jun.

Jahrbuch Jahrgang Jahrbuch Jahrgang Jahrhundert junior

k. Kap. kath. Kgl. Kgr. königl.

königlich Kapitel katholisch Königlich Königreich königlich

1. c.

loco citato [lat.: am angeführten Ort] lateinisch Leviathan [Werk Thomas Hobbes']

M. m. a. W. m. W. männl. maschsch Mill. Mk. Molesw.

MS, mss.

Mark mit anderen Worten meines Wissens männlich maschinenschriftlich Million, Millionen Mark Molesworth [Herausgeber der Werke Thomas Hobbes'] Manuskript

n. Chr. neuseel. niederl. norweg. Nov. Nr.

nach Christus neuseeländisch niederländisch norwegisch November Nummer

o.J. o. O.

ohne Jahr[esangabe] ohne Ortsangabe]

IX

Abkürzungen und Siglen o. V. op. cit. Opp. ord. österr. p. P. poln. pp

ohne Verfasser opus citatum [lat.: svw. aus dem zitierten Band] Opera [lat.: Werk] ordentlicher österreichisch

preuß. Prof. prot. Pseud.

Page [Seite] Part polnisch perge perge [lat.: und so weiter] preußisch Professor protestantisch Pseudonym

Ref. resp. röm. russ.

Referent respektive römisch russisch

s. S. s. a. schott. Sehr. schwed. Schweiz. seil. Se. Maj. SHLB

siehe Seite, Sankt siehe auch schottisch Schriftleitung schwedisch schweizerisch scilicet [lat.: svw. nämlich] Seine Majestät Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek siehe oben sogenannt sowjetisch spanisch Sir Seiner Majestät

s. o. sog., sogen. sow. span. Sr. Sr. Maj.

SSKl [2, 3]

svw.

Soziologische Studien und Kritiken. Erste [Zweite, Dritte] Sammlung [vgl. Tönnies 1925,1926a, 1929] Statistik, statistisch Supplement salva venia [lat.: mit Verlaub] soviel wie

t. TG tsd.

tome [frz.: Band] Tönnies-Gesamtausgabe tausend

u. u. a. u. dgl. m. u. s. w. Übers., übers. usf. usw.

und unter anderem, und andere und dergleichen mehr und so weiter Übersetzer, übersetzt und so fort und so weiter

v. v. a. v. Chr. v. H. Verf. vergl., vgl. Vict.

vol.

von vor allem vor Christus von Hundert Verfasser vergleiche Victoria [bezeichnet in brit. legalen Dokumenten die Regierungsperiode der Königin Victoria] volume [Band]

wiss. WW

wissenschaftlich Werke

Z. z. B. Zeitschr.

Zeile zum Beispiel Zeitschrift

Stat., stat. Suppl. s. v.

Vorwort Im 15. Band der T G mit den Monographien der Jahre 1923 bis 1925 und den Abhandlungen des Jahres 1923 sind Arbeiten aus sehr unterschiedlichen Werkperioden Ferdinand Tönnies' versammelt, denn hier wird der erste seiner drei Sammelbände „Soziologische Studien und Kritiken" wieder herausgegeben, in dem er Schriften aus einem fast vierzig Jahre umspannenden Zeitraum von 1880 bis 1919 zusammengestellt hat. Für die Edition bedeutet dies, dass fast das halbe Leben des Autors werkbiographisch in den Blick gerät. Dagegen bleibt Tönnies als Autor, der das Zeitgeschehen fortlaufend kommentiert, für den hier berichteten Zeitraum recht blass, denn 1923 entstanden nur wenige Abhandlungen. In ihrer werkgeschichtlichen Bedeutung ragen drei - sehr unterschiedliche - Arbeiten heraus. Dies ist an erster Stelle - schon vom Umfang her die sechsteilige Artikelserie „Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung", zuerst zwischen 1 9 0 5 und 1 9 1 1 in Schmollers Jahrbuch erschienen, in der Tönnies sich mit der zeitgenössischen Soziobiologie auseinandersetzt. Seine Kritik des Sozialdarwinismus und der praktischen Eugenik ist durchaus anschlussfähig an eine soziologische Kritik der Soziobiologie am Ende des 20. Jahrhunderts, auch wenn er selbstverständlich noch nichts von Molekulargenetik und den mit ihr wieder auflebenden Utopien einer,biologischen Verbesserung' der Menschheit wissen konnte. Wodurch sich die heutigen Diskussionen über Eugenik und eine Politik der Erbbiologie (auch wenn man das aktuell nicht mehr so nennt) von der nach der Jahrhundertwende unterscheiden, ist nur, dass sie - wenigstens in Deutschland - in Erinnerung an die Exzesse biologischer Politik in der Öffentlichkeit noch sehr skeptisch geführt wird. Der zweite Text von herausragender Bedeutung ist der erstmals hier (dann aber im selben Jahr auch in den Kant-Studien) veröffentlichte frühe Entwurf für die Einleitungskapitel zu „Gemeinschaft und Gesellschaft". In diesem Text wird deutlicher als in allen späteren Fassungen der Theoreme Tönnies', aus welchen literarischen Quellen er geschöpft hat, in welchem Problemkontext die Begriffe „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" entstanden. Eine genauere Vorstellung von der Vielschichtigkeit seines Grundgedankens ergibt sich auch, wenn man das Aufsatzfragment „Historismus

XII

Vorwort

und Rationalismus" aus dem Jahre 1895 zu dieser grundbegrifflichen Selbstvergewisserung Tönnies' hinzunimmt. In das Jahr 1923 schließlich gehört der dritte hier zu nennende Text: „Hobbes und das Zoon Politikon". Unter den vielen Hobbes-Arbeiten Tönnies' liegt der Text recht spät, er ist sein vorletzter großer HobbesAufsatz. Tönnies beschäftigt sich mit der - man könnte fast sagen: kopernikanischen- Wende in der Naturrechtsdiskussion, die durch Hobbes' Theorem vom „Krieg aller gegen alle" als dem Naturzustand der Menschen ausgelöst wurde. Die Arbeit ist ebenso ein Stück Hobbes-Philologie, wie sie auch zu einer Grundfrage der Soziologie, nämlich der nach der Bedeutung der Gewalt in sozialen Beziehungen, hinführt. Die kleine, in der Erstveröffentlichung nur 14 Seiten umfassende Monographie „Innere Kolonisation in Preußen" hat unter den Arbeiten Tönnies' sicherlich eine der eigenartigsten Veröffentlichungsgeschichten (vgl. dazu den editorischen Bericht auf S. 629-636). Sie stellt in der Literatur zur sogenannten ,Inneren Kolonisation' (dies war die Schaffung von Bauernstellen in den nordöstlichen Grenzgebieten des Deutschen Reiches auf ehemaligem Gutsland) einen ohne Zweifel wertvollen Beitrag dar, vor allem wegen ihrer Verbindung von politisch-qualitativen Aussagen mit statistischen Auswertungen. Im Kontext des Werkes von Tönnies ist die Arbeit jedoch ein Unikat, denn zuvor und danach hat er sich zu diesem Thema nicht geäußert. Vor dem Hintergrund der Veröffentlichungsgeschichte könnte argumentiert werden, dass Tönnies diese Arbeit in Erfüllung einer patriotischen Pflicht' unternommen hat, denn sie sollte als Material in Gerichtsverfahren verwandt werden, in denen deutsche Kolonisten versuchten, ihre Ansprüche auf Siedlerstellen zu sichern, die sie unter den nach 1918 geänderten geopolitischen Bedingungen verloren hatten. In weitesten Sinne kann diese Schrift also den „Kriegsschriften" Tönnies' zugerechnet werden. Dass kein Buch, und noch weniger eine kritische Ausgabe historischer Texte, ohne den Rat und die Mithilfe anderer auskommt, steht im Vorwort einer jeden Arbeit. Und es gilt natürlich auch hier. Unter den vielen, denen ich danken möchte, soll an erster Stelle Rolf Fechner stehen, der für alle noch so abseitigen Probleme eine Lösung wusste, und der mich zudem in der Arbeit am Detail vor manchem Irrweg bewahrt hat. Fechners Hilfen können nicht alle aufgezählt werden. In allen Fragen von Form und Stil war er ein zuverlässiger Ratgeber. Er las mehrere Korrekturen und begleitete in allen Aspekten das Entstehen der Edition. Schließlich übersetzte er

Vorwort

XIII

auch einen kurzen italienischen Text zusammen mit Angela Leifeld. Frau Lise Tönnies übertrug einen Text aus dem Norwegischen. Vor Ort in Kiel war Jürgen Zander ein unverzichtbarer Führer durch den Nachlass Tönnies', und Frank Osterkamp eröffnete den Zugang nicht nur zu seinem Wissen, sondern auch zu den Kieler Bibliotheken. Arno Mohr, der fast zeitgleich mit mir den Band 9 der TG bearbeitete, war derjenige, an den ich mich wandte, wenn ich mit einer Textstelle Tönnies' gar nicht mehr weiter wusste. Mit Lars Clausen tauschte ich am Rande des Internationalen Soziologenkongresses in Toronto freud- und leidvolle Erfahrungen des Edierens aus. Das Resultat seiner Mühe, Band 22 der TG erschien lange genug vor dem vorliegenden, so dass ich noch Anregungen von dort aufnehmen konnte. Er und Carsten Schlüter-Knauer haben während der Endredaktion mit scharfem Blick auch auf feine Details hilfreiche Anregungen gegeben. Karin Sousa saß lange Stunden mit mir in meinem Büro in Birmingham, und wir lasen eine erste Korrektur des Textes, der zuvor von David Pritchard mit viel Geduld am Scanner erfasst worden war. Angelika Leifeld und Swana Boydine Runge in Hamburg lasen eine zweite Korrektur. Wo noch Fehler stehen geblieben sind, habe ich sie übersehen. Schließlich sind Kolleginnen und Kollegen zu nennen, bei denen ich immer ein offenes Ohr fand. In Birmingham half mir Natalie Mrgudovic mit großem Spürsinn bei der Beschaffung und Lektüre französischer Texte, und mit Rüdiger Görner verbrachte ich einen unvergesslichen Abend über den Schriften von Tönnies, Hobbes und Aristoteles. In München half mir Bernd Ludwig, Freund aus alten Studententagen, wenn ich zu Hobbes oder Kant Fragen hatte, in Frankfurt wusste Sibylle Hofer in allen Fragen zur Rechtsgeschichte Rat - ob sie Details der Inneren Kolonisation oder auch die Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert betrafen. Andere freundliche Helfer wären zu benennen, so eine Archivarin in Wisconsin, die, über das Internet angefragt, mit Enthusiasmus und Spürsinn einen von Tönnies mit falscher Quelle zitierten Satz eines amerikanischen Soziologen ausfindig machte, oder die geduldigen Bibliothekare in der British Library in London, die noch den entlegensten Titel aufspürten und, damals noch im ehrwürdigen Oval des British Museum, auf meinen Tisch legten. Für einen kleinen, aber zum Zeitpunkt entscheidenden Zuschuss zu Reisekosten danke ich der Aston Modern Language Research Foundation; als ich später Schatzmeister dieser Stiftung war, wurde mir klar, was hier auch eine kleine Summe bedeutet. Auch die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft förderte Sach- und Reisekosten und finanzierte vor allem die elektronische Erfassung der Texte. Immer wieder zu danken ist dem Lande Schleswig-

XIV

Vorwort

Holstein, ohne dessen Förderung die Tönnies-Gesamtausgabe nicht zu realisieren wäre; ebenfalls der Familie Tönnies, die der Ferdinand-TönniesGesellschaft e. V. in Kiel die Rechte anvertraute. Seit ich vor mehr als zehn Jahren zustimmte, in der Tönnies-Gesamtausgabe einen Band zu übernehmen, ist biographisch viel passiert. Damals war ich gerade als Soziologe promoviert und hatte nichts mehr als Ambitionen auf eine Arbeit in der Universität. Die Mitarbeit an einer Edition erschien als ein plausibler Schritt bei der Realisierung der Ambition. Aber selbstverständlich stand hinter der Zusage auch ein inhaltliches Interesse: Unter den Bänden fiel meine Wahl auf die Monographien von 1923-1925, weil ich mich für die Geschichte der Soziologie um die Jahrhundertwende interessierte und auch für die „Innere Kolonisation" (darüber hatten in der Gründergeneration ja auch schon Max Weber und natürlich Franz Oppenheimer geschrieben). Bevor die Arbeit an der TG begann, siedelte ich zur Wahrnehmung einer Gastprofessur nach Westkanada über und war für vier Jahre fern allen alteuropäischen Ressourcen. Erst nach einem Ruf an die Aston University in Birmingham Anfang 1996 konnte ich mit der Arbeit an der Edition wirklich beginnen, denn nun standen die nötigen Bibliotheken wieder zur Verfügung. Auch stimmte das intellektuelle Umfeld für ein solches Vorhaben eher als in Nordamerika, wo eine Beschäftigung mit jenen unbekannten Denkern an entlegenen Orten und in weit zurückliegenden Zeiten wie eine müßige Übung erschien. Nun waren aber neben der Lehre Pflichten beim Aufbau eines neuen politikwissenschaftlichen Instituts zu erfüllen. Auch stellte ich - bei aller Freude am Umgang mit dem historischen Material - fest, wie sehr sich meine wissenschaftlichen Interessen von der Selbstvergewisserung am historischen Bestand der Disziplin auf aktuelle Probleme und auf die Arbeit an den Erfahrungen in der Fremde (die auch im ,globalen Dorf' noch ganz weit weg ist) verschoben hatten. Die Auseinandersetzung mit Tönnies wurde so in der neuen biographischen Situation fast zu einem ,hobby', einer Beschäftigung, mit der ich mich in der Zeit ,außerhalb meines offiziellen Berufs' abgab, nicht um ,Zeit totzuschlagen', aber doch mit dem schlechten Gewissen, dass vieles von der Pflicht als Institutsleiter vernachlässigt wurde. Dass die Lust auf die Sache sich dann aber doch wieder entwickelte, dass eine Vertiefung in die Denkweisen und Erkenntnisse jener lange zurückliegenden Zeiten sich doch wieder als lohnend erwies, spricht sicherlich für die Qualität der Arbeiten Tönnies'. Verbindungslinien zum Heutigen lassen sich vielfach ziehen, etwa von der alten Kritik der Eugenik zu heutigen soziobiologischen Ansätzen, die nun unter dem Primat der

Vorwort

XV

molekularen Genetik und der vermeintlich unmittelbar bevorstehenden Entschlüsselung der biochemischen Struktur des Menschlichen und Gesellschaftlichen stehen. Naturgemäß können solche Themen aber in einer kritischen Edition nicht zum Tragen kommen, denn dort soll der Bearbeiter hinter den Text zurücktreten. Birmingham/Bonn im November 1999

Dieter Haselbach

I. Monographien

Innere Kolonisation in Preußen Insbesondere in den ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen

l Innere Kolonisation in Preußen: Die Broschüre „Innere Kolonisation in Preußen" (14 S.) erschien 1923 im Verlag von Franz Vahlen in Berlin. Als Autor ist auf dem Titelblatt angegeben „Dr. Ferdinand Toennies. Ord. Professor der Staatswissenschaften und der Soziologie a. d. Universität Kiel". Die Veröffentlichungsgeschichte dieser Schrift ist problematisch, sie führte dazu, dass Jacoby (1971: 307, Anm. 55) den vorliegenden Text „nicht als eine von Tönnies autorisierte Schrift gelten" lassen wollte; in der Bibliographie von Else Brenke (1936: 397), die von ihr unter Tönnies' Obhut erstellt wurde, ist die Schrift dann aber doch genannt worden. Vgl. ausführlicher den Editorischen Bericht (S. 629-636).

Berichtigung Die auf Seite 18 genannten Zahlen für die bei der Anwendung des Enteignungsgesetzes bezahlten Preise bedürfen einer Berichtigung: einerseits wurden bei den enteigneten Gütern im Verhandlungs- und Vergleichswege Zusatzentschädigungen bewilligt, und andererseits sind bei der Berech- s nung der Durchschnittszahl für die in derselben Zeit bei freihändigem Kauf erzielten Preise die bei der Enteignung gezahlten mit zugrunde gelegt. Berücksichtigt man dies, so ergibt sich folgendes Ergebnis: bei der Enteignung wurden durchschnittlich pro Hektar 2 119 Mark bezahlt, während in demselben Jahre bei freihändigem Ankauf durchschnittlich nur 10 1 800 Mark für den Hektar bezahlt wurden.

1 Berichtigung: Dieser Einschub steht rechts neben der ersten Textseite (S. 3) auf einem nicht paginierten Blatt. Der Seitenverweis ist hier an die vorliegende Ausgabe angepasst.

I. Innere Kolonisation ist in ihren Ursprüngen von äußerer nicht wesentlich verschieden: Besetzung eroberten Landes mit Menschen, die darin leben und den Boden verteidigen sollen. Nachdem sich Staaten mit geschlossenem Gebiete gebildet hatten, war es den Fürsten und Staatsmännern um Vermehrung der Einwohner zu tun, damit sie den Wohlstand vermehren hülfen. Schmoller nimmt an, daß Friedrich der Große etwa 9 0 0 Kolonistendörfer geschaffen habe, während die Menge der kleineren Ansiedlungen und Abbauten in die Tausende gehe. Das junge Preußen hatte eben die Population besonders nötig, wie denn der Vater des großen Königs einmal schrieb, daß er Menschen für den größten Reichtum halte. Das gegebene Mittel war die Heranziehung von Ausländern; wenn diese zumeist nichtpreußische Deutsche waren, so erinnert sich doch jeder der gastlichen Aufnahme, die den Hugenotten zu teil wurde: auch Polen waren unter den Aufgenommenen zahlreich. Dieser politische Gedanke trat in den Hintergrund, als die Sorge sich der Möglichkeit einer Übervölkerung zuwandte. Schmoller, der im Jahre 1 8 8 6 dem Verein für Sozialpolitik über jene preußische Innenkolonisation berichtete, bezeichnet am Schluß als hauptsächlichen Unterschied zwischen damals und heute, daß jede Absicht der Bevölkerungsvermehrung heute wegfalle, daß man deshalb keine Fremden brauche, sondern in den jungen Bauernsöhnen des Landes das natürliche Kolonisationsmaterial habe. Der Gedanke der inneren Kolonisation war inzwischen leise wieder gewachsen und ist seitdem nicht wieder zur Ruhe gekommen. Er entsprang mehreren starken Beweggründen. In erster Linie war er ein Gegenstand der in Preußen durch die neuen Provinzen erheblich vergrößerten Domänenverwaltung, die aus inneren Gründen in Erwägung zog, ob es sich empfehle, neben den mehr und mehr vorwaltend gewordenen Großpächtern Bauernstellen anzusetzen. Daneben fand man, daß in den Ostprovinzen Preußens die gesunde Mischung von großen, mittleren und kleinen Betrieben, der die öffentliche Meinung am meisten geneigt war (und heute noch ist), allzusehr zugunsten 10 Vater des großen

Königs:

22 Kolonisationsmaterial

Friedrich Wilhelm I von Preußen.

habe:

Vgl. Schmoller 1 8 8 6 : 4 2 .

6

Innere Kolonisation in Preußen

der großen Betriebe beeinträchtigt worden sei. Man wies darauf hin, daß ehemals die preußische Staatskunst, wie diejenige anderer deutscher Territorien, beflissen gewesen sei, den Bauernstand zu schützen; daß dagegen in einem großen Landstrich, wie Neuvorpommern, der Bauernstand unter schwedischer Herrschaft durch den Adel so gut wie ausgerottet wurde. Bald regte sich auch von neuem der populationistische Gedanke, wenn auch zunächst in negativem Sinne: es gelte die Auswanderung einzudämmen und die Abwanderung vom Lande in die Städte zu hemmen. Dabei wurde auch der vorzügliche Wert des Bauerntums für die Wehrkraft herausgestrichen. Dem Großgrundbesitz war die innere Kolonisation willkommen, wenn sie dazu dienen könne, den Arbeiter seßhaft zu machen, also an den Gutshof zu fesseln. Ganz besondere Umstände liegen für die Kolonisation vor, wenn es sich um die Urbarmachung von Ödländereien handelt, wie solche besonders als Hochmoore und Heidestrecken in großem Umfange namentlich die neu erworbene Provinz Hannover darbot. Die Natur der Sache ließ hier am wenigsten Widerstand gewärtigen. Ein Gesichtspunkt endlich, der an die Ursprünge aller kolonisatorischen Tätigkeit erinnert, war für das Königreich Preußen in den national gefährdeten östlichen Provinzen, den ehemals polnischen Landesteilen, gegeben.

II. Der Stolz der preußischen Reformära von 1807 war die Schaffung eines freien Bauernstandes. So sehr auch diese Errungenschaft durch die bald folgende Reaktion verringert und beschädigt wurde, so schwere Opfer auch den frei gewordenen Bauern auferlegt wurden, so stark auch die spannfähigen und darum zunächst auch nicht regulierbaren Stellen durch Auskauf gelitten haben, so daß erst davon her eine in gehörigem Umfange für den Großbetrieb verfügbare Klasse von Landarbeitern ihren Ursprung hat - so blieb doch für den bis 1 8 8 0 auch in Preußen einflußreichen Liberalismus die Abschaffung aller Reste von Feudalismus und Hörigkeit das einmütig erstrebte Ziel. So bewirkte er auch nach dem Scheitern der 1848er Bewegung, daß noch durch ein Gesetz vom 2. März 1 8 5 0 die

33 Gesetz vom 2. März 1850 betrifft die Ablösung der Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse (Gesetzes-Sammlung 1 8 5 0 : 77).

Innere Kolonisation in Preußen

7

Erbpacht, die als ein Rest der Erbuntertänigkeit galt, ausdrücklich verboten wurde, und daß die Ablösung der als Reallast allein noch zulässigen festen Geldrenten nicht länger als auf 30 Jahre durch Vertrag ausgeschlossen werden durfte. In den 70er Jahren begann jedoch eine andere Auffassung zur Geltung zu kommen. Im Dezember 1878 wurde dem Landesökonomiekollegium ein Antrag vorgelegt, der die Wiederherstellung von Verhältnissen ähnlich der Erbpacht oder dem Erbzinsgelde oder der Emphyteuse forderte: dabei blieb zweifelhaft, ob es mehr auf Bauern- oder Arbeitersiedlungen abgesehen war. Vorher schon hatte die Zentralmoorkommission die Frage der Erbpacht angeschnitten. Sodann wurde durch Verfügung des Ministers für Landwirtschaft vom 2. November 1885 dem Landesökonomiekollegium eine Denkschrift unterbreitet, die zum ersten Male den Ausdruck „Rentengut" gebraucht und darunter eine zum Betriebe der Landwirtschaft bestimmte Besitzung verstehen will, bei deren eigentümlichem Erwerb der Käufer die Zahlung einer festen Jahresgeldrente vertragsmäßig übernimmt. Als Grundsatz wurde an die Spitze gestellt, daß bei Überlassung eines Rentenguts in allen Fällen das volle Eigentum übertragen werden solle, es könne aber unter Vorbehaltung gewisser darauf ruhender unablösbarer Rechte übertragen werden. Als Zweck der neuen Institution wurde dargestellt: 1. die Stärkung des Bauernstandes, 2. die dauernde Erhaltung eines leistungsfähigen mittleren Grundbesitzes, 3. die Beförderung der inneren Kolonisation. Offenbar galten diese drei Zwecke im wesentlichen als gleichsinnig. Zur inneren Kolonisation und ihrer Empfehlung wurden die Worte eingeschoben, auch im nationalen Sinne: womit unvermerkt ein Gedanke auftritt, der bisher der öffentlichen Erörterung des Gegenstandes ferngeblieben war. Gerade dieser Gedanke aber trat zunächst in den Vordergrund der politischen Arbeit. Nachdem ein nationalliberaler Parteitag des Jahres 1885 angeregt hatte, deutsche Erbpächter mit staatlicher Hilfe auf fiskalischem Boden der Ostmark anzusetzen, griff der Regierungspräsident von Tiedemann den

7 ein Antrag vorgelegt, der dokumentiert ist in Thiel 1886: 77 f. 8 Emphyteusen Eine Form langfristiger Erbpacht im nachklassischen Römischen Recht. Ii Frage der Erbpacht: Vgl. die Angaben bei Thiel 1 8 8 6 : 92. 13 eine Denkschrift 23 Beförderung

betreffend Rentengüter ist bei Thiel ( 1 8 8 6 : 9 4 - 1 0 3 ) dokumentiert.

der inneren Kolonisation: Vgl. ebd.: 97.

25 im nationalen Sinne: Im Text der Denkschrift sind die Worte „auch im nationalen Sinne" nicht aufzufinden.

8

Innere Kolonisation in Preußen

Gedanken auf, für den sich dann auch Regierung und Landtag erwärmten. So kam der Gesetzentwurf vom 8. Februar 1886, betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen, zustande. Die Begründung erklärte dies zur Verteidigung gegen das notorische Vordringen des Polentums für notwendig. Der Zweck wurde nicht auf Ansetzung von Bauernstellen beschränkt, sondern auf Arbeitersiedlung ausgedehnt, und in der Einführungsrede des Ministers Lucius traten diese beiden Absichten als völlig gleichgewertet zutage. Der Gesetzentwurf ging an eine Kommission, die ihm eine neue Gestalt verlieh dadurch, daß sie das Rentengut hineinsetzte, dem somit zum ersten Male ein rechtliches Dasein in Preußen verliehen werden sollte. Es waren bedeutsame Neuerungen: 1. daß die Überlassung zu Eigentum gegen Übernahme einer festen Geldrente, an deren Stelle aber auch eine Körnerrente treten könne, gestattet wurde, 2. daß es für zulässig erklärt wurde, die Ablösbarkeit der Rente von der Zustimmung beider Teile abhängig zu machen, 3. daß die Beteiligten durch freie Vereinbarung dem Inhaber des Rentengutes Beschränkungen in der Verfügung darüber auferlegen dürfen. Durch diese Bestimmungen erhielt es einen zwiefachen Charakter: es ist zugleich ein Abwehrgesetz gegen die zu stark vordringende polnische Nationalität und 3 Gesetzentwurf... betreffend ... Westpreußen und Posen: Vgl. die Sammlung sämmtlicher Drucksachen, 1886: Nr. 45; auch dokumentiert bei Thiel 1886: 108-113. Das Gesetz wurde am 26. 4. 1886 verabschiedet: Gesetz, betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den Provinzen Westpreußen und Posen (Gesetzes-Sammlung 1886:131). Die dem Gesetzentwurf beigefügte Begründung wird mit den folgenden drei Absätzen eröffnet: „Notorisch sucht sich in einzelnen östlichen Landestheilen die polnische Nationalität unter Verdrängung der vorhandenen deutschen Elemente mehr und mehr und nicht ohne Erfolg auszubreiten. [Absatz] Solches Vordrängen einer, durch Sprache und Sitte dem Preußischen Staatsleben innerlich entfremdeten Nationalität in wichtigen Theilen der Monarchie fordert umfassende Abwehrmaßregeln auf allen Gebieten der Staatsverwaltung. [Absatz] Es handelt sich darum, die Interessen der deutschen Bevölkerung zu wahren, die Ueberfluthung jener Landestheile mit polnischen Elementen zu verhindern und deutschem Geiste und deutscher Bildung mehr und mehr Bahn zu öffnen." (Sammlung sämmtlicher Drucksachen 1886: Nr. 45). 8 traten diese beiden Absiebten als völlig gleichberechtigt zutage: Vgl. Lucius (1886: 686): „Die gegenwärtige Vorlage verfolgt also den Zweck, Landankäufe zu machen, um das deutsche nationale Element im Osten zunächst zu stärken; sie beabsichtigt aber diese Ankäufe nicht zu verwenden zur Bildung großen Besitzes, zur Bildung größerer königlicher Domänen, sondern sie beabsichtigt, dieselben aufzuteilen, um einen leistungsfähigen Bauernstand und eine seßhafte Arbeiterbevölkerung dort zu etabliren." 9 neue Gestalt: Dieser Text ist dokumentiert bei Thiel 1886, der die veränderte Form dem ursprünglichen Gesetzentwurf der preußischen Landesregierung synoptisch gegenüberstellt.

Innere Kolonisation in Preußen

9

ein Gesetz zur Schaffung vorbildlicher neuer Bauernstellen. Der Grundgedanke der inneren Kolonisation, der das Gesetz neben dem Gedanken der nationalpolitischen Abwehr beherrscht, kommt in dreifacher Hinsicht zum Ausdruck: 1. dadurch, daß der Staat selber durch eine besondere Ansiedlungskommission als Kolonisator auftritt, 2. dadurch, daß die Absicht der Regierung doch vorzugsweise auf Vermehrung von Bauernstellen sich versammelte, weil davon allein Erfüllung des politischen Zweckes erwartet werden konnte, 3. dadurch, daß eine neue Rechtsform hergestellt wurde, die gerade diesen neuen bäuerlichen Betrieben ihr Dasein und ihre Entwicklung zu erleichtern bestimmt war.

III. Bereichert um diese Form entwickelte sich die innere Kolonisation rasch weiter. In beiden Häusern des Landtages wurde schon drei Jahre nachher ein Antrag gestellt, die Regierung zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, worin die auf Rentengüter bezüglichen Bestimmungen des Gesetzes von 1886 auf das ganze Gebiet der Monarchie ausgedehnt würden. Es herrschte Übereinstimmung darüber, daß diesen Anträgen das günstige Urteil zugrunde liege, das man sich über die Entwicklung des Rentengutes in Westpreußen und Posen gebildet habe. So entstand bald das Gesetz vom 27. Juli 1890 als ein allgemeines Gesetz, das jedem freistellt, ein Grundstück in dieser Form zu übertragen. Dazu kam das Gesetz über die Beförderung der Errichtung von Rentengütern vom 7. Juli 1891. Dies Gesetz verschiebt auch wiederum den Schwerpunkt in das bäuerliche Rentengut; auch bei solchen kleineren Umfangs soll die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz im Rentengute selber liegen, auch wenn etwa Nebenerwerb durch Arbeit auf fremdem Boden zur Ergänzung gesucht wird, und wenn auch zugunsten der Kolonie Handwerkerstellen mit kleinem Landbesitz (2-5 ha) für zulässig erklärt werden. Die Ausführung des Gesetzes wird den „Generalkommissionen" übertragen, d. i. den Behörden der älteren preußischen Agrarreform für Gemeinheitsteilungen und Ablösung von Reallasten. Diese sollten nicht als Kolonisatoren wirken, sondern lediglich als Vermittler dafür, daß die Rentenbanken, die in den meisten Provinzen 14 Gesetzentwurf-, Vgl. Sammlung sämmtlicher Drucksachen 1 8 8 9 : Nr. 118. Die Vorlage für das Herrenhaus konnte nicht nachgewiesen werden. 20 Gesetz vom 27. Juli 1890: Vgl. Gesetz über Rentengüter (Gesetzes-Sammlung 1 8 9 0 : 2 0 9 ) . 22 Gesetz ... vom 7. Juli 1891: Vgl. Gesetzes-Sammlung 1 8 9 1 : 2 7 9 .

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Innere Kolonisation in Preußen

schon bestanden, verallgemeinert würden und die neue Aufgabe erhielten, der Förderung bäuerlicher Rentengüter zu dienen: sie sollten die vereinbarten Renten ablösen, dem Verkäufer also Kapital bieten und zugleich dem neuen Besitzer zur Ausstattung des Rentengutes mit Gebäuden ein unkündbares Darlehen in Rentenbriefen gewähren. Diese Gesetzgebung ist noch durch mehrere fernere Gesetze befestigt und erweitert worden (1896, 1900, 1904). Durch ministerielle Verfügungen von 1907 und 1909 wurden im Widerspruch zur ursprünglichen Bestimmung ihre Zwecke auch auf die Einrichtung von bloßen Arbeiterstellen ausgedehnt und diesen sogar besondere staatliche Zuschüsse gesichert. In größerem Umfange hat aber nur die staatliche Forstverwaltung davon Gebrauch gemacht. Übrigens wurde die vermittelnde Wirksamkeit der Generalkommissionen mehr und mehr eine leitende. Sie arbeitete darauf hin, daß an die Stelle einzelner Siedlungsunternehmer, die in der Regel nur auf ihren Gewinn erpicht waren, Ansiedlungsgesellschaften traten, um berufsmäßig als Kolonisatoren im großen Stile im gemeinwirtschaftlichen Interesse aufzutreten. Bei diesen liegt seit 1899 der Schwerpunkt der inneren Kolonisation Preußens: es sind privatrechtliche Vereine, deren Mitglieder aber vorzugsweise öffentliche-rechtliche Verbände, auch der Staat selber, sind. Ihre Tätigkeit setzt sich auch in der erweiterten inneren Kolonisation fort, die für das ganze Reich zuerst durch die von Prof. Sering verfaßte Reichssiedlungsverordnung vom 29. Januar 1919,

7 (1896,

1900,

1904):

Vgl. Gesetz, betreffend das Anerbenrecht bei Renten- und An-

siedlungsgütern, vom 8. 6. 1 8 9 6 (Gesetzes-Sammlung 1 8 9 6 : 124); Gesetz, betreffend die Gewährung von Zwischenkrediten bei Rentengutsgründungen, vom 12. 7. 1 9 0 0 (Gesetzes-Sammlung 1 9 0 0 : 300); Gesetz, betreffend die Gründung neuer Ansiedlungen durch Rentengutsbildung in den Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen und Westfalen, vom 10. 8. 1 9 0 4 (Gesetzes-Sammlung

1904,

227). 8 Verfügungen

von 1907 und 1909: Vgl. Erlass, betreffend Arbeiter-Rentengüter, vom 8. 1.

1 9 0 7 . in: Mitteilungsblatt für Landwirtschaft 1907: 2 7 (auch dokumentiert in: Archiv für Innere Kolonisation, 1910: 2, 2 7 5 - 2 7 8 ; in: Jahrbuch der Bodenreform 1 9 0 7 : 3, 1 2 0 ff., sowie in Grotefend/Cretschmar 1 9 0 7 : 2 6 ff.); und: Erlass, betreffend Ansiedlung von Landarbeitern, vom 10. 8. 1 9 0 9 (I B Ib, 1268 / 1 A Ia, 3 8 9 0 ) , gezeichnet vom Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (dokumentiert in: Archiv für Innere Kolonisation, 1 9 1 0 : 2, 2 7 8 - 2 8 0 ) . Damit im Zusammenhang steht ein weiteres Dokument: Grundsätze für die Gewährung von Staatsbeihilfen bei der Ansiedlung von Landarbeitern im Wege der Rentengutsbildung (nicht datiert, ebd.: 2 8 0 - 2 8 2 ) . 22 Reichsiedlungsverordnung

vom 29. Januar 1919:

Vgl. die Verordnung zur Beschaffung

von landwirtschaftlichem Siedlungslande vom 2 9 . 1. 1 9 1 9 (Reichsgesetzblatt 1 9 1 9 : 115).

Innere Kolonisation in Preußen

11

sodann durch das Reichssiedlungsgesetz der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung vom 11. August 1919 den Einzelstaaten („Ländern") zur Pflicht gemacht wurde. Diese Tätigkeit dient nach wie vor vorzugsweise der Begründung von Bauernstellen, wenn auch seit 1908 die Anzahl der bloßen Arbeitersiedlungen erheblich zugenommen hat. So wirkten in den Provinzen Posen und Westpreußen die Ansiedlungskommission und die Generalkommissionen nebeneinander. Bei dieser standen die nationalpolnischen Ziele nicht im Vordergrunde; dazu kam die unter dem Reichskanzler Caprivi einsetzende sogenannte „Versöhnungsära", während der in nicht geringer Zahl, durch Vermittlung der Generalkommission Bromberg, Siedelungen, besonders kleine Stellen, an polnische Arbeiter und Kleinbauern vergeben wurden. Von den 5 799 bis Ende 1896 begründeten Rentengütern war mehr als der dritte Teil in polnischen Händen. Von nun an beginnt ein heftiger Kampf um den Boden zwischen der preußischen Staatsregierung einerseits, der polnischen bürgerlichen „Gesellschaft" andrerseits, die sich mehr und mehr durch Vereine, Genossenschaften, Banken, als „das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat" konstituierte. Dieser Kampf ist urkundlich und in sorgfältiger Weise, wie er bis 1907 sich gestaltet hatte, durch Prof. Ludwig Bernhard in einem Buche dargestellt worden, das rasch politische Bedeutung gewann. Das Ergebnis war: unmittelbar ein wirtschaftlicher, mittelbar auch ein politischer Sieg des Polentums. Es waren von 1886 bis Ende 1918 in den Provinzen Westpreußen und Posen 827 Güter und 630 Bauernwirtschaften mit insgesamt 466 323 ha von der Ansiedlungskommission gekauft und bis Ende 1914 21 372 Ansiedlerstellen mit 313 342 ha geschaffen worden; das übrige Areal besteht aus Restgütern, die vorläufig in staatliche Bewirtschaftung genommen waren. Nun war aber keineswegs der freihändige Ankauf von Gütern und Bauernstellen ausschließlich aus polnischer Hand geschehen, sondern von den Gütern fast drei Viertel (613) deutschen Gutsbesitzern abgekauft worden, wenig mehr als ein Viertel (214) polnischen; von den Bauernwirtschaften wurden 356 aus deutscher, 274 aus polnischer Hand erworben: das Verhältnis ist hier also etwas weniger ungünstig (56 gegen 44

2 vom 11. August 1919: Vgl. Reichsgesetzblatt 1919: 21 Prof. Ludwig Bernhard

in einem Buche:

1429.

„Das polnische Gemeinwesen im preußischen

Staat" (Bernhard 1907), besonders das Dritte Buch: „Der Kampf um den Boden" ( 4 7 1 667).

12

Innere Kolonisation in Preußen

v. H.). Immerhin ging, was aus deutscher Hand gewonnen wurde, wieder in deutsche Hände über; und es war an und für sich nicht sinnwidrig, auch deutschen Bauern ihr Land abzukaufen, sei es, um bessere Wirte anzusiedeln, sei es, um zu verhüten, daß das Land in polnische Hände überginge. Nun aber waren polnische Banken, an deren Spitze die Bank Ziemski, die anfangs sogar (seit 1892) die Kreditwohltaten des Rentengutsgesetzes in enger Verbindung mit der preußischen Generalkommission genoß, und die polnischen Parzellierungsgenossenschaften in schärfsten Wettbewerb mit der Ansiedlungskommission getreten, indem sie nicht nur von polnischen Großgrundbesitzern und Bauern, sondern auch von deutschen Grundbesitz erworben und unter polnische Ansiedler aufgeteilt haben, so daß von 1896 bis 1912 in den beiden Provinzen ein Mehrverlust des deutschen Grundbesitzes von fast 100 000 Hektar - 1,83% der Gesamtfläche - entstanden ist. Bis 1897 war die Zahl der von der Ansiedlungskommission aus deutscher Hand erworbenen Güter gering, nämlich überhaupt 40, davon nur ein einziges Bauerngut; von 1898 bis 1907 aber sind 386 große Güter und 239 Bauerngüter deutschen Besitzern abgekauft worden. Der Wettbewerb hatte eine außerordentliche Preissteigerung des Bodens zur Folge, wodurch wiederum die Versuchung auch für die deutschen, zumal die stark verschuldeten Besitzer erhöht wurde, die günstige Gelegenheit des Verkaufes sich zunutze zu machen. Seit 1901 waren die Bodenpreise sprunghaft gestiegen. Außer dem Wettbewerb wirkten manche allgemeinen und normalen Ursachen dahin: Besserung des Verkehrswesens, Hebung der Landeskultur und des Kreditwesens, die Vermehrung der Bevölkerung und die Zollpolitik. Diese und andere Ursachen wirkten sich auch in Steigerung der Ernteerträge aus. Mehrere dieser Momente sind unmittelbar auf das Wirken der Ansiedlungskommission und den Ersatz schlechtgeführter Großbetriebe (deren Mängel bei großen polnischen Herrschaften durch den Absentismus der Herren erhöht wurden) durch

i (56 gegen 44 v. H.): Angaben nicht belegt. 14 1,83%

der Gesamtfläche:

16 ein einziges Bauerngut:

Angaben nicht belegt. Vgl. für diese Zahlen die Tabelle auf S. 176 f. der Denkschrift

„Zwanzig Jahre deutscher Kulturarbeit" (1907). 18 abgekauft

worden: Vgl. ebd. für die Zahlen bis 1 9 0 6 ; hiernach sind 3 6 7 Güter und 2 2 3

Bauerngüter erworben worden; vgl. auch ebd.: 21 f. 23 Bodenpreise

sprunghaft gestiegen: Vgl. die Grafiken d-e nach S. 23 sowie die tabellarische

Zusammenstellung in: Zwanzig Jahre 1 9 0 7 : 1 8 8 - 1 9 3 .

Innere Kolonisation in Preußen

13

emsig den Acker pflegende Bauerngemeinden zurückzuführen; während die polnische Parzellierung, wie die der Güterzertrümmerer, fast nur der Vermehrung von Zwergbetrieben und Arbeiterstellen diente, die zumeist aus „adjazenten" Stücken des Areals von Großbetrieben gebildet wurden. Die Bodenpreiserhöhung aber, aus welchen Ursachen immer sie vor sich ging, rief ihre eigene Steigerung dadurch hervor, daß sie die Spekulation (polnische wie deutsche) ermutigte und heranzog. Alle diese Momente wirkten auf eine zunehmende Mobilisierung des Grundbesitzes hin. Wenngleich dabei der vermehrte Ankauf aus deutscher Hand von der Ansiedlungskommission, die sich durch das geringer werdende Angebot polnischer Güter dazu genötigt sah, mit Sorge und von administrativen Instanzen sogar mit Mißfallen betrachtet wurde, weil die Furcht sich regte, der polnische Großgrundbesitz möge in den kommunalen Körperschaften die Oberhand gewinnen, so tröstete man sich doch damit, daß die Kaufgelder in deutsche Hände übergingen, was freilich auch von einem großen Teile der für polnische Güter gezahlten Summen galt, da hieraus unmittelbar deutsche Hypothekengläubiger, mittelbar deutsche Privatgläubiger befriedigt werden mußten. Immerhin war ohne Zweifel von den 3 5 0 Millionen, die bis 1906 aufgewandt wurden, ein großer Teil in polnischen Händen geblieben, wenn auch nur 11 Millionen in polnischen Banken, und, wie im Abgeordnetenhause am 29. November 1 9 0 7 gesagt wurde, unter anderem verwandt wurden zur Ansiedelung eines kräftigen polnischen Mittelstandes in den Städten. Indessen das eigentliche Übel vom politischen Gesichtspunkt aus wurde dadurch nicht verbessert: die stärkere Vermehrung des polnischen als des deutschen Grundbesitzes! Ein Übel, um so peinlicher, da im Jahre 1886 der Landwirtschaftsminister im Landtage ausgesprochen hatte, daß in den damals zurückliegenden 2 5 Jahren 1862 bis 1 8 8 6 - a u s polnischem Besitz in den deutschen übergegangen waren über 2 2 5 0 0 0 ha; umgekehrt dagegen nur 30 358 ha. Mithin war die Entwicklung vor dem Ansiedlungsgesetz ungemein günstig gewesen, nach dem Ansiedlungsgesetz ungemein ungünstig geworden.

4 adjazenten - svw. (grenz)nachbarlich. 20 in polnischen Banken: Dies wird unterlegt durch die Darstellung in: Zwanzig Jahre 1 9 0 7 : 4 1 f. 21 am 29. November

1907

gesagt wurde:

Rede des Abgeordneten Dr. Porsch, Zentrum

(Porsch 1 9 0 8 : 60). 29 nur 30 3S8 ha: Vgl. Lucius 1 8 8 6 : 6 8 8 ; die Passage der Rede Lucius' wird von Porsch zitiert (vgl. Porsch 1 9 0 8 : 59).

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Innere Kolonisation in Preußen

Die Bildung eines nationalpolnischen Mittelstandes ist zum Teil die Wirkung der deutschen Ansiedlungsgesetzgebung gewesen, mehr unmittelbar die der polnischen Gegenbewegung. Mehr noch als die entsprechende Entwicklung der deutschen städtischen Bevölkerung ist sie auf Kosten der Juden geschehen, die schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in immer steigendem Verhältnis diese Provinzen verlassen haben. Das Vordringen der Polen geschah, wie die im Jahre 1907 vorgelegte Denkschrift der Ansiedlungskommission hervorhebt, fast ausschließlich als Ersatz des Judentums, das in den Städten mit Siedelungsumgebung sich besser erhielt als in den übrigen (Abnahme 1 8 8 5 - 1 9 0 5 , dort kaum 40, hier mehr als 54 v. H.). Da die Juden nicht nur durch ihre Sprache, sondern auch durch ihre Kulturbedürfnisse sich zu den Deutschen hielten, so hätte eine kluge Politik sich die Pflege dieser Bedürfnisse angelegen sein lassen sollen, um das Judentum gerade in den Bezirken, wo die polnische Nationalität am stärksten war oder die größten Fortschritte machte, ein Gegengewicht zu erhalten und zu stärken. Auch hätte dadurch der Anschwellung jüdischer Elemente in den deutschen Städten des Westens, insbesondere in Berlin, gewehrt werden können. Tatsächlich wurde jener neue polnische Mittelstand durch ökonomische Erstarkung und finanzielle Organisation Träger jenes polnischen Gemeinwesens im preußischen Staate. Treffend sagt L. Bernhard, der Entdecker dieses Gemeinwesens: „Jeder hat den Feind, den er sich erzieht, und man kann darüber nicht im Zweifel sein, daß Preußen die Kräfte und Schwächen im Polentum oft falsch bewertet und infolgedessen falsch lenkt". Nach der erwähnten Denkschrift der Ansiedlungskommission aus dem Jahre 1907 legte diese großes Gewicht auf die Förderung der bis dahin bei so stark vorherrschendem Großgrundbesitz - verkümmerten Städte, wofür die bäuerliche Umgebung bekanntlich sehr viel bessere Mittel darbietet. Tatsächlich seien durch die Siedlung die kleineren und mittleren Städte in den bisherigen Großgrundbesitzbezirken aus vieljähriger Ruhe zu frischem wirtschaftlichen Leben erweckt worden. Diese Tatsache werde besonders klar durch Vergleich mit den gerade entgegengesetzten Entwicklungstendenzen in den von der Siedlung noch nicht oder wenig be-

n hier mehr als 54 v. H.: Vgl. die tabellarische Angabe in: Zwanzig Jahre 1 9 0 7 : 2 6 2 und 269. 15 ein Gegengewicht

- lies: als ein Gegengewicht.

24 „... im Polentum oft falsch bewertet und infolgedessen falsch lenkt": Im Original heißt es leicht abweichend: „... des Polentums . . . " (Bernhard 1 9 0 7 : 673).

15

Innere Kolonisation in Preußen

rührten Städten, da das Handwerk in diesen zugleich gelähmt und polonisiert worden sei. Die Polen rückten hier in die leeren Stellen der deutschen Abwanderung ein. Dagegen sei die Zunahme des deutschen Handwerkerstandes in den Ansiedlungsstädten zum ganz überwiegenden Teil zunächst auf die Tätigkeit der Ansiedlungskommission, die Errichtung der neuen Dörfer, zurückzuführen. Auch nach Abschluß der ersten Kolonisation bleibe die Zahl der deutschen Handwerker stark im Steigen; der größte Teil behalte durch das der Kolonisation folgende Wachstum der Städte dauernd ausreichende Erwerbsgelegenheit. Das Soll der Einkommensteuer wuchs in den Ansiedlungsstädten 1 9 0 0 - 1 9 0 5 um 1 8 % % , in den Nichtansiedlungsstädten nur um 9 % % , ebenso das der Gebäudesteuer dort um 1 5 , 6 % , hier nur um 7 , 3 % . Dem entspreche auch die Zunahme

der Einwohnerzahl, wenn auch hier die fortwährend starke Abwanderung der Juden zuungunsten der deutschsprechenden gewirkt habe, die aber wiederum in den Nichtansiedlerstädten bedeutender sei ( 1 8 8 5 - 1 9 0 5 dort 54*4 % , hier 39Vi %). Hingegen ist die evangelische Bevölkerung seit 1900 in den Ansiedlungsstädten um 1 8 % gewachsen, während sie in den anderen Städten stagnierte. Im ganzen ist die stetige Abnahme der Bevölkerung in den Ostprovinzen durch die Siedlungstätigkeit gehemmt worden. Sie „verstärkt das Schwergewicht der ländlichen und der kleinstädtischen Bevölkerung gegenüber den rasch anwachsenden Großstädten". Eine Fortsetzung der Siedlungstätigkeit sei in erster Linie rein agrarpolitisch notwendig, sodann aber auch um des nationalpolitischen Zweckes willen. Wenn der Staat seine Hand wegziehe, so sei ein Zusammenbruch zu erwarten - in der bisherigen Weise könne aber der Bedarf an Land nicht mehr gedeckt werden; für den Staat sei es daher dringend geboten, einen Weg zu finden, um den planvollen, nach wirtschaftlich und politisch gesunden Ansichten möglichen Landerwerb auch in Zukunft sicherzustellen.

6 Zunahme

... zurückzuführen:

Vgl. die tabellarische Angabe in: Zwanzig Jahre 1 9 0 7 :

2 6 2 ff.

12 Das Soll wuchs ... hier nur um 7,3%: Vgl. ebd.: 271. 16 hier 39Y2%: Vgl. ebd., 2 6 2 (diese Angaben zitiert Tönnies weiter oben schon einmal).

18 in den anderen Städten stagnierte-. Vgl. ebd. 22 „verstärkt ... gegenüber den rasch anwachsenden

Großstädten":

Vollständig lautet der

Satz: „Die Siedlung verstärkt das Schwergewicht der ländlichen und der kleinstädtischen Bevölkerung gegenüber den rasch anwachsenden Großstädten und ihren kulturellen Gefahren, die heute auf andre Weise noch nicht beschworen sind." (ebd.: 153).

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Innere Kolonisation in Preußen

IV. Der Gesetzentwurf, der die Ansiedlungskommission mit dem Rechte der Enteignung (polnischen Grundbesitzes) ausstattet, stieß auf heftigen Widerstand in beiden Häusern und in der öffentlichen Meinung. Die Enteignung war seit langem ein juristisch und politisch stark umstrittener Gegenstand. Sie wurde allgemein, nach französischem Vorbild, zugelassen aus Gründen des Verkehrs und wichtiger militärischer und hygienischer Zwecke. Theoretisch konnte der Zulassung aus anderen Gründen des allgemeinen Wohles nicht mit guten Gründen gewehrt werden; aber die öffentliche Meinung sträubte sich heftig dagegen. Fürst Bülow erklärte bei Einbringung des Gesetzentwurfs, er habe schwere Bedenken überwinden müssen, aber nach sehr gründlicher Untersuchung habe er kein anderes Mittel gefunden, „um unseren Landerwerb in richtige Bahnen zu lenken und auf dem Gütermarkt unserer Ansiedlungsprovinzen die unbedingt nötige Beruhigung herbeizuführen". Es solle auch das Enteignungsrecht nur für die beiden Provinzen und sogar nur für bestimmte örtlich begrenzte Gebiete gelten, und vor der Festsetzung solle ein Ausschuß von unabhängigen Vertrauensmännern, die mit den Verhältnissen genau bekannt seien, gehört werden. Nur dasjenige Land wolle man gegen volle Entschädigung für den Staat gewinnen, das für ein bestimmtes Ansiedlungsunternehmen notwendig gebraucht werde, „nur zur Verteidigung des Deutschtums solle diese scharfe Waffe gebraucht werden". Nicht von deutscher, sondern von polnischer Seite werde eine Verdrängungspolitik getrieben in stiller unauffälliger, aber desto wirksamerer Weise. Die Versöhnungspolitik sei vom preußischen Staat aus seit 1815 immer von neuem, zuletzt 1891/94 verl

Gesetzentwurf:

Vgl. Entwurf eines Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des Deutsch-

tums in den Provinzen Westpreußen und Posen vom 2 3 . November 1 9 0 7 (Sammlung der Drucksachen 1 9 0 7 / 0 8 : 6 0 - 8 8 ) . 15 „ . . . nötige Beruhigung 19 ein Ausschuß

herbeizuführen"-.

Vgl. Bülow 1 9 0 8 : 17.

... gehört werden: Vgl. ebd.: 18.

22 „nur zur Verteidigung...

solle diese scharfe Waffe gebraucht werden ": Tönnies zitiert hier

recht frei. Die Stelle heißt bei Bülow: „Es soll niemandem sein Grundbesitz genommen werden, weil er Pole ist, sondern wir werden nur dasjenige Land gegen volle Entschädigung uns aneignen, das wir für ein bestimmtes Ansiedlungsunternehmen notwenig brauchen. ... Wir werden die scharfe Waffe der Enteignung nicht zum Angriff, sondern nur zur Verteidigung

des Deutschtums gebrauchen." (ebd.).

24 desto wirksamerer

Weise: Vgl. ebd.: 19: „Nicht von deutscher, sondern von polnischer

Seite wird eine Verdrängungspolitik betrieben in stiller unauffälliger, aber desto wirksamerer Weise.".

17

Innere Kolonisation in Preußen

sucht worden, aber immer wieder an dem hartnäckigen allerschärfsten Widerstand der Polen gescheitert. Zu offener Opposition erhob sich mit anderen Vertretern seiner Klasse Graf v. Mirbach-Sorquitten, der erklärte, in der Denkschrift über die 2 0 Jahre der Kulturarbeit fände sich nur die Kreditseite dargestellt, und bei einem Aufwände von mehr als V3 Milliarde sei freilich eine ganz hübsche Kolonisation erreicht worden; man vermisse aber die Debetseite, diese liege einmal in dem Zusammenschweißen der polnischen Bevölkerung durch die Ankäufe, in der Stärkung der polnischen Bewegung und vor allem in der wirtschaftlichen Sanierung der Polen. Die Kommission des Herrenhauses wollte die Enteignung auf eine geringe Anzahl von Gütern ohne lokale Begrenzung einschränken. Der Vertreter der Universität Berlin im Herrenhause, Gustav Schmoller, sprach von „einer gewissen" Enteignung und meinte, die Drohung werde wohl schon genügen, er hoffe und erwarte, daß die Enteignung gar nicht oft angewandt werde, und daß die künftige Versöhnung durch eine günstige wirtschaftliche Entwicklung, durch den zunehmenden Wohlstand der Polen werde erleichtert werden. W o ein so häufiger Besitzwechsel herrsche wie in den preußischen Rittergütern, da solche im Durchschnitt nicht über 11 bis 12 Jahre im gleichen Besitze blieben, da bedeute es nicht viel, wenn in Posen der Staat ein paar Güter zwangsweise kaufe und den Besitzer voll entschädige. Gegen die grundsätzlichen Bedenken wies schon in am 29. November 1 9 0 7 ein gelehrter Abgeordneter England durch die damals noch nicht zum Gesetz Holdings and Allotments Bill" den Grafschaftsräten 2 Versöhnungspolitik

der ersten Beratung darauf hin, daß in gewordene „Small das Recht gegeben

... gescheitert-. Eine solche Passage ist im zitierten Redetext nicht zu

finden. Sie findet sich in der Debattenrede des Preußischen Landwirtschaftsministers Bernd von Arnim-Criewen ( 1 9 0 8 : 4 6 f.). 4 Denkschrift

über die 20 Jahre der Kulturarbeit: vgl. Mirbach-Sorquitten ( 1 9 0 8 : 53): „Die

Denkschrift einer 20jährigen Tätigkeit deutscher Kolonisation enthält nur die Kreditseite. Daß mit etwa einer Drittel Milliarde eine ganz hübsche Kolonisation zum Teil wenigstens erreicht worden ist, das ist selbstverständlich; es wäre wirklich ein Kunststück, das nicht mit solcher Summe zu erreichen. Aber, meine Herren, vermißt habe ich bei der Lektüre der sehr interessanten Denkschrift die Debetseite, die meines Erachtens weit stärker belastet ist. Das Debet

liegt einmal in dem Zusammenschweißen

durch die Ankäufe,

in der Stärkung der polnischen Bewegung

in der wirtschaftlichen 12 Gustav Schmoller.

Sanierung der

der polnischen

Bevölkerung

und dann vor allen

Dingen

Polen.".

Vgl. Schmoller 1 9 0 8 .

25 Allotments Bill: D. i. Small Holdings and Allotments Act, 1 9 0 7 (7 Edw, Ch 54); das Gesetz trat am 1. 1. 1 9 0 8 in Kraft.

18

Innere Kolonisation in Preußen

wurde, wenn beim Landerwerb keine gütliche Vereinbarung erzielt würde, das Enteignungsverfahren im weitesten Sinne als Zwangsenteignung oder zwangsweise Pacht anzuwenden. Gesetz wurde diese Bestimmung mit der Änderung, daß über jede vom Grafschaftsrat beantragte Zwangsenteignung der Landwirtschaftsminister endgültig zu entscheiden habe, und daß ein einziger Schiedsrichter (oder bei Pachtungen Taxator) die Entschädigungssumme festzusetzen habe. Im Irrtum war aber der Abgeordnete, wenn er meinte, es sei der erste Fall in dem „liberalen Musterlande". Vielmehr war schon in dem Allotments Act von 1887 und dem entsprechenden von 1892 für Schottland die Einleitung des EnteignungsVerfahrens „vorbehaltlich der Genehmigung des Parlaments" zugelassen worden. Die Befugnis zur Enteignung von polnischem Grundbesitz ist im Jahre 1912 zum ersten Male angewandt worden. Es wurden drei Rittergüter und ein Landgut mit insgesamt 1 656 ha enteignet; der durchschnittliche Preis betrug für ein Hektar 1 8 96 Mark, während im selben Jahr im freien Grundstücksverkehr 1 856 Mark für ein Hektar bezahlt wurden. Im Prozeßwege suchten die Enteigneten die Festsetzung eines noch höheren Preises zu erreichen. Wiederholt worden ist das Enteignungsverfahren nicht. Nach Ausbruch des großen Krieges war die Anwendung ausgeschlossen.

V. Eine hohe und schwere Aufgabe lag der Ansiedlungskommission wie im allgemeinen, so besonders bei Auswahl geeigneter Ansiedler unter den Bewerbern und also bei Heranziehung von Bewerbern ob. Die Zahl der Bewerber war ja nach obwaltenden Verhältnissen verschieden groß, im Anfange am größten. Um Heranziehung und Einladung hat die Kommission in den ersten 10 Jahren ihrer Tätigkeit sich kaum gekümmert. Aber das Bedürfnis machte sich geltend, den Bewerberkreis auf Leute einzuschränken, die aus dem eigentlichen Bauernstand oder aus der ländlichen 3 zwangsweise

Pacht anzuwenden:

So der national-liberale Abgeordnete Dr. Friedberg

(1908: 78). 8 liberalen Musterlande:

Vgl. ebd.

9 Act von 1887: Vgl. 5 0 & 51 Vict, CK 4 8 . 10 entsprechenden

von 1892 für Schottland: Vgl. Allotments (Scotland) Act, 1 8 9 2 (55 &C 56

Vict, Ch 54). 16 Mark für einen Hektar bezahlt: Vgl. zu den Zahlen die „Berichtigung" (hier auf S. 4), die Tönnies seinem Text voraus stellte.

Innere Kolonisation in Preußen

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Arbeiterbevölkerung hervorgegangen und darin verblieben waren oder dahin zurückzukehren wünschten (Denkschrift S. 66). Im Anfange „bestürmten schiffbrüchige Existenzen, Grundstücksspekulanten und Angehörige von Gesellschaftsschichten, die der körperlichen Arbeit ungewohnt sind, in großer Zahl" die Kommission mit ihren Anträgen. Die Sichtung ist allmählich immer erfolgreicher gewesen. „Die meisten Ansiedlungen sind aus Angehörigen verschiedener deutscher Stämme zusammengesetzt. Diese Mischung hat ihre Entwicklung gefördert. In landsmannschaftlich geschlossenen Ansiedlungen besteht die Gefahr, daß die Ansiedler zu eigensinnig bei ihren heimischen Gewohnheiten verharren und versauern" (das. S. 67). Die besten Erfahrungen machte man mit den West- und Süddeutschen. Sie brachten in die neue Heimat die fortgeschrittene landwirtschaftliche Betriebsform, überlegene Intelligenz, eine Summe von Kenntnissen und Erfahrungen im Ackerbau und in der Viehzucht, starken wirtschaftlichen Sinn, eine gehobene Kultur und einen gewissen Wohlstand mit. Nächst ihnen waren die Rückwanderer aus Rußland willkommen, die sich als bildungsfähig erwiesen und in den ländlichen Fortbildungsschulen große Lernbegierde zeigten. Sie hatten ihre deutsche Sprache und Gesittung bewahrt und verließen das Wolgagebiet nur unter dem Drucke zunehmender Feindseligkeit der russischen Behörden. Sie wurden als deutsche Volksangehörige mit ihrer freien Einwilligung festgehalten auf einem Wege, der sie sonst über den Ozean in eine ungewisse Zukunft entführt hätte. Die aus den Ansiedlungsprovinzen selbst hervorgegangenen Siedler zeigten sich, zumal in den ersten Jahren, nicht besonders tauglich, wenn auch ihre Anspruchlosigkeit und Zähigkeit sie zum Anbau der ärmeren Böden geschickt erscheinen ließ. Immerhin stammte von den bis Ende 1906 angesetzten 11 957 Männern ungefähr der vierte Teil aus Westpreußen und Posen, ein anderes Viertel aus den benachbarten preußischen Ostprovinzen, Ostpreußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Sachsen; rund 3 / i o stammten aus dem übrigen Deutschland und etwas mehr als Vs aus dem Auslande, besonders aus Rußland. Die eingetretenen Veränderungen werden durch folgende Ziffern beleuchtet: 2 (Denkschrift

S. 66): Vgl. Zwanzig Jahre 1 9 0 7 : 6 6 .

5 die Kommission

mit ihren Anträgen:

Vgl. ebd.

32 besonders aus Rußland: Vgl. ebd.: 6 8 . 33 durch folgende

Ziffern

beleuchtet:

Tönnies errechnete diese Zahlen nach einer Tabelle

(siehe ebd.: 2 0 1 ) , in der die Siedler nach Ansiedlungsjahr und Herkunft aufgeführt werden. In der Quelle sind die Ziffern nach eingetretenen Besitzwechseln korrigiert, so dass in

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Innere Kolonisation in Preußen

Im ersten Jahrfünft (1886/90) stammten von 690 Ansiedlern aus Westpreußen und Posen 333 = 484 den übrigen Ostprovinzen 215 = 311 dem übrigen Deutschland 106 = 153 Rußland (Rückwanderer) 36 = 52

Im letzten (1902/6) von 7 262 v. Tausend, „ „ , „ „ , „ „

1 204 1 785 2163 2134

= = = =

165 v.Tausend, 244 „ 297 „ 293 „

Absolut haben also alle Kategorien bedeutend zugenommen, aber relativ am stärksten die der Rückwanderer, demnächst die der West- und Süddeutschen, während der Anteil der Einheimischen stark vermindert wurde, der Anteil der benachbarten Einwohner der ostelbischen Länder und der Provinz Sachsen gleichfalls geringer wurde, wenn auch nicht um sehr vieles. Keinen Grund hat es, wenn man die Gewinnung von Ansiedlern aus dem Westen und Süden des Deutschen Reiches auffallend gefunden hat. Sie war auch ohne die politische Tendenz durchaus natürlich und hielt sich in bescheidenen Grenzen. Im ganzen waren 1 8 8 6 - 1 9 0 7 1 671 Männer aus dem außerpreußischen Deutschland angesiedelt worden, die man mit Einschluß ihrer Familien auf 8 300 Köpfe schätzen mag. Welche Gebiete diese kleine Menge geliefert haben, ist aus den Berichten nicht erkennbar. Man darf vermuten, daß besonders Württemberg, das Land des stark parzellierten Grundbesitzes beteiligt gewesen ist. Schon seit 1850 war Württemberg ein Land sehr bedeutender überseeischer Auswanderung - gerade die fortgesetzte Unterteilung des Bodens machte diese notwendig, da die Bevölkerung unausgesetzt darüber hinauswuchs. Noch in den Jahren 1 8 7 1 - 1 8 9 5 hat Württemberg durch überseeische Auswanderung mehr als 126 000,

einigen wenigen Fällen dort negative Zahlen auftauchen. Tönnies hat dies übersehen und die negativen Zahlen bei der Bildung von Spaltensummen nicht substrahiert, sondern addiert. Die Additionsfehler liegen im gravierendsten Fall in der Größenordnung von 2 Promille. Zudem unterliefen Tönnies einige ähnlich insignifikante Zählungs-, Rechen- und Rundungsfehler. Die Schlussfolgerungen Tönnies' sind davon nicht betroffen. 15 1671 Männer: Vgl. Zwanzig Jahre 1907: 201. 24 Württemberg: Die Auswandererzahlen sind nachgewiesen im „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich", 1881, 2. Jg. (dort findet sich eine zusammenfassende Tabelle für die Jahre 1871-1879) bis 1896, 17. Jg. Es finden sich in den Bänden jeweils tabellarische Zusammenstellungen zur „überseeischen Auswanderung" im Kapitel II, „Bewegung der Bevölkerung". Eine Aufschlüsselung nach Geschlecht wurde nur für die Auswandererjahrgänge 1879 und 1880 ausgewiesen. In den statistischen Jahrbüchern wird jeweils darauf hingewiesen, dass die Zahlen besonders für den west- und süddeutschen Raum nach unten abweichen dürften, da einige ausländische Auswandererhäfen (vor allem das französische Le Havre) nicht mit erhoben werden konnten. - Wie Tönnies zu seinen Zahlenangaben kommt, konnte nicht ermittelt werden.

Innere Kolonisation in Preußen

21

davon fast 71 000 männliche Einwohner verloren, also im Durchschnitt jährlich 8 042 (2 838). Man vergleiche damit die 8 300 Menschen, die in 25 Jahren nicht aus Württemberg allein, sondern aus sämtlichen nichtpreußischen (auch nord- und mitteldeutschen) Ländern in die beiden Ostprovinzen übersiedelten - es sind im Durchschnitt 360, die Ansiedler selber im Durchschnitt nur 66 - ; selbst wenn diese sämtlich Württemberger gewesen wären (was natürlich ausgeschlossen ist), so wäre es eine verschwindende Zahl, sogar im Vergleich zu der stark verminderten Zahl der überseeischen Auswanderer in den Folgejahren, da diese 1 8 9 6 - 1 9 0 5 im Durchschnitt noch jährlich 1 368, davon 712 männliche, betrug. Sie verminderte sich weiter, bis sie 1909 nur noch 808 (482) zählte. Warum verminderte sie sich in dieser ganzen Epoche? Ganz offenbar und zweifellos, weil im Deutschen Reiche selber ausreichende Gelegenheit vorhanden war, zu Brot und Erwerb, ja auch zu Grundbesitz zu gelangen - ; eine solche Gelegenheit war es eben, die in Westpreußen und in Posen sich darbot. Nur völlige Unkenntnis der Tatsachen kann meinen, daß es besonderer Künste bedurft hätte, um diese Ansiedler heranzuziehen. Was die Ansiedlungskommission selber ihre Propaganda nennt, war nichts als das Bekanntmachen und Herausstreichen dieser guten Gelegenheiten, von denen der Landbewohner in ferner Gegend nichts oder wenig wußte; in der Tat war es verführerisch für einen jungen Bauernsohn, der sonst vielleicht einen winzigen und belasteten Betrieb geerbt hätte, mit erheblicher Staatsunterstützung ein stattliches Eigentum zu erwerben. Sicherlich hat die Denkschrift „20 Jahre" guten Grund, zu behaupten, daß die Propaganda nicht in dem Maße ergiebig gewesen wäre, wie es seit 1902 der Fall gewesen sei, wenn sie nicht durch die günstigen Nachrichten, die von den Ansiedlern in die alte Heimat gelangten, fortdauernd und wirksam unterstützt worden wäre. Bei Beratung dieser Verhältnisse darf man nicht vergessen, daß die Tätigkeit der Ansiedlungskommission auch in Posen und Westpreußen nur einen Teil der daselbst betriebenen inneren Kolonisation ausmachte. Die 2 jährlich 8042: 10 jährlich 1368:

Richtig: jährlich 6 0 4 2 . Nach den Angaben im „Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich"

(18. 1 8 9 7 - 3 1 . 1 9 1 0 ) lag die durchschnittliche Zahl der überseeischen Auswanderer für die Jahre 1 8 9 6 - 1 9 0 9 bei 1 2 9 9 Personen. In diesen Zahlen sind erst ab 1 9 0 0 auch über ausländische Häfen Auswandernde berücksichtigt. n

bis 1909 nur noch 808: Vgl. „Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich" 1 9 1 0 : 31, eine Aufschlüsselung nach Geschlecht ist dort nicht vorgenommen.

28 daß die Propaganda

... wirksam unterstützt worden wäre: Vgl. Zwanzig Jahre 1 9 0 7 : 6 9 .

22

Innere Kolonisation in Preußen

vom Staate zwar nicht geleitete, aber geförderte und durch seine Generalkommissionen vermittelte Bildung von Rentengütern nach den Gesetzen von 1890 und 1891 geschah auch in den Provinzen Westpreußen und Posen, und zwar einige Jahre hindurch in einer Weise, die den Zwecken der Ansiedlungskommission insofern entgegenwirkte, als sie auch zugunsten von polnischen Bauern und Arbeitern wirksam war. Es waren (außer den von der Ansiedlungskommission unmittelbar ausgegebenen Rentengütern, die davon durchaus unterschieden werden müssen) bis zum Ende des Jahres 1907 in Westpreußen 3 225, in Posen 1 642 auf Grund der genannten Gesetze begründet worden. Man darf auch nicht vergessen, daß die zur Führung selbständiger bäuerlicher Betriebe tauglichen und durch Vermögen und Kredit fähigen Polen in diesen Gebieten dünn gesät waren, wie auch deutsche Bauern inmitten der Großbetriebe des Ostens nicht reichlich vorhanden sind. So war es nach dem englischen Ausdruck a matter of course, daß die Ansiedlungskommission mehr und mehr beflissen war, aus den bäuerlichen Gegenden des westlichen und südlichen Deutschlands die bäuerlichen Siedler heranzuziehen, die auch regelmäßig durch ihre Vermögenslage besser befähigt waren, eine Stelle „anzufassen"; der Nachweis eines Vermögens war insbesondere notwendig, weil die Ansiedler während der „Freijahre" ihre Wohn- und Wirtschaftsgebäude aufführen mußten.

VI. Die ganze Rentengutsgesetzgebung bekam aber - wie schon erwähnt ward - ein ganz anderes Gesicht, als durch einen besonderen Erlaß vom 8. Januar 1907 der Finanz- und der Landwirtschaftsminister es „als mit dem Gesetz vereinbar" erachteten, zu genehmigen, daß bis auf weiteres „derartige Rentengüter bis zu einer Mindestgröße von HV2 a gebildet

3 nach den Gesetzen

von 1890

und 1891:

Vgl. das Gesetz über Rentengüter (Gesetzes-

sammlung 1 8 9 0 : 2 0 9 ) bzw. das Gesetz über die Beförderung der Errichtung von Rentengütern (Gesetzes-Sammlung 1 8 9 1 : 279). 9 bis zum Ende des Jahres 1907: Die folgenden Angaben sind nicht belegt. 25 Erlaß vom 8. Januar 1907: Vgl. Erlass, betreffend Arbeiter-Rentengüter, vom 8. 1. 1 9 0 7 (I C B, 8 7 6 7 II), gezeichnet vom Finanzminister und dem Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten (dokumentiert in Archiv für Innere Kolonisation, 2. 1 9 1 0 : 2 7 5 2 7 8 , hier: 275).

Innere Kolonisation in Preußen

23

würden", und als in der Begründung des gleichzeitigen Gesetzentwurfs „zur Stärkung des Deutschtums" die Erhaltung des deutschen Grundbesitzes für notwendig erklärt wurde, also die Enteignung als das einzige Mittel übrigblieb, in den beiden Provinzen, auch gemäß dem Gesetze von 1886, Rentengüter anzusetzen. Auch die Zulassung von Arbeiterrentengütern war offenbar bestimmt, dem Großbetrieb aufzuhelfen, und ein fernerer Ministerialerlaß vom 19. August 1909, der „Grundsätze" für die Gewährung von Staatsbeihilfen aufstellte, meinte, an erster Stelle betonen zu müssen, der anzusiedelnde Landarbeiter dürfe nicht in ein derartiges Abhängigkeitsverhältnis zu einzelnen Arbeitgebern gebracht werden, daß er sich persönlich oder wirtschaftlich unfrei fühle. Auch Sering hebt hervor, daß „man seit 1 9 0 6 dem Andrängen der Großgrundbesitzer nachgegeben und kreisstandschaftsfähige Restgüter gebildet habe, um auch die oberen Gesellschaftsschichten des Deutschtums zu stärken und im Wahlverbande der größeren ländlichen Grundbesitzer den deutschen Einfluß zu erhalten". Bemerkenswert ist auch die Kritik, die der Gelehrte daran knüpft: „Ob das zuerst erwähnte Ziel nicht zu teuer erkauft wird dadurch, daß man bedeutende Landflächen der deutschen

Bauernschaft entzieht und der polnischen Arbeiterschaft zuwendet, bleibt zum mindesten zweifelhaft. Das zweite hätte, wie oft betont worden ist, auch in der Weise geschehen können, daß man die Virilstimme des Ritter1 des gleichzeitigen

Gesetzentwurfs:

Der Entwurf des „Gesetz über Maßnahmen zur Stär-

kung des Deutschtums in den Provinzen Westpreussen und Posten", des sog. Enteignungsgesetzes, wurde am 8. Januar 1 9 0 7 von der preußischen Staatsregierung eingebracht (Entwurf 1907). Das Gesetz trat am 2 0 . 3. 1908 in Kraft. 2 Erhaltung

des deutschen

Grundbesitzes:

Vgl. den Entwurf ( 1 9 0 7 : 65): „Überall tritt es

zutage, daß sich der polnische Angriff vor allem auf den Grund und Boden richtet. Das beste Verteidigungsmittel des Deutschtums wird daher in Zukunft, wie bisher, die Mehrung und Festigung des deutschen Grundbesitzes sein". 3 Enteignung

als das einzige Mittel: Vgl. ebd. (S. 67): „Nur mit Hilfe des Enteignungsrechts

kann die Ansiedlungskommission die gegründeten Ansiedlungen erweitern und verstärken und zusammenhängende, widerstandsfähige Ansiedlungskomplexe schaffen, nur mit Hilfe des Enteignungsrechts kann sie ihr Werk planmäßig fortführen, das nötige Land erwerben, das sie zur Aufnahme des Ansiedlerzuzuges nötig hat, und auf die Dauer ihrer Aufgabe gerecht werden". 4 Gesetze von 1886:

Gesetz, betreffend die Beförderung deutscher Ansiedlungen in den

Provinzen Westpreußen und Posen, vom 2 6 . 4. 1 8 8 6 (Gesetzes-Sammlung 1 8 8 6 : 131). 7 Ministerialerlaß

vom 19. August 1909: Vgl. die Angaben oben, Anm. zu S. 10, Z . 8; der

Erlass ist auf den 10. 8. 1 9 0 9 datiert. 21 Virilstimme - svw. das Recht von Landeigentümern, mit Einzelstimme und im eigenen Namen in politischen Gremien aufzutreten.

24

Innere Kolonisation in Preußen

guts der neu begründeten Gemeinde übertrug." (Wörterbuch der Volkswirtschaft 3 . 1911.) Die Rentengüter mit einem Areal von weniger als 1 ha, die also am weitesten entfernt waren von der Möglichkeit eines bäuerlichen Betriebes, nehmen nunmehr auch in den Provinzen Westpreußen und Posen erheblich zu; und zwar sowohl solche, die von der Ansiedlungskommission, als die nach den Gesetzen von 1890/91 gebildet wurden. Gleichwohl wurde das nationalpolitische Ziel auch in dieser Hinsicht („nur deutsche Arbeiter auf allen deutschen Gehöften") nicht erreicht. „Wir finden ... auf allen Gütern - Domänen, Fideikommißgüter und Restgüter nicht ausgeschlossen - die polnische Bevölkerung vorherrschend." „Der Pole ist der gegebene Gutsarbeiter" (weil er genügsamer und billiger ist). „Aber auch in den Landgemeinden, selbst den Ansiedlungsgemeinden, wo größere Bauern wohnen, die nicht ohne fremde Hilfe auszukommen vermögen, finden wir einen starken und wachsenden Prozentsatz Polen" (Johann Friedrich „Die nationalpolitische Bedeutung der Ansiedlungskommission" im Archiv für innere Kolonisation VI, 1914, S. 16).

2 Wörterbuch der Volkswirtschaft: Tönnies mischt hier Zitat und Paraphrase. Der Text lautet im Original: „Jedoch hat man seit 1906 dem Andrängen der Großgrundbesitzer nachgegeben und kreisstandschaftsfähige Restgüter gebildet, um auch die oberen Gesellschaftsschichten des Deutschtums zu stärken und im Wahlverbande der größeren ländlichen Grundbesitzer den deutschen Einfluß zu erhalten. Ob das zuerst erwähnte Ziel ..." (Sering 1911: 104 f., Hervorhebung im Zitat durch Tönnies). 7 Gesetzen von 1890/91: Gesetz über Rentengüter (Gesetzes-Sammlung 1890: 209) und Gesetz über die Beförderung der Errichtung von Rentengütern (ebd. 1891: 279). 16 „Die nationalpolitische Bedeutung der Ansiedlungskommission": Der Artikel erschien im Oktober 1913. Die Passage, auf die Tönnies sich bezieht, lautet zusammenhängend: „In dieser Beziehung [Verhältnis der Polen und Deutschen in den Ansiedlungsgemeinden] wird nie ausser Acht gelassen werden dürfen, dass der Pole, insbesondere der polnische Arbeiter, genügsamer ist als der deutsche. Der Pole wird daher in der Regel der billigere Arbeiter sein. Damit ist er der gegebene Gutsarbeiter. Wir finden denn auch auf allen Gütern, Domänen, Fideikommissgüter und Restgüter der A.-K. [Ansiedlungskommission] nicht ausgeschlossen, die polnische Bevölkerung vorherrschend. Aber auch in den Landgemeinden, selbst in den Ansiedlungsgemeinden, wo grössere Bauern wohnen, die nicht ohne fremde Hilfskräfte auszukommen vermögen, finden wir einen starken und stetig wachsenden Prozentsatz Polen. Das Ideal wäre: nur deutsche Arbeiter auf allen deutschen Gehöften!" (Friedrich 1913: 16).

Soziologische Studien und Kritiken Erste Sammlung

Dem Andenken an Paul Barth • August Sturm • Paul Natorp gewidmet

Vorwort Wenn ich mich entschlossen habe, eine Sammlung kleinerer Schriften, die mit einer Ausnahme schon gedruckt waren, herauszugeben, so geschah dies in der Hoffnung auf den von altersher bekannten „wohlwollenden Leser", der aus der Mannigfaltigkeit das auslesen wird, was ihm in irgendeinem Sinne Wert zu haben scheint. Vorangestellt ist der (ungedruckte) erste Entwurf der seit 1912 in weiteren Kreisen bekannt gewordenen Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft", woran die in den späteren Ausgaben nicht wiedergedruckten Vorreden zur 1. und zur 2. Auflage und die überhaupt nur in einer Zeitschrift gedruckte zur 3. und eine (frühere) Selbstanzeige sich anschließen. Auch der Aufsatz „Historismus und Rationalismus" (1894), der ein Bruchstück geblieben ist, gehört in diese Reihe. Von den übrigen Stücken dürfte nur die Folge der Erörterungen über Anwendung der Deszendenztheorie einer Erläuterung bedürfen. Sie ist die abgekürzte Wiedergabe von Besprechungen, die unter dem Titel „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre" in Schmollers Jahrbuch 1 9 0 5 1911 erschienen sind. Ich habe mich bemüht, daraus zu entfernen, was nur die zugrunde liegende Preisfrage und Preiserteilung betraf, und hatte gewünscht, auch die Bezüge auf eine Polemik, die sich zwischen mir und dem

l Vorwort-. Der Band „Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung", 1925 in Jena bei Gustav Fischer erschienen, ist der erste in einer dreibändigen Reihe unter diesem Titel, in der Tönnies vorwiegend schon gedruckte Aufsätze noch einmal, teils überarbeitet, zugänglich machte. Die beiden anderen Bände erschienen im selben Verlag 1926 und 1929 (TG 17 bzw. TG 19). - W o Erstdrucke vorliegen, wurden sie mit der Version im hier vorliegenden Band verglichen; Varianten werden kenntlich gemacht, wenn es sich nicht lediglich um offensichtliche Satzfehler oder um periodentypische orthographische Abweichungen handelt. Vgl. auch die Angaben zu den einzelnen Texten und die ausführlichen Bemerkungen im editorischen Bericht, der sich auf S. 636 anschließt. - Auf der linken Seite gegenüber dem Titelblatt des Buches setzte der Verlag eine ganzseitige Anzeige für die Reihe „Natur und Staat. Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre", mit der Tönnies sich in den „Soziologischen Studien und Kritiken 1" in den Aufsätzen zur „Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung" auseinandersetzt. 15 die abgekürzte Wiedergabe: In den editorischen Anmerkungen zu diesen Texten (vgl. S. 641-693) sind die Kürzungen Tönnies' kenntlich gemacht. Ausgelassene Passagen sind im editorischen Bericht dokumentiert.

28

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ersten Preisträger, Dr. Wilhelm Schallmayer, entspann, zu tilgen. Dies erwies sich aber als untunlich, weil es den Anschein eines Rückzuges getragen hätte, was nicht meiner Meinung entsprach. Anderseits wollte ich nicht, nachdem der Gelehrte, dessen Leistung ich in ihren Grenzen durchaus gelten lasse, verstorben ist, das letzte Wort behalten, das vielmehr in der dritten und (unveränderten) vierten Auflage seines Werkes vorliegt; darauf habe ich nichts entgegnet. Ich mache auch darauf aufmerksam, daß ich über die wichtigen Fragen, die dieser Polemik und überhaupt den Besprechungen unterliegen, nur in bescheidenem Maße meine eigenen Ansichten zur Geltung zu bringen wage, sondern mir nur vorgenommen hatte, demjenigen abwehrend zu begegnen, was mir an unkritischen Begründungen in Schallmayers und Anderer Schriften entgegengetreten war. Der Gegenstand - die Frage der Eugenik - ist so bedeutend, das Interesse für die „Rassenhygiene" hat so stark sich entwickelt und wird durch die gegenwärtigen düsteren Zeitverhältnisse, ebenso wie alle Fragen der sozialen Reform, so unmittelbar aufgenötigt, daß um so mehr die Warnung vor hastigen Verallgemeinerungen und Folgerungen ersprießlich sein dürfte. Wissenschaft ohne Kritik schadet. Ich hoffe bald in der Lage zu sein, eine fernere Sammlung von Studien und Kritiken mitzuteilen, die zur Deutung und Ergänzung meiner mehr als 40jährigen Arbeit im Felde der Soziologie geeignet sein dürfte, wie ich auch von der vorliegenden es erwarte. Die Register sind mit meiner Hilfe von meinen Kindern Carola und Gerrit angefertigt worden. Wenn das Sachregister Mängel hat, so ist es doch besser als kein Register. Ferdinand Tönnies. Kiel, im Oktober 1924. Zitierte Stellen, die im D r u c k h e r v o r g e h o b e n w e r d e n , w ä h r e n d sie in der V o r l a g e es nicht sind, schließe ich in Asterisken ein.

6 vierten Auflage seines Werkes: Schallmayer 1920. 19 eine fernere (TG 19).

Sammlung:

Die zweite Sammlung erschien 1926 (TG 17), die dritte 1 9 2 9

Inhalt I. Gemeinschaft und Gesellschaft. (Theorem der Kultur-Philosophie) Entwurf von 1880/81 Einleitung (Kap. I—III) Schlußbemerkung und Übergang II. Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen Vorrede (der ersten Auflage) 1887 III. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie Vorrede (zur zweiten Auflage) 1912 IV. Gemeinschaft und Gesellschaft Vorrede (zur dritten Auflage) 1919 V. Zur Einleitung in die Soziologie (1899) VI. Herbert Spencers soziologisches Werk (1889) VII. Historismus und Rationalismus I (1894) VIII. Der Soziologen-Kongreß in Paris (1894) IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Erster Teil X. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Zweiter Teil XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Dritter Teil XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Vierter Teil XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Fünfter Teil XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung. Sechster Teil XV. Die Soziologische Gesellschaft in London (1904)

1

16

31 33 67

69 83 85 101 103 113 129 167 197 205 279 321 337 409 427 449

Inhalt-, Das nicht aufgeführte Namenregister zu SSK1 beginnt auf S. 499, das Sachregister aufS. 501. Historismus und Rationalismus I (1894): Richtig ist 1895.

30

Inhalt

XVI. Eugenik (1905) XVII. Das Wesen der Soziologie (1901)

455 477

Druckfehler: S. 321, Überschrift, 1.: der sozialen Entwicklung statt des sozialen Lebens.

2

(1901): Die hier und bei den obigen Titeln in Klammern gesetzten Erstveröffentlichungsdaten sind keine Bestandteile der Überschriften. Auf andere Abweichungen der Überschriften im Textteil vom Inhaltsverzeichnis wird am entsprechenden Ort hingewiesen.

3

Druckfehler: korrigiert.

Der bezeichnete Druckfehler wurde im Text entsprechend Tönnies' Angabe

I. Gemeinschaft und Gesellschaft (Theorem der Kultur-Philosophie) Entwurf von 1880/81

Einleitung (Kap. I—III) I.

Finis in scientiis unicus est, ad quem omnes sunt dirigendae. Spin. 1. Die Erörterung, deren einleitende Kapitel hier vorgelegt werden, bezieht sich auf die Tatsachen des menschlichen Zusammenlebens. Wir haben Kunde von solchen Tatsachen: teils aus der Vergangenheit, teils aus der Gegenwart oder der uns umgebenden Wirklichkeit. Der Begriff der Geschichte pflegt auf die erstere beschränkt zu werden; ohne daß aber dies Merkmal mit Strenge festgehalten würde. In der Tat scheint es kaum möglich, eine Grenzlinie zu ziehen; denn was ist gegenwärtig? der verrinnende Augenblick; und indem ich ihn denke, ist er schon in der Vergangenheit. Ihr gehört alles an, was in der Erfahrung als Ereignis enthalten ist. Dennoch hat jene Unterscheidung einen Sinn: wenn sie nämlich nicht auf Ereignisse, sondern auf Zustände bezogen wird, d. h. auf die bleibenden Bedingungen gleichartig sich wiederholender Ereignisse. Demnach reden wir von gegenwärtigen Zuständen, wenn wir glauben erwarten zu dürfen, daß gewisse Ereignisse bis in unbestimmte Zukunft unserer Beobachtung, i Einleitung (Kap. I-III): Das Manuskript dieses Textes, der nach Tönnies' Angabe (vgl. das Vorwort zum vorliegenden Band der „Soziologischen Studien und Kritiken", oben S. 27) in diesem Sammelband 1925 erstmals veröffentlicht wurde, liegt im Nachlass Tönnies' vor (Schiewig-Holsteinische Landesbibliothek, Signatur: Cb54.32:1.02; 75 paginierte Seiten, doppelseitig in flüssiger Handschrift auf Blätter von ca. A5-Format geschrieben. Die Blätter, die zum Teil noch in Bögen zusammenhängen, sind etwa hälftig in Text und Korrekturrand geteilt); im folgenden: A. - Ein Abdruck des Textes erschien im gleichen Jahre in den „Kant-Studien" (Tönnies 1925a); in einer Anmerkung der Redaktion wird auf den Erstdruck in den „Soziologischen Studien und Kritiken" verwiesen: „Dieser Aufsatz ist der erste, aus dem Jahre 1880 stammende, Entwurf zu Tönnies' 1887 erschienenen Schrift,Gemeinschaft und Gesellschaft'. . . . " (ebd.: 147). Diese Textvariante wird im Folgenden mit B gekennzeichnet. 4 Spin.: „Die Wissenschaften haben nur ein Ziel, auf das hin sie alle ausgerichtet sind." (Spinoza 1844: 11 Fn. [16]); dies bezieht sich im Haupttext auf das Ziel der Vervollkommnung des Menschen. - In B heißt das Motto fehlerhaft: „Finis in scientiis unitas est, ad quam omnes sunt dirigendae.". J Kapitel hier vorgelegt werden: In A-. Kapitel ich hiermit vorlege.

34

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

unter sonst günstigen Umständen, jederzeit sich darbieten werden. Und unter vergangenen Zuständen sind also solche zu verstehen, welche ehemals, in einer gewissen Zeitdauer, Bedingungen solcher gleichartiger Ereignisse gewesen sind, von denen angenommen wird, daß sie in dieser Art jetzt nicht mehr geschehen, so daß sie der Beobachtung unzugänglich sind. Nun kann man mit gutem Grunde leugnen, daß es überhaupt solche bleibenden Bedingungen und gleichartige Ereignisse gebe: nichts sei bleibend, sondern alles in fortwährender Veränderung, kein Ereignis sei dem anderen gleich, sondern jedes neu und verschieden. Ich sage: mit gutem Grunde, weil ich den Einwand in seinen beiden Teilen als richtig anerkenne, jener Betrachtung gegenüber, welche das Ruhende und Gleichmäßige der Begriffe auf die Wirklichkeit überträgt, deren Erkenntnis in der Tat eben dadurch immer genauer wird, daß sie der Auflösung des scheinbar Ruhenden in Bewegung, des scheinbar Gleichen in Verschiedenes immer weitere Grenzen setzt; während zugleich freilich immer umfassendere und einfachere Formeln als Ausdrücke für das Verhalten der Erscheinungen gefunden, und die qualitativen Verschiedenheiten immer mehr auf die quantitative der Zusammensetzung aus endlich gleich zu denkenden Elementen zurückgeführt werden; welche Tendenzen doch nicht mit den zuvor erwähnten in Widerspruch stehen. Im Angesichte dieser ist es notwendig, daß unser Denken die Begriffe nach der Wirklichkeit umbiege, es muß ihren absoluten und gegenständlichen Sinn, mit dem behaftet die Sprache und die in ihr ausgeprägte, uns natürliche Denkungsart sie überliefert, zerstören und einen relativen und subjektiven als den der Wissenschaft angemessenen herstellen; die Versuche, welche dahin zielen, bezeichnen den langen und schwierigen Weg von den Anfängen der naiven bis zur (ideellen) Vollendung der kritischen Betrachtung - in der Entwicklung der Einzelnen, der Völker und der Menschheit. Hiernach unser Bestreben richtend, werden wir also Tatsachen als bleibend (dauernd, ruhend, zuständlich) bezeichnen, im Vergleich zu anderen, insofern als gewisse Veränderungen, welche wir an diesen finden, an jenen nicht vorkommen, oder nur in soviel schwächerem Maße, daß wir sie nicht beachten wollen, und als wir auf andere Veränderungen gleichfalls keine Rücksicht nehmen wollen, ob wir es können oder nicht. Mit derselben Beschränkung nennen wir Dinge und Ereignisse gleich, nämlich immer mit bestimmter Beziehung auf andere, die wir dann in dieser Hinsicht verschieden nennen (während sie in anderer selber gleich heißen möchten). Dieser Kautelen bedarf alle Begriffsbildung, aber ganz besonders bei der Auffassung menschlicher Verhältnisse, deren Wechsel um so rascher und deren

I. Gemeinschaft und Gesellschaft (Theorem der Kultur-Philosophie)

35

Mannigfaltigkeit um so grenzenloser sich darstellt, als wir sie nicht bloß von außen, sondern auch von innen her, durch unser Selbstbewußtsein, zu erkennen und zu beurteilen vermögen. - Wenn wir also von einem gewissen Rechts-Zustande, bei einem gewissen Volke, sprechen, obwohl wir wissen, daß fortwährend die Abschaffung alter und die Einführung neuer Gesetze stattfindet, so meinen wir, daß nur die Masse der bleibenden Gesetze betrachtet werden solle, welche aber nur insofern bleiben, als sie, der Regel nach, bei gleichen Fällen gleichmäßig angewandt werden; wo aber wiederum die Begriffe »gleich« und »gleichmäßig« durch jenes Salzkorn gewürzt werden müssen, damit man sie richtig verstehe. 2. Nun sind die Zustände der Menschen, in solcher Bedeutung genommen, vielen verschiedenen Wissenschaften anheimgefallen, und zwar zwei verschiedenen Klassen, je nachdem es um vergangene oder um gegenwärtige sich handelt. Denn hier pflegt wirklich der Begriff der Geschichte auf jene eingeschränkt zu werden, und die Disziplinen, welche sich auf sie beziehen, fassen sich als Kultur-Geschichte zusammen; solcher ist aber eine nicht geringe Zahl, als: Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sitten*, Kunst-, Religions-, Literaturgeschichte, Geschichte der Philosophie und der einzelnen Wissenschaften, bis hinab auf die Geschichte der Geschichtschreibung und Geschichtforschung. Gegenwärtige Zustände aber werden behandelt, wenn auch nicht nach durchgeführter Arbeitsteilung, sondern in willkürlichen Grenzen - in den Gebieten der Anthropologie, der Ethnographie und Ethnologie, der vergleichenden Rechtswissenschaft, der Politik, politischer Ökonomie und Statistik, insbesondere in Moral- und Sozialstatistik usw. 1 . - Nun hat offenbar diese Trennung der Behandlung des Vergangenen und des Gegenwärtigen keine innere Bedeutung, sondern ist beinahe zufällig: die Untersuchungen, welche das Gegenwärtige angehen, sind jüngeren Ursprungs, und sind unabhängig von ihren historischen Verwandten aufgetreten. Aus anderen Ursachen ist es gekommen, daß die historischen Disziplinen noch jetzt vielfach ihre Aufgaben in Erforschung und Beschreibung des Tatsächlichen für erschöpft halten, und Erkenntnis des ursächlichen Zusammenhanges nicht als ihren Endzweck anerkennen, während einige der anderen Wissenschaften darunter leiden, daß in ihnen die Trennung rein begrifflichen oder ideellen Inhalts von dem

1

Da der Name »Statistik« durch Mißbrauch dazu gekommen ist, bloß eine (selber viel mißbrauchte) Methode zu bezeichnen, so empfiehlt es sich, für die beiden Stücke des Begriffs nach dem Vorgange französischer Schriftsteller die Ausdrücke: Demographie und Demologie einzuführen, oder verdeutscht: »Volksbeschreibung« und »Volkswissenschaft«.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

auf Erfahrung der Wirklichkeit beruhenden nicht in gehöriger Weise ist vollzogen worden. Was nun diese empirische Seite angeht, in bezug auf welche sie mit den historischen übereinkommen, so mag zwar, solange es sich um bloße Beschreibung handelt, die Arbeit in beliebiger Weise verteilt werden; nur würde es gut sein, wenn das Zusammenwirken anstatt eines zufälligen und blinden, ein absichtliches und planmäßiges werden möchte. Diejenige Betrachtung aber, welche die ursächlichen Zusammenhänge finden und darstellen will, muß jene zeitliche Scheidung als unangemessen empfinden, und darf sich nur eine gegenständliche gefallen lassen, da auf jedem Gebiete das Vergangene nur mit Hilfe des Gegenwärtigen verstanden, und dieses nur aus jenem erklärt werden kann. So ist auch Zoologie eine Wissenschaft, welche auf fossile Tiere so gut als auf die jetzt vorhandenen Arten sich richtet; und Geologie vermag die Veränderungen, die der Erdkörper in unvordenklicher Zeit erlitt, nur zu begreifen, indem sie annimmt, daß dieselben unter ähnlichen Bedingungen allmählich geworden sind, als sich bei gegenwärtigen Veränderungen beobachten lassen. In Wirklichkeit ist nun auch in jenen anderen Wissenschaften - die man, äußerlich zusammengefaßt, den Naturwissenschaften, mit analoger Wortbildung, als Kulturwissenschaften gegenüberstellen darf 2 - in neuerer Zeit das Bestreben deutlich erkennbar, so sich auszubilden, daß jede ihren Gegenstand als eine empirische Einheit zu begreifen und zu bearbeiten sucht. So tut es bereits die vergleichende Sprachwissenschaft, und die Wissenschaften von Religion und Recht beginnen, auf ihrem Wege zu folgen. 3. Wie verhält sich nun Philosophie zu diesen Wissenschaften? wie verhält sie sich zu Wissenschaften überhaupt? Bei aller Vielfachheit der Ansichten über Zweck und Wert der Philosophie scheint doch ein Gedanke fest im Mittelpunkte stehen zu bleiben: der nämlich, daß Philosophie eine Weltanschauung hervorbringen und darstellen solle, und daß darunter eine zusammenhängende und widerspruchlose Einheit von klaren und deutlichen Begriffen und fest begründeten Urteilen zu verstehen sei; sei es nun, daß deren Ursprung (ganz oder zum Teil) aus den Formen der denkenden Vernunft selber, oder bloß aus vernünftiger Betrachtung der Erfahrung hergeleitet werde. Jedenfalls wird es auch nicht als Erfordernis einer Weltanschauung angesehen, daß sie alle möglichen Einsichten, oder

2

Denn dies ist ein wahrer Gegensatz (Natur und Kultur), während der andere: Natur und Geist, falsch, oder wenigstens durch viele falsche Assoziationen im Laufe der Zeit verdorben ist.

I. Gemeinschaft und Gesellschaft (Theorem der Kultur-Philosophie)

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die Ergebnisse aller wirklichen Wissenschaften in sich enthalte; sie wäre dann längst unmöglich geworden. Sondern sie soll eine Auslese treffen unter den Problemen sowohl als unter Resultaten, und dasjenige in sich aufnehmen oder erforschen, was ihr in besonderer Weise wissenswürdig erscheint; in besonderer Weise, d. h. zu einem besonderen Zwecke. Und dieser Zweck ist nicht nur die Einheit, so daß ihr Inhalt bloß durch die Fassungskraft eines menschlichen Verstandes als solchen begrenzt wäre; sondern ich meine einen richtigen Begriff der Philosophie aufzustellen, wenn ich sage, daß ihr eigentliches Ziel, nach welchem sie alle ihre Bemühungen zu richten habe, nicht theoretischer, sondern durchaus praktischer Natur, daß es die Begründung eines Lebens-Ideals sei, welches der Philosoph für sich und für alle, die seine Schätzung des Lebens teilen, gültig und verbindlich erklärt. Dieser Begriff wird ein richtiger genannt, insofern als er durch altüberliefertes Einverständnis der Sprache beglaubigt wird; wenigstens von seinem Hauptmerkmal darf dies behauptet werden 3 . Wenn 3

Jedoch würden vermutlich die Philosophen selber Einspruch dagegen erheben, daß die Gültigkeit ihres Ideals in so enge Grenzen eingeschränkt wurde, denn beinahe jeder pflegt für seine Gedanken, wenn nicht die Katholizität des Christentums oder des Islam, so doch allgemeine Anerkennung und Aufnahme innerhalb seiner Nation, zu verlangen. Freilich vergeblich, denn das Eine ist noch Keinem (es sei denn eine Annäherung dahin im Zusammenhange mit religiösen Elementen), das Andere doch auch nur Vereinzelten zu erreichen vergönnt gewesen, wenn man unter der »Nation« eine sehr kleine Anzahl von Personen, welche die geistige Bewegung repräsentieren, verstehen will, und auch dann nur in beschränktem Maße. Nur sollte es, zumal in unserer Periode rapide fortschreitender Differenzierung der geistigen (wie aller anderen) Arbeit wohl erwogen werden, daß verschiedene Menschen nicht bloß in zufälliger Wirklichkeit, sondern bekannten mächtigen Ursachen gemäß, verschiedene Ideale des Lebens haben und selbst dem, was darin gleich ist, verschiedenen Wert beilegen; daß man dieser fortschreitenden Zersplitterung vielleicht durch großangelegte Institutionen, sicherlich aber sehr wenig unmittelbar durch Worte und Schriften begegnen kann, da sich ein Ideal nicht in die Seelen zwingen läßt, wie eine Grammatik, und daß daher auch Philosophie, sofern sie von einem Ideale erfüllt ist, selbst unter günstigen anderen Umständen nur bei gleichgestimmten und wohlvorbereiteten Gemütern Eingang zu finden hoffen darf. Dennoch ist der Anspruch einer Lebensansicht, welche sich für gut und weise hält, auch möglichst große Geltung zu erlangen, wahrscheinlich unausrottbar, aber Erfahrung sollte wenigstens lehren, mehr auf Wirkung in die Tiefe der Zeit als in die Breite des Raumes auszugehen, darum wenige ernste vielen oberflächlichen Anhängern vorzuziehen. Die Stoa war, in ihrem Anfang, eine kleine Sekte, aber sie wurde eine Macht im Leben und dauerte fast ein Jahrtausend. Die Lehre Kants fand Scharen von Verehrern, und nach einem Jahrhundert ist von ihrer Lebensansicht fast nichts mehr zu spüren. Wirklich sind auch die praktischen Ideen neuerer Denker (mit Ausnahme vielleicht des Spinoza) niemals so ausgeprägt und so organisatorisch gewesen, als sie in den Schulen des Altertums sich betätigt haben. Freilich werden auch diese nicht einräumen, daß solche Ideale nicht aus gemeinsamen Gedanken, sondern aus gemeinsa-

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nun die Bildung eines Lebensideals zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis nicht in notwendiger Abhängigkeit steht (was hier als zugestanden vorausgesetzt werde), so kann doch darum der objektive Wert einer Philosophie um so höher sein, je mehr sie auf umfassender und genauer Kenntnis der Wirklichkeit, also, wenn man nicht annimmt, daß diese durch freies und reines Denken könne gewonnen werden, auf den empirischen Wissenschaften beruht. Und da es also dem Philosophen auf Beurteilung und Gestaltung des menschlichen Lebens ankommt, so wird er am meisten Grund haben, derjenigen Wissenschaften zu pflegen, welche ihn den Menschen kennen lehren-, und zwar den Menschen als empfindendes Wesen, als Seele, Geist, Wille. Insbesondere aber wird er sein Bemühen darauf richten, durch Einsicht in Ursprung, Formen und Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens allen anderen Wissenschaften gegenüber eine feste Stellung zu gewinnen. Darum steht neben Psychologie mit Recht Logik an der Spitze philosophischer Wissenschaften. Sodann aber wird er versuchen, was ihm aus den Naturwissenschaften im Hinblick auf die Erkenntnis des Menschen das Bedeutendste erscheint, als Natur-Philosophie, und ebenso die Summe der Kulturwissenschaften unter diesem einheitlichen Gesichtspunkte zusammenzufassen. Dieses letztere ist früher, mit Beschränkung auf die historischen Disziplinen, als Philosophie der Geschichte erstrebt worden, in neuerer Zeit sind ohne diese Beschränkung Versuche aufgetreten, die sich als Soziologie, Völkerpsychologie oder Gesellschaftswissenschaft einführen wollen; diesen und anderen Namen möchte ich, um den Charakter der Sache richtig anzudeuten, den Terminus »Kultur-Philosophie« vorziehen. 4. Es wird mithin für die philosophische Betrachtung alle Naturerkenntnis hauptsächlich insofern bedeutend sein, als sie über das Verhältnis des Menschen zu den anderen Dingen Aufschluß gibt: was er gemeinsam habe mit allem Seienden; was aber insbesondere mit den organisch-lebendigen Wesen? was mit Pflanzen, was mit Tieren? und welches seine eigenmen Gefühlen oder Willensrichtungen ihre meiste Kraft schöpfen und sich darin bewähren müssen. In der Tat aber ist dem so: daß der eigene besser sei als das fremde, mag ein jeder behaupten; die Kategorie der Wahrheit aber findet darauf keine Anwendung, wie die der Güte nicht auf reine Wissenschaft. Den einzig möglichen Beweisgrund für den objektiven Wert eines philosophischen Lebensideals hat Piaton zu geben versucht in der Republik, B VII. Aber seine Schwäche charakterisiert das Unternehmen. 30 Pflanzen: In B kursiv. 36 Republik,

B VII.: Vgl. Politeia (Der Staat), 5 1 9 c - 5 2 1 b (Piaton 1982: II, 2 5 5 - 2 5 8 ) .

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tümlichen Eigenschaften seien? Lassen sich die Ursachen jener Ähnlichkeiten und die Ursachen der Verschiedenheiten erforschen? Sind die Dinge aus einer Künstlerhand hervorgegangen, die aus dem gleichen Stoff die mannigfaltigen formte? Oder ist das Ungleich-Gleiche an ihnen Zeugnis gemeinsamer Abstammung, natürlicher Verwandtschaft? und ist in allmählicher Entwicklung, durch unausmeßbare Zeit, Alles geworden, wie es ist? Und wenn nun diese Annahme, wie es ja der Fall ist, fortwährend an Wahrscheinlichkeit und Klarheit gewinnt, zu welchen ferneren Folgerungen nötigt sie? Was war vor dieser ungeheuren Entwicklung geschehen, in der unendlichen Zeit? und was ist außer ihren Produkten vorhanden im unendlichen Räume der Welt? Was sind Raum und Zeit? was ist die Welt, als ein Ganzes gedacht? Das große Feld metaphysischer Geheimnisse tut sich hier auf vor unsern Blicken; und der Philosoph darf nicht des Mutes ermangeln, sei es mit vorsichtigen Gedanken, sei es auch nur mit bewundernden Gefühlen, sich ihm zu nahen. Wenn anders er eingesteht, daß sein Gemüt, und darum auch seine Philosophie, mit tiefer Teilnahme diesen Problemen gegenüberstehe; einer Teilnahme, die nicht durch die Einsicht gemindert werde, daß sie selber aus rohen Bedürfnissen ursprünglicher Menschenseelen entsprossen sei, und durch lange Vererbung und Gewöhnung sich festgewurzelt und auf uns übertragen habe; auch nicht durch die Erwägung, daß alle daraus hervorgegangenen Vorstellungen, so verschieden auch sonst ihr Wert und ihre Schönheit, fast gleichmäßig der sachlichen Wahrscheinlichkeit entbehren. Obgleich es für die meisten Menschen wohl wahr sei, und auch einen tiefen Grund habe, daß sie dasjenige, dessen Gewordensein sie zu erkennen meinen, aufhören mit Ehrfurcht zu betrachten und zu pflegen. Freilich aber beziehe sich alle mögliche Erkenntnis hier doch nur auf die Gefühle, nicht jedoch auf ihre Gegenstände; denn es seien überall nur die Veränderungen der Welt, von denen wir ein kleines Stück unter Regeln der Wiederholung, und zuhöchst unter ein allgemeines Gesetz des Werdens zu bringen und insoweit zu begreifen vermögen; aber das Dasein selber, des Ganzen und jedes seiner Teile, mithin auch die Veränderungen als Daseiendes (als Energie) gedacht, seien für jedes Erkenntnisvermögen, was der tief-innige Denker sie genannt habe: Ursache ihrer selbst (causa sui). 5. Von ganz anderer Art ist die philosophische Bedeutung, welche den Kulturwissenschaften zukommt. Während Metaphysik in ein Bereich von Raum und Zeit hinausführt, wo unsere Vorstellungen von Raum und Zeit 33 der tief-innige Denker: D. i. Baruch de Spinoza.

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verschwinden wie ein Fischernachen auf dem Ozean; so setzt sich hingegen Ethik auf den festen Boden der nächsten Umgebung mitlebender Menschen und des kommenden Tages. Und während dort auf das wirkliche Sein der Dinge, wie es unabhängig, nicht bloß von unseren Vorstellungen selber, sich darstellen möchte, alle Absicht immer gerichtet war, und bleiben wird, so fragen wir hingegen, bei Betrachtung von Menschen und ihren Handlungen, nicht weiter nach deren wahrer Beschaffenheit, als daß wir aus dem Bewußtsein unserer selbst fortwährend von Äußerem auf Inneres schließen; mit unwillkürlichen Schlüssen, welche aber das Denken planmäßig unter Regeln zu bringen vermag. So aber wird uns - wie der sich selber Prüfende wissen muß - ein Jegliches um so mehr verständlich, je mehr es uns selber ähnlich ist. Aber das menschliche, wie alles, was unser Wollen angeht, sind wir nicht zufrieden zu verstehen, sondern seinen Wert wünschen wir zu erkennen und zu beurteilen. Was kann dies heißen? im Leben kommen die Dinge und ihre Bewegungen, wie die lebenden Wesen mit ihren Tätigkeiten, an uns heran und erregen Lust und Schmerz in uns; danach beurteilen wir sie in mannigfacher Weise und sagen, daß sie uns gefallen und mißfallen. Und unser Gefallen und Mißfallen hat viele Grade. Aber auch der Art nach muß es unterschieden werden. Da ist zuerst die große Masse des bloß utilitarischen Urteilens, der Stamm, von welchem die übrigen Arten sich abgezweigt haben; in seiner Sphäre nennen wir Menschen und Dinge und deren Verhalten mit Namen, welche ein Gefallen ausdrücken (hier und im folgenden ist das Gegenteil immer mitzuverstehen), also nützlich, trefflich, angenehm, schön, gut, wenn wir sagen wollen, daß wir in diesen Tatsachen eine bestimmte Tendenz auf Vermehrung unserer Lustgefühle oder auf Verminderung der entgegengesetzten Gefühle erkennen, so aber, daß von diesen Gefühlen alle, die nur den Intellekt, d. i. die Vorstellungen und Gedanken angehen, ausgeschlossen sind; wie denn hierauf die Kategorien nützlich und schädlich anzuwenden, unser Sprachbewußtsein sich sträubt. Diese Gefühle sind aber in den beiden anderen und besonderen Arten von Werturteilen gemeint, von denen die erste als die der ästhetischen Urteile zu unterscheiden ist: sie sagen aus, daß die bloße sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes oder eines Vorganges von einem Lustgefühl begleitet sei, dessen Besonderes eben darin besteht, daß es keine Beziehung auf Nutzen, d. i. auf gemeineres Lustgefühl hat, das von dem Wahrgenommenen erwartet würde; darin, daß der Akt des Wahrnehmens selber angenehm ist. Endlich sind in eine dritte Klasse die ethischen Urteile zu stellen: diese betreffen aber ausschließlich die innere, seelische Beschaffenheit von Menschen und deren

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Handlungen, insofern dieselben einen Schluß auf gewisse Wünsche oder Neigungen als auf ihre Ursache zulassen - ein Gebiet, vor welchem die ästhetischen Urteile gerade ihre Grenze haben; jene drücken ein Gefallen an solchen Wünschen oder Willenseinrichtungen aus, und haben mit den ästhetischen, im Gegensatz zu den utilitarischen Urteilen, gemein, daß dieses Gefallen von jeder Beziehung auf Nutzen losgelöst ist; aber das Gefühl selber ist von anderer Natur, es ist nicht an Wahrnehmung - der sich das Innere von Menschen, selbst unser eigenes, völlig entzieht - geknüpft, sondern hat seinen Bestand in reinem Denken, darüber, daß eine menschliche Seele - die eigene oder eine fremde - von solcher und solcher Beschaffenheit ist, deren Wert nach einer Regel eingesehen wird. Diese Gefühle sind also die subjektivsten, wenn dasjenige das objektivste heißt, in welchem der Anteil des Gegenständlichen an der erregten Lust am größten ist; das ethische Urteil kann von dem wirklichen Vorhandensein eines Gegenstandes völlig unabhängig sein, während das ästhetische eine Beziehung darauf durchaus behalten muß, und das utilitarische in dieser Beziehung völlig aufgeht. - Diese Arten der Urteile und entsprechender Gefühle, sind öfter vermischt als rein anzutreffen, und es finden Übergänge mit nicht wenigen Abstufungen zwischen ihnen statt. Gleichwohl bietet die Wirklichkeit Grund genug, sie begrifflich scharf voneinander zu trennen. Nun können einfache Aussage- oder Satzurteile, welche auf Vergleichung (wenn auch noch so schwach bewußter) gegebener einzelner Vorstellungen mit dadurch erregten, sonst in der Seele ruhenden, Erinnerungsbildern, gegründet sind, nur so in wissenschaftliche Ordnung gebracht werden, daß man den von Natur schwankenden Vorstellungs-Inhalt dieser Schemata fixiert und möglichst genau beschreibt, sodann durch Verknüpfung der einzelnen Vorstellungen mit besonderen Namen, die Schemata zu definierbaren Begriffen ausprägt: diese sind um so vollkommener, je mehr ihre Merkmale so beschaffen sind, daß sich das Verhältnis der gegebenen Erscheinungen zu denselben genau feststellen läßt; daher je mehr sie sich der Natur eines mathematischen Begriffs oder eines Maßes annähern. Wert-Urteile aber enthalten Vergleichungen nicht mit Apperzeptionsbildern, die aus Vorstellungen bestehen, sondern mit reinen Gefühlen, die an sich schon unbestimmter und in viel höherem Maße nach Zeit und anderen Umständen Schwankungen und Veränderungen unterworfen sind; so daß um so größer auch die Schwierigkeit ist, sie in Begriffen stabil zu machen. Und da die Gefühle der Menschen, unter gleichen äußeren Umständen, viel verschiedener sind als Vorstellungen, so muß erwartet werden, daß die begrifflichen Ergebnisse für eine weit geringere Anzahl von

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Subjekten Gültigkeit in Anspruch nehmen können. Der Begriff eines rechtwinkligen Dreiecks wird wohl von jedem Menschen, der ihn kennt, auch anerkannt und von allen in nahezu gleicher Weise angewandt werden; so wenigstens, daß nach dessen Merkmalen abgeschätzt wird, ob eine gegebene Figur rechtwinkliges Dreieck zu nennen sei oder nicht, denn es muß angenommen werden, daß die Vorstellungen dieser Merkmale und auch die Vorstellung, welche das Gegebene erregt, in jedem Bewußtsein hinlänglich gleichartig sind. Hingegen tritt, wo utilitarische Begriffe aufgestellt werden, die Differenz der Gefühle oder Willensrichtungen sehr bald hervor; und zwar um so stärker, je reicher die Begriffe an Merkmalen werden: daß Essen und Trinken überaus nützliche Beschäftigungen sind, darüber läßt noch allgemeine Übereinstimmung sich erzielen; diese ist schon beschränkt, wenn es heißt, daß Fleisch und Wasser vorzügliche Nahrungsmittel darstellen; und den Wert von Austern und Sekt zu diesem Zwecke wissen nur wenige Auserlesene zu schätzen. In noch viel höherem Maße steigert sich die Differenz, je mehr wir von utilitarischen Begriffen aus nach der einen Seite den ästhetischen, nach der andern den ethischen uns nähern. Es gibt ohne Zweifel zahlreiche Individuen und große Gruppen von solchen, bei denen weder die einen noch die anderen von dem Grundstock völlig sich losgelöst haben. Und der Philosoph kann nichts anderes tun, als seine eigenen Begriffe - wie auch immer dieselben entstanden sein oder welcher Art die Motive und Gründe seines Denkens sein mögen - in feste Begriffe und in systematischen Zusammenhang setzen; um dasjenige hervorzubringen, was als ein Lebensideal zu bezeichnen ist. Dieses kann aber folgerichtigerweise so weit sich ausdehnen, daß seine Begriffe auch Gedanken und Urteilen insoweit einen bestimmten Wert beimessen, als sie einen Schluß auf gewisse Willensrichtungen zulassen; welches freilich mit rein theoretischen Urteilen fast gar nicht, jedoch in großem Umfange mit praktischen oder Wert-Urteilen der Fall ist. Und so können utilitarische, ästhetische und ethische Gefühle und Urteile selber einer subjektiven ethischen Beurteilung unterworfen werden, hierdurch vermittelt also auch die Dinge und Vorgänge, welche den beiden ersten Klassen als ihre Gegenstände eigentümlich sind. - Aus diesem allen geht nun die Theorie einer reinen Ethik hervor, welche die Anwendung von Grundsätzen lehren will auf Gegenstände von Wünschen und Handlungen, wie sie jedem Menschen fortwährend in seinem bewußten Leben entgegentreten. Wenn sie aber aufhört bei der Betrachtung und Beurtei21 Begriffe:

In B: Vorstellungen.

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lung möglicher Fälle zu verweilen, und sich die Wirklichkeit zum eigentlichen Objekte nimmt, so erwachsen ihr verschiedene Aufgaben, welche teils der Unterstützung durch Wissenschaften von Tatsachen entraten können, teils dieselbe notwendig machen. Wenn sie nämlich die Wirklichkeit nach ihrem ethischen Werte beurteilen will und denselben ideellen Maßstab anlegt; so wird diese Beurteilung von der auf mögliche Fälle bezogenen ihrem Wesen nach nicht verschieden sein. Anders aber, wenn die Schätzung in der Weise geschieht, daß nach verschiedenen Zeiten und Umständen auch mit den Grundsätzen derselben gewechselt wird; und zwar werden sich nur solche dafür eignen, die als in dem Bewußtsein von Menschen wirklich vorhandene oder vorhanden gewesene angesehen werden können, die also für die Beurteilung von Charakteren und Handlungen tatsächliche Gültigkeit hatten oder haben. Hier ergibt sich dann die Aufgabe, die Ursachen der Verschiedenheit ethischer Begriffe zu erkennen, und zuletzt: ihr Verhältnis zu dem einheitlichen System der ideellen Normen darzustellen. Und indem auf dieses Verhältnis gebührende Rücksicht genommen wird, kann dadurch doch auch eine Vergleichung der wirklichen Charaktere und Handlungen mit denjenigen, welche dem Ideal gemäß sein würden, vermittelt werden; deren Ergebnis dann von dem der direkten Beurteilung sehr verschieden sein wird. Hieran knüpft sich aber der Wunsch, auch das Verhältnis, in welchem zukünftige Wirklichkeit zu diesen Normen stehen werde, kennen zu lernen. Zu diesem Behufe ist es notwendig, die Bedingungen oder Ursachen zu wissen, von welchen überhaupt die Beschaffenheit von Charakteren und Handlungen abhängig ist. Also Wissenschaft vom menschlichen Geiste, nun aber nicht als einem Subjekte des Erkennens, sondern des Wollens. Was in dieser Hinsicht als allen Menschen gemeinsam, mithin als dem Begriffe des Menschen zugehörig, angenommen werden darf, lehrt wiederum die Psychologie, oder (wenn dieser ein eingeschränkteres Feld zugewiesen wird) die psychische Anthropologie. Alles Besondere aber findet sich auf die verschiedenen Gebiete, welche ich als Kulturwissenschaften bezeichnet habe, verteilt; denn auch die rein intellektuellen Geistestätigkeiten geben gewisse Willensrichtungen kund und stehen mit allen anderen Bestrebungen in so engem Zusammenhang, daß auch ihre Geschichte und Theorie in dieses Bereich hineinzuziehen ist. 6. Hiermit ist der Zweck bezeichnet, durch welchen die Stellung der Kultur-Philosophie zu ihren einzelnen Wissenschaften bestimmt wird. Das Gebiet der ethischen Begriffe, insofern sie in menschlichen Gemütern vorhanden gedacht werden, sowie die Neigungen, solchen gemäß oder

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zuwider zu handeln, sind selber Objekte theoretischer Erforschung; der Philosophie aber ist daran gelegen, ihren ursächlichen Zusammenhang mit allen anderen Willensrichtungen kennen zu lernen, und wiederum dieser ihren mit anderen, menschlichen oder außermenschlichen Umständen. Nun ist für Philosophie in diesem Sinne, die nicht als eine besondere Einzelwissenschaft auftritt, Deduktion von allgemeineren Erkenntnissen zu den besonderen, die allein angemessene Methode. Und zwar zunächst, indem sie die Methode der Einteilung ist, und es darauf ankommt, den einzelnen Gegenständen, welche betrachtet werden sollen, ihre gehörige Stelle im System des Seienden anzuweisen; sodann auch, indem sie die Methode der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse ist, wenn auf Grund der Induktionen, welche die einzelnen Wissenschaften darbieten, Ableitung von Wirkungen aus Ursachen oder Kräften stattfindet; jedoch wird sie der Induktion nicht entraten können, so oft sich Erscheinungen entgegenstellen, deren Ursachen erst durch Analysis zu erforschen sein werden. - Somit soll der Gang dieser Erörterung folgender sein. - Zuerst will ich die bei Menschen überhaupt vorhandenen Willens-Richtungen nach ihren wesentlichen Eigenschaften und Unterschieden in kurzem zergliedern; sodann insbesondere die Beziehungen menschlicher Willen zueinander der Betrachtung unterwerfen; um aus diesen zwei große Gruppen herauszunehmen, deren eigentümliche Charaktere durch die hauptsächlichen Gebiete, in welchen sich die einzelnen WiWens-Richtungen ausgeprägt haben, verfolgt werden sollen. Hier werden dann die ursächlichen Verhältnisse, deren Feststellung das letzte Ziel ist, teils aus allgemeinen Gesetzen sich ergeben, teils durch besondere Untersuchungen wahrscheinlich gemacht werden.

II. 1. Geistige Tatsachen kann jeder allein an sich selber erfahren, und daß sie bei anderen Wesen überhaupt vorhanden sind, nur durch Schlüsse erkennen. Diese Schlüsse sind aber in Hinsicht auf alle Menschen und Tiere durch lange Gewöhnung so sehr mit den Wahrnehmungen verschmolzen, daß ihre Gültigkeit erst unterhalb dieser Stufenleiter uns ähnlicher Wesen nicht mehr als zweifellos angesehen zu werden pflegt. Auf dieses bestrittene Gebiet will ich mich hier nicht hinauswagen; aber auch bei Menschen und Tieren glauben wir doch nur über das Dasein seelischer Vorgänge Gewißheit zu haben, keineswegs aber stimmen über die Art derselben alle Urteilenden überein; freilich leugnet niemand, daß innerhalb eines uner-

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meßlichen Abstandes eine Stufenfolge von zahllosen Graden vorhanden ist. Und es scheint aus vielen Gründen (welche hier nicht aufgeführt werden können) sicher zu sein, daß in den untersten Anfängen alle Verschiedenheit dieser Vorgänge noch unentwickelt ruht, und daß ein Zustandsgefühl dort nur bei einer gewissen Stärke von Verletzung durch fremde Körper, als eine Art von dumpfem Schmerze sich kundgibt, der momentan über die Schwelle des Bewußtseins tritt (denn ohne Setzung eines Bewußt-Seins, in welchem sie erscheinen, hat die Annahme seelischer Ereignisse überall gar keinen Sinn; wenn man dennoch sich gewöhnt hat, von unbewußten zu reden, so darf diese Negation nicht als eine absolute verstanden werden, sondern bezeichnet ein äußerst geringes, kaum merkliches Quantum; in diesem Sinne kann es dann auf alle Arten psychischer Tatsachen angewandt, und muß jedesmal in Relation zu deutlich oder eigentlich bewußten Vorgängen derselben Gattung verstanden werden). Es ist aber ferner wahrscheinlich, daß in den frühesten Erscheinungen tierischen Lebens, als welche wir eben da zu erkennen glauben, wo eine räumliche Gesamtbewegung ohne unmittelbaren äußeren Anstoß auftritt, solcher Schmerz schon in einer kurzen Verharrung geblieben ist, und nun mit der Gegenwirkung eine Regung von anderem Gefühl sich davon abhebt, das als Keim der Lust zu bezeichnen wäre. - Schmerz und Lust sind nun die allgemeinsten Kategorien, auf welche sich auch alles unser menschliches Wollen bezieht, und mit denen wir eben daher eine so intime Bekanntschaft haben. Wir wissen auch, daß diese Beziehungen unseres Wollens selber durchaus un-willkürlich sind: wir können nicht anders als Schmerz vermeiden und Lust erstreben wollen, so sehr auch die Einsicht in diese Notwendigkeit durch das Hereinragen weit entfernter Zukunft in unsere Vorstellungen und durch anomale Wertschätzung der Gefühle verdunkelt werden kann. - Jedenfalls aber sind wir im bewußten Wollen uns eines eigentümlichen Verhaltens anderer seelischer Elemente zu jenen Gefühlen bewußt; wo die Gefühle selber den ganzen Inhalt des Bewußtseins ausmachen, kann davon noch nicht gesprochen werden. Dennoch ist - logisch ausgedrückt - Bejahung des einen und Verneinung des anderen allem seelischen Leben gemeinsam. Wollen wir nun mit Rücksicht auf diesen Grundcharakter die gesamten Vorgänge dieser Art - d. i. alle, die nicht rein intellektueller Natur und als solche ohne Beziehung auf Schmerz und Lust sind - auf einen Nenner bringen, so scheint sich hierfür der Begriff des Willens besser zu eignen als der des Gefühls. Das leidende 24

durchaus un-willkürltch: In B: durchaus

unwillkürlich.

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Fühlen steht am Fuße der Skala, auf dessen Höhe das tätige Wollen leuchtet; mithin, wenn wir die Staffeln hinansteigen, was wir bei aller Entwicklungsbetrachtung tun, so ist das Element des Willens in stetigem Wachsen; wir können daher einen unendlich geringen Anteil daran schon dem niedrigsten Verhalten zuschreiben, und eben dieses als ein unbewußtes Wollen begreifen. 2. Diese ursprünglichen Gefühle sind auf Perzeption des Gewesenen beschränkt; sie werden um so vielfacher und verfeinerter, je mehr sie sich von der Gebundenheit an räumliche und zeitliche Nähe ihrer Gegenstände befreien und je mehr sie sich auf einzelne Stellen des Leibes differenzieren. Aber eine neue Art des Willens entsteht, wenn auch das Werdende, Zukünftige, ins Bewußtsein eintritt; diese Art nenne ich Wunsch - mit dem Einen Namen Vieles umfassend. Der passiv-unbewußte Wille setzt noch gar keine Art des intellektuellen Lebens voraus, außer wenn er sich unmittelbar auf dasselbe bezieht, d. h. wenn Schmerz oder Lust gerade in dieser Sphäre gefühlt werden. Aber der Wille als Wunsch ist schon nicht ohne die dämmernde Form einer Vorstellung denkbar; diese Form würde man vielleicht richtiger Vorgefühl nennen: eben dieses möchte als der ursprünglichste Keim aller intellektuellen Tätigkeit anzusehen sein; es ist aber zunächst nichts als der Rest eines früheren Gefühls, der durch ein gegenwärtiges miterregt wird, also schmerzliche oder lustvolle Erinnerung; das Eigentümliche des Wunsches aber, nämlich das Gefühl oder ein wie auch immer geartetes Bewußtsein davon, daß das früher Geschehene von Neuem geschehen werde, also Erfassung des Zukünftigen, tritt um so deutlicher hervor, je mehr die Erinnerung gegenständlich wird oder Gestalt gewinnt, d. h. sinnliche Wahrnehmung reproduziert; also je ausgebildeter diese aktuell vorhergegangen ist. - Insofern zu dem gesamten Gefühl aus dem eigenen Besitz der Seele mehr hinzugetan wird, ist der Wille als Wunsch geistiger und aktiver im Vergleich mit der Urform. Wie aber diese in Lust und Schmerz, so scheidet sich der Wunsch in Begierde und Furcht. Es ist aber keine der beiden Arten noch ein so einfaches Gefühl wie Schmerz und Lust es sind: sondern jedes enthält eine Mischung dieser entgegengesetzten Elemente, die Furcht mit Überwiegen des Schmerzes, Begierde mit größerem Anteil von Lust. Die ursprünglichste und, in Ansehung des ganzen Tierreiches, gemeinste Furcht ist noch fast lauter Schmerz; je mehr aber aus dem Vorgefühl Vorstellungen sich entwickeln, desto eher kann sich ihm ein Stück der Lust gesellen, welche die Überwin18 Vorgefühl: In A hervorgehoben.

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dung des Furchtbaren verspricht. Und umgekehrt bildet Begierde sich aus. Sie ist zunächst Vorlust; auch wenn sie, was ihr jedoch nicht wesentlich ist, aus Schmerz entspringt; denn dieser Schmerz, z. B. der des Hungers, ist von der Begierde selber durchaus zu unterscheiden; er kann vorhanden sein, ohne daß Begierde im Bewußtsein ist, und gewöhnlich folgt sie ihm, nach einem kleineren oder größeren zeitlichen Intervall, wobei dann aber jener fortdauern kann; und von ihm verschieden ist der Schmerz der Furcht (daß das Begehrte nicht erreicht werde), welcher mit der Begierde sich um so mehr verbinden kann, je bedeutender die Teilnahme von Vorstellungen an ihr ist. - In demselbigen Verhältnis aber, in welchem Lust aktiver ist als Schmerz, ist auch Begierde aktiver im Vergleich mit Furcht. 3. Einer neuen Stufe nähert sich der Wille, je mehr das äußere Verhalten des Leibes, der zu ihm gehört, von den gerade gegenwärtigen einfachen Gefühlen, und auch von den das Gemüt erregenden Wünschen unabhängig wird; dies geschieht aber, indem die in den Wünschen enthaltenen Vorstellungselemente freier sich loslösen und deutlicher hervortreten. Denn diese Vorstellungen haben doch dieselbe Beziehung auf ein zukünftiges Verhalten, welche dem Wunsche eigen ist, so aber, daß dasselbe mit diesem unmittelbar und durch ein schmerzhaftes Gefühl (des Zwanges) verbunden ist, während es zu jenen in einem loseren Verhältnis steht, weil die Seele sie mehr als ihren eigenen Besitz empfindet - die Seele, d. h. das bewußte Denken, dieses aber besteht eben in einem Wechsel von Vorstellungen, und es ist das tatsächliche Verhältnis, welches sich geltend macht, wenn Vorstellungen als dazugehörig empfunden werden. In dasselbe Verhältnis gehen dann aber auch, obgleich in minderer Stärke, die Tatsachen ein, welche von Vorstellungen abhängig erscheinen; somit auch das äußere Verhalten, in demselben Maße, in welchem es so erscheint. Aus dem Gefühl hiervon aber entspringt ferner, wegen des raschen Wechsels von Vorstellungen im Bewußtsein, die Überlegung, daß ein anderes Verhalten, als das geschehene, geschehende oder beabsichtigte, auch möglich sei oder gewesen sei; nämlich nur an die so überaus leicht erscheinende Bedingung anderer auftauchender Vorstellungen gebunden. Dieser Gedanke und jenes Gefühl verschmelzen miteinander; sie sind aber als verschiedene Elemente zu betrachten: das Gefühl, welches Vorstellungen und was daran hängt, als Besitz einbildet; der Gedanke, auf die Möglichkeit oder Leichtigkeit eines Anders-Geschehens sich beziehend. Ihre Verschmelzung stellt das scheinbar einfache Gefühl des freien Willens oder der Willkür her, welches aber ebendaher seine Rätselhaftigkeit hat, daß es nicht einfach,

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auch nicht aus Gleichartigem bestehend, sondern aus einem Gefühl und einem Gedanken zusammengesetzt ist. Dies Freiheitsbewußtsein (um es so zu nennen) ist nun wiederum stärker, wenn der entscheidende oder (scheinbar) durch Wahl des Denkens ergriffene Wunsch eine Begierde als wenn er eine Furcht war; weil jene selber aktiver ist. Und es ist überhaupt um so lebhafter und lusthafter, je mehr der Anteil der Vorstellungen über den der Gefühle im Bewußtsein überwiegt. Umgekehrt: je mehr von diesen dabei ist, desto heftiger wird das Freiheitsbewußtsein durch das schmerzhafte Gefühl des gewaltsam Bewegt-werdens oder Gefesselt-werdens, (welches aber, wenn das Verhalten doch noch willkürlich ist, abgeschwächt als Nötigung sich darstellt), gehemmt. 4. Es ist klar, daß von diesen 3 Willensbeziehungen die zweite zur ersten, und die letzte zu beiden früheren wie ein Teil zum Ganzen, oder (in der Form der Vorstellung ausgedrückt) wie ein Mittel zum Zweck sich verhält; sofern doch auf eine möglichst große Summe möglichst angenehmer Lustgefühle, und eine möglichst kleine möglichst wenig unangenehmer Schmerzen alles Wollen, bewußtes, oder unbewußtes, zuletzt gerichtet ist. Gleich aber wie die höheren Formen des Willens sich loslösen und selbständig werden, so befreit sich auch seine Materie von der ursprünglichen unmittelbaren Beziehung auf den eigenen Leib. Das Dasein desselben und bestimmte Zustände (das Wohlbefinden) des ganzen und seiner einzelnen Teile, werden in jenen drei Formen, je in verschiedener Weise, als Gut bewußt; umgekehrt: sein Nichtsein und entgegengesetzte Zustände als Übel. Diese Werte und Unwerte werden dann vom eigenen auf fremde Körper übertragen. In individueller und in generischer Willensentwicklung sind zuerst wie ein Ganzes und seine Teile, so ein Zweck und seine Mittel, ungeschiedene Einheiten; sodann lösen sich die Teile, oder die Mittel, los, werden aber noch bloß im Verbände mit dem Ganzen gewollt; bis sich endlich der Wille auf sie besonders bezieht, auch wenn das Bewußtsein sie nicht in diesem Verbände festhält. Dieser Prozeß ist nun verschieden, je nachdem die intellektuelle Tätigkeit dabei beteiligt ist oder nicht. Das auffallendste Beispiel einer dauernden und starken und selbst-losen Willensbeziehung auf fremde Körper, welches in der Tierwelt vorkommt, ist offenbar in jener ganz objektiven Weise, ohne Vermittlung von Vorstellungen, entstanden: das Verhältnis der Mutter zu ihrer Leibesfrucht; der Grund desselben ist nicht, daß die Jungen als Mittel zu einem Zwecke 18 Gleich aber wie die höheren Formen: ,Formen' ist in A hervorgehoben. - In B heißt die Stelle leicht abweichend: Gleichwie aber die höheren Formen.

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vorgestellt, sondern daß sie als Teile des eigenen Leibes gefühlt werden. Anders mag schon der Ursprung des reinen Gattungsverhältnisses (Männchen zu Weibchen) zu denken sein; es ist zu verstehen, daß auch hier zwischen den begrifflichen Gegensätzen die Wirklichkeit eine allmähliche Entwicklung, also vielfache Abstufung und Verzweigung darstellt. Vom menschlichen Willen läßt sich aber im allgemeinen sagen - wenn von dem Erbe aus seiner tierischen Vorzeit abgesehen wird - daß äußere Gegenstände, auf welche er sich bezieht, ursprünglich Mittel für die rein subjektiven Beziehungen gewesen sind, und nachher entweder mit dem Bewußtsein von diesem Verhältnis oder ohne solches Bewußtsein, um ihrer selbst willen, gewollt werden. Erst wenn das letztere der Fall ist, wird die Beziehung des Willens eine neue und besondere. So kann er nun, in seinen verschiedenen Formen, und zwar zunächst gleichsam als ein ruhender und relativ unbewußter, auf fremde Körper, wie auf den eigenen, gerichtet sein, derart, daß er nur durch Hemmung oder Förderung deutlicher ins Bewußtsein tritt. So verhält sich der Wille als Besitz zu äußeren Dingen; dieser Begriff drückt ganz allgemein irgendwelche Beziehung aus, welche derjenigen zu den Gliedern des eigenen Leibes analog ist - dies ist offenbar in sehr verschiedenem Maße möglich, kann aber ebensowohl auf lebende Wesen als auf Sachen sich erstrecken, und zwar auch auf Menschen und deren Willen. - Es kann aber ferner sich der Wille als Wunsch auf solche Gegenstände beziehen, und zwar als Begierde auf den lusthaften Erwerb einer Besitzbeziehung abzielend, oder als Furcht gegen den schmerzlichen Verlust einer solchen sich wehrend. Diese Gefühle können in Tätigkeit übergehen, mit welchen sich der Wille noch als Wunsch zu diesen Gegenständen, um derentwillen sie unternommen werden, verhält; wenn er auch vielleicht zugleich in willkürlichen Handlungen sich äußert. So, als Tätigkeit aufgefaßt, heißt der Wunsch ein Streben. Sofern aber Tätigkeit, nicht zum Behuf der Erhaltung oder Erlangung von Besitz, sondern an dem besessenen, d. h. dauernd im Bereiche des Willens befindlichen Gegenstande selber, vorgenommen wird, so verhält sich der Wille zu dieser als Willkür; auch als Objekt der Willkür und Macht, sei es nun, daß diese auf Beschädigung oder Zerstörung, oder auf Erhaltung und Anpassung des fremden Körpers ausgehe, tritt derselbe, mit der Tendenz, das Lustgefühl des freien Willens zu erhöhen, in das Bewußtsein ein. - Wie weit nun an allen diesen Beziehungen der (eigentliche oder im engeren Sinne) tierische Wille beteiligt sei, soll hier nicht untersucht werden, jedenfalls aber ist diesem ein drittes Gebiet völlig fremd, auf welches der menschliche Wille sich allein bezieht. Während nämlich bisher noch unter der Benennung

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von Gegenständen oder fremden Körpern Sachen sowohl als lebende Wesen zusammenbegriffen waren, so sondern sich jetzt diese ab, aber nicht mehr als wollende und handelnde (inwiefern sie eben durch das Merkmal der äußeren, sichtbaren Bewegung mit Sachen gleichartig sind), sondern bloß als vorstellende und denkende, das ist als Menschen. Denn auf Menschen als handelnde konnte ebensowohl wie auf Tiere als frei sich bewegende Wesen, auch der Wille der vorigen Kategorie: als Besitz, als Streben und als tätige Einwirkung sich beziehen. Aber es ist keinem Menschen an den dauernden Vorstellungen und Gefühlen eines Tieres, also auch nicht an dessen Vorstellungen und Gefühlen als solchen gelegen (wohl gelegentlich als Mitteln zu anderen Zwecken), und er erwartet durchaus keine Meinung oder ein Urteil von einem Tiere. Hingegen ist jedem Menschen an den Vorstellungen und Gefühlen anderer Menschen, insonderheit an ihren dauernden Meinungen in bezug auf ihn und das Bereich seines Willens, in hohem Maße gelegen; d. h. an den Meinungen über seinen Wert, worin nun auch immer derselbe gesetzt sein möge. Da aber niemand das seelische Leben eines andern Wesens unmittelbar erkennen kann, so muß man mit bloßen Vermutungen, das ist eigenen, durch Schlüsse gebildeten Meinungen darüber sich begnügen. Wenn aber der Wille bloß auf äußere Zeichen gerichtet, und gegen die etwanige Gesinnung durchaus gleichgültig ist, so gehört er dem obigen gemäß in die vorige Kategorie. Die Beziehungen jedoch auf fremde Vorstellungen und Gefühle, wie sie nach eigener Meinung wirklich sind, bringe ich dieses besonderen Charakters halber in eine eigene Klasse - und zwar kann auch hier der Wille einmal als gleichsam ruhendes Wohlgefallen, nur durch Schmerz bei Störung und Lust bei Erhöhung deutlich ins Bewußtsein kommend, gestaltet sein; sodann als Wunsch (im allgemeinen Begierde nach Ehre und Furcht vor Schande) und Streben; endlich als Tätigkeit, von welcher erwartet wird, daß sie auf solche Meinungen verändernd einwirke. 5. Allen diesen Willensbeziehungen entsprechen in logischer Form die verschiedenen Arten der Werturteile, durch welche subjektive Zustände, äußere Gegenstände oder fremde Gesinnungen als gut oder übel ausgesprochen werden. Diese sind wiederum nur Menschen eigentümlich. Im ganzen Tierreich variiert aber und steigert sich die Mannigfaltigkeit jener Beziehungen selber, mit der höheren Entwicklung und verschiedenen Ausbildung des Organismus in Struktur und Funktionen; bis sie im Menschen nicht nur die drei bezeichneten Arten umfassen, sondern innerhalb derselben wiederum eine unabsehbare Menge von Variationen enthalten.

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Je größer aber die Anzahl verschiedener Gefühle ist, welche ein Individuum in sich erfahren hat, desto ausgebreiteter ist seine Fähigkeit, verschiedene Wünsche zu hegen, und zu dieser steht wiederum, abstrakt betrachtet, die Variabilität der willkürlichen Handlungen in geradem Verhältnis; dieselbe wird jedoch in der Wirklichkeit durch das Kraftverhältnis der Wünsche zueinander erheblich eingeschränkt, und in diesem bildet (neben der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit ihrer Erfüllung) die Intensität, mit der die einzelnen Lust- und Schmerzgefühle in dem bestimmten Organismus sich geltend gemacht haben und geltend machen, das bedeutendste Moment. Und diese ist abhängig: teils von der ursprünglichen physiko-psychischen Anlage, teils von dem besonderen Eigentum, welches der Körper durch Anpassung, die Seele durch Gewöhnung erworben hat. Denn beide zusammen machen in jedem gegebenen Zeitpunkte das Wesen aus wie es gerade ist, und jede Störung desselben wird als Schmerz empfunden, jede Förderung oder fernere Anpassung als Lust. Wenn wir daher wiederum den vorhandenen psychischen Zustand, als eine latente Aktivität aufgefaßt, Wille nennen, so wird der Wille um so empfänglicher sein für bestimmte Lustgefühle, und um so empfindlicher gegen bestimmte Schmerzen, je mehr seine einmal gegebene Richtung durch dieselben gefördert oder gehemmt wird. In Wünschen aber leben die früheren Gefühle als Reste oder als Erinnerungen fort. Diese kämpfen gegeneinander, das äußere Verhalten, soweit es ein freies (willkürliches) ist, zu bestimmen. Wünsche, welche gewöhnlich siegreich sind, machen zusammen das aus, was wir unter dem Charakter eines Menschen verstehen, und die mannigfachen Kombinationen dieser Elemente begründen eine große Verschiedenheit hinsichtlich dieses wesentlichen Objektes aller ethischen Urteile. Jedoch hat auch diese Verschiedenheit einen festen Durchschnitt als Mittelpunkt, um welche sich ihre Schwankungen bewegen. Dieser kann aber hier nur durch die Bemerkung angezeigt werden, daß im allgemeinen die in der Entwicklung der Gattung wie des Individuums früheren (älteren) Beziehungen den relativ späteren (jüngeren) an Kraft überlegen sind, daher die auf den eigenen Zustand, wie er objektiv erkennbar ist, gerichteten denjenigen, welche den Besitz betreffen; diese wiederum den auf Geltung bezogenen vorangehen. Und innerhalb jener ersten und Hauptklasse muß wiederum als das Allgemeine und Natürliche angesehen werden, daß Gefühle um so heftiger sind, und Wünsche um so schwerer wiegen, je näher und stärker ihre Verwandtschaft mit dem ur33 Besitz: In A hervorgehoben.

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sprünglichen Inhalt oder Zweck des gesamten Willens ist, mit der Erhaltung des Lebens. Und eine entsprechende Anwendung kann auch auf die beiden anderen Klassen gemacht werden. 6. Sind aber unter diesen Willensbeziehungen auch diejenigen begriffen, in deren Betrachtung alle Fäden der hier vorbereiteten Gedanken auslaufen sollen, die moralischen Gefühle, Neigungen, Entschlüsse? Oder müßte etwa aus diesen, als ganz und gar »unegoistischen«, eine besondere Art gebildet werden? Hierauf erwidere ich, daß ich den Begriff von unegoistischen Willensbeziehungen als von solchen, durch welche das allgemeine Gesetz des Verhältnisses zu Lust und Schmerz aufgehoben würde, als einen widersprechenden nicht anerkenne. Der Erkenntnisgrund dieses Gesetzes liegt in unserem Selbstbewußtsein, d. i. in der intimen Bekanntschaft, welche wir mit unseren eigenen Willen haben, und welcher gemäß wollen und wünschen nichts anderes ist, als eben Lust wollen, und Schmerz nicht-wollen, außer um endlicher Lust willen. Somit bewegt sich auch der moralische Wille in dieser Richtung. Wenn aber als unegoistisch die Eigentümlichkeit der Gefühle bezeichnet werden soll, welche hier in die zweite und dritte Ordnung gestellt sind, und in denen sich äußere Gegenstände oder Tatsachen mit dem eigenen Inneren so verwachsen zeigen, daß deren Zustand und Verhalten unmittelbar und ohne bewußten Bezug auf die eigenen Zustände, um derentwillen jene ursprünglich sind gewollt worden, mit Lust oder Schmerz sich in der Seele geltend machen - so fallen doch diese mit den als moralisch bekannten keineswegs zusammen. Sondern es wird sich ergeben, daß diese zu verschiedenen Stücken auf die Dreiheit der aufgestellten Ordnungen sich verteilen, und aus der Masse der nichtmoralischen und unmoralischen nur wie Inseln aus dem Meere hervorragen. - Es muß aber vielleicht hinzugefügt werden, daß die moralischen Gefühle auch von denjenigen durchaus unterschieden sind, welche ethischen Werturteilen, wenn dieselben mit Wahrhaftigkeit ausgesprochen werden, zugrunde liegen. Diese Gefühle sind Beziehungen, entweder auf das eigene Selbst, oder auf andere Personen als wollende und handelnde; die letzteren sind unter den Begriff der Besitzbeziehungen zu bringen, also in die zweite Ordnung einzureihen. Sie sind, unter sonst gleichen Umständen um so stärker, je näher diese Beziehung ist, und verschwinden, sobald als jede Art von »Recht« oder »Anspruch« an das Verhalten der Person (welches eben eine partielle Besitzbeziehung ist) aufhört. So mögen wir sehr lebhaften sittlichen »Unwillen« empfinden über eine grausame Hand30 Diese Gefühle:

In B recte.

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lung, die wir berichten hören, wenn der Täter unser Mitbürger ist; wir fühlen fast gar keinen, wenn es ein beliebiger Indianer-Häuptling war; in abstracto, über die Tat als solche aber nur, indem wir einen Täter, „der uns etwas angeht", subintelligieren. - Aber hiermit ist schon ein Stück aus späterer Ausführung vorweggenommen4.

III. 1. Willkürliche Handlungen, durch welche ein Mensch beabsichtigt, einem anderen Menschen Schmerz zu verursachen, nenne ich Feindseligkeiten-, hingegen solche, die bestimmt sind, dem anderen Lust zu erregen, Leistungen; als Leistungen sind auch absichtliche Unterlassungen solcher Handlungen anzusehen, die, obgleich nicht als Feindseligkeiten beabsichtigt, dennoch eine diesen ähnliche, den fremden Willen schädigende Wirkung haben würden. - Der feindselige Wille, als Tendenz, die in allen menschlichen Verhältnissen ihre Wirksamkeit zeigt, ist eine mächtige Tatsache. Man kann sich nun des Begriffes halber einen Zustand denken, in welchem diese Tendenz allein wirksam wäre, so daß jeder Mensch den Willen jedes anderen, auf welchen er überhaupt sich zu beziehen Gelegenheit hätte, unbedingt und in jeder Hinsicht zu schädigen trachten oder (wie man mit einer Metapher aus dem logischen Gebiet sagen kann) verneinen würde. Dies wäre der berühmte Zustand des Krieges Aller gegen Alle, jeder würde jedes anderen Feind sein, und wenn die Gesinnungen den Taten entsprächen, jeder jeden Anderen hassen, ohne Unterschied der Person. Aber die freundliche Tendenz des Willens ist auch eine Tatsache, und Ursache vieler Tatsachen. Im Gegensatze kann man sich daher, gleichfalls des Begriffes halber, einen Zustand denken, in welchem diese Neigung, alle Mitmenschen, die einem bekannt wären, durch Leistungen zu fördern, unumschränkte Geltung hätte. Dies wäre der Zustand des ewigen Friedens im höchsten Sinne: jeder würde jedes anderen Freund sein und ihn lieben, gleichfalls ohne Ansehen der Person. - Zwischen diesen gedachten Extremen bewegt sich in mannigfachen Gestalten und mit großen Schwankungen die Wirklichkeit der Erfahrung. Wenn man das Verhältnis der Tatsachen zu Begriffen, nach klassischem Vorgange, als ein Anteilhaben jener

4

Der Begriff der Besitzbeziehungen, der in seiner Weite und Unbestimmtheit zunächst paradox und fragwürdig erscheinen muß, wird erst, wenn die Rede auf Rechtsverhältnisse und deren Theorie gelangen wird, seinen Wert bewähren können.

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an diesen bezeichnen darf, so sind die meisten wirklichen Beziehungen der Menschen zueinander Mischungen, welche zu einem gewissen Maße an Feindschaft und zu einem gewissen an Freundschaft Anteil haben. Zwischen der allgemeinen Verneinung und der allgemeinen Bejahung liegt eine große Anzahl von Stufen, auf welchen partielle Verneinung mit partieller Bejahung verbunden ist; sodann kann an Stelle der unbedingten Verneinung oder ihres Gegenteils allgemeine oder partielle Bejahung an bestimmte Bedingungen geknüpft sein. 2. Es kommt in der Tat nicht vor, daß ein Mensch allgemeine und unbedingte Feindseligkeiten gegen alle Anderen ausübt; wohl aber, daß er es tut gegen die große Mehrzahl derer, auf welche er überhaupt einwirkt; so nämlich, daß deren Wahrnehmung und Vorstellung immer mit dem Willen und Wunsch, sie zu schädigen oder ganz und gar zu vernichten, sich verbindet. Allgemeine und unbedingte Leistung, auch nur gegen Einzelne, ist eine viel seltenere Erscheinung; gegen Alle aber, oder als Gefühl ausgedrückt, allgemeine Menschen-Liebe, eine für sehr wenige Menschen faßbare Idee; der sich viel Wenigere noch in ihrem tatsächlichen Verhalten auch nur angenähert haben. - Die Masse der wirklichen Handlungen, Beziehungen und Verhältnisse, Geschehnisse und Zustände in diesem Gebiete können wir um zwei mittlere Linien gruppiert denken. Beide sollen wiederum nur Tendenzen bezeichnen, und die Wirklichkeit derselben bloß ihrer ideellen Essenz nach betrachtet werden; die Zustände also, welche als deren Verwirklichung gesetzt werden, eine bloß imaginäre Existenz behalten. - A. Die eine Tendenz ist diese: daß innerhalb einer Mehrheit von Menschen Enthaltung von (gewissen) Feindseligkeiten, und Ausübung (gewisser) Leistungen stattfindet, um bestimmter dauernder Beziehungen willen, welche zwischen den Willen dieser Menschen derart obwalten, daß sie in Hinsicht auf diese Ausübung und jene Enthaltung eine dauernd gleiche Richtung haben. Denkt man sich diese Tendenz in vollkommener Ausführung, so würde der Wille jedes Menschen zu dem Willen jedes Anderen, auf den er überhaupt einzuwirken die Gelegenheit hat oder erlangt, in irgendeiner solchen Beziehung sich befinden, und diese könnten von verschiedener Stärke sein, etwa dermaßen, daß sie sich in einer Anzahl konzentrischer Kreise würden darstellen lassen, zu deren Radienlänge ihre Zahl und Stärke in umgekehrtem Verhältnis stände; es würde mithin im äußersten Kreise die Neigung zur Feindseligkeit und die Abneigung gegen Leistungen am bedeutendsten sein, und umgekehrt. - B. Die andere Tendenz enthält aber folgendes: jeder Mensch ist bereit, sich jedem anderen gegenüber der Feindseligkeiten zu enthalten, genau in dem Maße, als

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dieser sich derselben enthält; und jedem anderen Leistungen zu gewähren, unter der Bedingung, daß dieser ihm entsprechende Gegenleistungen gewähre. Die vollkommene und ausschließliche Verwirklichung dieser Tendenz wird einen Zustand zeigen, welcher, gleichfalls in konzentrischen Kreisen dargestellt, so beschaffen sein würde, daß, wenn der innerste die geringste, der äußerste die größte auf der Gegenseite dargebotene Enthaltung und Leistung bezeichnete, Zahl und Stärke der freundlichen Beziehungen mit den Radien in geradem Verhältnisse wachsen müßte. - In A sind die Beziehungen das Vorhergehende, die Verhältnisse in Hinsicht auf Feindseligkeiten und Leistungen ergeben sich daraus. In B sind diese das Gegebene und fest Bestimmte; sie erzeugen erst die (persönlichen) Beziehungen. - Indem ich nun die Idee eines gegenseitigen Verhaltens zwischen Menschen, wie sie im Falle A gesetzt werden, Gemeinschaft, diejenige aber, welche durch B hervorgebracht würde, Gesellschaft nenne und demnach gemeinschaftliche Beziehungen und Verhältnisse von den gesellschaftlichen unterscheide, gebe ich damit die vorläufige Bestimmung der Begriffe, an welche diese Abhandlung alle Erscheinungen, die sie zu erörtern bestimmt ist, anknüpfen wird. 3. Zunächst aber sollen einige Erläuterungen der Begriffe selber sich anschließen. Was nun als das wesentliche Merkmal des Begriffes der Gemeinschaft allen seinen Formen zukommt, das kann auch gefaßt werden als der einer gewissen Dauer nach gemeinsame, d. i. gleichgerichtete Wille der Menschen. Wie erkennt man den Willen eines anderen Menschen? Nicht unmittelbar, wie man sich des eigenen bewußt ist, sondern man muß ihn aus Zeichen erschließen. Der Schluß beruht darauf, daß man dieselbigen Zeichen als Ausdrücke des eigenen Willens kennt. Nun wurden als Kundgebungen eines relativ unbewußten oder verborgenen Willens die Gefühle von Schmerz und Lust aufgefaßt; da aber diese Gefühle gleichfalls einem jeden nur aus eigener Erfahrung bekannt sind, so müssen die Zeichen, aus denen man auf diese schließt, zugleich als Zeichen des entsprechenden Willens gedeutet werden. Solche Zeichen sind nun immer gewisse Veränderungen; Veränderungen erscheinen als Bewegungen. Ob diese Bewegungen mehr oder minder willkürlich sind, kann auch nur erschlossen, nicht ihnen angesehen werden. Nun gibt sich aber auch der in höherem Grade bewußte Wille in unwillkürlichen und in willkürlichen Bewegungen kund. Die äußeren Zeichen der verschiedenen Willensbeziehungen 13 Gemeinschaft: In A nicht hervorgehoben. 14 Gesellschaft: In A nicht hervorgehoben.

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sind also insofern dieselbigen. Das strenge Erfordernis zum Erkenntnisgrunde eines gemeinsamen Willens wird mithin darin bestehen, daß gemeinsame Bewegungen wahrgenommen werden, welche auf gemeinsame Gefühle schließen lassen. Man kann aber auch mit schwächeren, auch mit bloß negativen Kriterien sich zu begnügen genötigt sein. Solches ist nun vor allen das Verharren in einem gegebenen Zustande, wenn Grund zu der Annahme vorhanden ist, daß derselbe durch eigene Aktion verändert werden könnte-, vorausgesetzt, daß der Wille dazu vorhanden und stärker wäre als der Wille zur Verharrung. Die Tatsache des Verharrens in einer gegebenen Willensrichtung ist aber das, was wir unter Gewohnheit verstehen. Die am meisten gewohnte Richtung ist die Richtung des geringsten Widerstandes und folglich des geringsten Kraftmaßes, mithin (psychisch) des geringsten Schmerzes der Anstrengung, und die Tendenz zum geringsten Schmerze kann - wie früher gesagt wurde - als Prinzip des Willens überhaupt ausgesprochen werden. Wo wir daher auf Gewohnheit in Handlungen, die ihrer Natur nach willkürliche sind, oder auch in Duldung und Unterlassung möglicher Reaktionen, aus äußeren Zeichen zu schließen Grund haben, da müssen wir auch auf Willen dazu schließen; indem wir setzen, daß derselbe, wenn er auch nicht unmittelbar bewußt sein sollte, durch Störung oder Hemmung als Schmerz bewußt werden würde. Ein Verhältnis von Menschen zueinander, als ihr persönlicher Stand oder Zustand aufgefaßt, muß demnach immer als ein von Allen, die sich darin befinden, gewolltes angesehen werden. 4. Demnach sage ich nun, daß ein gemeinsamer Wille überall vorhanden ist, wo eine Menge von Menschen sich dauernd in Herrschende und Gehorchende scheidet. Als Gehorchende müssen aber Alle angesehen werden, welche nicht einen Willen durch Willkür (in Handlungen oder Unterlassungen) kundgeben, der dem herrschenden Willen zuwider ist. Der Wille der Herrschenden gibt sich aber eben darin kund, daß der Wunsch durch willkürliche und wahrnehmbare Zeichen mitgeteilt wird, es mögen gewisse Handlungen durch die Gehorchenden geschehen oder nicht geschehen. Je nach seiner Stärke und nach der Art seiner Mitteilung kann dieser Wunsch in verschiedenen Formen sich ausprägen: als Bitte, Ermahnung, Forderung, als Schieds- oder Richterspruch, als Befehl, als Gesetz, und kann seine Wirkungsfähigkeit verstärken durch Anhängung von Versprechen (Verheißung) oder Drohung, d. i. durch Vorhersagung, daß etwas geschehen oder nicht geschehen werde, wenn die Erfüllung des kund10 Gewohnheit:

In A und B nicht hervorgehoben.

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gegebenen Wunsches erfolgen oder nicht erfolgen sollte - sei es nun, daß dieses Geschehen als von der Willkür des Versprechenden (Drohenden) abhängig, oder sonst als sichere, bzw. wahrscheinliche Folge hingestellt werde. - Diejenigen nun, welche in irgendwelchem Stücke und bei irgendwelcher Gelegenheit nicht gehorchen, während es von ihnen erwartet wurde, nehmen insoweit an dem gemeinsamen Willen nicht teil. Sie nehmen aber doch daran teil, insofern sie nicht etwa das ganze Verhältnis, nach welchem sie den Gehorchenden gleich sind - wie sie denn auch bisher (der Voraussetzung nach) selber den Gehorsam ganz oder doch zum Teil zu leisten pflegten - , durch ihr Verhalten zu ändern versucht haben; und sie gehen nachträglich auch in den Willen, der auf das Stück sich bezog, wovon sie sich ausgeschlossen hatten, wieder ein, oder „fügen sich darin", wenn sie dem Willen der Herrschenden, indem dieser alle seine Kräfte aufwendet, um sich durchzusetzen, am Ende doch gehorchen; sei es auch, daß dieses dann nicht mehr aus freien Stücken, sondern auf unmittelbare Nötigung hin geschehe, denn es erfolgt dann doch noch durch Willkür, wenn auch durch Willkür geringen Grades. Nur wenn der Wille hierbei ganz untätig bleibt, und bloß Schmerz erleidet, muß er als ganz und gar dem herrschenden Willen entgegengerichtet angesehen werden. - Übrigens aber kann die Gewohnheit des Gehorchens sowohl durch anders gerichtete Gewohnheiten als durch besondere Wünsche gehemmt worden sein. Der aktuelle Gehorsam zeigt entscheidend, daß die erstere, für sich oder mit Wünschen, welche sie unterstützen, die stärkste Willensrichtung gewesen ist. Der Gehorsam kann nun teils im Tun, teils im Unterlassen sich ausdrücken. Im ersten Falle besteht der entsprechende Ungehorsam in einer Unterlassung; hiergegen kann der herrschende Wille sich durchsetzen, obgleich er das Geschehene nicht ungeschehen zu machen vermag, durch Einwirkung auf die Willkür oder durch Nötigung, indem er verursacht, daß nachträglich ein dem geforderten ähnliches und dasselbe ersetzendes Tun erfolge - wenn nicht gerade an dem versäumten Zeitpunkt die ganze Bedeutung des Befehles gelegen war - oder, indem er die Differenz der Willen (seinen Un-Willen) und zugleich seine Überlegenheit fühlen läßt durch Einwirkung auf den Willen überhaupt, nämlich durch Zufügung von irgend etwas (vermutetermaßen) Ungewolltem oder Schmerzlichem, d. i. durch Feindseligkeit, welche jedoch mit freundlicher Endabsicht zusammen bestehen kann; es ist aber leicht zu folgern, daß auch beide Arten des Drucks verbunden werden können. Wenn aber der Gehorsam durch 25 Im ersten Falle: In B: Im ersteren Falle.

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ein Tun verletzt worden ist, so mag zwar auch eine Nötigung erfolgen zu einem neuen Tun, welches die Wirkungen des früheren, soweit es möglich ist, wieder aufheben soll; jedoch die aktive Willkür, welche sich im Ungehorsam ausgedrückt hat, kann hierdurch nicht getroffen werden, und es bleibt diesem gegenüber nur das andere Mittel, den herrschenden Willen nachher als solchen geltend zu machen, sei es auch, daß die Art desselben mitbestimmt werde durch die Absicht, von künftigem Tun, das jenem ähnlich wäre, oder überhaupt von künftigem Ungehorsam abzuhalten. In diesen Merkmalen kommen die Begriffe Zwang, Züchtigung, Schande, Strafe u. a. überein. 5. Von den verschiedenen Äußerungsformen eines Wunsches entsprechen dem Begriffe des Herrschens am meisten diejenigen des Befehls und des Gesetzes (Gebot oder Verbot), welche unmittelbar darauf sich richten, daß etwas geschehen oder nicht geschehen solle-, worin schon der Nebensinn angedeutet liegt, daß der Wünschende seinen Willen auch durch Willkür durchzusetzen gesonnen sei, welcher Nebensinn sich dann entfaltet, wenn die Androhung eines durch seine Willkür zu verhängenden Übels für den Fall, daß der Gehorsam nicht erfolge, ausdrücklich darangeknüpft wird. Denn hier ist die Trennung der oberen und der unteren Willen - um einmal den Gegensatz so zu bezeichnen - am deutlichsten, indem auf etwanige andersgerichtete Wünsche der letzteren gar keine Rücksicht genommen wird, während durch andere Formen der sich geltend machende Wunsch als ein minder starker und nicht unbedingt darauf, daß er sich durchsetze, bestehender eingeführt wird. Je weiter er hiervon entfernt ist, desto mehr würde es ihm widersprechen, von solcher Androhung begleitet zu werden, hingegen um so eher mag er sich durch das Gegenteil, nämlich durch Verheißung einer Wohltat für den Fall der Erfüllung, zu verstärken suchen. Denn hierdurch wird in dem Maße weniger Nötigung ausgeübt, als Begierde freier ist denn Furcht, und indem die Verheißung erfüllt wird, tut der herrschende Wille um so weniger seine Überlegenheit kund, als Gewährung von Wohltat ein geringeres Zeichen davon ist denn Verhängung von Übel. Geht aber die Verheißung dahin, ein Übles, dessen man mächtig sei, unterlassen zu wollen, so ist die Wirkung noch fast dieselbe, als die der Androhung (deren bloße Umkehrung sie eigentlich ist). Ebenso ist die Androhung, Gutes unterlassen zu wollen, logisch gleich der Verheißung, es tun zu wollen im entgegengesetzten Falle; obgleich auch hier sowohl die beabsichtigte als die erfolgende Wirkung nicht notwendig 21 etwanige-. In B: etwaige.

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dieselbe ist. - Androhung von Übel an eine Bitte (welches die schwächste Kundgebung eines Wunsches und einem herrschenden Willen am wenigsten eigentümlich ist, ja ihm leicht ganz unangemessen werden kann) anzuknüpfen, ist sinnlos, denn die Bitte sagt: ich wünsche, daß das und das geschehe (oder nicht); es hängt ab von deiner Willkür - wenn du sie meinem Wunsche gemäß anwendest, so wirst du mir Lustgefühl erregen, aber nur mein Wunsch, nicht meine Willkür hat damit zu tun, keine Rücksicht auf mich, außer darauf, daß ich diesen Wunsch ausspreche (worin freilich Mehreres oder Minderes enthalten sein kann), möge dich abhalten, unwillfährig zu sein. Damit ist wohl vereinbar, hinzuzufügen: aber die Rücksicht auf Gutes, was ich dir erweisen werde, möge dich antreiben zu gehorchen, d. i. die Antriebe dazu vermehren. Jedoch nicht die Drohung: wenn nicht, so werde ich dir Schmerz erregen, laß also die Furcht vor meiner Willkür in deine Überlegung eingehen! - Aus dem Grunde dieses Unterschiedes wird auch die Kombination von Verheißung und Drohung, zur Verstärkung eines Wunsches, leicht als unvernünftig empfunden. Sie ist logischerweise wohl möglich, aber sie wird gehemmt, indem mit dem durch Drohung verstärkten strengen Geheiß, wegen der Nötigung, die dadurch ausgeübt wird, die sichere Erwartung des Gehorsams sich assoziiert; hingegen Verheißung geht sehr häufig gerade aus Zweifel über den Erfolg hervor, und drückt dann nur die Hoffnung aus, daß die Hinzufügung des Reizmittels Erfüllung des Wunsches fördern werde. Sehr häufig: sie kann ihrer Natur nach auch mit der sicheren Erwartung verknüpft sein, aber durch die Gewohnheit jener anderen Assoziation wird dieses um so schwieriger, wenn gerade der Fall ihrer Vereitlung als Ausnahme besonders ins Auge gefaßt wird, wie es durch Drohung geschieht. Nun folgt ferner: wenn die Form, in welcher der Wunsch geäußert wird, alle Beziehung auf Gewohnheit des Gehorchens und alle Forderung persönlicher Rücksicht abstreift, dagegen aber mit der Verheißung einer der gewünschten entsprechenden Leistung (um diesen Ausdruck in umfassendem Sinne zu gebrauchen) sich ganz und gar erfüllt, so wird aus dem Bitten ein Bieten; und wo dieses die dauernde Art des Verkehrs ist, da geht für unsere Betrachtung mit dem Begriff des Herrschens auch derjenige der Gemeinschaft gänzlich verloren, und das Gebiet der Gesellschaft nimmt seinen Anfang. 6. Es ist aber klar, daß der Herrscherwille eine oder mehrere Personen, welche der Gemeinschaft angehören, zu seinen Trägern haben muß, und daß die mehreren auch die gesamte Anzahl ausmachen können. Wiederum: sind es mehrere, so kann nur deren gemeinsamer Wille als Herrscher-

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wille und daher als Wille der Gemeinschaft gelten. Ihr gemeinsamer Wille mag aber dahin gehen, daß dasjenige, worin eine gewisse Anzahl von ihnen übereinstimme, Alle als Inhalt ihres Willens anerkennen wollen. Sei dieses eine Anzahl, welche größer ist als die Hälfte der Gesamtheit, so verhält sich die geringere Zahl zu dem Willen jener schon gehorchend. Ferner: da der Einzelne hier überhaupt nur insofern Herrscher ist, als sein Wille unter gewissen Umständen mit anderen sich zum herrschenden vereinigen kann: so folgt, daß außerhalb dieser Umstände kein Einzelner ein Herrschender, sondern jeder ein Gehorchender ist. - Ist es aber nur ein einzelner Mensch, der den herrschenden Willen darstellt und gewohnheitsmäßig Gehorsam findet, so ist er auch fortwährend ein herrschender, insofern er fortwährend seinen Willen kundgeben kann, ob er gleich tatsächlich, nicht bloß dem Inhalte desselben, sondern auch der Form seiner Kundgebung nach, durch andere Willen, also etwa auch durch das, was als Wille der Gemeinschaft anzuerkennen wäre, mag bestimmt oder gehemmt werden, ob nun dieser in Gewohnheiten, welche mit der Gewohnheit des Gehorchens zusammen bestehen, gefunden werden, oder in besonderen Wünschen sich ausdrücken mag, deren Anspruch, für den Willen der Gemeinschaft zu gelten, aus irgendwelchen Gründen, richtigeroder unrichtigerweise erschlossen wird. 7. Es kann aber der Wille einer Gemeinschaft, nicht bloß in der Gestalt, in welcher er als Herrschen der Herrschenden und Gehorchen der Gehorchenden sich kundgibt, sondern in jeder anderen, sei es als Gewohnheit oder als Wunsch, ebenso wie ein einzelner Wille, von Lust und Schmerz getroffen werden, und mit unwillkürlichen Bewegungen oder willkürlichen Handlungen auf diese Gefühle reagieren, und zwar insbesondere auf die Erfüllung oder Vereitlung von Wünschen, unangesehen ob dieselben vorher kundgegeben waren oder nicht. - Überhaupt ist aber die Scheidung des gemeinschaftlichen Willens in einen herrschenden und in gehorchende, dem Begriff der Gemeinschaft keineswegs wesentlich. Alle ihre Formen werden sich aber in dieser Hinsicht zwischen den beiden Extremen bewegen: 1. daß die gemeinsame Willensrichtung bloß gewohnheitsmäßig und gelegentlich ist, in allen Beziehungen, welche überhaupt Folgen des gemeinschaftlichen Verhältnisses sind, oder 2. daß dieselben insgesamt abhängig sind von den kundgegebenen Wünschen eines herrschenden Willens, bis auf die eine darunter ruhende Gewohnheit, welche in der gemeinsamen Bejahung dieses Zustandes sich ausdrückt. Wiederum aber können innerhalb des ganzen Gebietes, wo ein herrschender Wille vorkommt, die Wünsche desselben in größerer oder geringerer Übereinstim-

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mung sein mit demjenigen, was die Gehorchenden, sei es alle oder irgendwelche Anzahl von ihnen, auch ohne dieselben wünschen oder tun würden: hier ist eine Reihenfolge denkbar von voller Übereinstimmung mit Allen bis zu voller Entgegensetzung gegen Alle. Der Grenzfall auf jener Seite ist nur schwach differenziert von einem herrscher/ose« Zustande. Hingegen derjenige diesseits ist kaum noch zu unterscheiden von einem rein feindseligen Verhältnisse. Denn je mehr dem Gehorchenden der Gegensatz gegen seine Wünsche bewußt wird, desto weniger wird sein Gehorsam mehr ein gewohnheitsmäßiger, d. i. relativ schmerzloser und leichter sein, sondern um so mehr aus lästiger Furcht vor den Übeln, durch welche der herrschende Wille sich gegen den Ungehorsam geltend machen würde, geschehen. Sobald aber Furcht allein das Verhältnis trägt, so ist es nur noch an die Fähigkeit des herrschenden Willens, jene Übel zu verhängen, und etwanige andere, objektive oder subjektive Ursachen solcher Furcht, gebunden; sobald diese aufhören, und insbesondere, wenn jene Fähigkeit bezweifelt und durch Feindseligkeit auf die Probe gestellt wird, so ist das ganze Verhältnis aus dem Bereich des Gemeinschafts-Begriffs herausgefallen. Auf der anderen Seite wird ein Verhältnis gegenseitiger Leistung, welches nicht auf gemeinsamen Gewohnheiten beruht, und nicht in besonderen, gegebenen Beziehungen zwischen den Teilhabern seinen Grund hat, sondern allein durch die bewußten gemeinsamen Wünsche (Neigungen) derselben getragen wird, als ein rein freundschaftliches zu bezeichnen sein. Wenn das feindselige unterhalb der Gemeinschaft steht, so ist dieses gleichsam über dieselbe hinausgewachsen. Aber erst, wenn später von den verschiedenen Arten der Gemeinschaft wird gehandelt werden, kann sich das Eigentümliche der Freundschaft deutlicher herausstellen. 8. Durch das Merkmal, nur in freien Neigungen zu wurzeln, stimmen alle drei nicht-gemeinschaftlichen Verhältnisse, wie sie hier sind begriffen worden, überein. Jene mögen nun dahin gehen, des eigenen Vorteils oder der eigenen Annehmlichkeit halber, den Willen des Anderen zu verneinen (Feindschaft), ihn gelegentlich und bedingt zu bejahen (Gesellschaft), oder aber dauernd und unbedingt zu bejahen (Freundschaft). Dagegen ist es der Gemeinschaft eigentümlich, die Bejahung, außerdem daß sie in (subjektiven) Gewohnheiten sich betätigt, auch noch in einer besonderen Weise, nämlich durch das Pflicht-Gefühl zur Geltung zu bringen. Sehen wir zu, was dieses bedeutet. Ich fühle die Pflicht, etwas zu tun, dies ist (hierüber 12 Furcht: In A nicht hervorgehoben.

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darf allgemeines Einverständnis vorausgesetzt werden) dasselbe, als wenn ich dabei einen Willen denke, in dessen Wunsch es so gelegen ist, daß er es gebietet, befiehlt. Dies kann in den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens nur der Wille eines Menschen sein, oder doch eines insoweit menschenartig gedachten Wesens. Solche Wesen, welche mit einem gebietenden Willen und gegründetem Anspruch auf Gehorsam über den Menschen waltend, daher auch als Urheber von Normen des Verhaltens, die als Pflichten bewußt im Bewußtsein auftreten, gedacht werden, sind unter den Vorstellungen anzutreffen, welche die Menschen von Göttern sich gebildet haben. Es ist eine natürliche Folgerung, daß zu diesen gedachten Personen ihre Urheber, die Menschen, ihren eigenen Gefühlen und Handlungen nach, und jene zu diesen den Gefühlen und Handlungen gemäß, welche ihnen durch Fiktion zugeschrieben werden, in denselbigen verschiedenen Verhältnissen stehen können, wie wirkliche Menschen zueinander. Nun ist aber ein Verhältnis von herrschenden und beherrschten Willen erst, wo es ganz und gar auf Furcht der letzteren beruht, als ein solches von gegenseitiger Feindschaft anzusehen (wie oben festgesetzt wurde). Hieraus folgt, daß der Gehorsam aus Pflichtgefühl dasselbe innerhalb des Begriffes der Gemeinschaft erhält. Denn dieses Motiv nimmt zwischen Furcht und bloßer Gewohnheit einen mittleren Rang ein und die genauere Untersuchung würde ergeben, daß es in individueller wie in generischer Entwicklung aus einer Mischung von beiden seinen Ursprung nimmt. - In der Tat gibt es kein Pflichtgefühl - wie man mit der Sicherheit, die in diesem Gebiete möglich ist, aus dem eigenen Selbstbewußtsein schließen darf das nicht zuletzt auf den Willen eines Menschen - sei es den eigenen, sei es fremden - oder eines Gottes könnte zurückbezogen werden. Aber das Gefühl der Furcht vor den Übeln, die ein solcher Wille verhängen möge, ist von dem reinen Pflichtgefühl streng zu unterscheiden, das aus einer Mischung von beiden seinen Ursprung nimmt. Jedes Pflichtgefühl ist ein moralisches Gefühl, jedoch nicht umgekehrt: jedes moralische Gefühl ein Pflichtgefühl. Das Pflichtgefühl ist zugleich ein ethisches Werigefühl, auf das eigene Subjekt bezogen; wie jedes von dieser Art, läßt es sich in ein Wert-Urteil unmittelbar auflösen, und ist zumeist auch im Bewußtsein eng damit verbunden. Ein freies Schätzungsgefühl, und die objektive Betrach2 als wenn ich: Im Manuskript (A: S. 64) folgt danach die hier fehlende Passage: „wenn ich sage, daß ich es tun müsse, oder - da es auch Müssen von anderer Art gibt - tun solle. Nun aber wird einmal das Gefühl in diesem Satz übertragen und abgeklärt, so kann er auch anders seinem Inhalt nach aufgelöst werden, als wenn ich . . . " - Die Auslassung ist im Manuskript an Anfang und Ende mit geschwungenen Bleistiftstrichen markiert.

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tung des Denkens sagen zugleich: daß die Neigung, das Seinsollende zu erfüllen, wenn sie auch an und für sich im Streit der Wünsche geringe Kräfte habe, dennoch den größten Wert vor allen anderen besitze. So dient denn das Pflichtgefühl, wenn es nötig ist, dazu, jene Neigung in ihrem Kampfe ums Dasein zu unterstützen, oder sogar sie erst im Bewußtsein hervorzurufen. Das Pflichtgefühl aber, welches, nachdem das tatsächliche Verhalten ihm entgegen gewesen ist, fortdauert, also ohne die ihm zukommende Wirkung ausgeübt zu haben oder noch ausüben zu können, ist dasselbe, was unter Gewissensbiß zu verstehen ist. - Indem ich nun von dem Pflichtgefühl, welches auf die Vorstellung von einem göttlichen Willen zurückführt, einstweilen absehe; und ebenso von dem möglicherweise vorkommenden Falle einer bloßen Beziehung desselben auf den individuell eigenen Imperativ; so sage ich: das Pflichtgefühl bezieht sich in der Regel, da wo es in den Kampf von Wünschen eintritt, auf einen fremden herrschenden Willen, also mittelbar auf den Willen einer Gemeinschaft, welcher der Pflichtige selber angehört oder unter deren Einfluß er steht, als gehöre er ihr an; denn es ist diesem Gefühle nicht wesentlich, daß der Urheber des Sollens das mit ihm bewußt wird, zugleich erkannt werde. Es kann auch mit anderen Gefühlen, als Furcht und Hoffnung aller Art, im Bewußtsein vermischt sein, so daß es dann nur durch den Prozeß der Besinnung ausgeschieden und in Reinheit dargestellt wird. - Überall aber, wo es vorhanden ist, drückt also der Wille der Gemeinschaft nicht unmittelbar als Gewohnheit sich aus, was jedoch nicht hindert, daß der Inhalt des Sollens in einer überlieferten gemeinsamen Gewohnheit bestehe. Also kann, in anderen Dingen, als auch dem Herrscherwunsch gegenüber, wo die Gewohnheit versagt, Pflichtgefühl an die Stelle treten und die Versuchung, nicht gehorsam zu sein, überwinden. Hier ist also das Gefühl zunächst auf den Herrscherwillen, mittelbar aber auf den Willen der Gemeinschaft bezogen. 9. Für das Vorhandensein einer Gemeinschaft (als dauernden Verhältnisses) wird sich demnach eine sichere Vermutung ergeben, wenn innerhalb einer Anzahl von Menschen gewisse Normen des gegenseitigen Verhaltens mit Worten und Taten, regelmäßig sich entdecken lassen, welche gerade für diese Gruppe besondere Pflichten ausmachen und als solche, sei es durch Gewohnheit, sei es durch Vermittlung jenes Gefühls, im Durchschnitt der Fälle befolgt werden 5 . Obwohl ich nun besonders hervorheben 5

Die Pflichten aber, deren sich ein Mensch etwa gegen Menschen als solche, d. i. gegen jeden anderen Menschen bewußt ist, führen schon darum nicht zur Statuierung einer

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muß, daß ich unter Gemeinschaft nicht ein Ding verstehe, einen Organismus oder etwas in irgendeinem Sinne Lebendiges, sondern nichts weiter als ein dauerndes Verhältnis zwischen Menschen, das in bestimmten Tatsachen sich ausprägt; so läßt sich doch bildlich die Gemeinschaft als Trägerin eines Willens, und insofern als eine dem einzelnen Menschen gleichartige Person auffassen, obgleich ihr andere wesentliche Merkmale dieses Begriffes fehlen. So können denn Gemeinschaften, als Einheiten gedacht, zueinander wieder in denselben Verhältnissen stehen, wie einzelne Menschen: in feindseligem, gesellschaftlichem, gemeinschaftlichem und freundschaftlichem. Ebenso kann es aber innerhalb jeder Gemeinschaft Willensbeziehungen geben, welche gänzlich oder zum Teil dem Einfluß des Willens entrückt sind, mithin rein feindselige, rein freundschaftliche, aber auch solche, welche ein gesellschaftliches Verhältnis darstellen. Und gerade die Stellung und Bedeutung, welche diese letzteren innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften und in wechselnden Zeiten einnehmen, werden einen vorzüglichen Gegenstand der gegenwärtigen Erörterung ausmachen. 10. In dem Begriff der Gesellschaft wird aber das Verhältnis der Indifferenz (welches richtiger ein Nicht-Verhältnis heißen würde) oder der Feindseligkeit, als vorher gegebener Zustand angenommen, welcher dann in gewissen einzelnen Fällen zu einer Übereinstimmung verschmilzt oder sich ausgleicht; der Begriff soll nur die Tatsachen dieser einzelnen Fälle, in welchen gleichsam sich schneidende Willen in einer Diagonale resultieren, nach ihrer Gleichartigkeit zusammenfassen. Der einzelne Akt, in welchem dies geschieht, heißt ein Vertrag. Ein Vertrag drückt den Inhalt zweier voneinander unabhängiger Willen in bezug auf gegenseitige Leistung aus. Dagegen ist Wille zur Enthaltung von Feindseligkeit gegen Willen zur Leistung kein Vertrag und begründet kein gesellschaftliches Verhältnis, da es einen überlegenen, d. i. durch Erregung von Furcht wirksamen Willen allgemeinen Menschen-Gemeinschaft, weil sie tatsächlich sehr fern von Allgemeinheit sind und deshalb notwendigerweise der Gegenseitigkeit entbehren. Denn solange als dieses der Fall ist, so kann man nur das Bruchstück einer Gemeinschaft, mithin vielleicht die Tendenz zur Bildung derselben erkennen, wenn nicht (in anderen Fällen) ihre vergehenden Reste. Aber auch ohnehin ist unser Begriff durch wirklichen regelmäßigen Umgang bedingt, der zum mindesten ein gegenseitiges Wissen voneinander, wenn nicht persönliches Kennen, zur Voraussetzung hat. 25 in bezug auf gegenseitige Leistung: Im Satz wurde hier eine Zeile des Manuskripts ausgelassen. In A heißt es: „... gegenseitige Enthaltung von Feindseligkeit oder gegenseitiger Leistung ...". 33 regelmäßigen Umgang: In A bricht der Text der Fußnote an dieser Stelle ab.

I. Gemeinschaft und Gesellschaft (Theorem der Kultur-Philosophie)

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auf der einen Seite impliziert, es bleibt also innerhalb eines Verhältnisses von Feindseligkeit. - Ein Vertrag über Gewährung von Leistungen kann immer als ein Austausch betrachtet werden; die Leistungen selbst aber können auf beiden Seiten in der Hingabe von Gegenständen aus dem Bereiche des einen Willens in das des anderen, oder aber in willkürlichen Tätigkeiten zum Besten des Anderen, bestehen; oder eine GegenstandsLeistung auf der einen Seite kann gegen eine Tätigkeits-Leistung auf der anderen ausgetauscht werden. Der einfachste Fall ist Austausch von Gegenständen, wenn er unmittelbar geschieht; hier erschöpft sich der Ausdruck des gerade vorhandenen Willens sogleich durch die Übergabe oder Überlassung aus der eigenen Hand in die fremde; wobei freilich für eine gewisse Zeit Enthaltung von Feindseligkeiten die tatsächliche Voraussetzung bildet. Anders ist es, wenn Übergabe von der einen Seite bloß durch Versprechen von der anderen erwidert wird. Ein Versprechen gibt einen Vorsatz kund, d. i. einen Wunsch in betreff zukünftiger Bestimmung der eigenen Willkür, diesen Wunsch aber selber als Ergebnis der Willkür hinstellend, so daß dadurch auch die zukünftige Bestimmung als von der gegenwärtigen Willkür abhängig bezeichnet wird. Hier ist also möglich: daß der Vorsatz kundgegeben wird, ohne daß er vorhanden ist, oder daß doch der wirkliche von dem kundgegebenen verschieden ist; sodann aber, auch wenn beide übereinstimmen, daß in Wirklichkeit die Willkür später anders bestimmt wird, als vorher angenommen wurde, also nicht in entscheidender Weise durch die Tatsache des gehegten und ausgesprochenen Vorsatzes. Die Meinung auf der Gegenseite, daß der Vorsatz wahr sei und daß er sich erfüllen werde, ist - außer der Schätzung solcher Ursachen (in betreff des zweiten Punktes), die nicht in der fremden Willkür liegen Vertrauen zu der Person, welche das Versprechen geleistet hat; dieses Vertrauen kann (subjektiv) sicher, mehr oder minder unsicher sein; (objektiv) unbegründet, besser oder schlechter begründet, in vielen Graden. So gut wie auf der einen Seite kann auch auf beiden bloße Versprechung geleistet, und in verschiedener Weise beglaubigt werden; wodurch sich mannigfache Modalitäten ergeben. - Eine Tätigkeits-Leistung kann nicht in derselben Weise gegen eine andere, noch gegen eine gegenständliche ausgetauscht werden, wie Gegenstände um Gegenstände; darum weil jene immer eine längere Zeit in Anspruch nimmt zu ihrer Erfüllung; innerhalb derer die Gegenleistung entweder schon gewährt - so ist auf jener Seite das Vertrauen gewesen - oder bloß versprochen worden ist - dann ist es auf dieser Seite; oder endlich zugleich geschieht - dann ist es auf beiden vorauszusetzen. - Lautet aber ein Vertrag auf gegenseitige Enthaltung von

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Feindseligkeiten, so kann er auf bestimmte oder auf unbestimmte Handlungen sich beziehen, und jedes entweder auf eine gewisse Zeit, oder für unbegrenzte Dauer; in jedem Falle aber werden von beiden Seiten bloße Versprechungen kundgegeben, das Ganze ist also auf Vertrauen gegründet. 11. Wie nun Gemeinschaft auf Gewohnheit und Pflichtgefühl, so beruht Gesellschaft durchaus auf Begierde und Furcht oder auf Wünschen; aber nicht auf Wünschen schlechthin, sondern die mit der Überlegung verbunden sind, daß Enthaltung bzw. Leistung für ihre Erfüllung das Nützlichste sei. Der Wille selber, als Gefühl oder als Wunsch, hat hier mit einer anderen menschlichen Person als der eigenen gar nichts zu tun; ob er nun auf ein Haben (fremde Gegenstände), oder auf ein Geschehen-machen (fremde Tätigkeiten) ausgehe, er ist durchaus sachlich und nicht persönlich; nur die akzessorische Reflexion bejaht hier den fremden Willen, so weit und so lange, als der im Bewußtsein vorgestellte Zweck es notwendig macht oder zu erheischen scheint; während es an und für sich jenem durchaus gleichgültig ist, ob dieser vorhanden sei und ob er Lust und Schmerz empfinde; er betrachtet ihn ganz und gar nicht als Zweck, sondern allein als Mittel und Werkzeug, dessen zufälliges Belebtsein und Menschsein eine eigentümliche Art der Behandlung notwendig macht. Die feindselige Tendenz empfindet den Anderen als Hindernis zu ihrem Zwecke, sucht ihn daher zu vernichten, oder seinen Schmerz als Selbstzweck, wünscht ihm also solchen zuzufügen; die gesellschaftliche verzichtet auf beides; sie setzt sich auf den Fuß der Gleichheit, sie entdeckt an dem Anderen, daß er nicht unbedingt hinderlich sei, sondern unter Umständen sogar dienlich sein möge, schon dadurch, daß er aufhören werde, selber einen durchaus feindseligen Willen zu zeigen; um so mehr aber, wenn er Leistungen um Leistungen gewähre, sie will ihn also erhalten oder gar fördern, insoweit es nötig ist, um seine Willkür zu solchem Verhalten zu bestimmen. Dieses Verhältnis, in einem vollkommenen Typus gedacht, ist ein rein rationales, d. i. auf vernunftmäßiger Berechnung von Nutzen und Annehmlichkeit gesetztes. Je mehr es von diesem Typus abweicht, desto weniger ist es ein gesellschaftliches. Es nähert sich dem feindseligen, je mehr das Gefühl der Überlegenheit oder (auf der Gegenseite) der Furcht, an der Überlegung Anteil hat und das tatsächliche Verhalten mitbestimmt; dem freundschaftlichen, je mehr reines Wohlwollen und Liebe, sympathische Neigungen des Menschen zu Menschen; und der Gemeinschaft in dem Verhältnis wie Gewohnheit in gleicher Willensrichtung, und Pflichtgefühl des Einen dem Andern gegenüber, unter den Motiven mitspielen. Jedoch ist schon verständlich, und wird sich noch deutlicher ergeben, daß

I. Gemeinschaft und Gesellschaft (Theorem der Kultur-Philosophie)

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wie Gemeinschaft der Freundschaft, so Gesellschaft der Feindschaft verwandter, und daß in diesem Maße Entstehung des einen aus dem anderen leichter ist.

Schlußbemerkung und Übergang In der Fortsetzung dieser Abhandlung werde ich mit den hier gegebenen Begriffen an die historische und gegenwärtige Wirklichkeit menschlichen Zusammenlebens herantreten und jeden so als Maßstab an dieselbe anlegen, daß die Tatsachen der Erfahrung, in Verhältnissen zu ihnen (die freilich von der Genauigkeit mathematischer Formeln weit entfernt bleiben werden) ausgedrückt, wenigstens ihren Umrissen nach die erste Bedingung wissenschaftlicher Betrachtung, nämlich Vergleich bar keit, erlangen sollen. Zu diesem Behufe werde ich zunächst dem Gebiete dieser Erfahrung eine feste Grenze geben, welche weit genug ist, um sehr mannigfaltige Erscheinungen zu umfassen, und doch verhindern wird, daß die Erörterung, gleich bei ihrem ersten Ausfluge, in unbekannte Gegenden sich verliere. Die Ausdehnung auf alle hauptsächlichen Arten jener Tatsachen, von denen irgendwelche Kunde vorhanden ist, wird zwar nötig sein, wenn die allgemeine Bedeutung jenes Gegensatzes nachgewiesen werden soll; und vollends, wenn sich am Ende die Aufgabe herausstellen wird, den Ursprung jener Tatsachen im Zusammenhange der gesamten menschlichen und weltlichen Entwicklung zu erkennen. Hier aber ist es noch der nächste Gedanke, darzutun, daß überhaupt jenen Begriffen eine bedeutende Wirklichkeit entspreche und, wenn es möglich ist, innerhalb derselben eine ursächlich bestimmte Entwicklung nachzuweisen. Ich werde mich daher zunächst auf die historischen und gegenwärtigen Zustände der arischen Völkerschaften beschränken und werde mithin auf das, was dieselben mit anderen Völkern der Erde Gemeinsames und Ähnliches darbieten, nur geringe und gelegentliche Rücksicht nehmen, noch geringere aber auf dasjenige, was sich etwa mit quasi-sozialen Tatsachen unter den Tieren möchte vergleichen lassen. Sondern vorläufig sollen unsere Begriffe nur in jenem näheren Gebiete sich als geeignet betätigen, einer wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis der Tatsachen förderlich zu sein. -

31 sich als geeignet

betätigen,:

In B: betätigen: ...

II. Gemeinschaft und Gesellschaft Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirische Kulturformen Leipzig, O. R. Reisland 1887

5 Leipzig, O. R. Reisland genannt.

1887: Als Untertitel von Tönnies nicht im Inhaltsverzeichnis

Vorrede (der ersten Auflage) Der Gegensatz der historischen gegen die rationalistische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle Gebiete der Sozial- oder Kultur-Wissenschaften eingedrungen. Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das stabilierte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte. Ein Verhältnis zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Analyse der Grundprobleme des sozialen Lebens von nicht geringer Bedeutung. Es ist paradox zu sagen, daß der Empirismus, ungeachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der iCawfischen Erkenntnislehre, welche, mit dem Ansprüche auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach ebensosehr modifizierter Empirismus als modifizierter Rationalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Empirismus Humes; denn auch er untersucht nicht, ob es allgemeine und notwendige Erkenntnis in bezug auf Tatsachen und Kausalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deduziert ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirklichkeit und folgl Vorrede: Zusammen mit anderen Vorreden veröffentlicht Tönnies 1925 in den „Soziologischen Studien und Kritiken" auch die Vorrede der Erstausgabe, die in späteren Ausgaben zu Tönnies' Lebzeiten nicht mehr abgedruckt worden war (vgl. Tönnies' Vorwort zum hier abgedruckten Band, S. 27). Der Text erschien zuerst unter dem Titel „Vorrede" in: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig: Fues's Verlag (R. Reisland), 1887 auf den S. X V I I X X . Die Erstveröffentlichung wird im folgenden als A gekennzeichnet. - Das Manuskript dieser Vorrede liegt wie das des Bandes insgesamt in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek unter der Signatur Cb54.32:1.03A. Für diese Ausgabe wurde der Text nicht mit dem Manuskript verglichen, das bleibt der historisch-kritischen Ausgabe von „Gemeinschaft und Gesellschaft" im Rahmen der TG 2 vorbehalten. Auf erhebliche Varianzen zu A wird hier jedoch hingewiesen. 7 Wolfische Schule: Korrekt: Wolffische Schule; das System der rationalistischen Philosophie von Christian Wolff, der im frühen 18. Jahrhundert als .Maitre a penser de l'Allemagne' sehr berühmt war, dominierte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die philosophischen Katheder in Deutschland.

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lieh ihre Möglichkeit deduzieren zu können glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in bezug auf Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne, als ob Erkenntnis die Wirkung von objektiven Qualitäten und Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Produkt von Tätigkeiten des Subjekts, wie das Denken selber. Die Übereinstimmung in bezug auf Wahrheit - so mögen wir in seinem Sinne erklären - wird bedingt durch die gleiche Beschaffenheit der Erkenntnisgeräte, welche, wo es über Anschauungsformen und Verstandeskategorien hinausgeht, nichts als Komplexe von Ideen sind, insbesondere die Assoziationen von Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Namen und Urteilen, so lange als es um Auffassung von Tatsachen sich handelt. Hingegen, wenn die Ursachen gegebener Effekte aufgesucht werden, so müssen schon bestimmte Begriffe über Beschaffenheit der Agentien (Wesen, Dinge oder Kräfte) und über ihre Art zu wirken vorausgesetzt werden, um aus den Möglichkeiten die Notwendigkeiten oder Gewißheiten auszulesen. Diese aber sind nach dem durchgeführten (Humeschen) Empirismus nicht anders erreichbar, als durch ein erworbenes Wissen von regelmäßigen zeitlichen Folgen, so daß in der Tat alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, endlich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich befestigen und als notwendige, d. i. als kausale, gedeutet werden. Die Kausalität wird hierdurch aus den Dingen herausgenommen und in den Menschen versetzt, nicht anders als es durch Kant geschieht, wenn er sie als Kategorie des Verstandes behauptet. Kant aber verwirft die Erklärung, welche Hume unternommen hatte, aus der bloßen individuellen Erfahrung. Die Kantische Fassung, in welcher sie aller Erfahrung vorausgeht, zeigt in Wahrheit den Weg zu einer tieferen Erklärung. Denn das psychologische Gesetz, dessen Entdeckung bei Hume vorliegt, bedarf allerdings der Ergänzung und folglich sogar seiner eigenen Begründung durch die Idee des aus seinem Keime werdenden, mithin mit bestimmten Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestatteten Geistes. Daß von den „consécutions des bêtes" das menschliche Denken sich unterscheidet, kann (in physiologischer Bestimmung) allein aus der Essenz der menschlichen Großhirnrinde verstanden werden, vermöge deren eine bestimmte Tätigkeit der Koordination gefaßter Eindrücke notwendig ist und mit ihrem Wachstum sich ausbildet, und ein bestimmtes Verhältnis, 33 „consecutions

de betes"-. [frz.] svw. Denken oder Schlussfolgerungen der Tiere.

II. Gemeinschaft und Gesellschaft. Vorrede (der ersten Auflage)

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in welches der empfundene innere Gesamtzustand zu diesen besonderen Empfindungen sich setzt. Denn jener ist das absolute A priori, und er kann nur gedacht werden als die Existenz der gesamten Natur durch allgemeine und dunkle Beziehungen auf sich involvierend, von welchen dann einige durch Entwickelung und Aktionen des Gehirnes und der Sinnesorgane, d. h. des verstehenden (davorstehenden) Geistes, allmählich klarer und deutlicher werden. Jede folgende Erfahrung, gleich jeder anderen Tätigkeit, geschieht durch das ganze Wesen mit seinen bis dahin ausgebildeten Organen dafür; aber hieraus ergibt sich ein regressus in infinitum, zu den Anfängen des organischen Lebens hinaufführend, welche auch, als psychische begriffen, die Inkorporisierung einer gewissen Erfahrung genannt werden müssen, da jede Tätigkeit oder Leidenheit (denn Leiden ist nur die andere Art des Tuns), mithin das Leben selber, Erfahrung ist, wie alle Erfahrung Tätigkeit oder Leidenheit ist. Tätigkeit ist die Veränderung des Organismus; sie hinterläßt irgendwelche Spuren, sei es in gleicher, in entgegengesetzter oder in indifferenter Richtung zu der Tendenz seines Wachstums und anderen Entwicklung, und dies ist, was als Gedächtnis verstanden wird, insbesondere sofern es die bleibende Arbeit und Kraft (denn Kraft ist nur vorrätige Arbeit) sinnlicher, d. i. schon in Gestalt von koordinierten Komplexen fertiger Empfindungen ist, welche doch selber erst durch Gedächtnis geleistet werden. Jede mögliche Veränderung eines Organes ist aber allerdings wesentlich bedingt durch den Zusammenhang und Zustand des bestehenden Organes, inwiefern es dieselbe anzunehmen geneigt, also wahrscheinlich (likely) ist oder nicht. In diesem Sinne lehre ich (im zweiten Buche dieser Schrift) die Einheit und Verschiedenheit von Gefallen, Gewohnheit und Gedächtnis als von elementaren Modifikationen des Willens und geistiger Kraft, in bezug auf alle mentale Produktion, und diese Ausführung soll auch auf das Problem des Ursprunges und der Geschichte menschlicher Erkenntnis sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Auslegung, teils im Spinozistischen und Schopenhauerscherl Sinne, teils mit den Mitteln der diese Philosopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten biologischen Deszendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedankens, mit welchem Kant die Hume sehe Darstellung wirklich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt sich nicht allein die Tatsache, sondern auch die Ursache, warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können-, dies sind ehemalige, ja ewige Funktionen, welche in die 9 regressus in infinitum-, [lat.] svw. unendlicher Rückgang.

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Struktur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das Nicht-anderskönnen ist eine Notwendigkeit, auf welche darum unsere Gewißheit sich bezieht, weil tätig sein und gemäß seiner Natur tätig sein, einerlei ist, nach formal identischem Satze. Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemeinschaft bilden, insofern als die Kausalität uns innewohnt wie die Sinnesorgane und wir folglich auch notwendigerweise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Bewirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in bezug auf dieselben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, welche Subjekte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen (tcx övtgos övtoc) Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker, Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten gemeinsam bleibt, daß sie die Agenden der Natur nach Art von Menschen und Tieren in mythologischen und poetischen Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich ausprägt, obschon die Unterscheidung der toten (als der nur bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegenden) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist. Überwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an welchem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjekten teilnehmen. Wenn aber zuletzt die Welt und alle ihre Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt werden, welcher sie aus Nichts hervorgebracht habe und nach seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze gegeben habe, nach welchen ihr gesamter Verlauf als regelmäßiger und notwendiger erscheint; so verschwinden dagegen alle untergeordneten Willen und Freiheiten in der Natur, sogar der freie Wille des Menschen, und nur als unerklärliche Neigungen und Kräfte werden noch diejenigen Tendenzen verstanden, welche nicht aus empfangener anderer Bewegung hergeleitet werden können; und auch das „liberum arbitrium indifferentiae" mag alsdann, nicht sowohl als Tatsache der Erfahrung wie als notwendige Annahme, um den Allmächtigen und Allwissenden von der Urheberschaft der Verletzung seiner eigenen Ordnungen zu entlasten, wiederhergestellt werden, selber in Gestalt einer solchen unerklärlichen Kraft und geheimnisvollen Qualität. Diese ganze Betrachtung, wie auch die Einzigkeit des göttlichen Willens gehört aber schon einem Denken an, welches seinen Prinzipien nach dem religiösen Glauben und volkstümlichen Anschauungen entgegengesetzt ist, wie sehr es auch noch die Spuren seiner Herkunft 10 (tcx övtcos övTaj: [griech.]

svw. das Wesen des Seienden.

28 „liberum arbitrium indiffenrentiae"-. [lat.] svw. gleichgültige Willkür.

II. Gemeinschaft und Gesellschaft. Vorrede (der ersten Auflage)

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aus diesen Quellen tragen mag. Diese Prinzipien entwickeln sich, bis sie auf sich selber stehen und gänzlich von ihrem Ursprünge unabhängig zu sein scheinen, mit ihresgleichen sich begegnend, welche auf den natürlichen Gebieten dieses Denkens, von seinen Anfängen her, frei geschaltet haben. Es ist wissenschaftliches Denken. Dieses hat dort, wo es zuerst und am leichtesten in seiner Reinheit erscheint, nicht mit den Ursachen der Erscheinungen und am wenigsten mit menschlichem und göttlichem Willen zu tun, sondern es geht aus den Künsten des Vergleichens und Messens von Größen und Mengen, als ihre allgemeine Hilfs-Kunst, die des Rechnens hervor, d. i. des Trennens und Zusammensetzens, des Teilens in gleiche Stücke, der Vervielfältigung gegebener Stücke; welche Operationen darum so leicht im bloßen Gedanken vollzogen werden, weil dieser ein geordnetes System von Namen dafür bereit hat und keine Verschiedenheit der wahrgenommenen Objekte die gedachte Setzung gleicher Einheiten als beliebig kombinierbarer stört. Daher nimmt, sofern doch die Beherrschung solches Systemes eines Haltes an irgendwelchen Objekten bedarf, der Rechnende dazu nach Möglichkeit gleiche, leicht übersehbare, leicht hantierbare, und wenn sie nicht zur Verfügung stehen, so wird er sie machen und mit solchen Eigenschaften ausstatten. Denn wenn auch unzählige Körper in der Natur vorhanden sind, die einander nach ihren wahrgenommenen Qualitäten ähnlich gefunden werden und sind, in mehr oder minder hohem Grade, so daß der vollkommene Grad endlich als Gleichheit bezeichnet wird, und wenn auch diejenige Gleichsetzung eine natürliche ist, durch welche sie auf einen Namen bezogen werden, so wird doch dieselbe eine künstliche und gewaltsame in dem Maße, als sie auf bewußte und willkürliche Weise Namen bildet, und die gegebenen Unterschiede nicht bloß in dieser Beziehung außer Acht läßt, sondern sie mit Bedacht aus der Betrachtung ausscheidet oder sogar wirklich vernichtet, zu dem bestimmten Zwecke, eine brauchbare, möglichst vollkommene Gleichheit herzustellen. Alles wissenschaftliche Denken, wie das Rechnen, will aber Gleichheit zum Behufe irgendwelcher Messungen, da Messung entweder Gleichheit oder das Allgemeine, wovon Gleichheit ein besonderer Fall ist, nämlich ein exaktes Verhältnis ergeben muß, welchem wiederum Gleichheit als Maßstab dient. So nämlich sind wissenschaftliche Gleichungen die Maßstäbe, auf welche die wirklichen Verhältnisse zwischen den wirklichen Objekten bezogen werden. Sie dienen der Ersparung von

16 Beherrschung in A.

solches Systems eines Haltes: Korrigierter Satzfehler: „eine Haltes"; korrekt

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Gedankenarbeit. Was in unzähligen Fällen immer von neuem ausgerechnet werden müßte, wird an einem ideellen Falle ein für allemal ausgerechnet, und bedarf dann der bloßen Anwendung; in bezug auf den ideellen Fall sind alle wirklichen Fälle entweder gleich oder stehen in einem bestimmbaren Verhältnisse zu ihm und folglich zueinander. So sind allgemeine oder wissenschaftliche Begriffe, Sätze, Systeme Werkzeugen vergleichbar, durch welche für besondere gegebene Fälle ein Wissen oder wenigstens Vermuten erreicht wird; das Verfahren des Gebrauches ist die Einsetzung der besonderen Namen und aller Bedingungen des gegebenen für diejenigen des fiktiven und allgemeinen Falles: das Verfahren des Syllogismus. Dieses ist in aller angewandten Wissenschaft mit höchst mannigfacher Ausbildung enthalten (als das Denken nach dem Satze vom Grunde), wie aller reinen Wissenschaft die Beziehung auf ein System von Namen (eine Terminologie), welches auf die einfachste Weise durch das Zahlensystem dargestellt wird (als das Denken nach dem Satze der Identität). Denn alle reine Wissenschaft bezieht sich ausschließlich auf solche Gedankendinge, dergleichen das allgemeine Objekt ist oder die Größe, wo es sich um Rechnung schlechthin handelt, oder der ausdehnungslose Punkt, die gerade Linie, die Ebene ohne Tiefe, die regelmäßigen Körper, wo um die Bestimmung von Verhältnissen der räumlichen Erscheinungen. Ebenso werden endlich imaginäre Ereignisse der Zeit genommen, als Typen wirklicher Ereignisse, wie der Fall eines Körpers im luftleeren Räume, dessen Geschwindigkeit als in willkürlich gesetzter Zeiteinheit durchmessene Raumeinheit, als gleiche oder veränderliche, nach gewissen Voraussetzungen berechnet wird. Die Anwendung gestaltet sich immer um so schwieriger, je mehr der bloß denkbare allgemeine von den wahrnehmbaren besonderen Fällen verschieden ist, daher je mannigfacher und unregelmäßiger diese sein mögen. Aus der Ansicht getrennter Körper, welche durch ihre Bewegung in einen momentanen räumlichen Zusammenhang kommen, entspringt aber der wissenschaftliche Begriff der Ursache als einer Quantität von geleisteter Arbeit (welche in der Bewegung enthalten ist), die einer anderen - der Wirkung - gleich und damit vertauschbar ist, nach dem Prinzip der Gleichheit von Aktion und Reaktion: eine Vorstellung, welche erst ganz und gar sie selber ist, nachdem aus dem Begriffe der Kraft, welcher sie zunächst umfaßt, alle Konnotation der Realität und Produktivität entfernt worden ist. Und also entsteht jenes große System der reinen Mechanik, als dessen Anwendungen sodann alle konkreten Naturwissenschaften, zuvörderst Physik und Chemie sich darstellen müssen.

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Indessen neben und in dieser wissenschaftlichen Ansicht der Kausalität erhält und bildet sich aus als ihre letzte Steigerung und Kritik zugleich, diejenige welche wir die philosophische, aber auch entgegen der mechanischen die organische, gegen die physikalische die psychologische heißen mögen: nach welcher vielmehr nichts als produktive Kraft vorhanden ist, die wirkliche und bleibende Einheit eines konservativen Systems allgemeiner Energie, aus welcher alle ihre Besonderheiten als ihre Teile zugleich und Wirkungen hergeleitet werden sollen. Dem Lebensgesetze des Universums dienen alle übrigen Naturgesetze, wie dem Lebensgesetze jedes lebendigen Leibes (eines Individuums oder einer Gattung) die auf Mechanik zurückführbaren Gesetze, in welchen es sich verwirklicht. Je mehr Wissenschaft einerseits universell wird, anderseits ihre Methoden ausdehnt auf die Organismen, desto mehr muß sie in diesem Sinne philosophisch werden. Dagegen kann auch eine philosophische Naturansicht, deren Hauptinhalt einfach und notwendig ist, zu mannigfachen und relativ-zufälligen Wahrheiten nur hinabführen in dem Maße, als sie die Prinzipien der Wissenschaft in sich aufgenommen hat. Sie muß das Leben und seine Arten an Typen demonstrieren, welche jedoch realen Allgemeinheiten (Ideen) wenigstens nachgebildet werden, weil alles Leben die Entwicklung des Allgemeinen zum Besonderen ist. Alle Wissenschaft und mithin alle Philosophie als Wissenschaft ist rationalistisch. Ihre Gegenstände sind Gedankendinge, sind Konstruktionen. Aber alle Philosophie, mithin Wissenschaft als Philosophie, ist empiristisch: in dem Verstände, nach welchem alles Sein als Wirken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit der Veränderungen als eigentliche Wirklichkeit aufgefaßt werden muß, das Nicht-Seiende (TÖ UR| ÖV) als das wahrhaft Seiende; also durch und durch auf dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit lauter Tendenzen zu tun, sich begegnenden, bekämpfenden, verbindenden, welche doch zuletzt nur als psychologische Realitäten begriffen werden können oder vielmehr bekannt sind. Denn da wir den menschlichen Willen als unsern eigenen wissen und die Geschicke des menschlichen Lebens als ein Ganzes aus solchem Willen, wenn auch in fortwährender und strenger Bedingtheit durch die übrige Natur, so finden sie erst in der menschlichen generellen und individuellen Psychologie ihre Bewährung. Die Tatsachen der generel-

27 (TÖ uf) öv)-. [griech.] svw. das nicht Seiende.

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len Psychologie sind die historische und aktuelle Kultur, d. i. menschliches Zusammenleben und seine Werke. Geschichte für sich allein als eine Sammlung von Tatsachen ist weder Wissenschaft noch Philosophie. Aber sie ist beides zugleich, sofern in ihr die Lebensgesetze der Menschheit entdeckt werden mögen. Sie ist ein Ganzes von Ereignissen, dessen Anfang und Ende nur höchst unbestimmten Vermutungen offen liegt. Die Zukunft ist uns beinahe nicht dunkler als die Vergangenheit. Was wir als Gegenwart empfinden, müssen wir zuerst beobachten und zu verstehen uns bemühen. Aber ein großer Teil der ernsten und achtungswerten Arbeiten, welche in dieses Gebiet, welches so offenbar und so geheimnisvoll ist wie die Natur selber, sich hineinbegeben haben, wird in seinem Werte oft beeinträchtigt durch die Schwierigkeiten eines unbefangenen und genauen theoretischen Verhaltens in solcher Beziehung. Das Subjekt steht den Gegenständen seiner Betrachtung allzu nahe. Es gehört viele Anstrengung und Übung, vielleicht sogar eine natürliche Kälte des Verstandes dazu, um solche Phänomene mit derselben sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, mit welcher der Naturforscher die Prozesse des Lebens einer Pflanze oder eines Tieres verfolgt. Und selbst das gelehrte und kritische Publikum will in der Regel nicht erfahren, wie nach der Ansicht eines Schriftstellers die Dinge sind, geworden sind und werden, sondern lieber wie sie nach seiner Ansicht sein sollen-, denn man ist ja gewohnt zu sehen, daß nach dieser jene sich richtet, was bis zu einer gewissen Grenze unvermeidlich sein mag, aber man gewahrt nicht, daß die geflissentliche Vermeidung dieser Gefahr den wissenschaftlichen Habitus bildet. Man erwartet und fordert beinahe den Standpunkt und die heftige Rhetorik einer Partei, anstatt der gelassenen Logik und Ruhe des unparteiischen Zuschauers. So wird denn in der heutigen und besonders in der deutschen Sozial-Wissenschaft ein Kampf von Richtungen auf die Fundamente der Theorie bezogen, welche man als entgegengesetzte Tendenzen in den Verhandlungen über Praxis und Gesetzgebung sich wohl gefallen läßt, wo denn die Vertreter streitender Interessen und Klassen mit größerer oder geringerer bona fides als Vertreter entgegengesetzter Überzeugungen und Doktrinen, gleichsam als technologischer Prinzipien der Politik sich bekennen mögen. Auch haben diese Differenzen hier und da einen tieferen Grund in der Sphäre moralischer Empfindungen und Neigungen des Subjektes, welche so wenig als andere Leidenschaften den objektiven Anblick der Dinge stören dürfen. Übrigens aber erscheint mir 32 bona fides: [lat.] svw. guten Glaubens.

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die Wichtigkeit, welche (um das bedeutendste Beispiel zu geben) dem Antagonismus der Lehren des individualistischen und des sozialistischen Typus für die Erkenntnis und Theorie der wirklichen Tatsachen des gegenwärtigen Produktions- und Handelswesens beigelegt wird, ähnlich als ob die Mediziner den Widerspruch alloiopathischer und homöopathischer Heilmethode in die Physiologie übertragen wollten. Es gilt vielmehr, von dem Qualme aller solcher Überlieferungen sich zu befreien; es gilt, sich völlig außerhalb der Dinge hinzustellen und wie mit Teleskop und Mikroskop Körper und Bewegungen zu beobachten, welche innerhalb der Kultur so weit voneinander verschieden sind, auf der einen Seite nur ganz im Allgemeinen und Großen, auf der anderen ganz im Kleinen und Besonderen erforschbar, wie in Natura rerum die Bahnen der Himmelskörper und hingegen Teile und Lebensprozesse des elementaren Organismus. Für die universale Betrachtung ist die Geschichte selber nichts als ein Stück der Schicksale eines Planeten und bildet einen Abschnitt in der durch zunehmende Abkühlung möglich gewordenen Entwicklung des organischen Lebens. Für die engste Betrachtung ist sie die Umgebung und Bedingung meines täglichen Lebens, Alles, was als der Menschen Tun und Treiben vor meinen Augen und Ohren sich vollzieht. Diese Betrachtungen versucht die empiristische und dialektische Philosophie in einen einzigen Brennpunkt zu bringen. Die Notwendigkeiten des Lebens, die Leidenschaften und Tätigkeiten der menschlichen Natur sind in ihrem Grundbestande dort und hier dieselben. Auf ihre Allgemeinheit beziehen sich auch, aber zunächst ohne alle zeitliche und örtliche Bestimmung, die rationalen Disziplinen, welche von der natürlichen Voraussetzung durchaus getrennter und je für sich auf vernünftige Weise strebender (willkürlicher) Individuen aus, teils die ideellen Verhältnisse und Verbindungen ihrer Willen, teils die Veränderungen gegebener Vermögens-Zustände durch solche Berührungen im Verkehr zu bestimmen unternommen haben. Jene, den formalen Konsequenzen solcher Beziehungen zugewandt, ist die reine Rechtswissenschaft (das Naturrecht), welche mit der Geometrie; diese, ihrer materiellen Beschaffenheit sich widmend, die politische Ökonomie, welche mit der abstrakten Mechanik verglichen werden kann. Ihre Anwendungen gehen auf die Bedingungen der sozialen Wirklichkeit ein und erweisen sich um 5 12 27 29 31

alloiopathischer: Korrekt: allopathischer. Natura rerum: [lat.] svw. Wesen des Ganzen. Individuen aus,: Komma fehlt in A. Berührungen im Verkehr: In A: im Verkehr, ... mit der Geometrie;: Komma anstelle des Semikolons in A.

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so fruchtbarer für Verständnis und Behandlung derselben, je mehr entund verwickelt die Geschäfte und Verhältnisse der Menschen durch Kultur geworden sind. Dennoch hat fast alle bisherige »organische« und »historische« Ansicht sich beiden verneinend entgegengestellt. Die gegenwärtige Theorie versucht, sie in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten. Aber in dieser wie in jeder anderen Hinsicht hat sie nur in Skizzen sich anzudeuten vermocht. Die Komplikationen des Gegenstandes sind überwältigend. Gegebene schematische Gedankenbildungen müssen nicht so sehr darauf angesehen werden, wie sehr sie richtig, als wie sehr sie brauchbar sind. Dies wird aber nur zukünftige Ausführung bewähren können, wozu ich mir Kraft und Ermutigung wünsche. Für mißverständliche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte ich mich nicht verantwortlich. Leute, die an begriffliches Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urteiles in solchen Dingen enthalten. Aber diese Enthaltsamkeit darf fast noch weniger als irgendwelche andere im gegenwärtigen Zeitalter erwartet werden. Ich könnte leicht ein besonderes Kapitel schreiben über die Einflüsse, denen ich die Förderung meiner Gedanken schuldig bin. In der eigentlichen Sozialwissenschaft sind dieselben mannigfach. Einige der bedeutendsten Namen treten in gelegentlichen Zitaten auf. Erwähnen will ich aber auch, daß die großen soziologischen Systeme A. Comtes und Herbert Spencers mich oft auf meinen Wegen begleitet haben, von welchen jenes mehr in den prähistorischen Grundlagen, dieses in der historischen Ansicht seine Schwäche hat, welche aber beide auf zu einseitige Weise die Entwicklung der Menschheit als durch ihren intellektuellen Fortschritt unmittelbar bedingt darstellen (wenn auch Comte in seinem späteren Werke die tiefere Betrachtung gewonnen hat). Erwähnen will ich ferner, daß ich die energischen Bemühungen der Herren A. Schaeffle und A. Wagner und ihre bedeutenden Bücher mit Eifer verfolgt habe und ferner verfolge, welche jedoch beide, soviel ich sehe, mit den tiefen politischen Einsichten des Rodbertus sonst übereinstimmend, weniger als dieser den (durch allen theoretischen und gesetzgeberischen guten Willen nur modifizierbaren) pathologischen Gang der modernen Gesellschaft zu erkennen scheinen. Übrigens aber verhehle ich nicht, daß meine Betrachtung die tiefsten Eindrücke, anregende, belehrende, bestätigende, aus den unter 28 A. Schaeffle: Vgl. v. a. Schäffle 1 8 7 5 - 1 8 7 8 . 29 A. Wagner: Vgl. v. a. Wagner 1 8 7 7 - 1 8 8 0 . 31 Rodbertus-. Vgl. Rodbertus-Jagetzow 1 8 7 5 .

II. Gemeinschaft und Gesellschaft. Vorrede (der ersten Auflage)

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sich gar sehr verschiedenen Werken dreier ausgezeichneter Autoren empfangen hat, nämlich: 1. Sir Henry Maines (Ancient Law, Village Communities in the East and West, The Early History of Institutions, Early Law and Custom), des philosophischen Rechtshistorikers von weitestem Horizonte, an dessen lichtvollen Aperçus nur zu bedauern ist, daß er den ungemeinen Aufschlüssen, welche von Bachofen (das Mutterrecht) bis auf Morgan (Ancient Society) und ferner, in die Urgeschichte der Familie, des Gemeinwesens und aller Institutionen eingedrungen sind, einen ungerechten Widerstand entgegensetzt; denn die optimistische Beurteilung der modernen Zustände halte ich ihm zugute; 2. O. Gierkes (das deutsche Genossenschaftsrecht, 3 Bände, dazu „Johannes Althusius" und mehrere Aufsätze in Zeitschriften), dessen Gelehrsamkeit mir immer neue Bewunderung, dessen Urteil immer neue Achtung einflößt, so wenig ich die für mich wichtigste (ökonomistische) Ansicht in seinen Schriften antreffe; 3. des eben in diesem Bezüge merkwürdigsten und tiefsten Sozial-Philosophen Karl Marx (Zur Kritik der politischen Ökonomie, das Kapital), dessen Namen ich um so lieber hervorhebe, da ihm die angebliche utopistische Phantasie, in deren definitive Überwindung er seinen Stolz gesetzt hat, auch von Tüchtigen nicht verziehen wird (daß aber der Denker an den praktischen Arbeiterbewegungen einen Anteil genommen hat, geht doch seine Kritiker nichts an; wenn sie dies für unmoralisch halten, wer kümmert sich um ihre Immoralitäten?). Der Gedanke, welchen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: daß die natürliche und (für uns) vergangene, immer aber zugrunde liegende Konstitution der Kultur kommunistisch ist, die aktuelle und werdende sozialistisch, ist, wie ich glaube, jenen echten Historikern, wo sie sich selber am schärfsten verstehen, nicht fremd, wenn auch nur der Entdecker der kapitalistischen Produktionsweise ihn auszuprägen, deutlich zu machen vermocht hat. Ich sehe darin einen Zusammenhang von Tatsachen, der so natürlich ist, wie Leben und Sterben. Mag ich des Lebens mich freuen, das Sterben beklagen: Freude und Traurigkeit vergehen über der Anschauung göttlicher Schicksale. - Ganz und gar allein stehe ich mit Terminologie und Definitionen. Man versteht aber leicht: es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Kultur, außer 2 Sir Henry Maines: Vgl. Maine 1 8 6 1 , 1871, 1875, 1 8 8 3 . 6 (das Mutterrecht)-. Vgl. Bachofen 1 8 6 1 . 7 (Ancient Society)-. Vgl. Morgan 1 8 7 7 . 10 O. Gierkes-. Vgl. Gierke 1 8 8 6 - 1 9 1 3 , 1 8 8 0 . 16 Karl Marx: Vgl. M a r x 1 8 5 9 und 1 8 6 7 . 3i göttlicher Schicksale. -: Gedankenstrich fehlt in A.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt. Solches entgegengesetzte Verhältnis des einzelnen Menschen zur Menschheit ist das reine Problem. Da ich dieses Gedankens als meines eigenen gewiß bin, so brauche ich für die Hauptsache an diesem höchst unvollkommenen Werke keine Kritik zu fürchten. Meiner persönlichen Empfindung werden persönliche Mitteilungen bekannter oder unbekannter Leser angelegener sein, welche etwa in irgendwelchem sympathischen Sinne sich berührt oder gefördert finden. Hieraus kann sich Vieles ergeben: für mich wenigstens Lohn und neue Anregung. Denn es bleibt dabei, so sehr man um Wahrheit sich Mühe geben mag: „Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil Alles, und das Vorurteil, wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urteil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unserer Natur entspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren, wie nach dem Falschen, nach Allem, was wir mit uns im Einklänge fühlen." (Goethe, Farbenlehre, polem. Teil WW. 38, S. 16.) In betreff des Zweiten Buches muß ich anmerken, daß dasselbe in systematischem Gange seine richtigere Stelle vor dem Ersten haben würde. Mit Willen habe ich diese Ordnung vorgezogen. Beide ergänzen und erklären einander wechselsweise. Sodann habe ich, einem Versprechen gemäß, hinzuzufügen, daß ein erster Entwurf dieser Schrift (wovon jedoch kaum eine Spur übriggeblieben ist) im Jahre 1881 der philosophischen Fakultät der Kieler Universität zum Behufe meiner Habilitation vorgelegen hat. Husum in Schleswig-Holstein.

F. T.

Geschrieben zu Obermais bei Meran im Februar 1887.

20 Farbenlehre:

Die Kursivierung im Goethe-Zitat stammt von Tönnies, auch hat er die

Schreibweise leicht modifiziert. Im Original heißt es: „... entscheidet das Vorurteil alles, . . . " , sowie „... was unsre Natur anspricht oder ihr widerspricht; . . . " (vgl. Goethes „Der Farbenlehre polemischer Theil", 1 8 4 0 : 38, 16).

III. Gemeinschaft und Gesellschaft Grundbegriffe der reinen Soziologie Zweite Auflage. Berlin, K. Curtius 1912

4 Zweite Auflage. Berlin, K. Curtius 1912: Als Untertitel von Tönnies nicht im Inhaltsverzeichnis genannt.

Vorrede (zur zweiten Auflage) Diese Schrift, die vor 25 Jahren das Licht der Welt erblickte, hat langsam, aber stetig, einen nicht unbedeutenden Einfluß auf die Gestaltung soziologischer Theorien im deutschen Sprachgebiete, aber auch darüber hinaus (in Italien, Dänemark, Rußland, Amerika) gewonnen. Und dies ist geschehen trotz höchst ungünstiger, ja feindlicher Umstände. Das Werk war für Philosophen bestimmt. Obgleich Männer wie Paulsen und Hoff ding seine Bedeutung stark hervorhoben, obgleich sogar Wundt es als „gedankenreich" bezeichnete, welcher Ausdruck noch ziemlich oft darauf angewandt wurde; obwohl es in den Geschichten der neuesten Philosophie von Ueberweg-Heinze und von Vorländer (von geringeren zu schweigen) der Erwähnung, ja Auszeichnung für wert erachtet wurde - so blieb doch die zeitgenössische Philosophie im ganzen stumm1. Sie hielt die hier vorgelegten Begriffe nicht einmal der Kritik und etwanigen Vernichtung wert. Der tiefere Grund liegt in ihrem Verhältnis zu den ethischen Problemen. Zwar ist an Büchern über Ethik kein Mangel, und gerade die drei Häupter der neuesten Weltweisheit, deren Namen genannt wurden, haben mit großem Erfolge solche Bücher verfaßt, diese Bücher konnten auch weder an den Problemen des heutigen sozialen Lebens, noch an denen der Entwicklungsgeschichte der Menschheit achtlos vorbeigehen; sie sind mit allem Ernste darauf eingegangen. Auch an Euckens und Barths Schriften darf hier erinnert werden. 1

Die Marburger Schule, mit der den Verfasser innige Sympathie verbindet, trat erst mehrere Jahre später in den Vordergrund der philosophischen Literatur. l Vorrede: Der Text erschien zuerst unter dem Titel „Vorrede zur 2. Auflage" in Ferdinand Tönnies' „Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie", Berlin: Karl Curtius, 1 9 1 2 , S. V - X V I ; im Folgenden: A). - Das Manuskript des Textes befindet sich in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek (Signatur C b 5 4 . 3 2 : 1.04 A). Die in den „Soziologischen Studien und Kritiken" gedruckte Fassung wurde nicht mit dem Manuskript verglichen, dies bleibt der historisch-kritischen Ausgabe von „Gemeinschaft und Gesellschaft" im Rahmen der TG 2 vorbehalten.

Ii Obgleich Männer wie Paulsen ... Vorländer:

Vgl. Paulsens Besprechung von „Gemein-

schaft und Gesellschaft" (Paulsen 1 8 8 8 ) ; vgl. auch Paulsen 1 8 8 9 : 5 8 6 ; 1 9 0 3 : 1, 5 8 0 ; Hoffding 1 8 9 9 (dt. Höffding 1989); Wundt 1895: 5 9 9 , Anm.; Überweg 1 9 0 2 : 2 3 8 f. und Vorländer 1 9 0 8 : 4 7 8 - 4 8 0 . 21 Euckens und Barths Schriften: Vgl. Eucken 1 9 0 9 sowie Barth 1 8 9 7 und 1 9 1 1 .

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Und doch weiß jedermann, und weiß es als ein charakteristisches Faktum, daß die Soziologie keinen Platz an den deutschen Universitäten, nicht einmal an einem Nebentische der Philosophie, besitzt; daß ihr der Zutritt zu deren Gastmählern geflissentlich verwehrt wird. Es ist nicht etwa Abneigung gegen den Namen, was diese Ausschließung verursacht, vielmehr wird der Name auch von den Philosophen in zunehmender Weise gebraucht, sondern es ist eine Scheu vor der Sache - die Philosophie, insbesondere die leitende und akademische Philosophie, fühlt sich einer fundamentalen und radikalen Behandlung dieser Probleme nicht gewachsen. - Und diesem Gefühle liegen mehr als zufällige Ursachen zugrunde. Die moderne Philosophie ist mit und an der Naturwissenschaft erwachsen. Vor 200 Jahren herrschte noch an allen Universitäten Europas die aristotelisch-scholastische Naturphilosophie und die dazugehörige moralische Theologie, theologische Rechtsphilosophie und Soziallehre. Das 18. Jahrhundert brachte wenigstens im protestantischen Deutschland, die Revolution in Frankreich die Modernisierung: die Hochschulen folgten der bürgerlichen Bewegung und ihrem politischen Fortschritt. Auch die an der mechanistischen Naturerkenntnis sich emporrankende Philosophie hatte eine Rechtsphilosophie und eine Sozialtheorie, ja diese waren für sie die Hauptstücke der Ethik. Und die Tendenz dieser »praktischen« Philosophie war notwendig antitheologisch, antifeudal, antimittelalterlich, sie war individualistisch und darum (nach meinen Begriffen) gesellschaftlich. Ihre großen historisch epochemachenden Leistungen sind das (rationalistische und spezifisch so genannte) Naturrecht und die mit ihm innerlich tief zusammenhängende (wie W. Hasbach eingehend nachgewiesen hat) physiokratische, in der »klassischen« englischen Schule sich fortsetzende »politische Ökonomie«. Ich hatte in meiner Vorrede zur 1. Ausgabe dieser Schrift jenes der Geometrie, diese der abstrakten Mechanik verglichen. Naturrecht und politische Ökonomie wirkten mächtig mit zur Gestaltung der sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Gesellschaft, wie des ebenso sich entwickelnden und sich entfesselnden modernen Staates. Beide Entwicklungen geschahen unter dem Zeichen der Revolution - die große französische Revolution, die auch das heilige römi27 W. Hasbach: Vgl. Hasbach 1891, vor allem das Zweite Buch „Politische Ökonomie" (135 ff.). 29 meiner Vorrede zur 1. Ausgabe: Vgl. S. 79 in diesem Band.

III. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie

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sehe Reich vernichtete, und die kleinen Revolutionen, die in Frankreich und in Deutschland - hier zum Teil durch die Aktion der in Ursprung und Energie revolutionären preußischen Monarchie - während des 19. Jahrhunderts sich anschlössen; diese Revolutionen gaben dem Kapital wie der Gesetzgebung, die zunächst wesentlich zu dessen Förderung sich entfaltete, die gewaltigen Impulse. Alle Revolutionen aber lösen mächtige Gegenbewegungen aus. Die Restaurationen und reaktionären Tendenzen folgen mit deutlicher Notwendigkeit ihren Erschütterungen. Die „Restauration der Staatswissenschaften" - um unter diesem berufenen Titel die historische Rechtsschule mitzubegreifen - wollte dem Naturrecht, und hier vor allem der rationalen individualistischen Staatskonstruktion (der Vertragstheorien) den Garaus machen, und das ist zumal was die öffentliche »akademische« Vertretung solcher Doktrinen betrifft - gelungen; wenigstens in Deutschland. Denn in England knüpfte vielmehr die Theorie der Gesetzgebung und die analytische Jurisprudenz in Bentham und Austin bewußt an Thomas Hobbes wieder an. In den romanischen Ländern, in Rußland, Amerika, blieb das Naturrecht als liberale Rechtsphilosophie mehr oder minder in Geltung. Inzwischen ist die Rechtsphilosophie auch in Deutschland, so sehr sie als Hochschul-Disziplin in den Hintergrund trat, doch nicht völlig vernachlässigt gewesen. Wie die historische Schule, die von dem Skeptiker Hugo und dem Katholiken Savigny eingeführt war, durch den zuletzt genannten Romantiker, so knüpfte auch des geborenen Juden Stahl protestantisch-konservatives System an die ursprünglich pantheistische, mehr und mehr phantastisch gewordene Naturphilosophie Schellings an. Pantheistisch, aber mehr mit humanitären, kosmopolitischen, freimaurerischen Tendenzen war auch die Rechtsphilosophie Krauses und seines erfolgreicheren Jüngers Ahrens. Aber viel früher und viel mächtiger hatte, ebenfalls in Fortführung und Umbiegung Schellingscher Gedanken, die Philosophie Hegels gewirkt, die im Naturrecht (zuerst 1820) das Wesen des objektiven Geistes entwickeln will, wie er vom freien Willen aus im Rechte seinen abstrakten Gegenstand setze und sich erhebe zur Sittlichkeit, deren Idee im Staate ihre Wirklichkeit finde. 7 lösen mächtige Gegenbewegungen aus: In der Vorlage fälschlich mit Komma endend; in A korrekt. 28 Rechtsphilosophie Krauses: Vgl. Krause 1828. 29 Ahrens: Vgl. Ahrens 1846 und 1850.

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Das Bedeutende dieses Systemes war, daß es auch, und sogar vorzugsweise, die modernen sozialen Gebilde - Gesellschaft und Staat - als geistig-natürliche zu begreifen, d. i. als notwendig zu erweisen unternahm, anstatt sie lediglich als auf theoretischen Verirrungen beruhend zu verwerfen, wie es in der Romantik und historischen Jurisprudenz, wie in allem restauratorischen und reaktionären Denken wesentlich angelegt war. Dagegen ist aber in der Hege/sehen Begriffswelt - ungeachtet der Hinweisung auf die »Weltgeschichte« - alle historische Erkenntnis, ebenso wie alle Theorie des wirklichen Verhältnisses zwischen individuellem Willen und sozialen Kreisen ausgelöscht. - Die Hegeische Rechtsphilosophie ist nicht nur Darstellung, sie ist sogar Verherrlichung des Staates, und der Staat, der die sittliche Idee verwirklicht, ist ihm der wirkliche Staat, der preußische Staat der Restaurationszeit, der doch seine radikale Vergangenheit nicht völlig verleugnen kann. Zweideutig wie dieser konservative Absolutismus, ist Hegels Staatslehre, ihre Zweideutigkeit trat in der Schule zutage. Die Hegeische Linke führte vom absolutistisch-geheimrätlichen zum demokratischen Liberalismus und darüber hinaus, blieb aber ohne akademische Geltung. So läuft dem Niedergange der Hegeischen Philosophie die Überwindung des altpreußischen, in den konservativen Deutschen Bund eingehüllten Staatsgedankens durch die solange von ihm verabscheute Idee der deutschen Einheit parallel; die aber in der Form sich vollzog - paradox wie so viele historische Erfüllungen - daß eben jener preußische Staatsgedanke ihr gewaltsames Werkzeug wurde. In dieser Epoche verlor die Philosophie, was sie an geistiger, an ethischpolitischer Führung in der deutschen Nation besessen hatte. Ihr Schicksal war das Schicksal eines Liberalismus, der durch das Beiwort »national« indirekt ausdrückte, daß er sich grundsätzlich unterordnete und sich weniger zur Führung radikalerer Elemente als zur Anpassung an die reaktionären für berufen hielt. Nur mit der naturwissenschaftlichen Aufklärung behielt diese Denkungsart einige Fühlung; aber doch auch nur so, daß sie den Konflikten mit dem kirchlichen Bewußtsein scheu aus dem Wege ging, zumal seitdem (vom Jahre 1878 an) der »Kulturkampf« aufgegeben, ein duldsam-freundliches Verhältnis sogar zur päpstlichen Kirche in das nationale Bekenntnis aufgenommen war. Die tiefer liegenden Zusammenhänge mit der allgemeinen sozialen Entwicklung sind leicht erkennbar. In fortwährender Wechselwirkung mit den Nachbarländern, Frankreich und England, hatte auch in Deutschland

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seit 1840 die Entwicklung der großen Industrie eingesetzt, die Arbeiterbewegung und mit ihr die sozialistisch-kommunistischen Lehren klopften an die Tore. Auch an die Tore der Hochschulen. Die Nationalökonomie war ihrem überwiegenden Charakter nach eine Lehre der praktischen Politik. Sie hatte wesentlich im Sinne des Kapitalismus und der freien Konkurrenz gewirkt. Das „laissez faire" stand auf ihrer Fahne. Deutsche Gelehrsamkeit versuchte freilich schon ihr einen historischen Charakter zu geben. Eben dies wirkte mit, die Dogmatik des »Manchestertums« zu brechen. Ethische Motive sprachen stark zugunsten der ringenden Arbeiterklasse. Der Katheder-Sozialismus trat auf die Bühne. Den Namen gab er sich nicht selber, aber er konnte schon sich getrauen, ihn zu adoptieren. Die politische Ökonomie, die in England schon früher - unter der leidenschaftlichen Beredsamkeit Carlyles den ästhetisch-ethisch gefärbten Anklagen Ruskins - das Odium des Materialismus auf sich gezogen hatte, hüllte sich nun in das Gewand des deutschen Idealismus, der in erster Linie an die Pflichten der besitzenden Klassen zu appellieren für geboten hält. Unter den Männern, die so ein neues sozial-politisches Bewußtsein schufen, standen in vorderster Reihe Gelehrte wie Schmoller, Brentano, Knapp, jeder in verschiedenem Sinne wirkend. Den Anspruch prinzipieller Strenge und systematischer Verallgemeinerungen für den großen Gegensatz: Sozialismus gegen Kapitalismus (oder Individualismus) machten mit bedeutenden Erfolgen Adolf Wagner und Albert Schäffle geltend: Wagner, der in seiner »Grundlegung« unter dem Einflüsse eines echten Sozialisten (Rodbertus) das Plädoyer für die Ausdehnung der Staatstätigkeit, für die Legaltheorie in bezug auf alles Privateigentum, für die Rechte der volkswirtschaftlichen gegen die privatwirtschaftlichen Begriffe entfaltete; Schäffle, der in verwandtem Geiste, aber mit noch stärkeren philosophischen Ansprüchen, Bau und Leben des sozialen Körpers zu beschreiben unternahm; mit Herbert Spencer in der »organicistischen« Auffassung der Soziologie sich berührend (in der Tat stark von ihm angeregt), aber während dieser zum Postulat des administrativen Nihilismus gelangte, seinerseits eher den administrativen Universalismus befürwortend. Beide aber sehen die Entwicklungen der Kultur im Lichte der Entwicklung des Lebens, also der Deszendenztheorie, ziehen Folgerungen, die, so unwiderleg24 Wagner, der in seiner »Grundlegung«: Vgl. Wagner 1892/93. 29 Bau und Leben des sozialen Körpers ist der Titel von Schäffle 1875-1878. 30 »organicistischen« Auffassung: In A: ,organistischen' Auffassung.

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bar sie in ihren Elementen sein mögen, bald auf das glatte Eis der Mutmaßung zwischen Furcht und Hoffnung geraten. Dagegen hatte August Comte die Soziologie in dem Sinne zu positivieren und also zu begründen gemeint, daß er durch die definitive und richtige Theorie die definitive und richtige Gestaltung des sozialen Lebens und der Politik einleiten wollte; auch gemäß einem Gesetze der Entwicklung, aber der Entwicklung des menschlichen Denkens allein: dem Gesetze der drei Stadien. Eine gewisse Beziehung zur Hegeischen Dialektik ist darin unverkennbar gegeben, und die Idee einer schöpferischen Synthese in den praktischen Richtungen charakterisiert die progressiven Gedankentendenzen des 19. Jahrhunderts überhaupt. Die Ansicht einer Entwicklung der Kultur aus Barbarei und Wildheit, also der Menschen aus tierähnlichen Zuständen, war schon seit dem 17. Jahrhundert die Ansicht aller aufgeklärten Denker, anstatt des Glaubens an die paradiesischen Ursprünge und Herrlichkeiten. Sie war durch die Restauration und Romantik verdunkelt und mußte vom Darwinismus aus neu gewonnen werden; aber ihrem Wesen nach ist sie viel weniger Anwendung einer biologischen Entwicklungslehre, als diese Verallgemeinerung jener ist. Bei Hegel wie bei Comte liegt diese wesentliche Unabhängigkeit noch deutlich zutage. Was Comte auszeichnet, ist dies, daß er unter dem mächtigen Einflüsse Saint-Simons eine kritische Stellung zum Fortschritt, zur Neuzeit, zum Liberalismus, einnimmt. Das taten die Romantiker auch, die Vertreter des Herkommens, des Mittelalters, der Autoritäten. Aber Saint-Simon und Comte nehmen diese Stellung ein auf dem Boden des Fortschrittes selber, auf dem Boden der Neuzeit und des Liberalismus. Ohne zur Gläubigkeit und zum Feudalismus zurückkehren zu wollen, erkennen sie doch das Vorwalten einer positiven und organischen Ordnung im Mittelalter, erkennen ebenso den wesentlich negativen und revolutionären Charakter der Neuzeit, ohne doch Wissenschaft, Aufklärung, Freiheit zu verleugnen; im Gegenteil, diese nur um so stärker bejahend und betonend. So ist auch die gebotene Position der sozialistischen Theorie zu den Problemen der Kultur. Eine sozialistische Theorie heißt hier nicht: eine Theorie, die bestimmte Werturteile (über Kapitalismus, Privateigentum, Proletariat) fällt, eine bestimmte Politik oder gar eine ganze Gesellschaftsordnung postuliert, sondern gemeint ist nur eine Theorie, die nicht die

7 Gesetze der drei Stadien-, Vgl. Comte 1 8 6 4 : Bd. 4 - 6 und 1 8 4 4 : Nr. 2 - 1 6 .

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eingewickelten und als selbstverständlich geltenden Werturteile des Liberalismus und also der vorherrschenden sozialphilosophischen Ansicht, ohne weiteres gelten läßt, sondern sich außerhalb des Gegensatzes und über den Gegensatz stellt, worin diese Ansicht naiv verharrt. Die Theorie stellt sich kritisch, d. h. in erster Linie erkennend, betrachtend, beobachtend, theoretisch zu den Dingen und ihrer Entwicklung. Hier liegt die bleibende Bedeutung der „Kritik der politischen Ökonomie" - denn die politische Ökonomie in ihrer klassischen Gestalt, die auch in historisch-ethischen Modifikationen sich erhält, meinte allerdings die normale soziale Verfassung darzustellen und herzustellen: auf Grund der persönlichen Freiheit und Gleichheit der Individuen, auf Grund der erworbenen Rechte, also der unbegrenzten Ungleichheit des Vermögens, auf Grund der Scheidung der Gesellschaft in die Klasse der Eigentümer und die Klasse des Proletariates. Dieser Voraussetzung gegenüber sind die Erkenntnisse von fundamentaler Wichtigkeit: 1. daß die große Gesamtmasse der bisherigen Kultur ohne diese angeblich normalen Zustände, wie ohne Eisenbahnen, Telegraphen und Seifaktors bestanden und geblüht hat; daß vielmehr irgendwelches Gemeineigentum des Volkes, wenigstens am Grund und Boden; daß ferner das private Eigentum der industriellen Arbeiter an ihren Produktionsmitteln durchaus historische Regel gewesen sind und in weiter Ausdehnung noch sind; 2. daß auch „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist". (K. Marx, Das Kapital, Vorrede zur ersten Auflage, 25. Juli 1867.) Ferner aber ist die Einsicht ein notwendiges Element des »wissenschaftlichen Sozialismus«, daß nicht in erster Linie politische Verhältnisse, noch weniger geistige Strömungen - wissenschaftliche, künstlerische, ethische die treibenden Faktoren der sozialen Bewegungen sind, so stark sie auch dazu mitwirken; sondern die groben materiellen Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle des wirtschaftlichen »täglichen« Lebens, die sich je nach den sozialen Lebensbedingungen, also in verschiedenen Schichten oder Klassen verschieden gestalten; daß diese relativ unabhängige Variable auch auf die politischen Verhältnisse und die geistigen Strömungen bestimmend einwirkt, durch deren Rückwirkungen sie selber fortwährend gefördert, aber auch gehemmt, immer in bedeutender Weise modifiziert wird. 18 Seifaktors-. Von [engl.] self-actor, svw. automatische Spinnmaschine. 24 „die jetzige Gesellschaft

... Organismus

ist": Marx 1 8 6 7 : XII.

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In die zu 1. bezeichnete Richtung waren nun mehr und mehr alle ethnologisch-soziologischen Forschungen („von Bachofen bis Morgan", wie die Vorrede dieser Schrift 1887 sich ausdrückte), waren aber ferner die Flüsse und Bäche der Wirtschafts- und der Rechtsgeschichte zusammengelaufen. Darum wandte ich den lichtvollen Vorträgen Sir Henry Maines meine gespannte Aufmerksamkeit zu; darum fand ich mich unendlich bereichert durch Gierkes „Genossenschaftsrecht", ein Werk, das zum Verständnisse der Rechtsbildungen und zum Behufe der Nachweisung des unlöslichen Zusammenhanges, der zwischen dem Rechtsleben und dem gesamten Kulturleben bestehe, neben der rechtlichen Seite auch die kulturhistorische, wirtschaftliche, soziale und ethische Seite der »Genossenschaft« seinen gelehrten und tiefgründigen Betrachtungen unterworfen hat. Noch näher berührte sich mit meinen speziellen Studien desselben Autors »Althusius« durch die Ausführungen über naturrechtliche Staatstheorien. Denn ich war von Hobbes ausgegangen, dessen Biographie und Philosophie ich 1 8 7 7 - 1 8 8 2 emsig meine Arbeit gewidmet hatte. Wenn ich mit Paulsen, dem ich die Anregungen dazu verdankte, und mit allen Kennern jenes großen Denkers die Energie und Konsequenz seiner Konstruktion des Staates bewundern mußte, wenn ich die mächtigen Wirkungen seiner Gedanken bis ins 19. Jahrhundert hinein verfolgen konnte (in England wie in Deutschland, Frankreich und Italien), so mußte um so mehr der Untergang dieser rationalistischen und individualistischen Rechtsphilosophie, die im 18. Jahrhundert als ein Gipfel der Weltweisheit erschien, in Erstaunen setzen. Sind wirklich Lehren für wertlos und unrichtig zu erachten, deren Kern noch als richtig für Männer wie Kant, Fichte, A. Feuerbach feststand; die für die ganze moderne Gesetzgebung, für die Bauernbefreiung, wie für die Gewerbefreiheit, durch ihre Wirkungen auf die politische Ökonomie und auf die ganze innere Staatsverwaltung maßgebend geworden waren; die doch auch den in England und von England aus so einflußreichen Theoremen Benthams zugrunde liegen? In den leeren Raum, der durch Ausmerzung des Naturrechts und seiner Staatslehre gebildet wurde, war die historische Jurisprudenz, die organi-

3 Vorrede dieser Schrift 1887 sich ausdrückte:

Vgl. in diesem Band S. 81.

5 Vorträgen Sir Henry Maines: Vgl. Maine 1861, 1871 und 1875. 7 Gierkes „Genossenschaftsrecht": 15 desselben Autors »Althusius«:

Vgl. Gierke 1 8 8 6 - 1 9 1 3 . Vgl. Gierke 1 8 8 0 .

17 meine Arbeit gewidmet hatte: Vgl. v. a. Tönnies 1 8 7 9 - 8 1 .

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sehe Staatslehre und ein tastender Eklektizismus getreten, innerhalb dessen das theologische Element immer wieder als das seiner selbst und des Beifalles der Mächtigen gewisseste hervortritt. Die theologische Begründung des Rechtes und der sozialen Verbände ist historisch von hoher Bedeutung, kommt aber sonst für das wissenschaftliche Denken nur in Betracht, weil es sie überwinden muß. Die bloß historische Ansicht ist begrifflos, also keine philosophische Erkenntnis. Eine diskutable Theorie bietet uns die schon von altersher mit der theologischen verknüpfte Lehre von der »organischen« Natur des Rechts, des Staates usw. Sie tritt in neuerer Zeit wieder auf, teils - wie schon bedeutet - im Zusammenhange mit der Naturphilosophie, zu der auch die Theologie ihre Verwandtschaft bald wieder geltend macht (Stahl), teils aber in neuem Gewände der biologischen Analogie, die dann auf Gegenseitigkeit beruht: die Biologie will den natürlichen Organismus durch Vergleichungen mit Tatsachen des sozialen Lebens, die Soziologie den »sozialen Körper« umgekehrt erklären und erläutern. Daß nun eine Reihe von Analogien dieser Art wirklich begründet sind, habe ich niemals verkannt. Sie beruhen in den allgemeinen und gemeinsamen Erscheinungen des Lebens als einer Einheit des Mannigfachen, einer Wechselwirkung von Teilen miteinander und dadurch mit dem Ganzen, dessen Teile sie sind, in den Tendenzen, die wir bald als Differenzierung von Organen und Funktionen, bald (auch in der Psychologie) als Teilung der Arbeit erkennen und bezeichnen. Dagegen vermochte ich nicht einen guten Sinn in der Behauptung zu erkennen, der Staat, die Gemeinde oder irgendeine menschliche Genossenschaft »sei« ein Organismus, obgleich gerade Gierke immer mit der ganzen Wucht seines Idealismus dafür eintritt; noch in der 1902 gehaltenen schönen Rede über „Das Wesen der menschlichen Verbände". Äußere wie innere Erfahrung bewege zur Annahme wirkender Verbandseinheiten; ein Teil der Impulse, die unser Handeln bestimmen, gehe von den uns durchdringenden Gemeinschaften aus; die Gewißheit der Realität unseres Ich erstrecke sich auch darauf, daß wir Teileinheiten höherer Lebenseinheiten sind, wenn wir auch dies selbst in unserem Bewußtsein nicht finden und nur mittelbar aus den Gemeinschaftswirkungen in uns schließen können,

22 in der Psychologie:

In A: in der Physiologie.

28 „Das Wesen der menschlichen Folgenden auf die Seiten 2 1 - 2 8 . 33 dies selbst: In A: diese selbst.

Verbände":

Vgl. Gierke 1 9 0 2 ; Tönnies bezieht sich im

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

daß die sozialen Ganzen leiblich-geistiger Natur sind. So ergebe sich das Verbandsrecht als eine Lebensordnung für soziale Lebewesen und als ein großer Zweig dieses Rechtes das Sozialrecht mit den Rechtsbegriffen der Verfassung, der Mitgliedschaft, der juristischen Person, des Organs, der freien Willenstat, die eine Verbandsperson ins Leben rufe und die kein Vertrag, sondern ein schöpferischer Gesamtakt sei. Ich mache dagegen eine strengere Unterscheidung geltend, zwischen natürlichen Verbänden, deren Bedeutung für das soziale Leben freilich eminent ist, und kulturlichen oder künstlichen Einheiten wenn auch diese aus jenen hervorgehen können. Allerdings sind auch jene in unserem »Bewußtsein« und für unser Bewußtsein vorhanden, aber nicht wesentlich durch unser Bewußtsein, wie die eigentlich und wahrhaft sozialen Verhältnisse und Verbindungen. Denn diese Erkenntnis behaupte ich als die eigentlich soziologische Erkenntnis, daß es außer den etwanigen realen Einheiten und Zusammenhängen der Menschen solche gibt, die wesentlich durch ihren eigenen Willen gesetzt und bedingt, also wesentlich ideellen Charakters sind. Sie müssen begriffen werden als von den Menschen geschaffen oder gemacht, auch wenn sie tatsächlich eine objektive Macht über die Individuen gewonnen haben, eine Macht, die immer die Macht verbundener Willen über Einzelwillen ist und bedeutet. Ich fand den großen Sinn des rationalen Naturrechts darin, daß es die bis dahin überwiegend theologisch aufgefaßten Wesenheiten anthropologisch zu verstehen unternahm, die scheinbar übersinnlichen Gestalten als Gebilde menschlichen Denkens und Wollens erklärte. Und doch zweifelte ich nicht, daß es keine allgemein-gültige Erklärung war. Die historische Rechtsschule, die im Gewohnheitsrechte ihren Liebling fand, auf das Rechtsgefühl und die still wirkenden Kräfte des Volksgeistes sich berief, fand damals viele neue Bestätigungen durch die vermehrten Studien über den primitiven Agrarkommunismus, mit denen, nach v. Maurer, Haxthausen u. a. eben damals Laveleye zusammenfassend auftrat (sein Werk wurde von K. Bücher übertragen und ergänzt als „Das Ureigentum", 1879); ebenso durch die Aufhellung der Klassen- und Familienrechte, deren Grundzüge die vergleichende Rechtswissenschaft in Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten darstellte - namentlich traten die Elemente der arischen 10 Ich mache dagegen ... hervorgehen können.-. In A weicht die Wortstellung im Satz leicht ab. 31 nach v. Maurer, Haxthausen: Vgl. Maurer 1854 und 1856 bzw. bei Haxthausen das Kapitel „Die russische Gemeindeverfassung . . . " ( 1 8 4 7 - 1 8 5 2 : 3, 1 1 5 - 1 6 1 ) .

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Institutionen durchsichtiger hervor: die schönen Bücher Leists gruben zu meiner Freude tief in dieses Feld; vorher schon hatte mir des Australiers Hearn „The aryan household" nicht geringen Eindruck gemacht (woraus, durch mich veranlaßt, Paulsen manches in seine »Ethik« aufnahm; auch Posts Schriften waren mir nützlich, Lyalls „Asiatic Studies" führten mich in das noch lebendige indische Klanleben, gaben Aufschlüsse über die Beziehungen zwischen Staat und Religion in China. Damit verband sich mir der tiefe Eindruck von Fustel de Coulanges „La cité antique", von Bachofens Mutterrecht, Morgans „Ancient Society" u. a. Durch alle diese Werke wurde die Einsicht in die unterscheidenden Merkmale der modernen Gesellschaft und des modernen Staates gefördert. Daher war zur Gegenüberstellung lehrreich die Theorie der Gesellschaft, welche R. von Ihering mit seinem leider Fragment gebliebenen »Zweck im Recht« entworfen hatte (Bd. I, Kap. VI): wieder ganz rationalistisch verfahrend, so daß mir seine Lehre als „Erneuerung des Naturrechts" erschien; wie mir auch A. Wagners tiefgreifende rechtsphilosophische Erörterungen (in seiner »Grundlegung«, Bd. I, zuerst 1876), ungeachtet ihrer staatssozialistischen Tendenzen (ja auch wegen dieser) als solche Erneuerung erschienen. Ich teilte schon damals diese praktische Richtung, aber die theoretische Konstruktion erschien mir nicht als zureichend. Der Gedanke dieser Schrift reifte zuerst, als ich im Jahre 1 8 8 0 in Maine's „Ancient Law" auf die Stelle traf, die S. 223 f. (213 f. der 1. Aufl.) 2 2

S. 183 der vierten und fünften Auflage.

10 Durch all diese Werke: Vgl. zum im vorhergehenden Absatz Leist 1 8 6 5 , 1 8 8 4 sowie 1 8 8 9 (in A heißt es „Werke Leists")-, ferner Hearn 1 8 7 9 (zwei Satzfehler - Hearne und householdt - wurden korrigiert); Paulsen 1 8 8 9 , 1 9 0 3 und 1 9 0 6 (Behauptung nicht nachweisbar); einschlägig sind Post 1 8 6 7 , 1 8 7 2 , 1875, 1 8 7 6 , 1 8 7 8 , 1 8 8 0 - 8 1 , 1 8 8 4 und 1 8 8 6 ; Lyall 1 8 8 2 ; Fustel de Coulanges 1864; Bachofen 1 8 6 1 und Morgan 1 8 7 7 . n des modernen

Staates gefördert:

In A ein Einschub: „ . . . des modernen Staates - deren

Begriffe ich in Lorenz von Steins bedeutender Lehre als absolut gültige dargestellt fand vertieft und gefördert." 12 Daher war zur Gegenüberstellung

lehrreich die Theorie der Gesellschaft: In A stattdessen:

„Hinzu kam die neue Theorie der Gesellschaft." 14 (Bd. I, Kap. VI): In A (mit Bezug auf Ihering 1 8 7 7 - 1 8 8 3 , 1: 8 3 - 9 9 ) stattdessen: (Band 1 1 8 7 7 ) - Vgl. dort das 6. Kapitel: „Das Leben durch und für Andere oder die Gesellschaft". 17 »Grundlegung«:

Vgl. auch Wagner 1 8 9 2 / 9 3 (3. Aufl.).

20 nicht als zureichend: 22 Maine's

„Ancient

In A: nicht in allen Stücken als zureichend.

Law":

vgl. Maine 1861; die folgenden Seitenzahlen beziehen sich

dagegen auf „Gemeinschaft und Gesellschaft" (Tönnies 1 9 1 2 und ders., 1887). 23 S. 183 der vierten und fünften Auflage: Vgl. Tönnies 1 9 2 2 a . - Die Fußnote fehlt in A.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ins Deutsche übertragen worden ist. Der Kontrakt als das typische Rechtsgeschäft, zugleich charakteristisch für alle rationalen Rechtsverhältnisse, i ins Deutsche übertragen: Es handelt sich um die letzten Seiten des fünften Kapitels von „Ancient Law" (Maine 1861: 168-170; text- und seitenidentisch auch in späteren Auflagen). Der von Tönnies zugrundegelegte englische Originaltext lautet (zwei von Tönnies in der Übersetzung ausgelassene Stellen sind wegen der Anschlüsse in eckigen Klammern wieder eingefügt): „The movement of the progressive societies has been uniform in one respect. Through all its course it has been distinguished by the gradual dissolution of family dependency, and the growth of individual obligation in its place. The Individual is steadily substituted for the Family, as the unit of which civil laws take account. The advance has been accomplished at varying rates of celerity, and there are societies not absolutely stationary in which the collapse of the ancient organisation can only be perceived by careful study of the phenomena they present. [But, whatever its pace, the change has not been subject to reaction or recoil, and apparent retardations will be found to have been occasioned through the absorption of archaic ideas and customs from some entire foreign source.] Nor is it difficult to see what is the tie between man and man which replaces by degrees those forms of reciprocity in rights and duties which have their origin in the Family. It is Contract. Starting, as from one terminus of history, from a condition of society in which all the relations of Persons are summed up in the relations of Family, we seem to have steadily moved towards a phase of social order in which all these relations arise from the free agreement of Individuals. In Western Europe the progress achieved in this direction has been considerable. Thus the status of the Slave has disappeared - it has been superseded by the contractual relation of the servant to his master [Tönnies (1887: 213) fügt hinzu: des Arbeiters zum Unternehmer], The status of the Female under Tutelage, if the tutelage be understood of persons other than her husband, has also ceased to exist; from her coming of age to her marriage all the relations she may form are relations of contract. So too the status of the Sun under Power has no true place in the law of modern European societies. If any civil obligation binds together the Parent and the child of full age, it is one to which only contract gives its legal validity. The apparent exceptions are exceptions of the stamp which illustrate the rule. [The child before years of discretion, the orphan under guardianship, the adjudged lunatic, have all their capacities and incapacities regulated by the Law of Persons. But why? The reason is differently expressed in the conventional language of different systems, but in substance it is stated to the same effect by all.] The great majority of Jurists are constant to the principle that the classes of persons just mentioned are subject to extrinsic control on the single ground that they do not possess the faculty of forming a judgement on their own interests; in other words, that they are wanting in the first essential of an engagement by Contract. [Absatz] The word Status may be usefully employed to construct a formula expressing the law of progress thus indicated, which, whatever be its value, seems to me to be sufficiently ascertained. All the forms of Status taken notice of in the Law of Persons were derived from, and to some extent are still coloured by, the powers and privileges anciently residing in the Family. If then we employ Status, agreeably with the usage of the best writers, to signify these personal conditions only, and avoid applying the term to such conditions as are the immediate or remote result of agreement, we may say that the movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract".

III. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie

97

diese die beglaubigten Ausdrücke aller rationalen Sozialverhältnisse - in diesem Sinne nur konsequent auch »die« Gesellschaft und den Staat als auf Verträgen der Individuen, d. i. auf ihren freien und bewußten Willen beruhend zu denken. Aber keineswegs lassen sich alle wirklichen Verhältnisse und Verbindungen nach dieser Formel konstruieren; gerade die ursprünglichen, immer fortwirkenden, familienhaften nicht. Sind sie nur Zwangsverhältnisse, wie sie Herbert Spencer erschienen? Offenbar nicht. Auch sie werden bejaht, aus freiem Willen, wenn auch in anderer Weise als jene Verhältnisse und Verbindungen, die klar und deutlich als Mittel für die (sich begegnenden und zusammentreffenden) Zwecke der Individuen gedacht werden. In welcher Weise, das war nun mein Problem. Hieraus ist dann das Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft, und davon untrennbar das von Wesenwillen und Willkür entstanden. Zwei Typen sozialer Verhältnisse - zwei Typen individueller Willensgestaltungen - beide doch aus einem Punkte zu begreifen, aus dem Verhältnisse zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, dem alten aristotelischen Gegensatze des Organismus und des Artefakts - wobei aber das Artefakt selber als mehr oder minder dem organischen oder dem mechanischen Aggregat wesensähnlich verstanden werden muß. Alle sozialen Gebilde sind Artefakte von psychischer Substanz, ihr soziologischer Begriff muß zugleich psychologischer Begriff sein. Höffding, selber als Psychologe der Soziologie geneigt, durch Ethik und Religionsphilosophie zu ihr hingezogen, schrieb von diesem Werke, es verbinde auf eigentümliche Weise Soziologie und Psychologie, indem es zeige, wie die soziale Entwicklung notwendigerweise zusammenhänge und ihr Seitenstück habe in einer entsprechenden Entwicklung der menschlichen Geistesfähigkeiten3. Wundt, der ebenfalls diese Begriffe der Erwähnung wert erachtet hat, meint, daß meine Unterscheidung der Willensformen der „geläufigeren in einfaches oder triebartiges und zusammengesetztes Wollen oder Wahl entsprechen 3

Mindre Arbejder S. 144. Köbenh. 1 8 9 9 .

4 in diesem Sinne nur ... zu denken:

In A: in solchem Sinne konsequent auch „die"

Gesellschaft und der Staat als auf Verträgen der Individuen, diese auf ihren freien und bewußten Willen beruhend zu denken, s alle wirklichen

Verhältnisse:

In A: alle rechtlichen Verhältnisse,

n In welcher Weise,: In A ein Fragezeichen statt des Kommas. 12 Hieraus ist dann das Theorem: 21 psychologischer 30 Mindre Arbejder:

In A: Hieraus eben ist das Theorem.

Begriff sein.: In A ist hier ein Absatz. Vgl. H 0 ffding 1 8 9 9 (dt. Höffding 1989).

98

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

dürfte 4 "? Ich habe darauf geantwortet (Archiv für systemat. Philosophie, IV. Bd. 4 S. 4 8 7 f.): „Das triebartige Wollen ist für mich nur die Keimform des ,Wesenwillens'; zu diesem ,gehört' nicht allein zusammengesetztes Wollen der allerkompliziertesten Arten, sondern darin entfaltet, ja verwirklicht er erst sein Wesen als menschlicher Wille; denn die natürlichen ,Triebe' der Menschen habe ich niemals ihren Willen genannt, sondern ich denke Willen immer als appetitus rationalis - als appetitus aber nicht sowohl das Streben (oder Widerstreben) etwas zu tun, sondern das diesem zugrundeliegende positive oder negative Verhältnis zum Nicht-Ich, welches Verhältnis erst durch Begleitung und Mitwirkung des Denkens zum Wesenwillen wird. Ich sage: dieser verwirklicht sich erst im zusammengesetzten Willen .. denn so fasse ich die gesamte Ideenwelt des schaffenden Menschen, des Künstlers oder des ethischen Genies, als Ausdruck seines Wesenwillens, aber auch jede freie Handlung, insofern sie eben aus den wesentlichen Richtungen seines Geistes, Gemütes oder Gewissens hervorgeht. Daher: als Wesenwillen in sozialer Determination und als Gemeinschaft verstehe und zerlege ich, was Hegel die konkrete Substanz des Volksgeistes nennt, etwas so weit über die ,sozialen Triebe' sich erhebendes, daß es die gesamte Kultur eines Volkes bestimmt und trägt." (Daselbst noch fernere Bemerkungen in Ehrerbietung gegen den Altmeister der deutschen Philosophie.) - Die richtige Fragestellung wird auch in P. Barths „Geschichte der Erziehung" (Leipzig 1911, S. 40) anerkannt, wo das Wesen der Soziologie und ihr Verhältnis zur Pädagogik in der Einleitung behandelt wird. Die Wissenschaft der Nationalökonomie führt im ganzen ein von der Philosophie getrenntes Leben. Und doch hat sie immer ein Verhältnis zu ihr gesucht, sie hat ihr Verlangen nach philosophischer Begründung oft und lebhaft kundgegeben. In den 25 Jahren, die seit dieser Publikation verflossen sind, ist dies stärker als zuvor hervorgetreten. Die reine Soziologie ist allmählich zum Range einer Art von Hilfswissenschaft der politischen Ökonomie erhoben worden. In der Begründung soziologischer Gesellschaften (neuerdings auch in Deutschland), woran Nationalökono4

Logik II 2 , S. 5 9 9 ; in der dritten Auflage gleichlautend.

19 „Das triebartige

Wollen ... Kultur eines Volkes bestimmt und trägt.": Tönnies

1898:

4 8 7 f., Fn.; dort mit Abweichungen in Interpunktion und Hervorhebungen. 32 (neuerdings

auch in Deutschland)-. Vgl. in diesem Band S. 1 9 7 (Frankreich) und 4 4 9

(England). Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie wurde am 3. Januar 1 9 0 9 gegründet. 33 in der dritten Auflage gleichlautend:

Vgl. Wundt 1 8 9 5 : 5 9 9 Fn., ders. 1 9 0 8 : 6 3 7 Fn.

III. Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie

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men in erster Linie beteiligt waren, hat dies seine äußere Dokumentierung gefunden. Die hier vorgelegten Begriffe des sozialen Lebens konnten, obwohl durchaus neu in ihrer Fassung, der Nationalökonomie nicht als schlechthin fremdartig erscheinen. Durch die Gegensätze von Natural- und Geldwirtschaft und manche damit verwandte Begriffe waren sie vorbereitet. Die beiden Führer der deutschen Wissenschaft, Schmoller und Wagner, haben sich in eingehender Weise, von ihren weit auseinanderliegenden methodologischen Gesichtspunkten, mit dieser Schrift auseinandergesetzt. Immer mehr ist der Rationalismus und die rationale Mechanisierung der Produktion, ja der »Welt«, als unterscheidendes Merkmal der ganzen neuzeitlichen Epoche anerkannt und mehrfach in bedeutenden Darstellungen entwickelt worden. Von den seltsamen Erfahrungen, die der Verfasser bei diesen Gelegenheiten machen mußte, wird vielleicht an anderer Stelle zu reden sein. Mit Genugtuung darf er aber auf die wachsende Aufmerksamkeit zurückkommen, die dieser Schrift während der letzten 12 Jahre zuteil geworden ist. Wenn Werner Sombart sie »epochemachend«, Franz Eulenburg das »tiefe Werk« genannt, wenn David Koigen, ein russischer Soziologe, von dem »klassischen Traktat« gesprochen hat, so waren das Auszeichnungen, die den Verfasser nur um so mehr der Mängel des Buches bewußt machten; und er wünscht, daß er in der Lage gewesen wäre, diesen Mängeln gründlicher als es in der vorliegenden neuen Ausgabe geschehen ist, abzuhelfen. Jedenfalls sind es Zeugnisse, die im Verein mit den früheren den Verfasser ermutigen durften, das Buch nochmals der Welt zu übergeben. Dabei hat er sich, ohne den Kern und Gehalt antasten zu wollen, bemüht, im einzelnen vieles zu verbessern, wenn auch zumeist nur in der Ausdrucksweise und Schreibart; indessen sind auch nicht wenige Reihen gestrichen, mehrere Zusätze gemacht worden. Solche Zusätze, die auch neue GedankenElemente enthalten, sind als »Zusatz 1911« oder »Zusatz 1912« kenntlich

7 Schmoller

und 'Wagner. Vgl. Schmollers Besprechung von „Gemeinschaft und Gesell-

schaft" (1888) sowie Wagner 1 8 9 2 / 9 3 : 4 5 . 20 so waren das Auszeichnungen:

Vgl. Sombart 1902, 2: 142, Fn., ferner Eulenburg 1 9 0 0 :

2 2 1 , Fn. und Koigen 1 9 1 0 : 2 4 7 . - Koigen führt Tönnies' Werk jedoch auf, um sich von dessen Begriffen zu distanzieren: „Was Ferdinand Tönnies in seinem klassischen Traktat ... unter Gemeinschaft versteht ..., macht nach meinem Dafürhalten nur die historisch ursprüngliche Form der Gemeinschaft aus. Die Zerlegung des Kulturaktes in mehrere Willensrichtungen hat mich gelehrt, jede Art des Mit- und Füreinander-Wollens ... als Gemeinschaft zu bezeichnen." (ebd.: 2 4 7 f.).

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

gemacht worden. Daß aber manches in dem Buche steht und stehenbleiben mußte, was der Verfasser heute nicht so schreiben würde, wird jeder, der auf eine lange schriftstellerische Erfahrung zurückblickt, leicht verstehen. Wenn das Buch von ausgezeichneten Autoren anerkannt wurde, so ist es von anderen geflissentlich ignoriert, redlich (aber auch unredlich) tot- 5 geschwiegen worden. Um so mehr werde das besondere Verdienst hervorgehoben, das Herr Dr. August Baltzer durch eine kleine Monographie (Berlin 1890), die aus genauer Kenntnis und richtigem Verständnis hervorgegangen ist, um das Werk und dadurch um den Verfasser frühzeitig sich erworben hat. 10

7 eine kleine Monographie-,

Balzers Arbeit hat den Titel „Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft

und Gesellschaft. Zur Erläuterung der socialen Frage dargestellt". 10 frühzeitig sich erworben hat.-. In A schließt sich der Satz an: Mit Dank werde auch der Hilfe gedacht, die jetzt Herr Dr. Marcard und Herr Dr. Gerlach bei der Aufstellung des Index geleistet haben.

IV. Gemeinschaft und Gesellschaft Dritte durchgesehene Auflage

3 Dritte durchgesehene Auflage-. Dieser Untertitel ist hier, abweichend vom Inhaltsverzeichnis, hinzugefügt worden; dort lautet der Untertitel „Vorrede (zur dritten Auflage) 1 9 1 9 " . Siehe auch die Abweichung auf der folgenden Seite.

Vorrede (der dritten Auflage) Die vorliegende Schrift führte in der ersten Auflage (1887) den Untertitel: „Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen." In der zweiten Auflage (1912) habe ich an dessen Stelle einen anderen gesetzt (siehe oben), der mir auch jetzt noch richtiger scheint. Jener dürfte nur von wenigen Lesern richtig verstanden worden sein. Heute ist es vielleicht an der Zeit, darauf zurückzukommen; einige erklärende Worte dazu hätte ich auch vor 32 Jahren nicht für überflüssig halten sollen. Jene berufenen Ausdrücke wollte ich nicht als Gebilde des Denkens und der Phantasie verstehen, wie es üblich war und ist - wobei man ehemals in der Regel Kommunismus als das weitergehende System auffaßte, worin auch die Verteilung durch das Gemeinwesen geregelt sei, während neuerdings die Theoretiker in Anlehnung an den herrschenden Sprachgebrauch die Begriffe Kommunismus und Sozialismus als gleichbedeutend hinzustellen pflegen. In dieser jüngsten sturmbewegten Zeit hat sich indessen wieder eine Parteiung erhoben, die geflissentlich den Namen »kommunistisch« für sich in Anspruch nimmt, wie denn schon längst - die erwähnten Theoretiker hätten das nicht übersehen dürfen - dies Beiwort in Verbindung mit dem Anarchismus gebraucht worden war, der in scharfem und bewußtem Gegensatz zum Sozialismus als Zukunftsideal, insbel Vorrede: Diese „Vorrede" ist nie als Teil von „Gemeinschaft und Gesellschaft" erschienen (vgl. Tönnies' Vorwort zu diesem Band, S. 27). Zum Vorabdruck hatte Tönnies den Text jedoch der sozialdemokratischen Programmzeitschrift zur Verfügung gestellt. In dieser Fassung ist der Text überliefert, er erschien unter der Überschrift „Gemeinschaft und Gesellschaft (Grundbegriffe der reinen Soziologie)" in: Die Neue Zeit, 1919, 37, 2. Band, S. 2 5 1 - 2 5 7 (im folgenden: A). „Gemeinschaft und Gesellschaft" erschien 1920, acht Jahre nach der zweiten Auflage, in neuer, durchgesehener Auflage, aber ohne neue Vorrede. - In A ist an die Überschrift folgende redaktionelle Fußnote angebunden: „Professor Dr. Tönnies' bekanntes soziologisches Werk .Gemeinschaft und Gesellschaft' erscheint demnächst in dritter Auflage. Zu dieser Neuauflage hat der Verfasser eine neue Vorrede geschrieben, die sich mit dem Verhältnis des Sozialismus zum Kommunismus als kultureller Lebensform beschäftigt. Durch die gütige Überlassung der Vorrede zum Abdruck sind wir imstande, sie schon heute unseren Lesern darzubieten. Die Redaktion der Neuen Zeit." 5 (siebe oben): Tönnies' Verweis bezieht sich auf den Untertitel der zweiten Auflage (Grundbegriff der reinen Soziologie), hier S. 83. s richtiger: In A: wichtiger.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sondere auch zu dem System, das sich als »wissenschaftlicher Sozialismus« einführte, eine Propaganda entfaltet hatte - besonders auch eine solche »der Tat« - , deren Erfolge in Rußland und den romanischen Ländern vor einem Menschenalter und nachher die Gemüter tief erregt haben; heute dürfen wir dieser Erregungen als eines Vorspiels der Erschütterung uns erinnern, womit nunmehr der sogenannte Bolschewismus das durch den Weltkrieg zerrissene Europa bewegt und bedroht. Freilich ist neben diesen Partei- und Programmnamen, unter denen das „Kommunistische Manifest" durch Weltbedeutung obenan steht, ein anderer Gebrauch des Wortes üblich, nämlich „zur Bezeichnung von Gemeineigentumsformen - in erster Linie an Grund und Boden - , die geschichtlich der Bildung des Sondereigentums vorausgegangen" und sich neben diesem, „immer mehr freilich vor ihm zurückweichend, vielfach bis in unsere Zeit hineinragend erhalten haben, sowie von freiwilligen Gemeinschaftsformen, die nicht grundsätzlicher Feindschaft gegen die Institution des Privateigentums als solche ihr Dasein verdanken, sondern lediglich aus den besonderen Verhältnissen derjenigen heraus, die sich zur Gemeinschaft zusammenschließen, erwachsen sind: so vor allem die klösterlichen Gemeinschaften" (Grünberg). Wobei zu beachten, daß diese zweite Art weder in dem Ausdruck Agrarkommunismus noch in dem neuerdings geläufigen des Urkommunismus begriffen ist. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß auch das Wort Sozialismus nicht ausschließlich auf eine erdachte Zukunftgesellschaft oder den »Zukunftsstaat« angewandt wird, sondern vielfach so, daß gegenwärtig bestehende oder auch ehemalige und historisch gewordene Einrichtungen - solche, in denen der Staat, die Gemeinde oder eine andere kollektive Person als Subjekt des Eigentums auftreten als Sozialismus (Staatssozialismus, Gemeindesozialismus) sich geltend machen. Es war nun meine Meinung, diesen Begriffen eine wissenschaftliche Gestalt zu geben, die zwar jenen Weiten des Sprachgebrauchs gerecht würde, zugleich aber den Charakter einer Idee hätte, der sowohl bestimmte Erscheinungen der Wirklichkeit als auch die Vorstellungen und Ideale der Menschen irgendwie nahekommen, ohne sich je damit zu decken. Die wirklichen Erscheinungen, die »empirischen Kulturformen« standen mir dabei im Vordergrund. Ich wollte Kommunismus begreifen als das Kultursystem der Gemeinschaft. Sozialismus als das Kultursystem der Gesell9 Kommunistische Manifest-. Vgl. Marx und Engels 1848. 19 (Grünberg)-. Vgl. Grünberg 1911.

IV. Gemeinschaft und Gesellschaft. Dritte durchgesehene Auflage

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schaft 1 . Zu diesem Behuf dehnte ich beide Ideen aus, um ihre Bedeutung als Formen des Eigentumsrechts auf das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Zusammenleben der Menschen zu erstrecken. Ich hatte in der Vorrede zur ersten Auflage von dem Gedanken gesprochen, „welchen ich für mich auf diese Weise ausdrücke: daß die natürliche und (für uns) vergangene, immer aber zugrundeliegende Konstitution der Kultur kommunistisch ist, die aktuelle und werdende sozialistisch," und ihn dahin erläutert, es gebe keinen »Individualismus« in Geschichte und Kultur „außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt". Es kann nicht befremden, daß ich die moderne Gesellschaft, insofern als sie sich gewaltig unterscheidet von den vielen Gemeinschaften des alten Lebens, aus denen sie hervorgegangen ist, über die sie sich erhoben hat, daß ich die Gesellschaft aus den Individuen als deren (Kür-)Willensgebilde ableite, während in bezug auf Gemeinschaft die Individuen verstanden werden als Glieder an dem Leibe, als ihre Organe oder Organteile. Befremden kann es und befremdet hat es denkende Leser, daß ich auch den Staat - versteht sich seinem heutigen Sinne nach - unter den Begriff der Gesellschaft gebracht habe, indem ich (im Dritten Buch, § 29) den Staat als zwieschlächtig, nämlich 1. als die allgemeine gesellschaftliche Verbindung, die in »der« Gesellschaft steht, aber 2. als die Gesellschaft selber oder die soziale Vernunft bestimme, als „die Gesellschaft in ihrer Einheit, nicht als besondere Person außer und neben die übrigen Personen gesetzt, sondern als die absolute Person, in bezug auf welche die übrigen Personen allein ihre Existenz haben". Im Verfolg dieses Gedankens hatte ich ausgesprochen (schon 1887): „Der Staat ist kapitalistische Institution und bleibt es, wenn er sich für identisch mit der Gesellschaft erklärt. Er hört daher auf, wenn die Arbeiterklasse sich zum Subjekt seines Willens macht, um die kapitalistische Produktion zu zerstören." - „Und hieraus folgt, daß die politische Bestrebung dieser Klasse ihrem Ziele nach außerhalb des Rahmens der Gesellschaft fällt, welche den Staat und die Politik als notwendige Ausdrücke und Formen ihres Willens einschließt." 1

Was aber subjektiv zu denken ist: in ihrem Bewußtsein sind sie es. (Zusatz 1924.)

10 „außer wie er ausfließt ... und trägt"-. Vgl. in diesem Band S. 81 f. 19 (im Dritten Buch, § 29): Siehe Tönnies 1 8 8 7 : 2 6 4 ff. 25 „die Gesellschaft in ihrer Einheit ... allein ihre Existenz haben"-. Ebd.: 2 6 5 f. 32 „Und hieraus folgt ... ihres Willens einschließt.": 33 (Zusatz 1924):

Fußnote fehlt in A.

Ebd.: 2 6 7 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Der letzte Satz will und sollte sagen, daß die Idee der Arbeiterbewegung Wiederherstellung der Gemeinschaft ist: Schaffung einer neuen sozialen Grundlage, eines neuen Geistes, neuen Willens, neuer Sittlichkeit - läßt sich so etwas schaffen? Das Unermeßliche der Aufgabe hat mir immer vor Augen gestanden, wie es heute mir vor Augen steht, da so viele glauben, die Stunde habe geschlagen, das „Himmelreich sei nahe herbeigekommen" - herbeigekommen in dem zerschmetterten, ächzend daniederliegenden, von seinen Feinden mißhandelten Deutschland, herbeigekommen für unser, wie jüngst (am 26. März 1919) der neue sozialdemokratische Reichskanzler treffend sagte, „leidendes, von jeder militärischen Kraft entblößtes und der Vernichtung preisgegebenes Volk." Ich teile jene chiliastischen Vorstellungen nicht. Ich glaube auch nicht, daß die Arbeiterklasse, wie sie ist, sich zum Subjekt des Staatswillens machen kann, um die kapitalistische Produktion zu zerstören. Ich habe aber schon damals - in dem gleichen Paragraphen - von einer dem Begriff nach möglichen Form des Sozialismus gesprochen, welche die gesamte Güterproduktion zu einem Teil der Verwaltung machen würde, ohne daß die kapitalistische Warenproduktion aufgehoben würde; ich habe angedeutet, daß erst, „sobald die Gesellschaft über alle Grenzen hinaus sich erstreckt hätte, und folglich der Weltstaat eingerichtet würde", die Warenproduktion „ein Ende hätte", „mithin auch die wahre Ursache des Unternehmergewinns, des Handelsprofits und aller Formen des Mehrwerts". Ich halte an dem Gedanken fest, der mich damals alle (eigentlich) gesellschaftlichen mit den staatlichen volkswirtschaftlichen Tätigkeiten als io Reichskanzler. Gemeint ist der Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann, n „leidendes ... der Vernichtung preisgegebenes Volk.": Scheidemann brachte diesen Satz in seiner Parlamentsrede nie zu Ende: Seine Erklärung stand im Zusammenhang von Ausschreitungen am Rande einer Volksversammlung in Berlin am Sonntag zuvor gegen die in Aussicht stehenden Friedensbedingungen der Alliierten. Unter anderem führte er aus: „Wir protestieren mit aller Entschiedenheit gegen die Vorkommnisse am Sonntag. Wir protestieren gegen die Fälschungsversuche, die die Freiheit der Revolution nicht für, sondern gegen unser Volk mißbrauchen. (Lebh. Beifall.) Ich weiß nicht, wie man dieses Treiben am besten brandmarken soll. (Unruhe rechts.) Unser leidendes, von jeder militärischen Kraft entblößtes und der Vernichtung preisgegebenes Volk — (stürmische Unterbrechung rechts. Zurufe rechts: Das ist die Schuld der Revolution! - Lärm und Zurufe links: Ludendorff ist schuld! - Bewegung im ganzen Hause.) Wir werden uns das Heraufbeschwören neuer außenpolitischer Gefahren durch eine Handvoll Reaktionärer nicht weiter gefallen lassen." (so berichtete die Deutsche Allgemeine Zeitung am 27. 3. 1919 auf dem Titelblatt o. V.: Protestrede). 22 „mithin auch die wahre Ursache ... des Mehrwerts": Vgl. Tönnies 1887: 266 f.

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Sozialismus zusammenfassen und der mich später an anderer Stelle sagen ließ: „Sozialismus ist Volkswirtschaft, das Wort im prägnanten Sinne genommen." („Entwicklung der sozialen Frage", S. 74.) Es ist der gleiche Sinn, worin man längst die Bildung der Großbetriebe, Vereinigung von Arbeitern und Arbeitsmitteln, vollends dann die Einschränkung und Ausschließung des Wettbewerbs durch Kartelle, Syndikate, Trusts, die Kontingentierung und einheitliche Leitung ganzer Produktionszweige, als Vorbereitungen des Staatssozialismus verstanden und dargestellt hat; der gleiche Sinn, worin die gesamte Sozialpolitik und soziale Reform zu diesen Vorbereitungen gehört; vor allem aber die Selbstorganisation der Arbeiter in Gewerkschaften, deren wachsender Einfluß die konstitutionelle Fabrik schaffen wird, und vollends in Genossenschaften, die für ihren eigenen Bedarf als Verbraucher selber Fabriken und andere Betriebe ins Leben zu rufen vermögen. (Die Bedeutung der Genossenschaft, die mir 1887 noch nicht aufgegangen war, habe ich, wie bei mancher anderen Gelegenheit, so in einem Zusatz zu Buch III, § 14 der zweiten Auflage dieser Schrift [Gemeinschaft und Gesellschaft] zu würdigen mir angelegen sein lassen.) Hier findet von der Gesellschaft aus, und zwar von den Elementen des Volkes, die am meisten Gemeinschaft in sich pflegen, von den Familienhaushaltungen aus, die in allen Schichten etwas davon bewahren, eine, je mehr sie erweitert wird, um so mehr erstarkende und bewußter werdende Sozialisierung statt, der eine voreilige und gewaltsame Verstaatlichung des Handels und beliebiger Betriebsmassen hemmend entgegentreten würde, und zu gleicher Zeit ist doch - zumal unter gegenwärtigen Umständen, da der Weltkapitalismus auf der ganzen Linie unerhörte Triumphe feiert - ein Gelingen so schwieriger und kostspieliger Experimente keineswegs wahrscheinlich: um nicht zu sagen, daß ein Mißlingen gewiß wäre. Unverkennbar ist freilich, daß die gewaltige europäische Revolution, die im Jahre 1914 einsetzte, die gesamte Entwicklung der sozialen Frage in einer Weise beschleunigt, als ob eine elektrische Batterie in einen Wagen hineingesetzt würde, den bisher ein Maultier in gemächlichem Trott gezogen hatte. Die tiefe Not, der vor allem die in der gesellschaftlichen Entwicklung zurückgebliebenen Reiche - Rußland, die Balkanvölker und das Osmanische Reich, Ungarn, die tschechoslawischen Neustaaten, Österreich - anheimgefallen sind, auf deren Stand Deutschland zurückzuzwingen das eigentliche Ziel der englisch-französischen Entente war, die dafür die Bundes-

3 Entwicklung 17 Gemeinschaft

der sozialen Frage: Vgl. Tönnies 1 9 1 3 . und Gesellschaft: Vgl. Tönnies 1912: 2 4 6 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

genossenschaft eines bisherigen deutschen Bundesgenossen und der fremden Weltteile, die Kampfgenossenschaft der Schwarzen, Braunen und Gelben in ihre Dienste spannte - diese Zwangslage wird auch im wiedergegönnten Frieden zu einer Zusammenfassung und Organisierung der wirtschaftlichen Kräfte nötigen, wie sie während des Weltkriegs stattgefunden hat und dessen Führung durch 50 Monate ermöglichte. Als Kriegssozialismus, Zwangswirtschaft, Militarisierung des Wirtschaftslebens hat dies System so große Wirkungen ausgelöst, ebenso große Mängel und Lücken aufgewiesen und unermeßliche Unzufriedenheiten erregt, ohne daß es irgendwie versucht hätte, die hervorgebrachten Mehrwerte der Gesamtheit, dem Staate, zuzuführen, ohne überhaupt dem Kapital (außer ungenügend vermehrten Steuern) andere Opfer zuzumuten, als daß es immer wieder seine Riesengewinne als hochverzinsliches Darlehen dem Reiche zurückgäbe, das die dargeliehenen Milliarden wiederum außer auf die Arbeit auch auf das Kapital zurückfließen lassen mußte. Die finanzielle Zerrüttung, die daraus entsprungen ist, und die Zerstörung des Geldwesens zu heilen, ist nunmehr die große Aufgabe, der, wie es scheint, nur ein neuer, aber echterer Sozialismus gewachsen sein wird. Wenn dieser Sozialismus den Staat zwar nicht zu bereichern, aber doch aus der Verarmung emporzuheben vermag, so wird das wesentlich auf Kosten des privaten Reichtums geschehen, dessen Tage auch aus anderen Ursachen wenngleich nur in diesen verelendeten Ländern - gezählt sein dürften, aber auch auf Kosten derjenigen Arbeiter, die in jenem Wahn der Erlösung lebend durch ein immer erhöhtes Papiergeldeinkommen und verminderte Arbeit die Volkswirtschaft produktiver zu machen sich einbilden, während sie der blutleeren ihre unentbehrliche Nahrung entziehen. Schon bisher hat der Staatsgedanke in Deutschland weit mehr als in den lateinischen Ländern, vollends als in England und in den Kolonialländern, einen gemeinschaftlichen Mitsinn gehabt, ja wir dürfen sagen, etwas von gemeinschaftlichem Charakter besessen, der in allgemeiner Wehrpflicht, allgemeiner Schulpflicht und allgemeiner Versicherungspflicht wenn auch mangelhaft zum Ausdruck kam. Nicht als ob Vaterlandsliebe und Nationalgefühl in den feindlichen Ländern minder stark, geschweige minder leidenschaftlich wären! Aber der deutsche philosophische Idealismus, als dessen Erben Friedrich Engels die deutsche Arbeiterbewegung bezeichnet und ausgezeichnet hat, hat die Vaterlandsliebe bewußter in den Staatsbegriff hinein-

36 bezeichnet

und ausgezeichnet

hat-. So z. B. im Vorwort zu Engels 1 8 8 2 .

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gesenkt, als es in irgendeinem anderen Lande geschehen konnte, und zu einem Teile ist eben dies Mitursache gewesen, warum das Neue Reich, das als eine Schöpfung des preußischen Kriegerstaates begründet wurde, sich in der Staatenwelt nicht dauernd zu behaupten vermocht hat. Der deutschen Philosophie ist auch der Gedanke des Weltstaatenbundes und des ewigen Friedens in einer Klarheit entsprungen, die noch durch die Jahrhunderte des Krieges und des Zwiespalts hindurchleuchten wird, welche der Menschheit bevorstehen. Deutschland legt nunmehr seine Waffen nieder 2 , die es in Trübsal aber in Ehren gegen eine erdrückende und erstickende Übermacht geführt hat: gegen Menschen aller Rassen, gegen eine aller Menschlichkeit spottende Aushungerung, gegen einen Feind, der unsere Säuglinge, Mütter und Greise zu vertilgen unternahm - und vermochte; aber Deutschland legt nicht die Waffen seines Geistes nieder, die es vielmehr verstärken und verfeinern wird, um der Welt das Verständnis eines Gemeinwesens und eines Kulturideals einzuflößen, die den Widerspruch gegen die Weltgesellschaft und ihren Mammonismus in wissenschaftlicher Gestalt darstellen, welche eben dadurch zu einer ethischen Macht wird, zur Macht des Gedankens der Gemeinschaft. Diesen durch den gegebenen - modernen - Staat in die gegebene - moderne - Gesellschaft hineinzutragen, liegt den Deutschen ob, bei Strafe des Unterganges. Vielleicht schwebt auch den Russen, deren viel stärkerer Urkommunismus, wenn auch im Verfall, erhalten blieb, eine solche Aufgabe vor. Ganz gewiß ist, daß ihre Methoden unverwendbar sind in Deutschland und in allen Ländern hoher gesellschaftlicher Zivilisation, die nicht ohne zu verbluten aus dem Netz der Weltwirtschaft sich losreißen können. In Weimar hat am 30. März ein berühmter Politiker ausgesprochen 3 , Deutschland stehe weltpolitisch zwischen russischem Kommunismus und englisch-amerikanischem »individualistischem Kapitalismus« - hier müsse es seinen eigenen Weg suchen und finden. Ich würde sagen: Individualismus und Sozialismus sind überall, wenn auch in verschiedenen Phasen der Entwicklung, die leitenden Mächte. Rußland und andere halbbarbarische Länder wähnen, die schwersten Phasen der

2 3

Im Spätherbst 1918 geschrieben. Im Mai 1919 hinzugefügt.

9 die es in Trübsal: In A folgt ein Komma. 33 Im Spätherbst 1918 geschrieben.: Fußnote fehlt in A. 34 Im Mai 1919 hinzugefügt: Fußnote fehlt in A.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Entwicklung überspringen zu können und Kommunismus durch aufgedrungene Beschlüsse, durch einseitig rücksichtslose Gesetzgebung herbeizuführen; es wird nur einem sehr gewaltsamen »individualistischen Kapitalismus« den Boden bereiten; den Kommunismus durch Gesetze und Verordnungen herbeiführen wollen, ist dem Versuch einer Dame zu vergleichen, durch Schönheitspflästerchen und Schminke oder gar durch Zaubertränke sich eine neue Jugend anzuschaffen. Deutschland kann inmitten seiner Not und zur Heilung dieser Not, wenn es von klarer Erkenntnis und starkem Willen geleitet wird, einen lebens- und entwicklungsfähigen Sozialismus begründen, aber auch nur begründen: dieser - ohne seine notwendige Voraussetzung, den Privatkapitalismus gewaltsam zu zerstören - würde als erweiterter Staats- und Gemeindekapitalismus - worin, so darf man sagen, die Idee des Kapitalismus in ihr Gegenteil übergeht - , wenn auch im Mitbewerb um den Absatz auf dem Welt markt schwächer als zuvor auftretend, im Mitbewerb um die Weltmeinung allen Völkern der Erde voranleuchten, und zwar hauptsächlich durch Ausbau des Wesens der Genossenschaft mit Einschluß der kommunalen und der staatlichen Genossenschaft - des Gedankens nämlich, daß Verbände so sehr als möglich ihren eigenen Bedarf durch eigene Produktion decken wollen - , oder durch Einbau des kommunistischen Gedankens und guten Willens in den gesetzmäßig, besonnen, wissenschaftlich planmäßig fortschreitenden Sozialismus - durch Vorbereitung eines nach Jahrhunderten des Unterganges zu erwartenden Aufganges - des neuen Zeitalters höherer menschlicher Gemeinschaft, als des Erbteils, das wir unseren späten Nachfahren hinterlassen wollen. Für die Deutung des Vergangenen aber wie für die tastende Erkenntnis des Werdenden gilt es gleichermaßen, daß wir das Dasein der Menschheit als einen Lebensprozeß, der in naturgesetzlicher Weise sich vollzieht, denken müssen, und daß wir es uns denken können als eine Wirklichkeit von unendlicher Mannigfaltigkeit, die als solche unserer Begriffe spottet und als ein Proteus sich immer wieder ihrer zwingenden Hand entzieht. Dieser Tatsache versucht das »dialektische« Denken gerecht zu werden; daß diese Denkweise Voraussetzung für das Verstehen der Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" sei, wurde schon in der Vorrede zur ersten Auflage in den Worten ausgesprochen: „Aber alle Philosophie, mithin alle Wissenschaft als Philosophie, ist empiristisch: in dem Verstände, nach welchem alles Sein als Wirken, Dasein als Bewegung und die Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit der Veränderungen als eigentliche Wirklichkeit aufgefaßt werden muß, das Nichtseiende als das wahrhaft

IV. Gemeinschaft und Gesellschaft. Dritte durchgesehene Auflage

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Seiende, also durch und durch auf dialektische Weise. Die empiristische und die dialektische Methode fordern und ergänzen einander. Beide haben es mit lauter Tendenzen zu tun, sich begegnenden, bekämpfenden, verbindenden ...."

4 „Aber alle Philosophie ... verbindenden ....": Gegenüber der Vorlage leicht verändert, vgl. hier S. 77.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

2 Z « r Einleitung in die Soziologie-. Dieser kurze Text, in dem Tönnies die soziologischen Grundideen von „Gemeinschaft und Gesellschaft" in knapper Form zusammen fasst, wurde zuerst 1899 im 115. Band der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik veröffentlicht (S. 2 4 0 - 2 5 1 , im Folgenden A). Eine französische Übersetzung unter dem Titel „Notions fondamentales de sociologie pure" erschien in den Annales de l'Institut International de Sociologie, 1900, 6, S. 6 3 - 7 7 (Tönnies 1900, im Folgenden ß); eine italienische Veröffentlichung des Textes erschien bereits 1898 unter dem Titel Communità e società, in: Biblioteca Sociologica, Serie B, N . 3, Milano, S. 2 - 8 , mit der redaktionellen Bemerkung: „Questo scritto è un'illustrazione della ben nota opera dello stesso autore ,Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung d. Communiusmus u. d. Socialismus als empirischen Culturformen.'" (im Folgenden C; die Übersetzung in das Italienische aus dem deutschen Manuskript erfolgte durch Dott. Luigi Mario Capelli). Auch in A und B ist an den Titel eine Fußnote angehängt: „Mit Bezug auf die Schrift des Verfassers: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen.' Leipzig, O. R. Reisland 1887". - In B und C gibt es jeweils erhebliche textliche Abweichungen vom deutschen Text. Da jedoch Tönnies' Kenntnisse des Französischen und besonders des Italienischen eher gering waren, ist fraglich, ob es sich um stilistische Glättungen durch die Herausgeber der jeweiligen Zeitschrift handelt oder wirklich um Verbesserungen, die von Tönnies autorisiert oder auch gar nur bemerkt worden sind. Relevante Abweichungen sind im Folgenden ausgewiesen.

Die Einheit mehrerer Menschen kann wie jede Einheit auf doppelte Weise begriffen werden. Sie ist entweder vor der Vielheit, welche aus ihr entspringt, oder die Vielheit ist früher und Einheit ist ihr Gebilde. In der wahrnehmbaren Natur ist jene das Wesen des Organismus, diese bezeichnet das anorganische Aggregat wie das mechanische Artefact. Dort ist die Einheit Realität, sie ist das Ding an und für sich selber; hier ist sie ideell, d. h. wird bedingt durch menschliches Denken, das (sei es nun auf Grund der Wahrnehmung oder nicht) die Vorstellung und endlich den Begriff eines solchen Ganzen gestaltet. Insofern aber als die Teile das Ganze zusammensetzen, kann, ja muß die Einheit allerdings auch als ihr Gebilde gedacht werden; selbst dann noch, wenn diese Zusammensetzung selbst wieder durch menschlichen Willen erzwungen worden ist. Im letzteren Falle Zweck, im ersteren wenigstens Folge der Zusammensetzung ist das Zusammenu^V&e« der Teile in gleicher Richtung, zu einheitlicher Bewegung oder Arbeit. Diese daher, selbst schon etwas Immaterielles, ist das Gemeinsame und der objektiven Realität Zugehörige, was hier zugrunde liegt und für das Denken maßgebend ist. Derselbe Gegensatz aber wiederholt sich, wenn die Betrachtung von Einheiten in Frage ist, die als solche für sinnliche Wahrnehmung gar nicht (nämlich etwa bloß als Mehrheit einander ähnlicher Gegenstände) gegeben sind, sondern die eigentümliche Energie des Denkens erfordern, um erkannt zu werden und also ein quasiobjektives Dasein zu gewinnen. Solches ist das Allgemeine (Universale), das zu den besonderen und einzelnen Dingen wie ein Ganzes zu seinen Teilen sich verhält. In dieser Sphäre hat die berühmte Kontroverse zwischen Realismus und Nominalismus sich bewegt, deren gänzliches Verschwinden (durch den vollkommenen Sieg des Nominalismus) für das wissenschaftliche, d. h. naturwissenschaftliche, insonderheit aber mathematisch-physikalische oder mechanische Gepräge der gesamten modernen 2 Sie ist entweder vor: In A nicht hervorgehoben. 5 wie das mechanische Artefact: Fehlt in B. 8 (sei es nun auf Grund der Wahrnehmung oder nicht)-. C stattdessen: ci da basandosi sul percettibile:. 10 ja muß: Fehlt in C. 15 zu einheitlicher Bewegung oder Arbeit: Fehlt in C. 17 und für das Denken maßgebend ist.: C stattdessen: e ne determina il concepimento. - In ß fehlt der ganze Satz. 20 (nämlich etwa bloß als Mehrheit einander ähnlicher Gegenstände): Fehlt in C.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Philosophie im höchsten Grade bezeichnend ist. Und doch muß einmal die Wahrheit des Realismus wiederhergestellt werden, welche, dem Anscheine nach, durch die Kritik des Artbegriffes in der Entwicklungstheorie, ihre letzte Zuflucht verloren hat, in Wahrheit aber durch eine tiefere biologische Betrachtung neues Leben gewinnt: denn die Einsicht in ihre Entstehung tut dem Dasein der Art keinen Abbruch, so wenig wie einer höheren oder einer niedrigeren Gruppe; und in ihrem Wachstum, dem Erwerbe neuer Kräfte und dem Verluste untauglicher, so auch in ihrer fortschreitenden Differenzierung, zeigt sich jede als ein Lebendig-Tätiges, ihr Wesen erhaltend, gleich jedem individuellen Organismus, trotz des Wechsels der Teile, durch diesen Wechsel der Teile. In noch ganz anderen, wenn auch hier schon vermittelten Gebieten, wird dieselbe kardinale Antinomie durch unsere Abhandlung verfolgt. Die soziale Einigkeit der Menschen kann nur psychologisch verstanden werden. Als ein Dingliches wird sie nach Analogie des individualen Willens aufgefaßt, welcher jedoch selber sein substantielles Wesen nur aus der Analogie eines materiellen Gegenstandes entlehnen kann. Auf der anderen Seite ist aber schon die beharrende Form des organischen Leibes ein Substantielles, das nur dem Denken zugänglich ist und ebensowohl der psychischen als der physischen Wirklichkeit angehört. - Der soziale Wille oder Körper ist jedenfalls ein Ganzes, dessen Teile die menschlichen Individuen als vernunftbegabte Wesen ausmachen. Auch dieses Ganze besteht aber entweder vor den Teilen, oder wird erst aus ihnen zusammengesetzt. Alle Gebilde von der einen Art nenne ich »Gemeinschaft«, alle von der anderen »Gesellschaft«. Die Keimformen der »Gemeinschaft« sind durch mütterliche, geschlechtliche und geschwisterliche Liebe gegeben, die elementare gesellschaftliche Tatsache liegt im Tauschakte vor, der sich am reinsten darstellt, insofern als er sich vollziehend gedacht wird von Individuen, die einander fremd sind und nichts miteinander gemein haben, also wesentlich antagonistisch oder geradezu feindlich einander gegenüberstehen. Beide Verbindungen sind ihrer Natur nach universal, und i In dieser Sphäre hat... Grade bezeichnend ist.: In C knapper: In questa sfera si è agitata la famosa controversia fra il realismo e il nominalismo, finita col trionfo del nominalismo, trionfo che caratterizza la filosofia moderna scientifica, ossia naturalistica. 13 In noch ganz anderen ... unsere Abhandlung verfolgt.-. In C lautet der Satz: In altre come in questa questione tale ragionamento distrugge un'antinomia a prima vista insuperabile. 31 die elementare gesellschaftliche Tatsache ... einander gegenüberstehen.: C verkürzt zu: L'elemento sociale invece è costituito dagli scambievoli rapporti che passano tra stranieri di sangue, cioè tra naturali nemici.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

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zwar je in zwiefachem Sinne: A. durch die Einheit der Art sind alle Menschen »Brüder« und in einem gemeinsamen Stammvater (»Adam«) geeint - diese Idee gewinnt jedoch reale Bedeutung nur in ihrer Einschränkung auf gewisse Völker oder Völkergruppen und in Verbindung mit religiösen Ideen. B. die wirklichen und engsten gemeinschaftlichen Verhältnisse sind durch das Wesen des Menschen als allgemeine und notwendige gesichert. Sodann Gesellschaft: a) so wie Jeder Jedes Feind sein kann, so kann Jeder mit Jedem tauschen und sich vertragen, b) daher muß eine Vereinigung, welche aus diesem Prinzipe sich entwickelnd, die Feindseligkeiten negiert, zuletzt alle Menschen umfassen und als ihre Subjekte haben. Man sieht, wie die Ideen A und b einander berühren, während B und a sich abstoßen. Die begrifflichen Konstruktionen sind durchaus getrennt und unabhängig voneinander. „Theorie der Gemeinschaft" ist hauptsächlich eine genetische Klassifikation ihrer Gestalten, als deren merkwürdigste in aufsteigender Reihe die Typen von Haus, Dorf, Stadt aufgestellt werden; eine Einteilung, die an wissenschaftlichem Werte nicht darum geringer ist, weil sie, in neueren Zeiten vernachlässigt, den sozialphilosophischen Erörterungen der griechischen Philosophen regelmäßig zugrunde gelegt wurde. In der Tat, so sehr die politischen Lebensformen verwickelt, ja verworren sein mögen, jene sozialen, d. h. vornehmlich ökonomischen Einheiten treten, als die von der Natur gegebenen, überall deutlich genug hervor, sie sind lebendigen Organismen in dem besonderen Sinne, den wir sogleich anzeigen wollen, vergleichbar, ihr Werden und Vergehen macht den eigentlichen Inhalt jeder Kulturhistorie aus. „Theorie der Gesellschaft" hingegen stellt ein reines Gedankending dar, dessen Begriff nur an die Tatsache und Notwendigkeit des Daseins auf dem Erdboden gebunden ist. Aber indem dieser Begriff sich zu verwirklichen strebt, wird er durch historische Bedingungen eingeschränkt. Sein erster Schauplatz ist die Stadt selber, indem der Warentausch in ihr herrschend wird und dessen Subjekte sich als freie Individuen erheben, abgelöst von dem Mutterstock des gemeinschaftlichen Lebens und Denkens ihre eigenen Zwecke verfolgend. Demnächst die Verbände von Städten, von Städten und Landschaften, zu immer größeren Kreisen sich erweiternde Territorien. Der Prozeß der Gesellschaft, durch das Prinzip des Austausches gegeben, ist zunächst die Herrschaft der Menschen, welche den 2 gemeinsamen Stammvater (»Adam«): C stattdessen: origine comune. 14 Die begrifflichen Konstruktionen ... unabhängig voneinander.: Der Satz fehlt in C.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Austausch um seiner selbst willen, als ihre Kunstfertigkeit betreiben, der Handelsklasse, deren Macht das Geld als allgemeines Werkzeug des Kaufens ist. Die Arbeit selber wird sodann - als Industrie - ein Zweig des Handels, der in ihr seinen Grundgedanken: die Selbstverwertung des Geldes, am reinsten von allen zufälligen Bedingungen entkleiden kann (Einkauf von Arbeitskräften, Inkorporierung von Arbeit in Waren, Verkauf der Waren nach ihrem Werte). Hier stehen wir vor der »sozialen Frage«, d. h. vor einem Zustande, der die Auflösung eines rätselhaften Widerspruchs gebietet. Alle Individuen sind gleich in der Gesellschaft, sofern sie zu tauschen und Kontrakte zu schließen fähig sind: dies ist ihr Begriff. Die handelnden, leihenden, unternehmenden Individuen sind als Kapitalistenklasse die Herren und aktiven Subjekte der Gesellschaft, welche sich der arbeitenden Hände als ihrer Werkzeuge bedienen: dies ist ihre Wirklichkeit, wenn sie in dieser Richtung sich entwickelt; ob und inwieweit es irgendwo und wann der Fall sei, daß die Beschreibung der Gesellschaft überhaupt, und insonderheit eines solchen Zustandes zutreffe, dies wird einer anderen Untersuchung und Diagnose anheimgestellt. Inhalt und Anspruch dieses gesamten Theorems kann nur durch seine historischen und polemischen Bezüge verstanden werden. Diese mußten in dem Buche selber, um seinen doktrinalen Charakter zu erhalten, als dem Leser gegenwärtig vorausgesetzt werden. Aber es ist einiger Grund zu vermuten, daß nur Wenige unter denen, die es des Lesens gewürdigt haben, wirklich mit dem Zustande und der Vergangenheit rechts- und sozialphilosophischer Lehren hinlänglich vertraut waren, um ein Kontrastierendes und Neues hier zu bemerken. Darum scheint es dem Autor geboten, ausdrücklich und mehr, als in der Vorrede geschehen ist, auf diese Punkte hinzuweisen. Die Neueren meinten, in ihrer Abhängigkeit von Hegel, dessen Einfluß alle Quellen der Tradition verschüttet hatte, wunder was getan zu haben, als sie den Begriff der Gesellschaft neben dem des Staates aufstellten. In Wahrheit ist dieser Begriff nur eine neue Fassung des alten »Natur-Zustandes« (status naturalis), der immer als unterhalb des Staates verharrend gedacht 19 historischen und polemischen:

C abweichend: istoricamente o criticamente - Für den Rest

des Absatzes steht in C lediglich: Esaminiamo la quistione dal punto di vista dottrinale. 25 Aber es ist einiger Grund zu vermuten ... und Neues hier zu bemerken. : Der Satz fehlt in B. 27 Darum scheint es ... auf diese Punkte hinzuweisen.-. In B statt des Satz: Mais il semble nécessaire d'en ajouter un résumé succinct pour faire mieux comprendre les intentions de cette œuvre, qui n'ont été qu'indiquées dans la préface. 28 Die Neueren:

In B stattdessen: Les théoriciens politiques de notre siècle.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

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wurde; und auch die Benennung der »bürgerlichen Gesellschaft« ist im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in keinem der drei Hauptländer irgendwie fremd; man wußte wohl, daß sie es war, die in der großen Revolution wider den Staat sich empörte und einen neuen Staat herstellen wollte. Und so ist Sache und Name auf die Erben der Revolution, die Sozialisten, übergegangen. Ihnen wird eine Verbindung der sonst getrennten Betrachtungen des Naturrechts und der politischen Ökonomie verdankt, zusammen mit der verbesserten historischen Ansicht, die zu gleicher Zeit auf allen Gebieten immer weiter sich ausbreitet. Im gleichen Sinne haben auch die Bemühungen Lorenz v. Steins ihren Wert, welche für die staatswissenschaftliche Denkungsart in Deutschland maßgebend geworden sind. Aber seine eigentliche Theorie wird am besten verstanden als eine Erneuerung und prinzipiell richtige Auslegung der schroffen Prinzipien des Thomas Hobbes: die Gesellschaft, oder die Menschheit im Naturzustande, ist in sich zerspalten und feindselig; der Staat ist dazu da, Frieden und Ordnung hineinzubringen; gegenüber der Unfreiheit (der Person) und Ungleichheit (des Vermögens), welche aus der gesellschaftlichen Eigenbewegung sich ergeben, die ideelle Gleichheit und Freiheit wiederherzustellen. Daß nun jeder empirische Staat durch die Gesellschaft und ihre Klassen selber bedingt ist, daraus hervorgeht, ja daß auch die dem Prinzip des Staates widersprechende Gestaltung der Gesellschaft den Staat als ihr Instrument gebraucht und zwar gebrauchen muß, sind Erkenntnisse, in denen (bei Stein) das moralische Postulat der sozialen Reform mit der Einsicht in die Zustände des gegenwärtigen Zeitalters sich abfindet. Hingegen fehlt es jenem Autor, trotz aller Kreuzund Quersprünge der Begriffe, an den einfachen Schematen der Konstruktionen, welche die Rechtstheorie erfordert. Da es doch klar ist, daß Gesellschaft und Staat unter den umfassenden Begriff der Verbindung fallen und nach ihren Zwecken, als allgemeinen oder besonderen, verstanden werden müssen. Der Hauptfehler aber beruht darin, daß Gesellschaft und Staat als Erfahrungs-Tatsachen genommen werden, welche vermeintlich den ganzen Bereich unserer historischen Kenntnis gleichmäßig erfüllen, während vielmehr der empirische Standpunkt gegen diese Begriffe mit Recht sich aufleh6 und auch die Benennung ... Sozialisten, übergegangen.-. In C heißt es verkürzt: ... e fu accolta nell'ultimo quarto del secolo scorso, e nelle tre principali nazioni, anche dalla società borghese, la quale colla rivoluzione volle abbattère lo stato e fondare una nuova società. 29 Da es doch klar ist ... verstanden werden müssen.: Der Satz fehlt in B. 31 Der Hauptfehler aber ... gleichmäßig erfüllen: In C verkürzt: L'errore principale che vizia tutto il complesso delle nostre cognizioni storiche, sta in questo, ...

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nen kann, wie ja in allem Ernste die historische Schule und die theoretische Politik der Restaurationszeit getan hat, deren Einflüsse auch heute noch mächtig sind. Die Gesellschaft, möge sie im eigentlichen Sinne, oder im engeren als die der freien und vermögenden Personen begriffen werden, ist eine Menge von Individuen; über ein beliebig großes Gebiet hin ausgebreitet, die friedlich miteinander verkehren und Beobachtung gewisser Regeln erzwingen. Die Erfahrung kann schlechthin sagen: solche Gesellschaft gibt es nicht. Wir sehen die Menschen verbunden in Häusern, in Dörfern und Städten, in Genossenschaften und religiösen Gemeinden, in Ländern und Reichen, geordnet nach Alter und Geschlecht, nach angeborenem oder erworbenem Stande oder Beruf; wir gewahren nicht die mechanische Einheit, welche ein solcher allgemeiner Verein, worin die Individuen alle ihre Unterschiede aufgehoben haben, darstellen würde, sondern wir gewahren eine zusammenhängende Gliederung von organischen Einheiten, deren Ursprung in einer letzten, etwa der Volks- oder Rassen-Einheit, gar nicht in deutlichen Umrissen erkennbar zu sein braucht, wenn er nur als ein Vernunft-Ideal lebendig bleibt. In analoger Weise läßt sich gegen die Definition des Staates operieren, obschon der Name in seiner allgemeinen Bedeutung hier krampfhaft festgehalten wird und man das schreckliche Wort »Stadtstaat« im Deutschen nicht vermeidet; allerdings nämlich liegt jene Opposition (gegen den Begriff) in den Versuchen, das Wesen des Staates als einen Organismus zu erklären, und folglich in der leidenschaftlichen Kritik verborgen, durch welche man die Vertrags-Theorie zu zerstören glaubte, welche doch so natürlich ist als dieser Wirklichkeit angemessen, die wir (der Unterscheidung halber) den »modernen« Staat nennen mögen, eine durch und durch künstliche, durch hohe wissenschaftliche Bewußtheit getragene Bildung.

7 Die Gesellschaft ... gewisser Regeln erzwingen.: In B stattdessen: La société est une multitude d'individus répandus sur une étendue aussi grande que l'on veut qui commercent en paix l'un avec l'autre et obtiennent, par la force de la majorité et de l'opinion publique, l'observation de certaines règles. 12 die mechanische Einheit, welche ein solcher allgemeiner Verein: In C stattdessen: una società. 20 obschon der Name ... im Deutschen nicht vermeidet: Vorstehender Teilsatz lautet in B: D'une manière analogue on peut critiquer la définition de l'État, quoique ce nom soit retenu et appliqué universellement tout comme s'il convenait aussi bien au camp lacédémonien, à la confédération iroquoise, à la cité hellénique ou à la commune affranchie du moyen âge qu'à l'empire romain et au gouvernement centralisé d'un pays comme la France. (70) - In C fehlt die gesamte Passage von „und man das schreckliche W o r t . . . " bis zum Ende des Absatzes.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

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Mit gutem Grunde hat man daher in neuester Zeit die siegreich gewordene „organische Staats-Theorie" wiederum angegriffen und als juristisch unbrauchbar zu stürzen versucht. Dies ist sie ohne Zweifel, nicht in jedem Sinne, wohl aber in demjenigen, worin die ganze wissenschaftliche Jurisprudenz beruht, nämlich dem individualistischen, der zuerst nötigt, den Staat als eine Person, eine bloß gedachte oder fingierte, nach Analogie der in Erfahrung gegebenen individuellen Personen, zu konstruieren. In der römischen Jurisprudenz war freilich von einer Konstruktion der res publica nicht die Rede. Dies ist aus historischen Ursachen erklärlich. Denn hier überlebte noch die Idee des städtischen Gemeinwesens (wie bekannt ist, bis tief ins »heilige römische Reich« hinein), das durch die Gesamtheit seiner Familien und durch den Schutz seiner Götter als ein lebendiges, ja ewiges sich darstellt. Hingegen sind die Staatsgebilde der neueren Zeit, wenn auch zuerst in freien Städten bis zu mäßiger Höhe entwickelt, wenn auch nachher vielfach an das Vorbild des römischen Reiches angelehnt, hauptsächlich doch aus der Macht der Fürsten, und zwar zuerst der italienischen Stadt-Tyrannen, entstanden, welche sich als unbedingte, nach freier Willkür Gesetze gebende, Recht zerstörende und Recht setzende, über alle ihnen untertane Willen, Gewohnheiten, Überzeugungen zu erheben versuchte. Einerseits aus der Bestrebung, diese Macht zu begründen, nicht als eigene (privatrechtliche), auch nicht als göttliche (dies hatte einen juristischen Sinn nur wenn es hieß: durch die Kirche bedingt, womit also die Absolutie gerade aufgehoben wurde), sondern als allgemeine und notwendige (öffentlich-rechtliche); anderseits aber aus dem Willen, sie zu bedingen und zu beschränken, sind die wichtigeren Theorien des Staates im 17. und 18. Jahrhundert hervorgegangen.

3 Mit gutem Grunde

...zu

stürzen versucht.-. Stattdessen in B: C'est avec raison qu'on a

attaqué et tenté de renverser, en tant que théorie juridique, la théorie organiciste de l'État devenue victorieuse depuis la Restauration, non sans connexion avec ses tendances pratiques réactionnaires. - Der folgende Satz fehlt in C. Ii (wie bekannt ... hinein): Die eingeklammerte Passage fehlt in B. 14 wenn auch zuerst in freien Städten bis zu mäßiger Höhe entwickelt,-. Satzteil fehlt in C. 16 der Fürsten: Ab hier in B: et inspirèrent d'abord les tyrans de villes italiens, qui tentèrent de s'ériger en princes absolus, (princeps legibus solutus) renversant et établissant des lois selon leur bonne volonté ... 23 (dies hatte einen ... aufgehoben

wurde): Die eingeklammerte Passage fehlt in C.

24 allgemeine und notwendige (öffentlich-rechtliche): 25 anderseits aber aus dem Willen ...zu nächsten Absatzes fehlt dort.

In C kürzer: universale (diritto pubblico).

beschränken,:

Fehlt in C - Auch der erste Satz des

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Allerdings bleibt auch hier immer der Staat etwas von allen privaten Vereinen spezifisch Verschiedenes. Er ist die einzige öffentlich-rechtliche Person - daher der Bundesstaat eine bloße Anomalie - , weil diese Qualität aus Willen und Recht der Privaten hergeleitet werden muß und nur einmal darin vorhanden ist: nämlich der allgemeine Wille sich zu verteidigen und Gewalt dafür anzuwenden: die „natürlichen Zwangs-Rechte", deren alleiniger Inhaber zu sein das wesentliche Merkmal des Staates bleibt. Insofern daher als dies die einfache Bestimmung der Gesellschaft ist: den friedlichen Verkehr der Menschen zu ermöglichen, so ist der Staat nichts als die Gesellschaft selber, welche sich als eine einzelne Person den (natürlichen) einzelnen Personen gegenüberstellt. Meine Theorie stellt äußerlich als eine Verbindung der entgegengesetzten organischen und mechanischen, der historischen und rationalen, sich dar. Jedoch ist zunächst mein Absehen nur dahin gerichtet gewesen, beide als möglich zu behaupten. In der Tat beweisen sie ja ihre Möglichkeit durch ihre Wirklichkeit. Keine von beiden ist neu; (wenn auch vielleicht niemals ihre Entwicklung in dieser Allgemeinheit geschehen ist) 1 - meine Darstellung ist neu, in welcher ich sie nebeneinanderstelle, ohne gerade die eine als falsch zu bezeichnen, ohne für die andere ein ausschließliches Recht in Anspruch zu nehmen. Also hat doch jede in ihrer Weise recht, jede enthalte ein Stück der Wahrheit und die ganze sei zu suchen in einer vermittelnden höheren Ansicht? - In meiner Vorrede habe ich mich anders 1

In der Tat ist es die Schwäche der ganzen historischen Schule, in der Rechtsphilosophie, wie in der Nationalökonomie, daß sie niemals zu einer psychologischen Ableitung ihrer sozialen, und ebensowenig zu einer soziologischen Vertiefung ihrer psychologischen Begriffe sich aufgeschwungen hat. Wo sie dies versucht hat, ist sie regelmäßig in theologisches oder mythologisches Dunkel zurückgeglitten.

16 In der Tat... ihre Wirklichkeit: Stattdessen in ß : . . . comme réelles et possibles, c'est-à-dire comme fondées dans les lois memes de la raison humaine. (72). 17 (wenn auch vielleicht ... Allgemeinheit geschehen ist): In B und C fehlen Klammer und Fußnote. 22 Ansicht?: In B und C mit einem Punkt anstelle des Fragezeichens. - In C schließen sich drei Absätze an, die Formulierungen Tönnies aufgreifen, die aber nicht mit dem nachstehenden deutschen oder französischen Text identisch sind: La mia teoria comprende tanto il diritto di natura quanto l'economia politica, riconoscendo come solamente giusto il concetto organico che è l'originario ed il più comprensivo. La forza coesiva della comunità si conserva nell'interno della società, anche se essa vien meno, e rimane la realtà della vita sociale. Il concetto società indica il processo normale del cadere della comunità. [Absatz] Anche la teoria organica però deve essere compresa nei suoi giusti limiti e intendersi psicologicamente: ciò, che dà ad un gruppo d'uomini un carattere quasi organico, può essere solo il sentimento della volontà degli uomini uniti. [Absatz] Il valore scientifico e naturalistico di tale teoria sta

V. Zur Einleitung in die Soziologie

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ausgesprochen (p. XXVII): „Die gegenwärtige Theorie versucht sie - (nämlich das Naturrecht und die individualistische politische Ökonomie, in welchen getrennten Disziplinen die Konstruktion der Gesellschaft ihre empirischen Ausdrücke hat) - in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten." Womit gesagt ist, daß die »organische« Ansicht zugleich die ursprüngliche und die umfassende ist, also insoweit die allein rechthabende. Dies ist durchaus meine Meinung; wie ich auch gesagt habe, daß „die Kraft der Gemeinschaft innerhalb des gesellschaftlichen Zeitalters, wenn auch abnehmend, sich erhält und die Realität des sozialen Lebens bleibt" (S. 290). Der Begriff »Gesellschaft« bezeichnet also den gesetzmäßig-normalen Prozeß des Verfalles aller »Gemeinschaft«. Dies ist seine Wahrheit, und sie auszudrücken ist er unentbehrlich, und müßte gebildet werden, wenn er nicht schon ausgebildet vorläge; obgleich seine Ausbildung ohne die Ahndung seiner Bedingtheit und echten Bedeutung geschehen ist. In der Darstellung aber des Prozesses der Gesellschaft hat der Verfasser die moderne Gesellschaft im Auge gehabt, und dabei die Enthüllung ihres »ökonomischen Bewegungsgesetzes« durch K. Marx sich in gebührender Weise zunutze gemacht; wie der Kenner leicht bemerken wird und wie in der Vorrede ausdrücklich anerkannt ist 2 . - Ferner ergibt sich 2

5 io

12 23

Ich rühme mich dessen, da es im Jahre 1887 noch unerhört war - außerhalb einer spezifischen Literatur - die Bedeutung von Marx für theoretische Soziologie anzuerkennen, ja hervorzuheben. Wenn infolgedessen eine späte, aber wohlmeinende Anzeige der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" (Tübingen 1892, S. 559) „eine nicht in ciò: che essa si oppone a tutte le spiegazioni soprannaturali, e riguarda la volontà propria degli uomini quasi come ragione d'essere delle formazioni sociali. Tutto ciò non si riscontra però nella teoria, che riguarda la volontà razionale (che ben distingue il mezzo e lo scopo) quasi come l'unica forma della volontà umana, e spiega quindi le varie associazioni come mezzi per raggiangere i fini dei singoli individui, fini che talvolta possono incontrarsi e fondersi. - Für eine deutsche Übersetzung vgl. den editorischen Bericht S. 640. „Die gegenwärtige Theorie ... abhängig zu erhalten."-. Vgl. in diesem Band S. 80. „die Kraft... bleibt": „Wenn wir aber das Zeitalter der Gemeinschaft näher betrachten, so machen sich mehrere Epochen in ihm sichtbar. Seine ganze Entwicklung ist auf eine Annäherung zu Gesellschaft hin gerichtet; wie auch andererseits die Kraft der Gemeinschaft auch innerhalb des gesellschaftlichen Zeitalters, wenn auch abnehmend, sich erhält und doch die Realität des socialen Lebens bleibt." (Tönnies 1887: 290). Dies ist seine Wahrheit: Von hier bis zur folgenden Fußnote in B stattdessen:... c'est là que réside la vérité de cette notion, et il est indispensable de l'exprimer en des termes généraux. Anzeige der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft": „Freilich muss man sich in die eigentümliche Terminologie des Buches und dabei zugleich in eine nicht schwache Dosis von Marxomanie zu finden wissen." (Anonym [-e] 1892: 559). - Jacoby (1971: 3) nennt als Autor der Besprechung Albert Schäffle.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

aus meiner Darstellung, daß auch die »organische« Theorie ihre richtige Begrenzung nur empfängt, wenn sie psychologisch verstanden wird: was einer menschlichen Verbindung quasi-organischen Charakter gibt, kann nur die eigene Empfindung, das Gefühl, das Wollen der verbundenen Menschen selber sein: durch diese Begründung unterscheidet sich mein Theorem scharf von den sonst umlaufenden »organischen« Doktrinen, die nicht merken, daß sie mit ihren biologischen Analogien, soweit diese Grund haben, innerhalb der, wenn auch erweiterten, Biologie verharren und die spezifischen Merkmale der soziologischen Tatsachen verfehlen. Die bleibende Bedeutung, der allgemeine wissenschaftliche Wert, der naturrechtlichen Ansicht ist hingegen darin gelegen, daß sie allen übernatürlichen Erklärungen sich entgegensetzt und das eigene Denken und Wollen der Menschen als ratio essendi ihrer sozialen Gebilde erkennt; sie fehlt aber darin, daß sie den rationalen Willen, der Mittel und Zweck scharf auseinanderhält, als den einzigen Typus des menschlichen Willens darstellt, daher auch alle Verbindungen nur als Mittel zu individuellen zufällig zusammentreffenden - Zwecken begreifen kann. Ich habe eben deshalb für notwendig erachtet, eine Theorie des menschlichen Willens als Ergänzung und zugleich als Parallele der sozialen Theorie zu entwerfen. Als »Wesenwillen« habe ich definiert, was dem Begriffe der Gemeinschaft entspricht und ihrem Wesen zugrunde liegt; als »Willkür« 3 verstehe ich, was dem Begriffe der Gesellschaft entspricht und ihrem Wesen - d. h. ihrer ideellen Wirklichkeit - zugrunde liegt. Beide Arten beziehe ich durchaus auf den denkenden Menschen und nenne also das

3

schwache Dosis von Marxomanie" in meiner Schrift bemerkte, so lag wohl dem Verfasser dieser Anzeige jede denunziatorische Absicht, aber nicht eine gewisse Nachlässigkeit und Flüchtigkeit der Apperzeption ferne. In der viel früheren Anzeige G. Schmollers (Jahrbuch 1888, S. 727 ff.) heißt es dagegen einfach und richtig: „Anklänge an Marx charakterisieren diese Ausführungen" (über „Theorie der Gesellschaft"). Schmollers Anzeige, die der Schrift mit Lebhaftigkeit gerecht zu werden sucht, verkennt deren Beziehungen zu den bestimmten wirklichen Problemen, die sich als wesentliche und notwendige in die Geschichte des Denkens eingegraben haben. Und doch sagt Schmoller im Eingange dieser Anzeige: „Nur der wird es (das Buch) ganz genießen können, dem die philosophische Literatur, wie die historisch-staatswissenschaftliche, auf der es ruht, geläufig ist." Womit sich der Verfasser vollständig einverstanden erklären darf. Seit der dritten Auflage „Kürwille".

5 verbundenen Menschen selber sein: Der Text von hier bis zum Ende des Satzes fehlt in B. 32 Und doch sagt Schmoller. Vgl. Schmoller 1988: 727. 36 Seit der dritten Auflage „Kürwille".: Diese Fußnote fehlt in A und B.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

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Denken entscheidendes Merkmal menschlichen Willens überhaupt. Aber Wesenswille ist Wille, der das Denken involviert, Willkür ist Wille, der nur als gedachter vorhanden ist. Gemeinsames Merkmal ist die denkende (»bewußte«) Bejahung oder Verneinung des Objektes - eines Gegenstandes oder einer Tätigkeit, Bejahung (und Verneinung) eines Gegenstandes kann immer auf Bejahung (und Verneinung) einer Tätigkeit zurückgeführt werden. Sie (Bejahung) ist der Wille, den Gegenstand zu erhalten (conservandi) oder zu erobern, zu setzen oder zu besitzen - daher auch der Wille, ihn zu erzeugen, zu schaffen oder zu bewirken, zu bilden oder zu machen; Verneinung also der Wille, den Gegenstand zu vernichten oder abzustoßen, aufzulösen oder seiner wesentlichen Qualitäten zu berauben. Denken ist selber eine Tätigkeit und zwar bejahende oder verneinende, Zusammensetzung oder Scheidung, vereinend oder entzweiend. Denkende Bejahung (oder Verneinung) eines Gegenstandes ist Bejahung (oder Verneinung) in bezug auf einen anderen Gegenstand, die Gegenstände werden in ein Verhältnis zueinander gesetzt; die Ideen (»Denkbilder«, Vorstellungen) der Gegenstände sind miteinander assoziiert. Die Ideen-Assoziation ist ein Gleichnis der Assoziation von Menschen. Jene ist am bedeutendsten und für uns am wichtigsten als Assoziation von Mittel und Zweck. Der Zweck ist das eigentlich und am Ende Erstrebte (Endzweck). Mit der Idee des Zweckes ist die Idee des Mittels oder der Mittel notwendig verbunden. Nun ist die Frage: schließen Mittel und Zweck sich ein? oder schließen sie sich aus? Gesetzt, sie schließen sich ein: alsdann gehören sie einer wesentlichen Einheit an, die als ganzes vor ihnen, den Teilen, ist und sich in sie auflöst, durch einen Prozeß der spontanen Differenzierung. Solche wesentliche Einheit ist jede schöpferische Idee und alles was ihr verwandt ist. Das Ende ist hier die Vollendung, die Mittel, die dahin führen, sind die Sache selber in ihrer Entwicklung, das Werk und die Tätigkeit bedingen einander und schließen sich ein. Die Tätigkeiten werden bejaht, weil das Werk bejaht wird, das Werk, weil die Tätigkeiten - die bejahende Freude und daher das Wollen ist auf das Ganze gerichtet. Dies ist eine Idee, die am vollkommensten in der reinen künstlerischen Tätigkeit verwirklicht wird. Hingegen, wenn die Ideen von Zweck und Mitteln sich ausschließen, einander verneinen, so muß erst eine Einheit aus ihnen gebildet werden. Dies ist am deutlichsten der Fall, wenn der Zweck ein Geschehnis ist, das nicht in meiner Macht, und das Mittel ein Geschehnis, das allerdings in meiner Macht steht. Sie stehen sich fremd, verschieden geartet, gegenüber; ja sie stehen sich feindlich gegenüber, insofern als das eine Geschehnis eine Bewegung ist, die an der Lage oder Bewegung des anderen ihr Hemmnis

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

hat, so daß sie einander Widerstand leisten. Sie wirken aufeinander mit mechanischem Zwange: das Erstreben des Zweckes wird Ursache dessen, daß das Mittel gewollt wird - das der Voraussetzung nach spontan nicht gewollt wird - und das Wollen des Mittels wird Ursache, daß der Zweck erreicht wird - dort das gedachte Geschehnis B Ursache des wirklichen Geschehnisses A, hier das wirkliche Geschehnis A Ursache der Verwirklichung des Geschehnisses B. So ist das Verhältnis von Mittel und Zweck am deutlichsten ausgeprägt im Tausch, wo zugleich die antagonistische Natur solchen Wollens sich gleichsam personifiziert. Die fremde Sache wird als fremde - d. h. daß sie dem Anderen gehöre - verneint; als mögliche eigene bejaht. Die eigene Sache wird bejaht, daher ihr Verlust verneint; aber ihre Hingabe, ihr Übergang aus eigenem in fremden Besitz wird, nicht als Zweck, aber als Mittel zum Zwecke bejaht. Vollkommener noch stellt der Begriff der Willkür sich dar, wenn der Tausch als Glied einer Kombination mehrerer Akte erscheint, wie im Handel, der Spekulation, der kapitalistischen Produktion, kurz in allem Streben nach Mehr-Wert oder Rein-Ertrag. Es ist die natürliche Entwicklung des menschlichen Denkens, die dahin führt, daß der Typus Willkür über den Typus Wesenwillen das Übergewicht erlangt. Denn wenn schon die sinnliche Wahrnehmung im Vergleichen besteht, so sind es die Arten der exakten Vergleichung, die höchst vernünftigen Tätigkeiten des Messens, Wägens, Rechnens, die der Willkür zugrunde liegen. Ich habe daher Willkür als charakteristische Denkungsart der Männer im Unterschiede von den Frauen, der bejahrten im Unterschiede von jüngeren Menschen, der Gebildeten im Unterschiede vom Volke dargestellt. Dieser Gegensatz der Arten des Wollens, den meine Schrift vielfach ins einzelne ausführt, hat bisher in der Sprache, der Dichtung, der Biographie und Geschichte unsystematisch seine Geltung gehabt. Ich habe zum ersten Male ihm eine begriffliche Fundierung gegeben. Ich behandle ihn ohne Ansehung aller ethischen Konsequenzen, so nahe diese auch ihn berühren mögen4. Es war mir nur daran gelegen, festzustellen, daß das Verhältnis 4

Die eingehendste Besprechung und sorgfältigste Prüfung, die das Buch erfahren hat, rührt von Prof. Harald

Höffding

her (neuerdings abgedruckt in dessen „Mindre Arbejder.

Kobenhavn 1 8 9 9 " , S. 1 4 2 - 1 5 7 ) . Darin wird die objektive Ruhe und Unbeirrtheit (Uforstyrrethed) in Betrachtung der Phänomene des menschlichen Lebens, als Merkmal

28 den meine Schrift vielfach ins einzelne ausführt: Fehlt in B. 31 Ansehung

aller ethischen Konsequenzen:

Der Rest des Satzes fehlt in B.

V. Zur Einleitung in die Soziologie

127

des Menschen zu anderen Menschen und zu den Dingen, eben daher auch das menschliche Wollen, umgewandelt wird, wenn die einzelnen Ideen sich scharf gegeneinander abgrenzen, wenn sie ganz individuell werden; was sie nie in der Anschauung sind, sondern nur werden dadurch, daß sie gedacht werden: als abstrakte. Hier liegt die Anwendung und Parallele der soziologischen Ansicht auf der Hand: wie die Ideen, so die Menschen. Das richtige Verständnis meiner Schrift hängt an diesem psychologischen Verständnisse, und daher am Verständnisse des Satzes, worin die Vorrede den Grundgedanken resümiert: „Es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Kultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt."

des Buches hervorgehoben, und zugleich die „eigentümliche Verbindung von Soziologie und Psychologie" unterstrichen. Gegen die Kritik des dänischen Philosophen habe ich nur einzuwenden, daß sie zu sehr auf das, was er den „sozialen Pessimismus" des Verfassers nennt (schon in der Überschrift), sich bezieht. Dies erklärt sich aber völlig daher, daß dem Artikel ein vor Studenten gehaltener Vortrag zugrunde liegt. Mein „Pessimismus" betrifft höchstens die Zukunft der gegenwärtigen Kultur, aber nicht die Zukunft der Kultur überhaupt.

3 7 12 15

wenn sie ganz individuell werden;: Der Rest des Satzes fehlt in B. soziologischen Ansicht auf der Hand: Der Rest des Satzes fehlt in B. „Es gibt keinen Individualismus ... hervorbringt und trägt.": Vgl. in diesem Band S. 81 f. Gegen die Kritik ... habe ich nur einzuwenden: Vgl. Hoffding 1899 (dt. 1989); beachte dazu auch Tönnies' epistolographische Reaktion in Bickel/Fechner 1989: 34—43.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

2 Herbert Spencers soziologisches Werk: Tönnies' Auseinandersetzung mit Spencer war durch die Veröffentlichung eines Bandes von Benjamin Vetters deutscher Spencer-Übersetzung (Spencer 1887,1889) veranlasst worden. Sein Text geht jedoch über die Besprechung dieser Übersetzung weit hinaus und mündet in einer allgemeine Kritik des Gesamtwerks Spencers. Die Schrift wurde erstmals unter dem Titel „Herbert Spencer's sociologisches Werk" in den Philosophischen Monatsheften (25. 1889, S. 50-85, im Folgenden A) veröffentlicht. - Tönnies hatte beim Schreiben zwar Vetters deutsche Übersetzung vorliegen, gleichwohl übersetzte er Zitate grundsätzlich selbst. Deswegen wird im Folgenden sowohl auf den englischen Text verwiesen als auch auf Vetters Übersetzung.

Das System der synthetischen Philosophie, welches den bedeutendsten Sprachen durch Übersetzungen zugeführt wird und allmählich in die Poren des europäischen Denkens eindringt, hat auf dem so viel weniger mit Historie gedüngten Boden, wo die englische Zunge das Erbteil der alten Welt mit moderner Geschwindigkeit ausbreitet, schon so großen Einfluß erobert, daß es jenen amerikanischen, australischen und asiatischen Neulingen beinahe als die Philosophie schlechthin erscheint; eine Tatsache, die in der Analogie früherer Kulturwandlungen wie in magischem Lichte sich darstellt. Für die allgemeine Literaturgeschichte ist dieses Werk an und für sich schon eine Überraschung. Seit Hobbes hat der systematische Geist Englands in diesem Gebiete geruht, wie ihn ja die empiristische und analytische Richtung des Denkens nicht begünstigt. Der physikalische Rationalismus, welcher aus dem Satze der Identität die mechanischen Prinzipien abzuleiten, und hierdurch alle Vorgänge der Welt als sich regelmäßig wiederholende Begegnungen von Kräften zu erklären unternimmt, kann in keinem vollkommeneren Typus als in jenem angetroffen werden. Spencer fällt in die Epoche, wo im naturwissenschaftlichen Denken die biologische Betrachtung über die physikalische, die Idee der Entwicklung über die der Regelmäßigkeit das Übergewicht erlangt hat. So bleibt als rationaler Grundsatz bei ihm nur bestehen das Gesetz der Erhaltung der Energie, woraus er die Notwendigkeit der Evolution und Dissolution unorganischer Massen wie lebendiger Körper beweisen zu können glaubt. Hierbei ist es deutlich, warum mit größerer Zuversicht bei den organischen Phänomenen verweilt wird, zumal, nachdem durch die Hypothese der einheitlichen Deszendenz ein so breiter Boden für die Ansicht immer erneuerten, auf grenzenlose Zeitstrecken ausgedehnten Werdens gewonnen ist. Darinnen nun, wie auch in dem ganz speziellen Gebiete der menschlichen Kultur, die erfreuliche Anschauung zunehmender allgemeiner und intellektueller Veredlung durch Ausbildung und Dauer der zum Leben und Zusammenleben geeignetsten Individuen, Arten, Rassen, durch strenge Folgerungen in großen Kategorien vorzuführen, das ist die eigentliche Angelegenheit und Kunst Herbert Spencers, so daß sein Werk von selbst in die Hauptstücke der Biologie und der Soziologie zerfällt. (Daß es dabei begegnet, hinter den Phänomenen des Entstehens die des Verfalles zurücktreten zu lassen, ist bei solcher theoretischer Tendenz leicht verständlich.) Während nun aber in der Biologie eine einigermaßen feste und

132

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

abgerundete wissenschaftliche Ansicht der Fachmänner zugrunde gelegt werden kann, soweit als Entwicklung, die ontogenetische gewiß ist, und die phylogenetische angenommen wird - wie denn das System durch autoritative Forscher wie Huxley geprüft worden ist - , so wird die Soziologie, je näher sie einer eigentlich historischen Betrachtung kommt, um so mehr auf entgegengesetzte Vorwürfe sich ausschließender oder doch heftig befehdender Parteimeinungen, und auf ein Wirrsal allzu mannigfacher Spezialwissenschaften gestoßen. Und hier noch mehr wie dort findet sie Kritiker, die einem eigentlich wissenschaftlichen, geschweige philosophischen Denken, Verallgemeinern, Erklären fremd und abgeneigt, an der immer neuen Konstatierung des Einzelnen und Tatsächlichen ihr Genüge haben, daher schon der Idee einer Reduktion auf Allgemeines und Notwendiges, und dem Versuche rücksichtsloser Synthese mit dem gerechten Mißtrauen begegnen, welches ein Handwerksmeister und Künstler der fortschreitenden Technik des Mechanikers entgegenhält. Wenn aber ein solches Werk einmal da ist und wirksam seine Kraft bewährt, so ist es nicht zu dämpfen, da auch der Gedanke, einer deutlichen Notwendigkeit entsprungen, den tiefsten Bedürfnissen einheitlicher Weltansicht sich anschmiegt. Wir müssen ihn anerkennen, festhalten, und wenn wir können, verbessern. Sicherlich wird auch mancher widerwillige Kunstrichter im Angesichte des gesamten Werkes Spencers wie auch dieser soziologischen Abteilung dem Eindrucke einer epochemachenden Leistung sich nicht entziehen können. Wie erstaunlich ist die Unternehmung! wie groß ist das Vollbrachte! Eine verwirrende Masse auseinandergegangener Wissenschaft ist hier mit klarem synoptischem Geiste ergriffen, und die Bausteine, welche tauglich schienen, sind mit sicherer Hand in ein festes und bedeutendes System zusammengefügt worden. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, nach welchem Plane dies geschehen ist. Die First Principles („Grundlagen der Philosophie" in der deutschen Ausgabe) enthalten eine Darstellung des Axioms der beharrenden Energie, daraus abgeleitete Definitionen der .Entwicklung' und .Auflösung', und Charakteristik ihrer mannigfachen Erscheinungsformen. Dies sind die Grundsätze, nach welchen alles Geschehene im Umkreise des Wißbaren, d. i. aller möglichen Erfahrung, den

29 30 31 3i

First Principles: Vgl. Spencer 1880. „Grundlagen der Philosophie": Vgl. Spencer 1875. beharrenden Energie: Vgl. ebd.: 188 ff., §§ 58 ff. abgeleitete Definitionen: Vgl. ebd.: 282 ff., §§ 93 ff.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

133

letzten Daten unseres Bewußtseins gemäß, sich richten muß, wie Spencer, mit Kant und allen Rationalisten in der Hauptsache übereinstimmend, behauptet. Die Anwendung auf den Stoff der bedeutendsten Wissenschaften sollte eine Trichotomie folgender Art ergeben: 1. unorganische Entwicklung: aber die Bearbeitung dieser ganzen Abteilung, welche sich spalten würde in ,Astrogenie' und in ,Geogenie', hat der Autor schon in der ursprünglichen Anlage fallengelassen; 2. organische Entwicklung: dieser sind nun nicht allein die beiden Bände der ,Biologie' gewidmet, sondern auch jene, darin von den spezielleren Phänomenen gehandelt wird, welche die höchstentwickelten Organismen darbieten, seil, den psychischen; 3. superorganische Entwicklung - hierauf bezieht sich die Soziologie. Die Psychologie war zuerst geschrieben worden, und man wird leicht gewahren, daß sie nicht völlig in den Rahmen hineinpaßt. Merkwürdig ist die Ausscheidung der Physik, und durchaus charakteristisch. Dagegen bezeichnet sich die Sinnesart des Philosophen durch Hineinziehung der praktischen Weisheit, welche doch im obigen Entwürfe nicht enthalten ist. Denn die ,Prinzipien der Moralität' sollen das Gebäude krönen; und sogar hat der Autor dieses überragende Stück für so wichtig gehalten, daß er, am Ausharren seiner Gesundheit zweifelnd, wenigstens einen Teil davon im voraus vollendet und außerhalb der Folge hat erscheinen lassen. Der neueste Band der deutschen Übersetzung1, in deren ganzer Reihe der siebente (wobei aber die „Tatsachen der Ethik" außerhalb stehen), entspricht der zweiten Hälfte des ersten englischen Bandes der Soziologie, und enthält den II. Teil: Die Induktionen der Soziologie, und den III. Teil: Häusliche Einrichtungen. Vorausgegangen ist der I. Teil: Die Daten der Soziologie; und in der Originalausgabe liegen bereits vor Part IV: 1

Die Prinzipien der Soziologie. Von Herbert

Spencer. Autorisierte deutsche Ausgabe, nach

der dritten vermehrten und verbesserten englischen Auflage übersetzt von Dr. B.

Vetter,

a. o. Prof. am K. Polytechnikum in Dresden. II. Band. Stuttgart, Schweizerbarthsche Verlagsbuchhandlung (E. Koch) 1 8 8 7 . X u. 5 1 6 S. M. 12. 4 Trichotomie

folgender

Art: Die folgende Passage bezieht sich auf die „Vorrede" (ebd., V -

X), in der Spencer einen Plan seines „Systems der synthetischen Philosophie" entwirft: „Das vorliegende Werk bildet den ersten Band einer Serie, über deren Inhalt ein im März 1 8 6 0 veröffentlichter Prospect berichtete, den wir im Folgenden wiedergeben."

(V)-

dieser auch Spencer 1 8 8 0 : XIII ff. 22 „Tatsachen der Ethik":

Vgl. Spencer 1 8 7 9 . Der Band wurde später überarbeitet in das

„System of Synthetic Philosophy" übernommen. 23 ersten englischen

Bandes der Soziologie:

26 Die Daten der Soziologie:

Vgl. Spencer 1 8 7 7 a .

Vgl. Spencer 1 8 7 7 , dort: „Die Thatsachen der Sociologie".

134

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Ceremonial Institutions, Part V: Political Institutions und Part VI: Religious Institutions. Hieran sollen gemäß einer Notiz in der Preface zu P. IV noch P. VII und P. VIII sich anschließen, um den 2. Band der Soziologie auszumachen; und dem ursprünglichen Plane nach, welcher durch einen Prospekt im März 1860 angekündigt, in der Preface zur 3. Ausgabe der First Principles aufs neue gedruckt worden ist, würde noch ein 3. Band dieser gesamten Abteilung des Systems folgen sollen. Jedoch ist schon die Einteilung des I. und II. Bandes in dem Programme eine erheblich abweichende, indem dort als P. III: Politische Organisation vorgesetzt, und der 2. Band nur auf 3 Parts angelegt ist, nämlich: P. IV: Kirchliche Organisation, V: zeremonielle und VI: industrielle Organisation. Hiernach ist also bloß dieser letzte Abschnitt der Soziologie, außer der zu vollendenden Ethik, noch ausstehend. Seine zahlreichen Leser und Verehrer werden dem Meister wünschen, daß ihm die Kraft zur Abschließung seiner Lebensarbeit ausharren möge 2 ! Innerhalb der Soziologie werden zunächst, wie in den vorausgehenden Abteilungen, »Daten« und »Induktionen« unterschieden: als Daten versteht Sp. jedesmal die allgemeinen Sätze, welche, aus den früheren Gebieten abgeleitet, der spezielleren Disziplin zugrunde liegen müssen; Induktionen nennt er die besonderen Erkenntnisse, welche als »empirische Verallgemeinerungen« im eigenen Felde der darzustellenden Wissenschaft gewonnen worden sind. Alle übrigen Ausführungen haben sodann es mit einer Beschreibung im einzelnen und deduktiven Auslegung dieser allgemeinen Wahrheiten zu tun. Die Daten der Soziologie eröffnen mit einer Erklärung, was unter superorganischer Entwicklung zu verstehen sei. Sie handeln demnächst von den Faktoren, welche die sozialen Phänomene beeinflussen: das sind teils äußere Wirkungen, denen das soziale Aggregat ausgesetzt ist, teils die Beschaffenheiten seiner eigenen Einheiten. Jene werden begriffen als die unorganischen und organischen Bedingungen, 2

Dies hat sich erfüllt.

1 Political Institutions-. Beachte die deutsche Übersetzung (Spencer 1889). 2 Religious Institutions-. Beachte die deutsche Übersetzung (Spencer 1897). 6 aufs neue gedruckt-. Die Einteilung in der deutschen Übersetzung (Spencer 1 8 7 5 : V - X ) weicht von dem ursprünglichen Prospekt ab, auf den sich Tönnies hier bezieht. 10 nur auf 3 Parts angelegt-. Dies entspricht dem Plan Spencers von 1 8 6 0 , abgedruckt in Spencer 1 8 8 0 : XIII ff. 16 Soziologie-, Die folgende Passage bezieht sich auf den Band Spencer 1877. 30 Dies hat sich erfüllt.: Die Fußnote fehlt in A.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

135

welche die verschiedenen Teile der Erdoberfläche für soziale Entwicklung darbieten. Aber die inneren Faktoren werden in viel größerer Breite behandelt, unter dreifachem Aspekt: der Urmensch nach seinen physischen Merkmalen; derselbe in seiner moralischen Beschaffenheit (emotional); endlich seinem intellektuellen Zustande nach. Und diese letzte Betrachtung füllt nun beinahe den Inhalt der ganzen Abteilung aus. Hier wird im Verfolge der ursprünglichen Vorstellungen und Begriffe - des Beseelten und Unbeseelten, des Schlafes und der Träume, ekstatischer Zustände, vom Tode und von Auferstehung, von Seelen, Gespenstern, Dämonen, von einem anderen Leben und einer anderen Welt, von übernatürlichen Agentien und ihren Wirkungen - der Ursprung der Zauberei, des Kultus und der Religion als Verehrung der Vorfahren, nebst ihrer Entwicklung zu höheren Formen abgehandelt. Ein Kapitel mit der Überschrift: „Die anfängliche Ansicht der Dinge" faßt diese Theorie in sehr deutlicher und einleuchtender Form zusammen. Ein endliches über „das Ziel der Soziologie" leitet zu dem 2. Abschnitt hinüber. - Ich halte die gesamte Erörterung der natürlichen menschlichen Denkungsart und ihrer Entfaltung zu den Vorstellungen, welche den Religionen gemeinsam sind, für höchst einleuchtend, lehrreich, bedeutend. Aber wenn man auch dem Tadel sich nicht anschließt, welchen Sp. voraussieht und abwehrt, daß hierin zuviel enthalten sei, was der eigentlichen Soziologie angehöre - wie denn bei den Unserigen solche Analysen des mythologischen Denkens das bevorzugte Thema der sogen. Völkerpsychologie ausmachen - , so wird man doch erstaunen müssen, wie sehr gegen die intellektuellen Charaktere des ursprünglichen Menschen nicht allein die physischen, sondern auch die moralischen zu kurz gekommen sind. Hier würden wir erwarten die Daten der Soziologie, nämlich als ursprüngliche innere Faktoren aller historischen Entwicklung, am ehesten zu finden. Es ist bekannt genug, daß die Philosophen oft die Frage verhandelt haben, ob der Mensch von Natur ein geselliges Wesen sei oder nicht. Diese Erörterungen knüpften sich an den von der Scholastik festgehaltenen Satz des Aristoteles an, welcher diese Frage bejahte. Ihre Verneinung würde allerdings mit der strengen christlichen Lehre von der gänzlichen Verdorbenheit und Bosheit des gefallenen

14 „Die anfängliche

Ansicht

der Dinge":

Im dt. Text: „Die primitive Theorie von den

Dingen" (Spencer 1 8 7 7 : 5 0 4 - 5 1 8 , §§ 2 0 5 - 2 0 7 ) . 16 „das Ziel der Soziologie":

Im dt. Text: „Der Umfang der Sociologie" (ebd.: 5 1 9 - 5 2 8 ,

§§ 2 0 8 - 2 1 1 ) . 31 Satz des Aristoteles: Vgl. Aristoteles, Politik, I, 2, 1 2 5 3 a , Zeile 1 ff. (Aristoteles 1 9 8 1 : 4).

136

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Menschen besser übereingestimmt haben; aber wie die Kirche überall diese überspannte Konsequenz fallen ließ, so auch ihre Philosophen, welche die Freiheit des Willens als gemeine und volkstümliche Ansicht verteidigten. Denn mit dem freien Willen ist die Unterscheidung des Guten und Bösen verbunden und die Wahl des Einen oder Anderen bloß aus Eigensinn und eigenem Willen. Erkenntnis des Guten ist aber Einsicht des natürlichen Gesetzes, welches die Menschen in ihrem natürlichen Zustande verbindet. Daher galt denn die Lehre, daß diese Einsicht durch den Fall Adams nur verdunkelt sei, durch die göttliche Offenbarung alsdann, welche dem auserwählten Volke zuteil wurde, erneuert und verdeutlicht, insbesondere durch den Dekalog; aber auch für die Heiden konnte man immer wieder auf das Wort des Paulus sich berufen, daß sie das Gesetz nicht haben und tun doch des Gesetzes Werke, weil sie sich selber Gesetz sind oder weil ihnen das Gesetz geschrieben stehe in ihrem Herzen. Die ursprüngliche Güte des Menschen, vermöge deren er eine natürliche Neigung zum Guten hat, wie S. Thomas lehrt, erhält sich trotz der originalen Sünde im Gewissen, welchem die angeborene Idee oder intuitive Erkenntnis des Guten innewohnt. Dies blieb und bleibt bis zur Stunde die konservative und apologetische Ansicht. Hingegen die revolutionäre Philosophie warf den Unterschied und Übergang von Heiden zu Juden und Christen über den Haufen und erhob den Gegensatz von Natur- und Kulturmenschen an dessen Stelle. Sie betrachtet von Anfang an jenen als ein halb tierisches Wesen von wilden Instinkten, diesen als teils durch Erfahrung und Denken gezähmt, teils durch die äußere, staatliche Gewalt in Schranken gehalten. Von diesen beiden Seiten überwiegt zunächst, indem menschliche Natur als unveränderlich vorausgesetzt wird, die letztere; nur soviel Vernunft haben die Menschen gewonnen und halten sie in einigem Maße fest, um die souveräne Gewalt als notwendig zu erkennen und zu bestätigen. Die ursprüngliche Güte und - damit unlösbar verknüpfte - Geselligkeit des Menschen verschwindet. Er ist nur gut und gesellig, insoweit er die anderen Menschen braucht, oder als er die Nützlichkeit der moralischen Einschränkungen seiner Freiheit einzusehen gelernt hat; beides kommt nur in vorübergehender und mangelhafter Weise vor: Sicherheit für die Enthaltung von Feindseligkeiten bietet nur der drohende und strafende Wille des Staats. Die Theorie des Staates war in der alten Lehre dämmerhaft geblieben, wie seine Wirklichkeit zur gleichen Zeit. Denn diese lag noch eingebettet in den mannigfachen Formen teils des Herkommens höchst unmit16 S. Thomas:

D. i. (Sankt) Thomas von Aquino.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

137

telbarer Herrschaftsverhältnisse, teils des formenreichen Gemeinde- und Genossenschaftswesens; oder sie war überschattet durch die riesige Gestalt der Kirche. So war das Reich, welches von der überwiegenden Ansicht als eine göttliche Ordnung neben der Kirche, aber wenigstens im Range ihr nachstehend, begriffen wurde (man vergleiche in der so gründlichen Darstellung Gierkes3 die vielfachen Verzweigungen des autoritativen Dogmas der beiden Schwerter). Die neuen Theoreme machen erst den Staat, der sich in Wirklichkeit nicht ohne ihre Hilfe als ausschließliche weltliche Obrigkeit erhob. Die in ihnen vorhandene historische Ansicht muß von der rechtsphilosophischen strenge unterschieden werden. Jene kommt zwar wenig zur Geltung, aber es ist doch ein bekannter und bedeutender Zug aller rationalistischen und aufgeklärten Denkungsart, die empirischen Herrschaften mit ihrem politischen und moralischen Zubehör aus Gewalt oder Betrug abzuleiten; wobei die schlauen Gesetzgeber, Religionsstifter und Pfaffen schon bei Hobbes (besonders im „Leviathan" und im „Behemoth") dieselbe Rolle spielen, welche später durch Voltaire zu einer europäischen Geltung in der gebildeten Welt erhoben wurde. Dagegen ist der Staat des sozialen Kontraktes an und für sich ein reines Gedankending, so gut wie natürliche Religion oder vernünftige Kinderzucht. Und diese Tendenz, daß der empirischen Kultur eine ideale und wahre entgegengestellt wird, verbindet noch stark die in mancher Hinsicht auf die große Reaktion gegen die philosophische Herrlichkeit hinüberführende Richtung Rousseaus, welche sie nur zum schärfsten Ausdruck bringt, mit den originaleren Denkern, an welche er durchaus sich angelehnt hat. Aber Jean Jacques geht auf die ursprüngliche Güte der menschlichen Natur zurück, und dieser Zug verknüpft ihn mit allen philohistorischen, romantischen oder sozialistischen Schriftstellern, welche die Denkungsart unseres Jahrhunderts bezeichnen. Hier muß nun erinnert werden an jene tiefgegründete Neigung der neueren Moralphilosophen, die unleugbaren Tatsachen des unegoistischen Verhaltens (von der festgehaltenen Idee des natürlicheren Egoismus aus) durch unbewußt gewordene Verbindungen der Vorstellungen und Gedanken zu erklären; mithin jene sympathischen Gefühle und 3

Die „Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland".

15 „Leviathan": Vgl. Hobbes 1 8 3 9 . 16 „Behemoth":

Vgl. Hobbes 1 8 8 9 .

25 Jean Jacques:

Gemeint ist Jean-Jacques Rousseau.

34 „Staats- und Korporationslehre

... Deutschland":

Vgl. Gierke 1 8 8 6 - 1 9 1 3 , Bd. 3.

138

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

das Gewissen zwar nicht zu leugnen - wie es ganz eigentlich die durchgeführte intellektualistische Psychologie tut aber doch für sekundärer Natur im Vergleiche mit den ursprünglichen Trieben der Raubgier, Herrschsucht, des Blutdurstes zu schätzen. Auch bei Spencer, welcher den Ruhm behalten wird, die Abstammungslehre mit kühner Konsequenz in die Psychologie eingeführt zu haben, geht auf diese Art des Erklärens die vorherrschende Neigung. Es versteht sich, daß in seiner Auffassung der am höchsten zivilisierte Engländer aus einem rohen und unwissenden Waldbewohner, der humane Denker aus einem Kannibalen durch eine lange Linie der Herkunft sich entwickelt hat. Er versucht den Urmenschen zu konstruieren. Mit welchen Mitteln geschieht dieses? Sp. anerkennt, daß die Urkunde für die Beschaffenheit des prähistorischen Menschen äußerst fragmentarisch und zu seinem Zwecke unbedeutend sei. Er bescheidet sich diejenigen existierenden Menschengruppen zu studieren, welche nach ihren physischen Merkmalen und ihrem äußeren Apparate beurteilt, den primitiven Menschen am nächsten zu stehen scheinen. Dies ist die bekannte Methode, welche wohl zuerst Sir J. Lubbock systematisch gemacht hat, nachdem sie doch auch den anthropologischen Ansichten der vorigen Jahrhunderte schon oft zugrunde gelegt war; wie denn überhaupt die Entwicklungstheorie in Anwendung auf die Geschichte der Menschheit nicht als etwas Neues aufgetreten ist. Ohne Zweifel ist jene Methode ihrem Prinzip nach so naheliegend, als in ihrer Anwendung gefährlich. Wir finden zuerst, daß die wilden Menschen der verschiedensten Regionen im Vergleiche zu uns in höchst einfachen Zuständen und mehr nach Art der übrigen Säugetiere zusammenleben, wenn auch durch alle menschlichen Merkmale über sie erhaben. Unsere komplizierten Zustände müssen aus einfacheren sich entwickelt haben, und dies wird durch alles historische Wissen bestätigt. In ihrem Empfinden und Denken werden die Menschen durch die Dinge, von denen sie umgeben sind, und durch die Gewohnheiten ihrer Tätigkeit notwendigerweise bestimmt. Hieraus folgt: gleiche Stufen der äußeren Kultur - gleiche psychische Beschaffenheit der Menschen oder gleiche innere und moralische Kultur. Dieser Satz ist so evident als wichtig, wenn auch, wie in der Regel, für gleich

17 Lubbock: Vgl. z. B. Lubbock 1890: 426 ff. Das Kapitel trägt die Überschrift: „Modern Savages". Als ersten von drei Gründen für das wissenschaftliche Interesse an den „lower races of men" führt Lubbock in einer anderen Schrift (1870: 1) an: „... the conditions and habits of existing savages resemble in many ways, though not in all, those of our own ancestors in a period now long gone by ...".

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

139

»ähnlich« und im günstigsten Falle »verhältnismäßig« eingesetzt werden muß. Denn allerdings können Menschen unter höchst ähnlichen Zuständen sehr verschieden geartet sein, einmal je nach den Wegen, auf welchen sie dieselben erlangt haben - vor allem, ob durch eigenen Fortschritt oder durch Nachahmung und Empfang von außen - und sodann, was auf bedeutende Weise damit zusammenhängt, nach den Wirkungen der von Sp. als äußere Faktoren bezeichneten Umstände: wozu aber als ein geistiges Milieu die ererbte und überlieferte Denkungsart mit ihren mannigfachen Gebilden hinzugerechnet werden muß. Zudem müssen Anpassungen und Gegenanpassungen, Wettstreit, Unterdrückung, Verdrängung, und die hierauf beruhenden Tendenzen der Zunahme oder Abnahme eines Volkes und seiner Kultur fortwährend in Betracht gezogen werden, um die Differenzen der anscheinend ähnlichsten Zustände zu gewahren und zu verstehen. Hieraus ergeben sich viele Einschränkungen für die Möglichkeit, aus der Betrachtung irgendwelcher wilden Völker die Eigenschaften unserer Vorfahren zu erkennen. Dennoch dürfen wir, nach allen Erwägungen, soviel sagen: gleich den meisten heutigen Wilden sind die ehemaligen Wilden, von welchen die Kulturvölker abstammen, in einem Zustande gewesen, wo Kampf gegen Menschen und Tiere ihre natürliche, gewöhnliche und liebste Beschäftigung war, daher Blutdurst, Grausamkeit, Rachsucht hervorstechende Charakterzüge an ihnen, in Übereinstimmung damit ihre moralische Denkungsart, sofern sie auf Fremde oder Feinde sich bezog. Hieraus hat sich entwickelt oder entwickelt sich noch ein entgegengesetzter Zustand, in welchem mit überwiegenden friedlichen Beschäftigungen auch friedliche oder wenigstens unkriegerische Gesinnungen überwiegen. Diese große Verwandlung hat aber keineswegs einen notwendigen Grundzug der menschlichen Natur, welcher in der Tierheit seine Wurzeln hat, zunichte gemacht, daß man nämlich seine Angehörigen liebt und nicht die Fremden, daß man seine Gegner haßt, wenigstens um jener Liebe willen. Verschieden ist es freilich, wen und wie viele man als die Seinen schätzt, aber auch dies nicht so sehr, um das Gemeinsame zu verdunkeln; es bleibt immer ein enger und stark bedingter Kreis, die Gruppe der Nächsten, der Familie und Freundschaft, worin wirklich die sympathischen Gefühle lebendig und nicht bloß eine Rede sind. Verschiedener ist die Gegnerschaft in ihrer relativen Bestimmung; am verschiedensten die Art des Kampfes, welche selbst sich differenziert, und im allgemeinen, soweit ein einzelner Mensch sich bestimmen mag, minder gewaltsam, i »verhältnismäßig«:

In A ohne Anführungszeichen.

140

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

indirekter, rechtlicher wird, so daß Klage und Antwort die richtige Form des friedlichen Kampfes zu werden bestimmt scheint. Die große Wende aber, durch welche auch der wehrhafte Mann von Krieg und Jagd zu regelmäßiger Arbeit um der Seinen Subsistenz willen sich bekehrt, liegt an dem Punkte, wo der vernünftige Anbau des Ackers so viele Kräfte in Anspruch nehmen kann und muß; wie auch immer die Tierzähmung und ein etwaniges Zwischenstadium des Nomadentums dazu sich verhalten möge. Jene Bedeutung haben die Völker von je gewußt, durch Feste, Mythen, Symbole gewürdigt, daß hiermit ihre Sitte und ihr zusammenhängendes geschichtliches Leben angefangen hat. Es ist gemein geworden, wird daher in einem kritisch abgestimmten Zeitalter leicht vergessen, wie wichtig es sei. So ist es bezeichnend genug für eine Nation, deren kommerzieller Fortschritt die Bauernschaft zerstört hat, daß der Engländer Spencer in seinen grundlegenden Erörterungen zur Philosophie der Geschichte die große Kausalität der Erdkultur ohne tiefere Beachtung läßt. Und man wird erraten, wie große Mängel hieraus sich ergeben müssen. Denn in Wahrheit sieht der ausgezeichnete Denker nun nicht mehr deutlich, wo die Wildheit aufhört und die Zahmheit anfängt. Auf der einen Seite kontrastiert er, wie wir mit ihm tun, das überwiegende Kampfleben gegen das überwiegende Arbeitsleben. Auf der anderen aber gewahrt er in den meisten hohen Kulturzuständen die organisierte Kriegerkaste nebst allen Gebräuchen und Gesinnungen, welche ihm die entschiedene Wildheit zu charakterisieren scheinen; wobei er die stehenden Heere in zentralisierten Staaten auf dieselbe Linie setzt. Daher vermischen sich ihm, wo er den primitiven Menschen von der moralischen Seite schildern will, Züge, welche den wirklichen Naturmenschen unterscheiden, mit solchen, die erst durch vollkommene Ausbildung dessen, was er den militant type of society nennt, in die Erscheinung traten. So dünkt ihm bald dieser Typus gleichartig mit der Wildheit, aus welcher allmählich das Menschengeschlecht sich erhebe; bald bedeutet er ihm die Kultur selber in ihren vorherrschenden empirischen Gestaltungen. Die Verwirrung entspringt aus der zu starken Tendenz, das Schema der Entwicklung, von jener allgemeinen Grundlage aus, durchzuführen, wogegen unleugbare mächtige Tatsachen streiten; denn von jener durchgehenden Gestaltung des Menschlichen hebt sich wieder jede besondere Kulturentwicklung mit ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit ab; wovon Spencer nicht einmal den Begriff gefunden hat, so daß er nicht vermag, die Unterschiede semitischer und arischer, orientalischer 27 militant type of society: Vgl. Spencer 1882: 658 ff.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

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und okzidentalischer, südeuropäischer und nordeuropäischer sozialer Verfassungen und Geschichten darzustellen. Dazu kommt, daß ihm die Bedeutung der Antagonismen, welche die Fortschritte von Gewerbe, Handel und Verkehr, in einem Volkskörper und in dem Verhältnisse der Nationen und Staaten zueinander erzeugen, beinahe völlig entgeht; infolge der dogmatischen Ansicht, die ihm eingewurzelt ist, daß der Freihandel mit der Verbesserung menschlicher Zustände schlechthin gleichbedeutend sei und eine universelle Harmonie aus dem Unterliegen der Schwächeren, zugleich freilich aus der Vermehrung sympathischer Gefühle und moralischer Ideen, hervorgehen müsse. Ich versuche nun, die Lehrsätze, welche der auch in ihren Widersprüchen scharf ausgeprägten universalhistorischen Ansicht unseres Philosophen unterliegen, urkundlich wiederzugeben. Spencer charakterisiert nämlich - in dem Kapitel The primitive man: emotional - das Naturell des Wilden folgendermaßen. Vor allem hebt er sein impulsives Wesen hervor, seine Wankelmütigkeit als im Gegensatz zu jenem Vertrauen in gegenseitige Verbindlichkeiten, worauf der soziale Fortschritt in weitem Umfange beruhe. Er werde regiert durch despotische Emotionen, die einander sukzessive absetzen, daher sein unberechenbares Benehmen, das verbundene Tätigkeit sehr schwierig mache. - Dies der allgemeine Charakter; zu den besonderen Zügen gehört die Unvorsichtigkeit: er lebt in der Gegenwart allein; die schwache Geselligkeit, bestehend in geringerer Tendenz aus gegenseitigem Gefallen zusammenzuhängen, und in größerer Tendenz der Autorität zu widerstehen, welche auf andere Weise den Zusammenhang bewirke. Dennoch komme verhältnismäßig früh das einfachste der höheren Gefühle (ein »ego-altruistisches«) zur Entwicklung, die Liebe zum Beifall; durch welche einige Unterordnung unter die Stammesmeinung und daraus folgende Regulierung des Verhaltens gesichert werde, selbst ehe das erste Rudiment von politischer Kontrolle entstanden sei. Es versteht sich hiernach, daß Sympathie oder das reine altruistische Gefühl in den Anfängen sehr gering und selten sein muß; am seltensten die höchste Form desselben, der Gerechtigkeitssinn. - Diese Charakteristik glaubt der Autor aus den Zeugnissen erschlossen zu haben und stellt sie ferner dar als mit den apriorischen Folgerungen übereinstimmend, die sich aus der Psychologie ergeben; endlich auch mit dem Charakter des Kindes zivilisierter Menschen. Alle Züge aber werden um so mar15 The primitive man: emotional: Vgl. Spencer 1877a: 5 9 - 8 2 , §§ 3 1 - 3 8 (dt.: Spencer 1 8 7 7 :

67-93).

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

kierter durch relative Festigkeit der Gewohnheit; denn der primitive Mensch „ist im höchsten Grade konservativ". Jedoch zur wichtigen Ergänzung, um in diesem - nach Sp. 's Ansicht unsozialen Wesen die Keime der Kultur zu entdecken, dient die allgemeine Konklusion, welche am Schlüsse dieses Abschnitts, wie schon erwähnt wurde, sich ergibt. Sie lautet dahin: „daß, während das Betragen des primitiven Menschen teilweise bestimmt werde durch die Gefühle, mit denen er die Menschen seiner Umgebung betrachte, zum anderen Teile es bestimmt werde durch die Gefühle, mit denen er die abgeschiedenen Menschen betrachte." Aus diesen beiden Arten von Gefühlen ergeben sich zwei höchst wichtige Arten sozialer Faktoren. „Während die Furcht vor den Lebenden die Wurzel der politischen Herrschaft wird, so wird die Furcht vor den Toten die Wurzel der religiösen Herrschaft." Und diese beiden Formen der Herrschaft bezeichnen, nach Spencer, alle empirischen Phänomene der Kultur. Aber die Entwicklung der Kultur ist nicht, wie wir nun erwarten würden, die Entwicklung der sympathischen oder altruistischen Gefühle, ist nicht gleichbedeutend mit Förderung der Humanität. Wir finden in dem einleitenden Kapitel der Political Institutions (P. V.) eine tiefgehende Widerlegung dieser natürlichen Ansicht. „Wir brauchen nicht in entlegenen Gegenden oder bei fremdartigen Rassen nach Beweisen zu suchen, daß es keine notwendige Verbindung gibt zwischen den sozialen Typen, die als zivilisierte unterschieden werden, und jenen höheren Gefühlen, die wir gemeiniglich zusammendenken mit dem Begriff der Zivilisation." „So

2 „ist...

konservativ":

„The primitive man is conservative in an extreme degree." (Spencer

1 8 7 7 a : 7 8 , § 3 8 ; dt.: Spencer 1 8 7 7 : 88). 10 „daß ... abgeschiedenen

Menschen betrachte. ": „And now observe the general conclusion

reached. It is that while the conduct of the primitive man is in part determined by the feelings with which he regards men around him, it is in part determined by the feelings with which he regards men who have passed away." (Spencer 1877a: 4 5 6 , § 2 0 9 , dt.: Spencer 1 8 7 7 : 521). 13 „Während

die Furcht...

religiösen Herrschaft.":

„While the fear of the living becomes the

root of the political control, the fear of the dead becomes the root of the religious control." (Spencer

1877a: 4 5 6 , § 2 0 9 ) - „Während nämlich die Furcht

vor den Lebenden

die

Wurzel der bürgerlichen Gesetze ist, wird die Furcht vor den Todten zur Wurzel der religiösen Gesetze." (Spencer 1 8 7 7 : 521). 24 „Wir brauchen

... Zivilisation.":

„Nor need we seek in remote regions or among alien

races, for proofs that there does not exist a necessary connexion between the social types classed as civilized and those higher sentiments which we commonly associate with civilization." (Spencer 1 8 8 2 : 2 3 7 , § 3 4 7 ; dt.: Spencer 1 8 8 9 : 286).

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

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entsetzlich die Wahrheit scheint, so ist es doch eine Wahrheit, die anerkannt werden muß, daß die Zunahme der Humanität nicht pari passu mit der Zivilisation geht; daß im Gegenteil die früheren Stufen der Zivilisation eine relative Inhumanität notwendig machen" „Die Menschen, aus welchen die besser organisierten Gesellschaften gebildet worden sind, waren zuerst, und sind lange geblieben, nichts anderes als die stärkeren und schlaueren (more cunning) Wilden." „Was für eine Beziehung immer existieren mag zwischen moralischer Natur und sozialem Typus, sie ist nicht derartig, um zu bedeuten, daß der soziale Mensch in allen Rücksichten dem vorsozialen Menschen nach der Gefühlsseite überlegen ist." Man wird leicht den Eindruck empfangen, daß der Autor hier eine ungern aufgegebene eigene Meinung bekämpfe. Und solche Vermutung wird uns bestätigt, wenn wir den 2. Band der Psychologie aufschlagen, wo die letzten Kapitel von Sozialität und Sympathie, von egoistischen, egoaltruistischen und altruistischen Gefühlen handeln. „Wenn wir uns erinnern, daß zugleich mit den niederen Formen der Familienbeziehungen die sozialen Beziehungen wenig mehr als rudimentär sind, während die Intelligenz nicht groß ist, so erkennen wir leicht, warum unter den niedrigsten Rassen die Sympathien schwach und eng sind. Umgekehrt: Die Rassen, welche am meisten sympathisch geworden, sind diejenigen, in welchen Monogamie seit lange besteht; wo das Zusammenwirken von Eltern zur Aufzucht von Kindern bis zu einem vergleichungsweise späten Zeitpunkt im Leben der Kinder sich fortsetzt; wo die soziale Entwicklung den Kontakt von Bürgern miteinander beständig enger und mannigfacher gemacht hat; und wo der repräsentative Charakter des Denkens stufenweise gewachsen ist mit dem stufenweisen Fortschreiten der Gesellschaft." (Denn 4 „So entsetzlich ... Inhumanität notwendig machen":

„Startling as the truth seems, it is yet

a truth to be recognized, that increase of humanity does not go on pari passu with civilization; but that, contrariwise, the earlier stages of civilization necessitate a relative inhumanity." (Spencer 1 8 8 2 : 2 8 3 , § 4 3 7 ; dt.: Spencer 1 8 8 9 : 287). 7 „Die Menschen

... Wilden.": „The men of whom the better organized societies have been

formed, were at first, and long continued to be, nothing else but the stronger and more cunning savages . . . " (Spencer 1 8 8 2 : 2 3 8 , § 4 3 7 ; dt.: Spencer 1 8 8 9 : 2 8 7 ) . 10 „Was für eine Beziehung

... überlegen

ist."-. „Whatever relation exists between moral

nature and social type, is not such as to imply that the social man is in all respects emotionally superior to the pre-social man." (Spencer 1 8 8 2 : 2 3 9 , § 4 3 7 ; dt.: Spencer 1 8 8 9 : 288). 26 „Wenn wir ... Fortschreiten

der Gesellschaft."-. „And when we remember that along with

these inferior forms of domestic relations, the social relations are little more than rudimentary, while the intelligence is not great, we have no difficulty in seeing why among

144

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

hierin, in die Lebhaftigkeit der Phantasie, darinnen die wahrgenommenen Zeichen fremder Pein und Freude ideale Pein und Freude wachrufen, setzt Sp. die wesentliche Bedingung der Sympathie.) Die Theorie, welche er aus dem Studium der soziologischen Tatsachen gewonnen hat, ist hingegen eine neue Gestalt der Rousseauschen. Die höchste und (im moralischen Sinne) allein wahre Kultur stellt Lebensweise und Gesinnungen des Naturzustandes wieder her. Diese sind friedliche; die der empirischen Kultur überwiegend kriegerisch. Die wahre, friedliche, industrielle Kultur ist zwar - in ihren Anfängen - in den modernen Zuständen Europas (etwa seit 1500), besonders Englands, sodann auch Amerikas, erkennbar; aber ihre reine Ausbildung liegt in der Zukunft. Erst im Zusammenhange der Abteilung Political Institutions kommt diese Ansicht aber zutage. Er beruft sich hier zugunsten der rohen Völker auf die überlebenden Reste einiger primitiver Rassen in Indien, bei welchen Wahrhaftigkeit organisch zu sein scheine, deren Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Keuschheit allen Beobachtern auffalle (§ 437); auch Stämme der Polynesier und der Papua dienen zur Bestätigung, als durch ähnliche Zeugnisse hervorgehoben. Den Zusammenhang dieser Ansicht will ich jetzt nicht weiter verfolgen. Es genüge, auf die merkwürdige Wandlung hingewiesen zu haben, welche im Denken des Verfassers nach dieser Richtung hin sich vollzogen hat, und die großen Schwierigkeiten vorauszusagen, welche daraus hervorgehen müssen. In Wahrheit leidet die ganze Betrachtung daran, daß es unmöglich ist, einen Anfang zu setzen und den ursprünglichen Menschen zu beschreiben. Wenn wir auch darüber nicht streiten, die Einheit der menschlichen Art anzunehmen und einen Grenzpunkt in der Entwicklung, so daß jenseits ein untermenschliches, diesseits ein des menschlichen Namens würdiges Wesen gesetzt werde. Es müßte also eine Urgruppe gegeben haben, welche zu allen jetzt angetroffenen Rassen sich so verhielte, wie das hypothetische Urwirbeltier zu den Klassen der Fische, Reptile usw. Bei einer Untersuthe lowest races the sympathies are weak and narrow. [Absatz] Conversely, the races that have become most sympathetic are those in which monogamy has been long established; those in which co-operation of parents for rearing children is continued to a comparativelylate period in the lives of children; those in which social development has made the contact of citizens with one another constant, much closer, and more varied; and those in which representativeness of thought has been gradually increased as society has gradually advanced." (Spencer 1872: 569, § 509). 3 Bedingung der Sympathie-. Vgl. ebd.: 570, § 509. 18 durch ähnliche Zeugnisse hervorgehoben-. Vgl. Spencer 1882: 234 f.

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145

chung dieses biologischen Charakters hat man wenig Grund, auf die psychischen Merkmale besonders zu achten; bei jener soziologischen ist daran am meisten gelegen. Und doch wird hier wie dort die erste Aufgabe sein, zu bestimmen, in welcher überlebenden Gattung die gesamte Natur am reinsten sich erhalten habe, wie denn die Zoologen nicht bloß eine ganze Klasse, sondern eine besondere Art in derselben als in diesem Sinne charakteristisch annehmen zu dürfen glauben. Alle Bemühung dieser Art fehlt sonderbarerweise bei Spencer. Eigentliche ethnologische Forschung ist seinem Werke trotz des überreichen ethnographischen Materials darin fremd geblieben, was so viel heißt, als wenn die Botanik keine Rücksicht in der Biologie gefunden hätte. Allerdings glaube ich nicht, daß auf diesem Wege für das Kapitel über die Gemütseigenschaften des Urmenschen eine große Vermehrung und Vertiefung sich hätte gewinnen lassen. Man wird aber von allen Seiten gesichert sein mit der These, daß die ursprünglichen und typisch beharrenden Empfindungen unserer Art in sehr geringem Maße durch wirkliches Denken modifiziert gewesen sind; denn dieses ist an lange Übung der Sprache gebunden, und Sprache selber ist wesentlich Ausdruck von Empfindungen. Hingegen fehlte es sicherlich den Menschen, welche die Sprache sozusagen entdeckten, und die ersten Geräte erfanden - welches beides der Begriff des menschlichen Wesens allerdings involviert - , nicht an Gedächtnis und nicht an Phantasie. Dies wird durch keine Kunde von den empirischen Naturvölkern widerlegt und wird durch alle richtig gedeutete bestätigt. Das Gedächtnis ermangelte allerdings der vielen Hilfsmittel, welche es später sich geschaffen hat, von welchen eben die Sprache selber das bedeutendste ist. Phantasie bedarf deren viel weniger; ich meine die Kraft der Reproduktion sinnlicher Erfahrung, welche eben Sp. als representative power unterscheidet. Und daß diese, durch Hoffnung und durch Furcht, mithin durch alle Erfahrung von Lust und Schmerz fortwährend genährt, das gesamte intellektuelle Leben des Wilden, wie des Kulturmenschen bis zu einer verhältnismäßig späten Stufe, beherrscht, was Sp. selber so ausführlich als Quelle des Aberglaubens darstellt, dies darf wohl als Zeugnis dafür gelten, wie mächtig schon im ersten Ursprünge die Anlage dieses allgemein bedeutenden Elementes gewesen ist. Nun hält Sp. selber die sympathischen Empfindungen hauptsächlich für bedingt durch die Stärke der Phantasie. Er sagt freilich in beliebigem Wechsel hierfür »Intelligenz« und darin beruht sein Irrtum, wenn anders als Intelligenz auch die völlige Unterdrückung oder doch Beherrschung der Einbildungen zu verstehen ist, welche ebenso wie durch sinnliche, so durch intellektuelle Aufmerksamkeit und Konzentration

146

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

möglich wird. Phantasie aber erregt alle Arten der Gefühle, oft weit heftiger als unmittelbare Eindrücke. Sie beruht jedoch auf deren Tiefe und Stärke. Nun ist Sympathie oder Antipathie, Liebe, Mitfreude und Mitleid, oder Haß, Neid und Schadenfreude dem Menschen beim Anblicke fremder Leiden und Freuden in dem Maße natürlich, als die Subjekte derselben ihn angehen, d. h. in seinem Gedächtnis und Wissen mit eigener Lust und Unlust verbunden sind. Die Erneuerung der sympathischen Gefühle bei Wiedervergegenwärtigung der Abwesenden und Toten, und die Übung, welche hieraus entspringende Stimmung habituell und, mit Spencer zu reden, organisch werden läßt, macht den Menschen weich, zärtlich, hilfreich und gut. Wiederum ist hierdurch die Stärke, Ausdehnung, Leichtigkeit der durch sinnliche Eindrücke selber hervorgerufenen Sympathie mitbedingt. Übrigens aber läßt sich leicht begründen, daß ein unstätes und kriegerisches Leben diese Entwicklung hemmt, seßhaftes und arbeitsames sie fördert. Als spontane und allgemeine Tendenz ist aber jenes das Erste und Natürliche, dieses ist Form und Ergebnis der Kultur. Beide Extreme, zu denen Sp. neigt, sowohl die liebenswürdigsten, friedlich-gesitteten Stämme, welche in allen Rassen vorkommen, als typisch für ursprüngliche Menschen zu nehmen, als auch die sympathischen Gefühle solchen abzusprechen und sie für eine Funktion steigender Intelligenz zu halten, scheinen verwerflich. In der Tat, wenn er die Furcht vor den Lebenden als Wurzel der politischen Kontrolle erklärt, so werden wir auf die Meinung geführt, daß dies das einzige Gefühl sei, wozu der Wilde durch die ihn umgebenden Menschen erregt werde. Auf der anderen Seite aber wird sein Unabhängigkeitssinn und seine Launenhaftigkeit betont, welche der Autorität Widerstand leiste: Gehorsam erscheint hierdurch nicht als ursprünglich, sondern erst durch Unterjochung des Mächtigen (welche der beständige Krieg notwendig macht) erzogen und erzwungen. Wenn aber die Psychologie als Ursachen der Sympathie die drei Relationen anführt: zwischen Gliedern einer Art, zwischen Mann und Weib, zwischen Eltern und Nachkommen, so hätte wohl aus diesen wenigstens der Anlage nach immer vorhandenen Sympathien Sp. die soziale Ordnung ableiten können, anstatt allein aus natürlicher Furchtsamkeit oder unnatürlicher Gewalt. Und hierzu finden sich allerdings wieder in den Political Institutions erhebliche Ansätze. Hier werden, nebst äußeren Bedingungen, die in der Natur des Menschen gelegenen erörtert, welche dem Zusammenwirken günstig oder ungünstig sind (§ 449). Jene erscheinen hier als differente und wür-

37 dem Zusammenwirken

günstig oder ungünstig sind

449): Vgl. Spencer 1 8 8 2 : 2 8 6 ff.

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

147

den die Vermutung aufkommen lassen, daß früher nur die ungünstigen Varietäten behandelt wurden, anstatt des allgemeinen Typus, wenn nicht in der intellektuellen Charakteristik allerdings der Aberglaube und die Gespensterfurcht als Faktoren der Entwicklung wären geschildert worden. Hier wird „außer der natürlichen Tüchtigkeit in den vereinten Individuen" die „Homogeneität ihrer Natur, welche für soziale Einigung erforderlich sei", einer Betrachtung unterworfen, welche in der Tat die Gruppierung und Kooperation als eine wesentlich spontane und durch das Band der Blutsverwandtschaft am mächtigsten geförderte darstellt. Hier ist denn die verbundene Reaktion gegen Angriffe oder die Kampfgenossenschaft nur eine »fernere Bedingung«, welche jedoch von der wiederum sich vorstreckenden alten Ansicht sogleich zur „Hauptursache der sozialen Integration" gemacht wird. Wiederum wird in dem Kapitel: Political forms and forces die Herrschaft selber als Produkt und Organ des Gesamtwillens welcher bald the aggregate feeling, bald public opinion genannt wird und diese „allgemeine Wahrheit wird als ein wesentliches Element der Theorie festgestellt". Wir sehen hier am deutlichsten, wie sehr und in welcher Richtung die Beschäftigung mit den Tatsachen das apriorische Denken des Autors modifiziert und verbessert hat. Wenn es mir auch nicht gelungen ist, die aufgelösten und gebliebenen Widersprüche in ihrem ganzen Zusammenhange zu zeigen, so meine ich doch, auf die entscheidenden Punkte aufmerksam gemacht zu haben, was bei der großen äußeren und inneren Bedeutung dieses Werkes nicht ganz ohne Wert sein möchte. Werde hierzu noch bemerkt, daß einmal das Element der Liebe und Verehrung, des Glaubens und Vertrauens (als faith in the ruler von Sp. nun

7 „außer der natürlichen

Tüchtigkeit

... erforderlich

sei"-. „Besides fitness of nature in the

united individuals, social union requires a considerable homogeneity of nature among themselves." (Spencer 1 8 8 2 : 2 7 2 , § 4 5 0 ) - „Die sociale Vereinigung setzt aber nicht allein eine allgemeine günstige Beschaffenheit der sich vereinigenden Individuen, sondern auch eine erhebliche Gleichartigkeit derselben unter einander voraus." (Spencer 1 8 8 9 : 325). 13 „Hauptursache

der sozialen Integration":

14 Organ des Gesamtwillens:

Als Zitat nicht nachgewiesen.

„Hence it is undeniable that, taken in its wides acceptation, the

feeling of the community is the sole source of political power . . . " (Spencer 1 8 8 2 : 3 2 7 ,

S 469).

15 aggregate feeling: Vgl. ebd.: 3 2 5 f., § 4 6 8 f. 15 public opinion: Vgl. ebd.: 323, § 4 6 7 f. 17 „allgemeine Wahrheit...

festgestellt": „Partly, of course, I am obliged here to set forth this

general truth as an essential element of political theory. My excuse for insisting at some length on what appears to be a trite conclusion, must be that ... it is actually recognized to a very small extent." (ebd.: 3 2 9 f., § 470).

148

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

öfters hervorgehoben) in das Verhältnis zwischen Lebenden eingeführt, dasselbe auch der Auffassung des Toten-Kultus, und folglich - seiner Theorie gemäß - der Religion eine neue und hellere Färbung geben wird. Erst jetzt komme ich auf den Inhalt des vorliegenden Bandes der Übersetzung zurück, um zuerst und hauptsächlich den ersten Abschnitt desselben, das ist: die Induktionen der Soziologie zu betrachten. Derselbe ist ganz durchzogen von der Analogie des organischen und des superorganischen Körpers. Das erste Kapitel wirft die Frage auf: Was ist eine Gesellschaft?, das andere enthält die Antwort: eine Gesellschaft ist ein Organismus. Hierauf folgt: soziales Wachstum, soziale Strukturen4, soziale Funktionen, Organsysteme, das Ernährungs-System, das VerteilungsSystem, das regulierende System. Sodann X: Gesellschaftstypen und Verfassungen; XI: Soziale Metamorphosen; XII: Zusätze und Zusammenfassung. Sp. weiß, wie er in diesem letzten verrät, daß die organische Ansicht (um so zu sagen) des sozialen Lebens ihre eigene Geschichte hat; wenn er auch nur Piaton, Hobbes und Comte als seine Vorgänger erwähnt. Comte habe die Irrtümer der früheren vermieden, indem er erkannt habe, daß soziale Strukturen nicht künstlich gemacht, sondern stufenweise entwickelt werden; ferner habe er aufgegeben, den sozialen Organismus mit einem individuellen von besonderer Art zu vergleichen, und bloß behauptet, daß die Prinzipien der Organisation Gesellschaften und lebenden Wesen gemeinsam seien. Dieser Beschränkung schließt sich der Verf. nun noch mit besonderem Nachdruck an. Im 1. Kapitel hat er seine Auffassung so formuliert: „Die einzig denkbare Ähnlichkeit zwischen einer Gesellschaft und etwas anderem muß herrühren von dem Parallelismus des Prinzips in der Anordnung zusammensetzender Teile"; und indem hiernach noch zu wählen bliebe zwischen den beiden großen Massen von Aggregaten, um eine richtige Vergleichung zu gewinnen, müsse doch diejenige mit einem

4

Der Übersetzer hat „Gebilde", was aber niemand in einem anatomischen Sinne verstehen wird. Die Fremdwörterscheu kann in den Wissenschaften nur dienen, vorhandene Sprachverwirrungen ärger zu machen. 6 Induktionen

der Soziologie: Vgl. Spencer 1 8 8 7 : 3 - 1 8 1 , §§ 2 1 2 ff.

13 Gesellschaftstypen

und Verfassungen-. In der deutschen Übersetzung (ebd.: 120, § 2 5 6 ff.)

heißt es zutreffender „Gesellschaftstypen und -Verfassungen"; im englischen Original: „Social Types and Constitutions" (Spencer 1877a: 5 6 9 ff.). 26 „Die einzig denkbare ... zusammensetzender

Teile ": „Between a society and anything else,

the only conceivable resemblance must be one due to parallelism of principle arrangements

of components."

in the

(Spencer 1877a: 4 6 6 , § 2 1 3 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 4).

VI. Herbett Spencers soziologisches W e r k

149

unorganischen Körper sogleich abgelehnt werden: „ein Ganzes, dessen Teile lebendig sind, kann nicht, in seinen allgemeinen Merkmalen, leblosen Ganzen gleich sein". Das 2. Kapitel gibt also die Gründe für den Satz, daß die bleibenden Beziehungen zwischen den Teilen einer Gesellschaft den bleibenden Beziehungen zwischen den Teilen eines lebenden Körpers analog seien. Das erste Merkmal, wenn auch unorganischen Aggregaten nicht durchaus fehlend, sei Wachstum; und zwar Zunahme der Struktur zugleich mit Zunahme des Umfanges; ferner fortschreitende Differenzierung der Funktionen; gegenseitige Bedingtheit der Teile und ihrer Funktionen: die Teilung der Arbeit - „kaum vermag ich der Wahrheit hinlänglichen Nachdruck zu geben, daß in bezug auf diesen Grundzug ein sozialer Organismus und ein individueller völlig gleich sind". - Zur Erläuterung dient noch die Tatsache, daß das Leben jedes sichtbaren Organismus konstituiert werde durch die Leben mikroskopisch wahrnehmbarer Einheiten. Und in beiden Fällen könne katastrophisch das Leben des Ganzen zerstört werden ohne unmittelbar die Leben aller seiner Einheiten zu zerstören; während in der Regel das Leben des Ganzen diese seiner Dauer nach bei weitem übertreffe. Ein großer Gegensatz jedoch ergebe sich insofern, als einmal die Teile eines organischen Leibes konkret, diejenigen einer Gesellschaft diskret seien, und ferner als in dem einen die Teile um des Ganzen, in dem anderen das Ganze um der Teile willen da sei. Der erstere Unterschied werde aber teilweise aufgehoben durch die »internunzialen« Funktionen als den Zusammenhang zwischen wechselseitig abhängigen Teilen ersetzende (Sprache, Schrift usw.). Ich will einigen dieser Argumente, welche auf ein wichtiges methodologisches Problem sich beziehen, eine genauere Prüfung widmen. Zuerst bemerke ich, daß eine Gruppe menschlicher oder anderer organischer Wesen dadurch, daß sie sich zu vermehren die Tendenz hat, keineswegs als eine soziale Einheit sich darstellt. Sondern jede biologische Abteilung, welche wir als innerhalb ihrer selbst der Fortpflanzung obliegende begreifen, ist allerdings ein Ganzes, welches im Wechsel seiner Teile sich erhält, lebt und wächst oder abnimmt, aber darum nicht ein Ganzes im soziologischen Sinne. Jene bilden auch in ihren einzelnen Gliedern auf 3 „ein

Ganzes

...

sein":

„A whole of which the parts are alive, cannot, in its general

characters, be like lifeless wholes." (Spencer 1 8 7 7 a : 4 6 6 , § 2 1 3 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 5). 12 „kaum

vermag

ich ... gleich sind":

„Scarcely can I emphasize sufficiently the truth t h a t in

respect of this fundamental trait, a social organism and an individual organism are entirely alike." (Spencer 1 8 7 7 a : 4 7 0 , § 2 1 7 , dt.: Spencer 1 8 8 7 : 23 »internunzialen«

Funktionen:

9).

Vgl. Spencer 1 8 8 7 : 1 8 , § 2 2 1 .

150

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

verschiedene Weise sich aus und diese fangen, gemäß ererbten Kräften und Dispositionen, wie den Umständen gemäß, eine verschiedene Lebensweise an: das ist Differenzierung von Struktur und Funktionen. In diesem Verstände ist das ganze Menschengeschlecht eine natürliche und organische Einheit, und wiederum jede Rasse und Unterart derselben, wenn auch die immer engeren Kreise minder scharf sich gegeneinander abgrenzen. Aber wir können die Bedingungen und Gesetze des Lebens eines jeden solchen Ganzen studieren, sehend, wovon es sich ernährt und wie es durch Abschnürung neuer Kerne, gleich den einfachsten Organismen, seinesgleichen aus sich hervorbringt. Dieses alles in Anwendung auf Menschen, ist Ethnologie oder Anthropologie als Zweig der Biologie, hingegen hat Soziologie ihr Objekt hierin noch nicht gefunden. Spencer freilich wird solche Realitäten gar nicht anerkennen; in bezug darauf wird er die nominalistische Ansicht hervorkehren, welche er für die Gesellschaft nicht gelten läßt. Er bemerkt nämlich: „man könnte sagen, Gesellschaft sei nur ein Kollektivname für eine Anzahl von Individuen. Die Kontroverse zwischen Nominalismus und Realismus in ein anderes Gebiet übertragend, könnte ein Nominalist behaupten, daß, gerade wie nur die Glieder einer Spezies existieren, während die Spezies für sich (apart from them) betrachtet, keine Existenz hat; so auch allein die Einheiten einer Gesellschaft vorhanden seien, während das Dasein der Gesellschaft nur im Worte liege. Mit dem Hinweise auf die Zuhörerschaft eines Professors als ein Aggregat, welches durch sein Verschwinden beim Schlüsse der Vorlesung als nicht ein Ding, sondern nur eine gewisse Anordnung von Personen sich erweise, könnte er dartun, daß das Gleiche von den Bürgern gelte, die ein Volk ausmachen." Die Widerlegung nimmt Sp. sehr leicht, er will sich nicht weiter darauf einlassen, als durch Leugnung der letzten Schlußfolge. „Die Anordnung, temporär im einen Falle, ist dauernd im anderen", und hierin 26

„man konnte sageti... Volk ausmachen.":

„It may be said that a society is but a collective

name for a number of individuals. Carrying the controversy between nominalism and realism into another sphere, a nominalist might affirm that just as there exist only the members of a species, while the species considered apart from them has no existence; so the units of a society alone exist, while the existence of the society is but verbal. Instancing a lecturer's audience as an aggregate which by disappearing at the close of the lecture, proves itself to be not a thing but only a certain arrangement of persons, he might argue that the like holds of the citizens forming a nation." (Spencer 1877a: 4 6 5 , § 2 1 2 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 3). 28

„Die Anordnung ... im anderen":

„The arrangement, temporary in the one case, is lasting

in the other; and it is the permanence of the relations among component parts which constitutes the individuality of a whole as distinguished from the individualities of its parts." (Spencer 1 8 7 7 a : 4 6 5 , § 2 1 3 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 4).

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

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bestehe das Wesen eines Ganzen überhaupt, wobei noch offen gelassen wird, daß dasselbe auch ein unorganisches sein könne, wie ein Haus u. dgl. - Aber diese bleibenden Relationen, werden sie in der Gruppe, welche wir als eine Art verstehen, nicht angetroffen? Bezeichnen nicht die Linien, welche einen Stammbaum darstellen, solche Relationen? freilich zugleich veränderliche, aber welche sind es nicht? - Ebenso leichter Hand, wie wir sahen, ist die Frage erledigt worden, ob organisches oder unorganisches Ganzes? Kann in der Tat ein Ganzes, dessen Teile lebendig sind, seinem allgemeinen Charakter nach nicht gleich leblosen Ganzen sein? Nehmen wir eine Herde Schafe, die sich nicht aus sich selber fortpflanzt. Sie ist ein Ganzes, auch in dem Sinne, wie Spencer meint. Und doch ist sie ein totes Ganzes: das Prinzip der eigenen Bewegung (wenn auch nur in bezug auf sich selber) und Tätigkeit fehlt ihr. Sie ist nur ein Ganzes durch den Besitzer oder Hirten, der sie gebildet hat und zusammenhält, sie auch wieder teilen und zerstören kann, ohne das Leben eines der Teile zu zerstören. Hingegen ein lebendiges Ganze bedingt das Leben seiner Teile. Wenn wir sagen, daß eine Spezies oder Varietät ausgestorben ist, so bedeutet dies, daß ihre Exemplare nicht mehr angetroffen werden, und doch ist ihr Wesen mit keiner Summe solcher Exemplare identisch. - Aber (wird nun entgegnet) diese Begriffe bezeichnen doch insofern keine Einheiten, als ihre Glieder nichts miteinander zu tun haben, während der soziale Körper gleich dem organischen durch jene Teilung der Arbeit und wechselseitige Abhängigkeit der Teile sich charakterisiert. Hier ist nun klar, daß das Dasein des sozialen Körpers, der durch seine Individualität dem organischen vergleichbar sei, schon vorausgesetzt wird, so daß die Frage offen bleibt, woran er erkannt werden solle? Oder wird dies Merkmal entscheidend sein und jedes formale Ganze, dessen so angesehene Teile durch verschiedene Tätigkeit einander bedingen, für ein organisches Ganze gehalten werden müssen? Schwerlich. Denn es ist nicht die Meinung, etwa die Oberfläche der Erde, deren Teile in deutlicher Weise aufeinander wirken, so daß wenigstens ihre Flora und Fauna durch differente Ernährungstätigkeiten einander das Leben erhalten und fördern, darum für ein lebendiges und individuelles Wesen anzusehen. Indessen, bei der Menschheit stehen zu bleiben - in ihrem gegenwärtigen Zustande findet Teilung der Arbeit zwischen allen ihren Gliedern statt, soweit als der Welthandel sich erstreckt, - ist sie selber gleich der Gesellschaft oder dem sozialen Körper, welchen doch sonst zuweilen (schon hier) der Autor als »Nation« bezeichnet? Dann wird ja wohl ein höchst Wichtiges übersehen. Die physiologische Teilung der Arbeit wird, wie bekannt, sowohl im

152

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

phylogenetischen als im ontogenetischen Zusammenhange, aus einer ursprünglichen Einheit von Organ und Funktion entwickelt. Und diese Einheit beharrt, auch in den am meisten differenzierten Wesen, sogar als das Substantielle, auf welches sich alle verschiedenen Organe zurückbeziehen, und welches sie ernährt und gleichsam immer neu aus sich erzeugt. In diesem Sinne kann von einer internationalen Teilung der Arbeit, als einer vordem ungeteilten, fürwahr nicht geredet werden. Wenn wir, der Deutlichkeit halber, als ein typisches Verhältnis den Austausch zwischen England und China nehmen, so geht ihrer Zweiheit nicht die Einheit vorher, welche etwa zugleich Tee gebaut und baumwollene Waren fabriziert hätte, wenn auch beides in minder vollkommener Weise, um alsdann alle ihre Kräfte für Tee in China zu versammeln, alle für Baumwollwaren in England - nichts dergleichen; sondern wenn wir auch die gesamten Länder als Subjekte ihres Austausches denken mögen (was noch am günstigsten für die Vorstellung ist), so bleiben sie doch durchaus selbständig gegeneinander und ohne jedes organische Verhältnis zueinander. Sie machen den Tausch aus Einsicht in seinen Nutzen und machen ihn als einen regelmäßigen zu einem dauernden Verhältnisse, welches als eine Einheit und gleich einer Sache begriffen werden kann, deren Teile aber nicht die Länder, sondern ihre einzelnen Akte sind, welche sie wie Bausteine zu diesem Gebäude zusammensetzen. Der einzelne Akt aber, und also das Ganze, ist insofern ihre Einheit, als er die Resultante aus natürlich entgegengesetzten Interessen darstellt. Aber diese Einheit ist nichts an und für sich, sie ist nur durch die Willkür ihrer Subjekte in Gedanken konstruiert als notwendiges Mittel für ihre getrennten Zwecke. Man verstehe wohl. Diese Einheit kann freilich als entfernte Folge der (biologischen) Einheit des Menschengeschlechtes begriffen werden, doch ist sie im höchsten Grade davon verschieden. Ihr vollkommener Ausbau ist, sichtlich genug, das letzte Ende der modernen Verkehrsentfaltung, jene natürliche Einheit ist davon, wie von allem sozialen Leben der Menschen, ihrem Wesen nach unabhängig. Noch sind wir also ungewiß, wiefern wir den Satz, daß eine Gesellschaft ein Organismus ist, für begründet halten sollen. Um es aber zu vermeiden, in eine positive Darstellung überzugehen, wo nur kritische Berichterstattung angemessen ist, so gehe ich zurück, um zu betrachten, wie Sp. seine Ansicht, deren Grundlage nicht hinlänglich befestigt zu sein scheint, auszubauen versucht hat, wo dann Mängel und Schwierigkeiten von selber sich zeigen werden. Einmal auf diesem Boden, 16 machen

ist in A hervorgehoben.

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hat er nämlich mit großem Scharfsinn die Analogien des sozialen und individuellen Leibes in alle Einzelheiten verfolgt. Und wenn man auch nur soviel einräumt, daß in jedem natürlichen Zusammenleben und Zusammenhang eines Volkes, Stammes, Clans oder vereinzelten Familie etwas Organisches vorhanden ist, welches in mannigfacher Weise sich verstärkt und ausbildet, so wird man in der Übersicht, welche der Verf. gibt, von der Entwicklung aus kleinen wandernden Horden zu den größten modernen Gesellschaften, viele Gesichtspunkte richtig und höchst bedeutsam finden. Ich übergehe das Kapitel »Wachstum«, um bei den folgenden zu verweilen. Als erste soziale Differenzierung (Fortschritt von Homogenität zu Heterogenität) erscheint die Bildung eines Herrschertums; bald nachher »häufig« eine andere, welche tendiert eine Teilung zwischen regierenden und arbeitenden Teilen zu gestalten; zuerst nur durch den Gegensatz der Geschlechter vertreten, werde sie erweitert durch Versklavung von Kriegsgefangenen, welche die Arbeiterschaft vermehre. In diesen Richtungen setzt sich nun die Differenzierung auch bei denjenigen Massenzunahmen fort, welche durch Vereinigung mehrerer oder durch Unterwerfung eines Volkes unter das andere entstehen. Ungleichheiten ergeben sich zwischen den regierenden, - Ungleichheiten zwischen den arbeitenden Teilen, - beide schreiten vom Allgemeinen zum Besonderen immer weiter fort. Sogar die inneren Anordnungen animalischer und sozialer Organe sind gleichartig: nämlich Apparate für Zufuhr von Material, für Abführung von Produkten, Ausscheidung des Abfalls, wie für Vermehrung oder Verminderung ihrer Tätigkeit. Entstehung und Wachstum der Organe bestätigt die Analogie. Z. B.: Drei Stadien in der Entwicklung der Leber (von verstreuten einzelnen Zellen durch geschlossene Gruppen von Follikeln zu dem großen Eingeweide mit einem einzigen Ausgange) entsprechen die Typen der Einzelarbeit, der Familienarbeit und der Fabrikarbeit, in ihren Merkmalen und in ihren Übergängen. Als letzte Analogie wird noch geltend gemacht die abgekürzte Wiederholung der generischen durch die individuelle Entwicklung und die Anomalie derselben durch heterochronische (nach Häckels Ausdruck) Vererbung; als soziologisches Beispiel davon die modernen großstädtischen Einrichtungen, wo erst wenige Häuser gebaut sind, im Westen der Vereinigten Staaten, oder eine Eisenbahn daselbst durch die Wildnis. Als charakteristisch für zunehmenden Zusammenhang der Funktionen wird die abnehmende Leichtigkeit der Ergänzung und Stellvertretung in höher entwickelten Organismen dargestellt. Es folgt die 32 Häckels Ausdruck:

Vgl. z. B. Haeckel 1 8 7 4 : 6 3 4 und 7 1 7 .

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Einteilung der Organ-Systeme. Dem Entoderm und Ektoderm im animalischen Embryo kommen die regelmäßigen Rudimente einer Arbeiter- und einer Krieger-Kaste gleich, welche sich je wiederum in eine untere und obere Schicht spalten. Zwischen die beiden schiebt sich - dem Mesoderm entsprechend - ein drittes vermittelndes System, welches die Zirkulation oder Verteilung der Güter besorgt. Alle drei entwickeln sich in derselben Reihenfolge, und stehen in denselben Beziehungen zueinander im individuellen und im sozialen Organismus. Die besondere Betrachtung des Nahrung-Systems ergibt hier wie dort das allgemeine Gesetz der Lokalisierung seiner Abteilungen; und zwar ist diese Entwicklung durchaus verschieden von derjenigen des entgegengesetzten Systemes: die Industrien verteilen und breiten sich aus, unabhängig von den Einteilungen des politischen Systems. Auf den allgemeinsten Ausdruck gebracht ist die Evolution des Verdauungs-Systems folgende: „Der gesamte Kanal wird in Struktur und Funktion den tierischen oder pflanzlichen Stoffen angepaßt, die mit seinem Inneren in Berührung kommen; seine verschiedenen Teile erwerben die Tüchtigkeit, diese Stoffe in aufeinanderfolgenden Stufen ihrer Bereitung zu verarbeiten, d. h. die fremden Substanzen, auf welche die innere Fläche einwirkt, determinieren die allgemeinen und besonderen Eigenschaften dieser inneren Fläche." Und so das industrielle System in einer Gesellschaft: „als ein Ganzes widmet es sich Tätigkeiten und erhält entsprechende Strukturen, welche durch die Gegenstände des Mineral-, Tier- und Pflanzenreichs bestimmt sind, mit denen das arbeitende Volk in Berührung steht, und die industriellen Spezialisierungen in seinen Teilen werden durch organische oder unorganische Unterschiede in den lokalen Produkten bestimmt, mit welchen diese Teile zu schaffen haben". - Die Ausbil-

20 „Der gesamte Kanal ... inneren Fläche.":

„What is the law of evolution in the digestive

system of an animal as most generally stated? That the entire alimentary canal becomes adapted in structure and function to the matters, animal or vegetal, brought in contact with its interior; and, further, that its several parts acquire fitnesses for dealing with these matters at successive stages of their preparation: that is, the foreign substances serving for sustentation, on which its interior operates, determine the general and special characters of that interior." (Spencer 1877a: 5 2 3 , § 2 4 3 ) - I m deutschen Text heißt es abschwächend: „Welches ist der Verlauf der Entwickelung des Verdauungssystems eine Thieres, wenn wir ihn möglichst allgemein ausdrücken wollen? . . . " (Spencer 1887, 6 7 f.). 26 „als ein Ganzes ...zu

schaffen haben":

„And what, stated in terms similarly general, is

the law of evolution of the industrial system in a society? That as a whole it takes on activities and correlative structures, determined by the minerals, animals, and vegetals, with which its working population are in contact; and that industrial specializations in parts of its population, are determined by differences, organic or inorganic, in the local

VI. Herbert Spencers soziologisches Werk

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dung eines Verteilung-Systems bezeichnet die höheren Organismen. Dem regelmäßigen Umlaufe des Blutes in Gefäßen mit festen Wänden entspricht der Personen- und Güterverkehr auf gepflasterten, abgegrenzten, endlich makadamisierten Straßen; den zwiefachen Röhren, welche (bei einem höheren Tier) das Blut von und nach dem Zentrum führen, werden die Doppellinien der Eisenbahnen verglichen. „Wie in dem vollendeten Gefäßsystem die großen Blutgefäße die direktesten sind, die sekundären Äste weniger direkt, die Zweige dieser noch mehr gekrümmt, zuletzt die Kapillargefäße aber die am meisten gewundenen von allen, so sehen wir, daß diese Hauptlinien des Verkehrs in einer Gesellschaft die geradesten sind, Landstraßen weniger gerade, Dorfwege noch abschweifender usf. bis zu den Wagenspuren durch die Felder." So wird diese Analogie noch weitergeführt und auch auf Art und Tempo der Bewegung in diesen Kanälen ausgedehnt: dieselbe sei auf niederen Stufen langsam und unregelmäßig und stelle noch keine Zirkulation dar. Die Welle des Handels in ihrer ersten Form nennt Spencer den Jahrmarkt. Zuletzt zeigt „die soziale Zirkulation einen raschen, regelmäßigen und kräftigen Puls". Das umlaufende Fluidum selber ist auf niederen Stufen beider Organisationen relativ einfach und roh, auf höheren relativ kompliziert und verarbeitet. Auch im individuellen Körper gibt es Wettbewerb; „jedes Organ eignet sich von dem allgemeinen Vorrate an, soviel es vermag, zu seinem Ersätze und Wachstum, wodurch also die für die übrigen disponible Menge vermindert wird." Die Zufuhr von Blut richtet sich nach dem Grade der Tätigkeit, und übermäßige Tätigkeit eines Organs schadet den übrigen. Unterschiede, die products those parts have to deal with." (Spencer 1 8 7 7 a : 5 2 3 , § 2 4 3 ) - Wieder schwächt der deutsche Text ab und spricht vom „Verlauf der Entwickelung im industriellen System einer Gesellschaft . . . " (Spencer 1 8 8 7 : 68). 12 „Wie in dem vollendeten

... durch die Felder.":

„As in the finished vascular system the

great blood-vessels are the most direct, the divergent secondary ones less direct, the branches from these more crooked still, and the capillaries the most tortuous of all; so we see that these chief lines of transit through a society are the straightest, high roads less straight, parish roads more devious, and so on down to cart-tracks through fields." (Spencer 1877a: 5 2 9 , § 2 4 5 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 73). 16 Spencer:

In A: er.

17 „die soziale Zirkulation ... kräftigen Puls": „... how the social circulation progresses from feeble, slow, irregular movements to a rapid, regular, and powerful pulse." (Spencer 1877a: 5 3 2 , § 2 4 6 ) - „... alle diese Übergänge zeigen uns deutlich genug, wie auch der sociale Kreislauf von schwachen, langsamen und unregelmässigen Bewegungen fortschreitet bis zu einem raschen, regelmässigen und mächtigen Pulsschlag." (Spencer 1 8 8 7 : 77). 23 „jedes Organ ... vermindert wird.": „Each organ appropriates from this general stock all it can, for repair and growth. Whatever each takes, diminishes by so much the amount

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sich aus dem wesentlichen Abstände zwischen der Konkretheit des einen und der Diskretheit des anderen Organismus allerdings ergeben, qualifizieren nur die wesentlichen Gleichheiten. - Dieselben hinsichtlich des regulativen Systems, welches wesentlich entwickelt wird zur Tüchtigkeit, auf umgebende Organismen mit Angriff oder Widerstand zu wirken: Nerven und Muskeln in dem einen Falle, Regierung und Heer im anderen. Die Vorteile, welche in bezug auf Beute, Feinde, Konkurrenten durch scharfe Sinne und große Kraft der Bewegung sich ergeben, machen diese Eigenschaften charakteristisch für die höheren Tiere; und ebenso ist der Krieg Ursache der entsprechenden Strukturen in den besser entwickelten politischen Körpern gewesen. Aus kleinen Horden ohne feste Häuptlingschaft werden zuletzt die zentralisierten Gesellschaften, in welchen die Macht des politischen Hauptes dem Grade der militärischen Aktivität korrelat ist. Die Struktur des regulierenden Systems wird immer komplizierter: die zusammengesetzte Einrichtung für Kontrolle im Innern geht hervor aus den verbundenen äußeren Tätigkeiten des Aggregats im Kriege. Der Unterordnung von Ganglien des Rückenmarks unter die des Hauptes entspricht jene der lokalen Zentren unter die Befehle des allgemeinen Zentrums; womit zugleich Umfang und Zusammensetzung des letzteren wächst, aber die älteren Teile relativ automatisch werden (hierfür im sozialen Sinne dient der Verfall des Königtums als Beispiel). Die wachsende gegenseitige Abhängigkeit der Teile macht auch die Mittel notwendig zur Ausbreitung der zentralen Einflüsse, und so zeigt soziale wie individuelle Entwicklung mehr und mehr wirksame internunziale Einrichtungen, welche zur Regulierung dienen. Wichtig ist ferner der Parallelismus, daß sich das System spaltet in ein solches, welches den äußeren, und eins, das den inneren Tätigkeiten vorsteht - , jenes das zerebrospinale, die eigentliche Regierung, dieses das sympathische oder die unabhängige Leitung der industriellen Tätigkeiten durch das Nachrichtenwesen, Märkte, Börsen. Und an diese beiden schließt sich noch ein drittes, wenigstens teilweise unterscheidbar, das vasomotorische; diesem entspricht nämlich im sozialen Leben das System der Banken und anderer Finanzinstitute, welche Kapital ausleihen. „Wie die Eingeweide ihr Blut nur erhalten durch Erlaubnis der Nerven, die den Arterien vorstehen, so kann auch die Industrie nicht von selber hierhin und dorthin ziehen, sondern nur auf indirekte Weise durch den Druck, welchen sie ausübt auf das Zentrum des Geld-

available for the rest." (Spencer 1877a: 535, § 2 4 7 ; dt.: Spencer 1 8 8 7 : 8 0 ) - D i e Abführungszeichen sind ergänzt, sie fehlen im Original.

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marktes." Also entspricht diese Dreifachheit der Herrschaft der Dreifachheit des Organismus selber. - Nach diesen Prämissen werden wir uns nicht wundern, daß unser Autor den Grad der Zusammensetzung und einheitlichen Regierung als Maßstab annimmt für die Klassifikation der Gesellschaften, ich würde lieber sagen, der Kulturen, nach der Höhe ihrer Organisation. Er unterscheidet einfache, zusammengesetzte, zwiefach und dreifach zusammengesetzte Gesellschaften, und in jeder Gruppe wieder Festigkeit und Dauer der Häuptlingschaft. Auf der niedrigsten Stufe als einfache Gesellschaften ohne Haupt stehen u. a. die Veddah auf Ceylon, Buschmänner, Eskimo. Auf der höchsten werden gezählt: das alte Mexiko, das assyrische und das ägyptische Reich, das römische Reich, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Rußland. Es ist bezeichnend für diese Einteilung, daß in ihr die reinen städtischen Kulturen, welche durch eine schweigende und feierliche Übereinstimmung der historisch Denkenden als die bedeutendsten und schönsten Formen des menschlichen Zusammenlebens in unserer Erinnerung dastehen, wie ihre Kunstwerke als die Meisterstücke des schaffenden Menschengeistes, - daß in ihr Athen und Korinth, Florenz und Nürnberg (um nur die Typen zu nennen) keinen Platz finden. Aber wir begegnen im § 258 einer neuen Klassifikation, die auf den Ungleichheiten zwischen den Arten vorherrschender sozialer Aktivität und daraus hervorgehenden Ungleichheiten der Organisation basiert sein soll. „Die beiden sozialen Typen, welche solchergestalt ihrem Wesen nach kontrastiert werden, sind der kriegerische und der industrielle Typus." Welcher Gegensatz, aus früherer Erörterung uns bekannt, hier auf den möglichst scharfen Ausdruck gebracht wird. Beide Systeme fehlen, wie wir wissen, nur in rudimentären Formen, aber sie variieren im höchsten

i „Wie die Eingeweide

... Zentrum

des Geldmarktes.":

„The viscera get blood only by

permission of these nerves commanding their arteries ...; and similarly the industrial system, with that centralized apparatus which balances its actions, cannot of itself draft capital here or there, but does this indirectly only through the impressions yielded by it to Lombard-street." (Spencer 1877a: 5 6 7 , § 2 5 4 ) - „Die Eingeweide erhalten ihr Blut nur mit Erlaubniss jener Nervencentren, welche ihre Arterien befehligen,... ebenso vermag das industrielle System mit dem centralisirten Apparat, der seine Thätigkeiten ins Gleichgewicht zu setzen hat, von sich aus keinerlei Capitalien hier- oder dorthin zu ziehen, sondern dies geschieht nur mittelbar durch die Eindrücke, welches es seinerseits nach LombardStreet [die Strasse in London, wo die grössten Bankhäuser sich befinden, Anmerkung des Übersetzers] übermittelt." (ebd.: 118, § 254). 24 „Die beiden ... Typus."-. A hat stattdessen: „... und der industrielle". - „The two social types thus essentially contrasted are the militant and the industrial." (Spencer 1 8 7 7 a : 5 7 6 , § 2 5 8 ; dt.: Spencer 1887: 128).

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Maße hinsichtlich der Verhältnisse, worin sie zueinander stehen. In dem einen Typus besteht ein vollkommener Parallelismus der militärischen Organisation und der sozialen Organisation überhaupt. Habitueller Krieg despotische Herrschaft, zuerst im Kriege, sodann im Frieden; genaue Abstufungen der Klassen und Ränge von Adlichen bis herab zu Sklaven, kriegerischer Charakter auch der Religion; Verpflichtung zu Haß und Rache; Götter des Kampfes und der Zerstörung; absolutes Regiment auch im Kirchenwesen; häufig politisches und religiöses Haupt identisch. Die gleiche Form der Regierung erstreckt sich nun auch auf die Organisation der Arbeit. So wird die Lebensweise überhaupt strenger Regulierung, gleichförmiger Disziplin unterworfen. Auch Theorie und Empfindungsweise setzt sich innerhalb dieses Typus mit demselben in Übereinstimmung. Das ganze System bedeutet ein erzwungenes Zusammenwirken (compulsory coopération). „Die Züge des industriellen Typus müssen aus inadäquaten und verworrenen Daten generalisiert werden. ... Unser Begriff davon muß den Zuständen entnommen werden, die wir in den wenigen einfachen Gesellschaften finden, welche gewohnheitmäßig friedlich gewesen sind, und in den fortgeschrittenen zusammengesetzten Gesellschaften, welche, obwohl vormals kriegerischen Gewohnheiten unterworfen, es allmählich weniger geworden sind." Unter den letzteren wird nun auch Athen angeführt als durch Industrie und demokratische Institutionen vor allen übrigen griechischen Gemeinwesen ausgezeichnet (wo der historische Irrtum auf der Hand liegt). Dann werden auch die Hansastädte, die niederländischen Städte, „aus welchen die holländische Republik entstand", in diesem Sinne gerühmt (wie wir der Meinung des Autors gemäß sagen dürfen), endlich aber (als in hohem Grade durch gleichen Charakter bedeutend), England, die Vereinigten Staaten, die englischen Kolonien. In alle Bereiche wird nun gleich dem anderen Typus, die Veränderung der Struktur, welche dieser bedinge, verfolgt: Kirchenregiment, Arbeitsordnung selber, Lebensordnung überhaupt, das Verhältnis zwischen Staat und Bürger, die herrschende Denkungsart und Gefühlsweise. Auf das

20 „Die Züge ... geworden

sind.": „The traits of the industrial type have to be generalized

from inadequate and entangled data. ... Such conception as may be formed of it has to be formed from what we find in the few simple societies that have been habitually peaceful, and in the advanced compound societies which, though once habitually militant, have become gradually less so." (Spencer 1877a: 5 8 4 , § 260; dt.: Spencer 1887: 137). 25 „aus welchen ... entstand":

„ . . . i s s h o w n us by the Hanse Towns, by the towns of the L o w

Countries out of which the Dutch Republic arose ..." (Spencer 1877a: 5 8 7 , § 2 6 0 ) - „... aus denen die holländische Republik hervorwuchs ..." (Spencer 1887: 140).

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Verhältnis des freien Tausches wird alles zurückgeführt. Durch freiwilliges Zusammenwirken werden die mannigfachen Tätigkeiten der Gesellschaft vollzogen. Nicht nur das System der Ernährung, sondern das der Regulierung selber wird dezentralisiert. - Antezedentien und gleichzeitige Umstände verdunkeln notwendigerweise die wesentlichen Züge der beiden Typen. Hier geht Sp. den mancherlei Komplikationen nach, und besonders den Wirkungen der Rassemischung, mit dem Schlüsse, daß die hybriden Formen, ihrem Wesen nach unstabil, nur nach dem Prinzip des erzwungenen Zusammenwirkens sich organisieren lassen; während die Ähnlichkeit der Einheiten, besonders wenn durch geringe Differenzen abgeschwächt, unter geeigneten Bedingungen zum industriellen Typus sich entwickeln könne. - Das vorletzte Kapitel erörtert die »Verwandlungen«, d. h. Fortschritte zum industriellen und insonderheit Rückfälle in den kriegerischen Typus, welche der Verf. mit großem Mißfallen in seinem Lande als Ausdehnung der Zentralgewalt und Erneuerung des Zwanges in Hinsicht auf Industrie, Lebensweise, Erziehung usf. wahrzunehmen glaubt. An vielen anderen Stellen dieses Werkes, und wie manchen Lesern bekannt sein dürfte, in einer besonderen Schrift „the man versus the State" ist Sp. mit Leidenschaft für unbedingte Freiheit und Handelsfreiheit gegen die auch in England zunehmenden Tendenzen des sog. Staatssozialismus aufgetreten, oder wie er nicht selten sich ausdrückt, für das Prinzip des Kontrakts wider das Prinzip des Status, für Naturrecht wider positives Recht. Und es liegt zu befürchten nahe, daß diese leidenschaftliche Vorliebe sein Urteil über die wirklichen Zusammenhänge eher getrübt als erhellt habe; wie er denn selber (besonders in dem gedankenreichen Buche Study of Sociology, welches von Marquardsen übersetzt, der Brockhausschen Internat. Bibl. angehört) nicht genug hat warnen können vor den verschiedenen Arten des bias (religiöser, politischer, patriotischer Parteilichkeit) im soziologischen Denken. M a n könnte wohl sagen, daß er von dem patriotischen Vorurteile nicht frei geblieben, dem free-trade-bias unterlegen sei. - Indessen ist es bemerkenswürdig, daß der Autor in diesem Zusammenhange doch nicht auf die Vollendung, sondern auf die Überwindung des industriellen Typus als auf sein Zukunftsideal die Augen richtet. Möglicherweise sagt er (§ 2 6 3 ) - wird ein sozialer Typus erscheinen, „welcher ebensosehr von dem industriellen wie dieser von dem kriegerischen abweicht; ein 12 vorletzte Kapitel:

D. i. „Sociale Metamorphosen" (ebd.: 1 5 2 ff., §§ 2 6 4 - 2 6 7 ) .

18 „the man versus the State"-. Vgl. Spencer 1 8 8 4 . 25 Study of Sociology:

Vgl. Spencer 1 8 7 4 .

26 welches von Marquardsen

übersetzt:

Vgl. Spencer 1 8 7 5 a .

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Typus, welcher, im Besitze eines Ernährungssystems, voller entwickelt als irgendeins, wie wir jetzt es kennen, die Produkte der Industrie weder zur Behauptung einer Kampfesorganisation, noch ausschließlich für materielle Vergrößerung gebrauchen, sondern sie der Förderung höherer Tätigkeiten widmen wird. Wie der Gegensatz zwischen den beiden gegenwärtigen Typen angezeigt wird durch Umkehrung des Glaubens, daß der Mensch zum Besten des Staates da sei, in den Glauben, daß der Staat zum Besten des Menschen da ist; also wird der Gegensatz zwischen dem industriellen und dem Typus, welcher daraus sich zu entwickeln wahrscheinlich ist, bezeichnet durch die Umkehrung des Glaubens, das Leben sei für die Arbeit, in den Glauben, die Arbeit sei bestimmt für das Leben". Hierauf deute im Gegenwärtigen die Vermehrung der Anstalten für intellektuelle und ästhetische Kultur (welche jedoch, sofern sie vom Staate ausgehen, des Autors heftige Mißbilligung erfahren). Übrigens tritt nur an dieser Stelle, soviel ich sehe, die Idee jenes dritten Typus auf, der an die Prophezeiungen des wissenschaftlichen Sozialismus erinnert. Wo auf breiter Grundlage die Kontraste der beiden anderen Typen in den Political Institutions dargestellt werden, da richten sich auch Erwartungen und Wünsche des Zukünftigen nur auf die Vollendung des industriellen Typus, auf den Fortschritt des Contract-Régimes und der Unterordnung des Staates unter die Gesellschaft. Insoweit als Spencers Ansicht in sich konsistent ist, so hält sie die historische Entwicklung im allgemeinen durch die Ausbildung großer Staaten, diese durch die Überlegenheit solcher massenhafter Zentralisationen in der Kriegführung bedingt. Aber den moralischen Fortschritt erblickt sie in der Auflösung dieser Gebilde, in der zunehmenden Überflüssigkeit des Staates und alles Zwanges, der von ihm ausgeht. Derselbe wird daher zwar in einigem Maße durch die gesamte europäische Veränderung etwa seit 1500, insbesondere aber durch die gesellschaftlichen Verfassungen Eng11 „welcher ebensosehr ... das Leben": „Were this the fit place, some pages might be added respecting a possible future social type, differing as much from the industrial as this does from the militant - a type which, having a sustaining system more fully developed than any we know at present, will use the products of industry neither for maintaining a militant organization nor exclusively for material aggrandizement; but will devote them to the carrying on of higher activities. As the contrast between the militant and the industrial types, is indicated by inverting the belief that individuals exist for the benefit of the State into the belief that the State exists for the benefit of individuals; so the contrast between the industrial type and the type likely to be evolved from it, is indicated by the inversion of the belief that life is for work into the belief that work is for life." (Spencer 1877a: 595 f., § 263; dt.: Spencer 1887: 150 f., § 263).

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lands und Nordamerikas dargestellt. Freilich, mit Amerika zu operieren, hütet er sich: wohl wissend, daß dessen Schicksale, in sehr viel geringerem Grade durch Vergangenheit bestimmt, nicht im Zusammenhange einer sozialen Entwicklung betrachtet werden können, und wenn auch in vielen Stücken nach denselben Richtungen wie jene der alten Länder fortgehend, in anderen die Bedingungen für ganz neue Anfänge enthalten, deren Lebensfähigkeit, Wachstum, und ob sie dieselben Zyklen wie die historischen Völker durchmachen werden, der kühnste Prophet nicht zu erraten wagen wird. In Hinsicht auf den eigentlichen Schauplatz der modernen Geschichte - die wir im Vergleiche mit der antiken so nennen - ist Spencer in großen Irrtümern befangen. Den gemeinsamen Grundzug in dem bisherigen Gange dieses einheitlichen Prozesses hat er nicht mit Klarheit erkannt. Den tiefen Zusammenhang, in welchem die Anfänge desselben mit dem abgeschlossenen Zyklus der antiken Kultur an allen Punkten sich berühren, hat er nicht als eines der bedeutendsten sozialen Phänomene, welche unserer Erfahrung vorliegen, aufgefaßt. Das alte heidnische Weltreich und das neue heilige römische Reich germanischen Volkstums würde er nebeneinander unter dieselbe Kategorie von großen Gesellschaftsstaaten des militärischen Typus stellen, ohne die große Metamorphose (für den Theoretiker der sozialen Evolution so merkwürdig wie die Verpuppung eines Insektes für den Zoologen) der Erwähnung wert zu halten. Und doch wird Sp. auf das Entschiedenste anerkennen, daß ein jedes Wesen nicht aus seinem Sein, sondern aus seiner Bewegung beurteilt werden muß. Die Bewegung des römischen Reiches ist die Vereinigung alles Besonderen, die Aufhebung aller Unterschiede. Die Bewegung des heiligen römischen Reiches ist die Ausbildung neuer Besonderungen, so daß bald die größten Abteilungen als eigentümliche Reiche selbständig sich ablösen, wenn auch in der Idee noch festgehalten und in Wirklichkeit von der anderen, der psychischen Gestalt des großen Organismus umfangen bleibend, nämlich der Kirche. Bis zu einer gewissen Höhe, für welche man als Grenzstein das Jahr 1500 setzen kann, überwiegt auch innerhalb dieser Abteilungen jene Tendenz der soziologischen Individualisierung und Selbstorganisierung, welche man mit der Spencerschen allgemeinen Formel der Entwicklung (s. First Principles) als progressive Integration von Materie und gleichzeitige Dissipation (Zerstreuung, Verlust) von Bewegung richtig charakterisieren 35 Dissipation ... von Bewegung: „But we cannot be said to have arrived at the unified knowledge constituting Philosophy, until we have seen how existences of all Orders do exhibit a progressive integration of Matter and concomitant loss of Motion." (Spencer 1880: 307, § 107).

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kann: nur daß die Begriffe von Materie und Bewegung selber in einem besonderen soziologischen Sinne verstanden sein wollen. Von nun an aber schlägt der Prozeß dieser Entwicklung um, indem mehr und mehr innerhalb dieser Nationen, und sogar über sie hinaus, wiederum die Macht des in bezug auf alle jene spezialisierten Gemeinwesen und Korporationen Allgemeinen in verschiedenen Gestalten zur überwiegenden wird, welche Gestalten zum Teil als allmähliche Rückverwandlungen jenes ursprünglichen Allgemeinen erscheinen, in Wahrheit aber ihrer stärksten Tendenz nach durchaus neue Formen sind, welche ein neues Gemeinsames mächtiger zusammenstrebender Individualwillen sich schafft. Dieses setzt sich, und wird gesetzt, als absolut, und macht alles Bestehende von sich abhängig, in seine Einheiten es zerteilend, und in einer künstlichen willkürlichen Ordnung das Ganze wieder zusammensetzend (typisch hierfür die Departementsbildung der Revolution). Die Differenzierung, welche voranging, hat als ihre letzten und vollkommensten Produkte die freien städtischen Gemeinwesen hinterlassen, welche in sich wieder mannigfach gegliedert, zahlreich und als die eigentlichen Kulturträger bis zu jenem Höhepunkte ihre Individualität kräftigst entwickelt haben. Die Auflösung dieser Individualitäten teils von innen durch ihre Übererweiterungen und die zentrifugalen Bestrebungen mächtiger Teile, teils von oben durch ihre eigenen vereinten Kräfte und durch fremde, diesen gleichartig wirkende, macht den tiefsten Gehalt der folgenden Jahrhunderte aus. Der ganze Prozeß fährt aber fort ihre Entwicklung und ihr Leben zu sein, wie aller übrigen vor oder nach ihnen hervorgetretenen sozialen Organismen. Und ihr Verfall selber, als das Wesen dieses verallgemeinernden Prozesses, beginnt und schreitet vor, nicht wie ein Wunder, oder als ein Irrtum ihres Lebens, sondern als dessen durchaus natürliche und als notwendig leicht erkennbare Folge, in Gestalt des fortwährend zunehmenden inneren Austausches, Handels und Verkehrs, welcher eine andere Art der sozialen Bewegung ist, die organischen Teile erfassend und bis in die intimsten Gewebe ihre Zusammenhänge lösend. So daß hier die (Spencersche) Formel der umgekehrten Evolution oder der Dissolution in Anwendung kommt, als welche darstellt Absorption von Bewegung und gleichzeitige Disintegration von Materie. Wie nun die aus der allgemeinen Vermischung sich bildenden Massenaggregate teils sich selber durch zusammentreffende Interessen ins Gleichgewicht setzen, teils durch einen resultierenden Gesamtwillen darin erhalten und sogar hineingezwungen werden, das wird mehr und mehr eine auch in bewußte Überlegung übergehende Kette von Problemen, welche durch ungeheuere Ereignisse sich Erleichterungen,

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wenn auch nicht Lösungen verschaffen, und wiederum durch Steigerung wie durch Verwicklung immer schwierigere Formen annehmen. Die gemeinsamen und entgegengesetzten Handelsinteressen der Staaten erregen große Kriege; bald wird um das größere Bereich der Ausbeutung überseeischer Kolonien, bald um die Führung im europäischen Staatensystem gestritten. Hier ergibt sich nun allerdings ein großer Unterschied, je nachdem tiefer oder flacher die militärische Regulierung und Disziplin in den Körper der Gesellschaft eindringt. Und hierauf hauptsächlich trifft die Begriffsbildung Spencers, durch welche Großbritannien so glänzend gegen Frankreich und alle kontinentalen Staaten sich abhebt. Aber die ganze Unterscheidung ist von sekundärer Bedeutsamkeit, in diesem Sinne, welchen Sp. fast verwirrt mit dem anderen, in welchem man die voragrikole Menschheit gegen die agrikole und arbeitende allerdings kontrastieren kann. Die Anomalien seiner Phänomene ersticken das ausgeklügelte soziologisch-historische Theorem. - Dies Urteil im einzelnen zu begründen, würde eine Kritik der großen »Synthese« oder deduktiven Erklärung ergeben, von welcher vorliegender Übersetzungsband den ersten Abschnitt noch mitenthält. In der Meinung, daß derselbe in seinem Zusammenhange mit den folgenden besser sich betrachten lasse, verzichte ich darauf, die gegenwärtige Erörterung soweit auszudehnen. Mit hoher Schätzung der besonderen Verdienste, welche auch diese Kapitel auszeichnen, will ich nur bemerken, daß man eine Entwicklungsgeschichte des Familien rechtes hier nicht erwarten darf; daß der Übergang vom matriarchalischen zum patriarchalischen Clan, welcher vielleicht den Wendepunkt von der Vorgeschichte zur Geschichte des Menschengeschlechtes bezeichnet, keineswegs in das ihm zukommende Licht gestellt wird, ja durch die mechanische Anwendung jener Typenkategorien verdunkelt wird; daß in bezug auf die Formen der Ehe jener merkwürdige Fortschritt von Kommunismus zu Individualismus nicht in seinen ausgeprägten Zügen hervortritt, welche zuerst der Amerikaner Morgan durch eine wahrhaft embryologische Forschung festzustellen versucht hat (aus dessen höchst bedeutendem Buche einen guten kommentierenden Auszug hergestellt zu haben, eines der Verdienste von Friedrich Engels ist: der Ursprung der Familie usw., Stuttgart, Dietz, 2. A.). Vollends wird man über die eigentlich modernen und liberalen oder sozialistischen Tendenzen des Eherechts und der sexuellen Beziehungen überhaupt nicht aufgeklärt werden, obgleich selbst dieser

30 der Amerikaner

Morgan: Vgl. Morgan 1 8 7 7 .

33 Verdienste von Friedrich Engels: Vgl. Engels 1886.

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entschiedene Parteigänger aller individualistischen Richtungen vor der zunehmenden „Disintegration der Familie" erschrickt, sowohl da, wo er, wie in Amerika, die Freiheit von Weibern und Kindern für zu weitgehend hält, als auch, wo er an die Stelle der Eltern Gesellschaft und Staat treten sieht, wie in nicht ganz geringem Umfange auch in England wahrnehmbar ist. Die sachliche Erörterung lieber abbrechend, will ich zum Schlüsse die sprachliche Seite des Übersetzungswerkes, wie sie in dem neuesten Bande erscheint, mit einigen Worten berühren. Wenn Sp. auch nicht zu den schwer übersetzbaren englischen Autoren gehört, so ist doch die Unternehmung eine große und großer Anerkennung würdige, wenn sie als gelungen sich erweist: was (wie ich glaube) in bezug auf die früheren Bände geschehen ist, und für den gegebenen Fall ich bestätigen kann, soweit ich geprüft habe, ohne die mühevolle Arbeit genauer Vergleichung. Jedoch verhehle ich nicht, daß im ganzen (was aber beinahe für alle, wenigstens neueren Übersetzungen aus dem Englischen gilt) eine freiere und feinere Umgestaltung erfordert sein würde, um die Gedanken eines so durch und durch engländischen Schriftstellers dem deutschen Leser mundgerecht, man möchte sagen, ohrgefällig zu machen. Eine unerwünschte Verdeutschung technischen Fremdwortes ist schon angemerkt worden; dagegen möchte ich den Titel selber deutscher machen. Das Wort »Prinzipien« ist uns nicht gewohnt in diesem Sinne; wir sagen wohl: die Grundzüge einer Wissenschaft, wohl auch Grundriß oder Umriß, und wir würden selbst lieber hören: die Grundsätze der Soziologie. Ebenso klingt uns seltsam: häusliche Einrichtungen; der Sinn würde ganz und gar etwa durch »Familienwesen« gedeckt werden; wobei aber der Artikel nicht fehlen dürfte. Solcher Fälle gibt es nicht wenige. Aber wichtiger scheint mir, einige auffallende Ungenauigkeiten und Fehler der Übersetzung zu rügen. Ich beginne im letzten Kapitel des Bandes (§ 336 ff.). Hier geht der Verf. auf die eigentliche Übereinstimmung der Tatsachen der Familiengeschichte mit den allgemeinen Gesetzen der Entwicklung über. Den ersten Satz des dritten AI. daselbst würde ich übertragen: „Die Entwicklung der menschlichen Familie zeigt ferner, in zunehmendem Maße, diejenigen Merkmale . . . . " Wir lesen dafür: „Außerdem bietet uns die sich entwickelnde menschliche Familie in ihren mannigfaltigen Abstufungen auch alle jene Züge dar. . . . " Der Text hat: „Again, the developing human family fulfils, in increasing degrees, 2 „Disintegration der Familie": Vgl. Spencer 1887: 313, § 320. 35 „Außerdem bietet ... auch all jene Züge dar ...": Vgl. Spencer 1887: 364, § 336.

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those traits. . . . " Sodann der folgende Satz: „Maintenance of species being the end to which maintenance of individual lives is necessarily subordinated, we find, as we ascend in the scale of beings, a diminishing sacrifice of individual lives in the achievement of this end;" bei Hrn. Vetter: „Da die Erhaltung der Art der Hauptzweck ist ... so finden wir denn auch, je weiter wir in der Stufenleiter der Wesen emporsteigen . . . " Dies ist falsch. Der Vordersatz ist eher adversativ als kausal, aber doch nur in schwachem Maße. Wenn wir den Sinn ein wenig verstärken wollen, so werden wir übersetzen: „Erhaltung der Art ist zwar ... aber je weiter . . . " Noch ist mir aufgestoßen (§ 269, S. 170 d. Übers.): „In einer späteren Zeit, als die Naturforscher bereits bis zu einem gewissen Umfange die Prinzipien der Organisation enthüllt und zugleich erkannt hatten, daß die sozialen Einrichtungen nicht künstlich gemacht, sondern natürlich entwickelt sind, hat A. Comte diese Irrtümer vermieden. " Die wörtliche und richtige Wiedergabe müßte lauten: „Comte, der zu einer späteren Zeit lebte, als die Biologen schon in einigem Maße die allgemeinen Prinzipien der Organisation enthüllt hatten, und der die sozialen Strukturen als nicht künstlich gemacht, sondern allmählich entwickelt erkannte, vermied diese Irrtümer." Diese Beispiele machen es wahrscheinlich, daß noch hie und da ein ähnliches Versehen entdeckt werden kann. Jedoch will ich ausdrücklich bemerken, daß ich viele Kapitel der Übersetzung durchgelesen habe, ohne daß dieser Argwohn eine Bestätigung erfuhr. Deutsche Leser, welche des Englischen nicht hinlänglich mächtig sind, dürfen im großen und ganzen diesem Texte vertrauen.

i „Again, ... those traits ...": Vgl. Spencer 1877a: 7 8 1 , § 3 3 6 . 6 „Da die Erhaltung

der Art ... Stufenleiter der Wesen hochsteigen":

Vgl. Spencer 1 8 8 7 :

3 6 4 , § 336. 19 „Comte ... vermied diese Irrtümer.":

„Living at a later time, when biologists had revealed

to a considerable extent the principles of organizations in general, and recognizing social structures as not artificially created but gradually developed, M. Comte avoided theses errors . . . " (Spencer 1877a: 6 1 2 , § 269).

VII. Historismus und Rationalismus

2 Historismus und Rationalismus: Der Text wurde zuerst unter dem Titel „Historismus und Rationalismus (Erster Artikel)" im Archiv für systematische Philosophie (1. 1895, S. 2 2 7 252) veröffentlicht (im Folgenden: A). Der im Titel angekündigte Fortsetzungsartikel zum Thema ist nie erschienen. Zur Einordnung dieses Artikels in das theoretische Gesamtwerk Tönnies' siehe Jacoby 1971: 55 f.

Im Gebiete der Rechtslehre hat seit Anfang dieses Jahrhunderts die historische Auffassung die rationale verdrängt; hauptsächlich in Deutschland ist dies geschehen, unter dem Proteste gegen ein „Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch", wonach damals das neue und befreite nationale Bewußtsein verlangte. Der Gedankengang, den Savigny geltend machte, als er seinem Zeitalter den Beruf für Gesetzgebung absprach, war ein seltsam inkonsequenter. Er vertrat, im Sinne Schellingschcr Naturphilosophie, die Auffassung, das Recht sei durch einen „organischen Zusammenhang" mit dem Wesen und Charakter eines Volkes verbunden, und auch hierin sei es der Sprache zu vergleichen, mit der es wie mit der Sitte und der Verfassung durch die gemeinsame Überzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Notwendigkeit, zu einem Ganzen verknüpft werde. Von diesem Gedanken aus hätte Savigny für die reine Darstellung deutschen Rechtes, für seine Erneuerung und Fortbildung im einheimischen Geiste, streiten müssen. Da aber die Kenntnis des römischen Rechtes seine Domäne war und er dessen Studium zu vertiefen für die wichtigste Aufgabe des praktischen Juristen hielt, so wies er die „bitteren Klagen über dies fremde Element unseres Rechtes" zurück; den neueren Völkern scheine, wie ihre Religion nicht ihr Eigentum sei, wie ihre Literatur ebensowenig frei von den mächtigsten äußeren Einflüssen, auch ein fremdes und gemeinsames bürgerliches Recht „nicht unnatürlich". Savigny bejahte also die Rezeption, und gewahrte i dieses Jahrhunderts:

Gemeint ist das 19. Jh.

6 Beruf für Gesetzgebung:

Die Formulierung spielt auf den Buchtitel „Vom Beruf unsrer

Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (Savigny 1 8 1 4 ) an. 8 „organischen

Zusammenhang":

Vgl. ebd.: 11.

12 zu einem Ganzen verknüpft werde: „ W o wir zuerst urkundliche Geschichte finden, hat das bürgerliche Recht schon einen bestimmten Charakter, dem Volk eigenthümlich, so wie seine Sprache, Sitte, Verfassung. ... Was sie zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Ueberzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Nothwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entstehung ausschließt." (ebd.: 8). 18 „bitteren Klagen über dies fremde

Element

unseres Rechtes":

„Aber eben über dieses

fremde Element unsers Rechts sind auch schon längst bittere Klagen erhoben worden. Das Römische Recht soll uns unsre Nationalität entzogen haben . . . " (ebd.: 37). 21 „nicht unnatürlich":

„Auch liegt überhaupt eine abgeschlossene nationale Entwicklung,

wie die der Alten, nicht auf dem Wege, welchen die Natur den neueren Völkern angewiesen hat; wie ihre Religion nicht Eigenthum der Völker ist, ihre Literatur eben so wenig frey von den mächtigsten äußeren Einflüssen, so scheint ihnen auch ein fremdes und gemeinsames bürgerliches Recht nicht unnatürlich." (ebd.: 3 7 f.).

170

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nicht, daß sie durchaus in derselben Richtung lag, wie die Tendenz des von ihm verachteten Naturrechts, nämlich in rationalistischer und nicht in historischer Richtung; daß ein fremdes Recht so wenig wie eine fremde Sprache mit dem Wesen und Charakter eines Volkes organisch zusammenhängen kann. Die Nachfolger Savignys tun das Werk, das er (am liebsten für immer) verwehren wollte; sie machen - für das heutige Deutsche Reich ein bürgerliches Gesetzbuch, gegen dessen Entwurf jene bitteren Klagen von neuem laut werden als über ein durch und durch »römisch« gedachtes Werk, das begreiflicherweise gebilligt werde durch die „alte und unausrottbare naturrechtliche Denkweise, welche stets die große Masse der »Gebildeten« beherrschen wird und auch in den Köpfen unserer Juristen immer wieder die mühsam angequälten geschichtlichen Allüren durchbricht" (Gierke in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung usw., XIII, S. 929). Das Naturrecht, das als naturalis ratio in der Entwicklung des römischen Rechtes selber eine gleiche Wirkung gehabt hatte, wie das so zum Weltrecht gewordene römische in der Entwicklung des deutschen Rechtes übte - wobei dem neuen Naturrecht außer für Umwälzung der öffentlichrechtlichen Begriffe nicht viel zu tun übrig blieb - erhebt den Anspruch, ein Privatrecht darzustellen, das nicht bloß auf die gegenseitigen Verhältnisse und Geschäfte zufällig in einem Staatsgebiete zusammenwohnender, sondern zivilisierter Menschen schlechthin anwendbar sei. In der Tat wird schwerlich ein Institut oder ein Satz in dem neuen Entwürfe gefunden werden, der als für »Deutsche« tauglich, aber dem Volksgeiste der Österreicher, Italiener, Franzosen, Engländer zuwider sich behaupten ließe. Gewohnheiten sind dort wie hier entgegen, aber wenige Gewohnheiten sind - im Sinne moderner Nationen - von nationaler Art, am meisten wohl die der angelsächsischen Rasse, die sich einige Grundsätze altgermanisch-gemeinen Rechtes bisher zu erhalten gewußt hat; aber auch hier die meisten territorial und lokal differenziert. Es ist daher kein Wunder, daß sich, wie Gierke bemerkt (a. a. O.) bei uns heute vielfach »national« nennt, was im Grunde »kosmopolitisch« ist. Denn die heutigen nationalen Tendenzen sind insgesamt nur vorläufige Begrenzungen der internationalen Ideen, die der »Weltverkehr« hervorruft. Auch ist die Ausbildung eines »internationalen Privatrechts« in fortschreitendem Gange, durch das praktische Bedürfnis dringlich geboten.

13 Gierke-. Vgl. Gierke 1889. 15 naturalis ratio-, [lat.] svw. natürliche Vernunft. 30 wie Gierke bemerkt: Vgl. Gierke 1889: 929 f.

VII. Historismus und Rationalismus

171

Das römische Recht gilt noch heute1 in deutschen Landesteilen als gemeines Recht. Es wird subsidiarisch angewandt, wo immer ein partikulares Landes- oder Ortsrecht versagt. Es wird also fingiert, daß jenes als das Allgemeine zugrunde liege und sich je nach den Bedürfnissen mannigfach entwickelt habe. Das besondere gilt also als das höhere Recht. Hingegen wenn durch Gesetzgebung ein neues allgemeines Recht geschaffen wird, so ist dies das höchste, und der Grundsatz steht: Reichsrecht bricht Landesrecht, das allgemeine bricht das besondere. Nur durch ausdrückliche Bestimmung kann hier besonderen Rechtssätzen noch eine Geltung belassen werden. In Wahrheit hat aber das gemeine Recht immer brechend gewirkt: darum weil es das Recht war, das die Juristen, als Advokaten und als Richter, als das wahre und richtige geltend machten, als die ratio scripta, wie man das römische Recht wohl genannt hat. Savigny erkannte nicht einmal, daß die Juristen, von welchen, nach ihm, bei steigender Kultur das Volk in der Funktion der Rechtsbildung »repräsentiert« wird, eben durch Anwendung römischen Rechtes in demselben Sinne revolutionär und gleichmachend tätig gewesen sind, wie er es von einer Gesetzgebung des bürgerlichen Rechtes befürchtete. Die Richtung, welche Savigny nicht wie sein Vorgänger Hugo skeptisch betrachtete und nicht zu hemmen gedachte, lag und liegt noch in der Entfesselung des Privatrechtes, des willkürlichen Eigentums, der vollkommenen Freiheit aller Kontrakte. Ob die Fortbildung des Gewohnheitsrechtes in diesem Sinn durch wissenschaftliche Behandlung, Auslegung, Umdeutung, oder durch gesetzgeberische Aufhebung und Verallgemeinerung geschieht, ist eine Frage von untergeordneter Bedeutung. Und wie es denkbar ist, daß die Vernunft des Juristen, unter anderen Umständen, in anderem Sinne wirksam würde, so kann auch die Vernunft des Gesetzgebers dahin tätig sein, jene gesamte Entwicklung wieder aufzuheben. Auch in der politischen Ökonomie hat sich längst eine »historische« Richtung gegen die rationalistische erhoben; und zwar anfänglich mit dem Anspruch, dasselbe in ihrem Felde zu leisten, was die historische Rechtswissenschaft geleistet habe. Die Analogie ist aber sehr unzulänglich. Zu einer deutlichen Formulierung des Gemeinsamen ist man niemals gelangt; und 1

1895.

13 ratio scripta: [lat.] svw. geschriebene Vernunft. 35 1895: Die Fußnote fehlt in A. - Erst am 1. 1. 1900 trat das BGB in Kraft.

172

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

die historische Nationalökonomie ist noch früher an sich irre geworden ihr hervorragendster lebender Vertreter bezeichnet die Schilderungen der Wirtschaftsgeschichte nur noch als „Bausteine zu einer nationalökonomischen Theorie" und statuiert, daß die allgemeine Nationalökonomie von heute „philosophisch-soziologischen Charakters" sei (G. Schmoller, Art. Volkswirtschaft im Handwörterbuch der Staatswissenschaften) - als die historische Jurisprudenz. Beide haben hin und wieder versucht, die von ihnen bekämpften Theorien als »mechanische« Ansicht durch eine »organische Auffassung« des sozialen Lebens zu ersetzen; aber „die philosophische Durcharbeitung dieses Gedankens (der historisch-organischen Rechtsidee) blieb bis heute eine unvollkommene" (Gierke, Althusius, S. 317), und „die Begründung dieser Anschauung - den Staat, die Volkswirtschaft als Organismus zu betrachten - hat bisher noch keine allgemeinere Anerkennung zu erringen vermocht" (f. Scheel in Schönberg, Handbuch der Pol. Ök. I, S. 104). Wenn nun die historischen Doktrinen nichts weiter wollten, als Recht und Volkswirtschaft historisch darstellen, so würde man ihnen nicht bestreiten, daß sie sehr bedeutsame Arbeit leisten. Ihre eigentliche Schärfe liegt aber darin, daß sie - auf Begriffbildung und Theorie mehr oder weniger ausdrücklich verzichtend - zu behaupten scheinen, eine andere Behandlung der Gegenstände sei überall nicht möglich oder nicht ersprießlich. Und doch wollen sie selber aus ihren historischen Auffassungen praktische Folgerungen ableiten, merkwürdigerweise von entgegengesetzter Art. Die historische Rechtsschule hatte ihre - nunmehr verleugnete historische Bedeutung darin, daß sie die Willkür des Staates verneinte, daß sie die Bildung des Privatrechts in allen wesentlichen Stücken dem Volke und seinem natürlichen Organe, dem Juristenstande allein überlassen wollte. Die historische Nationalökonomie hingegen ist wesentlich eine sozialpolitische Schule; sie ist aus der Opposition gegen die Lehre erwachsen, daß der Nationalreichtum am besten gedeihe, wenn der Staat sich in die natürlichen Bewegungen des Handels und Verkehrs nicht hineinmische, wenn er das Volk, und insbesondere dessen Organ, die Unternehmer von Geschäften, gewähren lasse, da jeder am besten seine eigenen ökonos G. Schmoller:

„Die Schilderungen der Wirtschaftsgeschichte wie der allgemeinen Ge-

schichte, sofern sie Volkswirtschaftliches erzählt, sind nicht nationalökonomische Theorie, sondern Bausteine zu einer solchen." (Schmoller 1 8 9 4 : 545) „Die allgemeine heutige Nationalökonomie ist philosophisch-soziologischen Charakters." (ebd.: 531). 11 Gierke: Vgl. Gierke 1880. 14 v. Scheel: Vgl. Scheel 1890.

VII. Historismus und Rationalismus

173

mischen Vorteile kenne, aus der natürlichen Opposition der Anbietenden und der Begehrenden ein immer neues Gleichgewicht sich ergebe, aus der freien Konkurrenz der Verkäufer die beste und wohlfeilste Ware, das größte wirtschaftliche Glück hervorgehen müsse. - Nach der historischen Seite will Savigny den Irrtum zerstören, daß „im normalen Zustande alles Recht aus Gesetzen, d. h. ausdrücklichen Vorschriften der höchsten Staatsgewalt entstehe". Wenn solche Meinung einmal gegeben ist, so folgt als notwendige Forderung, die besonderen und mangelhaften durch ein allgemeines und vernünftiges Recht von Staats wegen zu ersetzen. Die Nationalökonomen wollen nach der historischen Seite den Irrtum widerlegen, daß zu allen Zeiten die freien Individuen in der Lage waren - wenn der Staat nur Schutz ihres Lebens und Eigentums gewährte - in Handel und Wandel sich selbst zu regulieren; vielmehr sei relativ zur jedesmaligen Stufe der Kultur das was geschah, nämlich obrigkeitliche Einschränkung, in der Regel auch nützlich gewesen. Von diesem historischen Verständnis führt dann ein leichter Schritt zu der Forderung, auch für die gegenwärtige Volkswirtschaft die Zweckmäßigkeit der Staatstätigkeit in jedem gegebenen Falle als Problem, anstatt ihre Verneinung als Axiom aufzustellen; als solches wird sie bezeichnet, weil ein Beweis für die Richtigkeit nur empirisch-induktiv, also nur historisch geführt werden könne. Die historische Jurisprudenz legt daher das »Organische« in das Volk - „die stillwirkenden Kräfte" - und erkennt im Staate und seiner Willkür eher eine mechanisch wirkende Macht. Umgekehrt: die historische Nationalökonomie ist geneigt, in den auf Kontrakten gegründeten Beziehungen der isolierten Individuen bloß mechanische Verhältnisse zu erblicken. Sie besteht dagegen auf der „organischen Staatstheorie" und sympathisiert mit der Lehre, daß das Individuum „nur im Staate leben" könne, was dann regelmäßig mit dem Aristotelischen Çcoov T T O Â I T I K Ô V konfundiert wird. Man bemerkt also eine Paarung über Kreuz. Das Werk des Savigny wie das Adam Smiths und der Physiokraten entsprang aus der Gegenwirkung gegen die Weisheit der Staatsmänner, die im fürstlichen wie im parlamentarischen Régime, in der Revolution wie im Empire, das Volk nach Grundl seine eigenen ökonomischen 28

£cöov

TTOAITIKOV:

Vorteile: In A: seinen eigenen ökonomischen Vorteil.

[gr.] svw. das politische Tier oder das politische Wesen. - Bei Aristoteles

(1981: 4) heißt es (Politik I, 2, 1253a, Zeile 1 ff.): „Hieraus erhellt also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist [zöon politikon], und daß niemand, der von Natur und nicht bloß zufällig außerhalb des Staates lebt, entweder schlecht ist oder besser als ein Mensch, wie auch der von Homer als ein Mann ,ohne Geschlecht und Gesetz und Herd' gebrandmarkt".

174

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Sätzen der Vernunft zu regieren meinten. Beide treten ein für

gesellschaft-

liche Potenzen. Savigny will die Vernunft der Juristen, Adam Smith die der Kaufleute und Industriellen - worunter er die Landwirte mitbegreift - ihnen entgegensetzen. Savigny

wähnte, daß die sich selbst überlassene Ver-

nunft der Juristen, wenn sie nur durch das Studium des römischen Rechtes sich vertiefe, wesentlich konservativ,

5

nämlich der „Idee der Gleich-

förmigkeit", die „eine unbeschreibliche Gewalt nach allen Richtungen nun schon solange in Europa ausübe" und „auf Vernichtung aller individuellen Verhältnisse" ausgehe, entgegenwirken werde. Adam

Smith

hielt die ge-

samte historische Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens für »unnatür- 10 9 Savigny ... entgegenwirken werde: „Zweytens klagt man über die große Verschiedenheit der Landesrechte, und diese Klage geht noch weiter als auf das Verhältnis verschiedener Deutscher Länder, da häufig auch in demselben Lande Provinzen und Städte wiederum besonderes Recht haben. Daß durch diese Verschiedenheit die Rechtspflege selbst leide und der Verkehr erschwert werde, hat man häufig gesagt, aber keine Erfahrung spricht dafür, und der wahre Grund ist wohl meist ein anderer. Er besteht in der unbeschreiblichen Gewalt, welche die blose Idee der Gleichförmigkeit nach allen Richtungen nun schon so lange in Europa ausübt: eine Gewalt, gegen deren Mißbrauch schon Montesquieu warnt." (Savigny 1814: 41). - „In jedem organischen Wesen, also auch im Staate, beruht die Gesundheit darauf, daß beides, das Ganze und jeder Theil, im Gleichgewicht stehe, daß jedem sein Recht widerfahre. Daß ein Bürger, eine Stadt, eine Provinz den Staat vergessen, dem sie angehören, ist eine sehr ungewöhnliche Erscheinung, und jeder wird diesen Zustand für unnatürlich und krankhaft erkennen. Aber ebenso kann die lebendige Liebe zum Ganzen blos aus der lebendigen Theilnahme an den einzelnen Verhältnissen hervorgehen, und nur wer seinem Hause tüchtig vorsteht, wird ein trefflicher Bürger seyn. Darum ist es ein Irrtum, zu glauben, das Allgemeine werde an Leben gewinnen durch die Vernichtung aller individuellen Verhältnisse." (ebd.: 42). - Ein in der Vorlage fehlendes Abführungszeichen nach „... Gleichförmigkeit" wurde entsprechend der zitierten Vorlage ergänzt. 9 Adam Smith: Im ersten Kapitel des Dritten Buches von „The Wealth of Nations" skizziert Smith (1791: II, 165 ff) unter der Überschrift „Of the different Progress of Opulence in different Nations" den „natural Progress of Opulence" (ebd.) und kontrastiert dies mit der europäischen historischen Entwicklung, die seit dem Untergang des Römischen Reiches durch ein „... discouragement of Agriculture ..." (so der Titel des Kapitels III.2) durch Bodenrecht und die Tendenz zum großen Besitz gekennzeichnet gewesen sei. „The town is a continual fair or market, to which the inhabitants of the country resort, in order to exchange their rude for manufactured produce. It is this commerce which supplies the inhabitants of the town with the materials of their work, and the means of their subsistence." (ebd.: 169) „Had human institutions, therefore, never disturbed the natural course of things, the progressive wealth and increase of the towns would, in every political society, be consequential, and in proportion to the improvement and cultivation of the territory or country." (ebd.: 170) - „According to the natural course of things, therefore, the greater part of the capital of every growing society is, first, directed to agriculture, afterwards to manufactures, and last of all to foreign commerce." (ebd.: 172).

VII. Historismus und Rationalismus

175

lieh«; ganz unter dem Einflüsse Quesnays bildete er sich ein, daß das Aufhören aller Begünstigungen und Einschränkungen in erster Linie der Agrikultur als dem produktivsten Gewerbe zugute kommen werde; und er läßt durchblicken, daß er die Beschäftigung damit auch für moralisch edler hält, als die mit Manufakturen und Handel. Auch Adam Smith will in diesem gewissen Sinne als konservativ verstanden werden; auch für ihn ist der Staat die revolutionäre Macht. Und doch beruhen seine Gedanken, wie die der Physiokraten, im Naturrecht, dem die historische Schule sich so heftig entgegenwandte. Das wesentliche des Naturrechts ist, daß es die freien Individuen einander gegenüber, und über ihnen den aus ihrem Willen hervorgehenden Staatswillen setzt, und daß es bei jenen, wenn sie Verträge schließen, bei diesem, wenn er Gesetze gibt, eine richtig rechnende Vernunft postuliert. Die Lehren gehen auseinander über die Grenzen zwischen Gesellschaft - dem Ensemble der Individuen - und Staat, der kollektiven Person. Was die historischen Schulen bekämpfen, sind teils historische Meinungen, die sie in dem System enthalten finden - das ist eine Sache für sich - teils diese (von ihnen so genannte) rationalistische Konstruktion. Hierbei wird nicht unterschieden zwischen dem Rationalismus im Gegenstande, dem objektiven, und dem Rationalismus in der Methode, dem subjektiven Rationalismus. Die Nationalökonomen bezweifeln den Rationalismus der Gesellschaft, die Juristen kritisieren den Rationalismus des Staates. Ob eine andere (wenn nicht bloß beschreibende) Wissenschaft von diesen Gegenständen möglich sei, als eine rationalistisch konstruierende - diese Frage ist kaum aufgeworfen, geschweige denn gelöst worden. Ich aber will behaupten: daß die Tendenz zum Rationalismus, d. h. zu einem - individuellen oder kollektiven - freien utilitarischen Denken, der Gesellschaft und dem Staate wesentlich ist; daß dieselbe Tendenz, als zu einer freien Bildung zweckmäßiger Begriffe, der Wissenschaft wesentlich ist; und daß das »historische« Denken, außer dem, was es sonst bedeutet, auch den Übergang zu einer neuen Gestalt des rationalistischen Denkens in bezug auf die Tatsachen des sozialen Lebens darstellt. Als gemeinsam finde ich in allen Formen der rationalistischen Art des Denkens und Wollens, daß sie ein Prinzip der Herrschaft bedeutet, daher in jedem Gebiete auf dessen Vergrößerung, ja Verallgemeinerung, sei es extensive oder intensive, ausgeht; ferner ist dadurch notwendig gegeben, daß sie, sich die Herrschaft zu erleichtern, ihr Gebiet einteilt, daß sie die Objekte ihrer Herrschaft so sehr als möglich gleich und in bezug aufeinander frei macht, so daß die Einheiten beliebig kombiniert und in Systeme gebracht

176

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

werden können. Zuvörderst aber muß sie selber, die willkürliche Vernunft, sich frei machen und über alle Relationen, die ihr anhaften, siegreich, absolut, sich erheben. -

I. Die rationalistischen Tendenzen also sind selber Tatsache der Historie, und zwar unter den bedeutendsten. Sie sind Ausdruck der Bewegung, die durch die gesamte soziale Entwicklung der neueren Völker gleichmäßig, wenn auch in mannigfachen Gestalten, hindurchgeht; über die Hemmungen, die ihr in ihrem eigentümlichsten Gebiete, dem der Wissenschaft, begegnen, schreitet sie am leichtesten hinweg. Mit anderen Widerständen hat sie schwerer zu kämpfen. Alle Gefühle und alle Interessen, die jedesmal an Erhaltung eines »historischen« Zustandes hängen, muß sie überwinden. Sie ist immer revolutionär; und ihre eigenen Gebilde verhalten sich zu ihr als konservative, sobald sie sich befestigt haben, und in dem Maße, wie es geschehen ist. Da anderseits die rationalistischen Tendenzen niemals ganz fehlen, wo überhaupt soziale Entwicklung stattfindet, so sind fast alle stabil gewordenen Mächte einmal revolutionär gewesen. Der große Gegensatz der Zeitalter ergibt sich aber aus den überwiegenden Tendenzen. So lange als die Tendenz zur festen Ansiedlung, zur Bildung und Erhaltung von Gewohnheiten, zum Glauben an die Wirklichkeit von Phantasiegebilden überwiegt, solange werden alle rationalistischen Tendenzen assimiliert. Wenn diese aber die größere Stärke gewinnen, frei und herrschend werden, so nehmen jene ab. Und gegenüber allen vereinzelten Anwendungen rationalistischer Tendenzen erheben sich in gesetzmäßigem Fortschritte die Mächte, welche die soziale Vernunft schlechthin darstellen: die Gesellschaft, der Staat, die Wissenschaft. Alle drei sind bloß begriffliche Ausdrücke, wodurch die Tendenzen bezeichnet werden, die auf den unterscheidbaren Gebieten des sozialen Lebens: auf dem ökonomischen, auf dem politischen und auf dem geistigen Gebiete hervortreten. Auf dem ökonomischen Gebiete ist es das bei allen Menschen mehr oder minder starke Verlangen nach Reichtum, d. i. nach Verwertung und Ausdehnung vorhandener Güter, was die Vernunft der Individuen entfesselt. Auf dem politischen Gebiete wirkt ebenso das natürliche oder auferlegte Bedürfnis, zu regieren, genauer: die Verwertung und Ausdehnung vorhandener Macht über Menschen als gestellte Aufgabe. Im geistigen Gebiete nimmt Wißbegierde am unmittelbarsten das Denken in Anspruch; Verwer-

VII. Historismus und Rationalismus

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tung und Ausdehnung der Berechenbarkeit von Ereignissen, der Macht über die Natur ist die bedeutendste Aufgabe. Diese Aufgaben und Tendenzen hängen untereinander zusammen; sie befördern einander in gewissem Grade und vorzugsweise; sekundär sind die Widersprüche, in die sie zueinander geraten. Der gesellschaftliche Prozeß ist seinem Wesen nach eine Rationalisierung, und der Wissenschaft innerlich verwandt. Er erhebt die rationalen, rechnenden Individuen, die sich der wissenschaftlichen Kenntnisse und ihrer Träger wie anderer Mittel und Werkzeuge bedienen. Ein Geschäft oder ein Etablissement ist selber einem Mechanismus ähnlich, dessen Motor der kaufmännische Wille ist. Den Mechanismus bezeichnet die relative Unabhängigkeit der Teile und ihr Zusammenwirken zu einer einheitlichen Leistung. Der Umfang, worin planmäßig geordnete Werkzeuge so vereinigt werden und zusammenwirken können, ist ideell unbegrenzt; die Erfahrung zeigt sein fortwährendes Wachstum. Ebenso - und im Gebiete der produktiven Arbeit eng zusammenhängend damit - ist das Wachstum der Kooperation von menschlichen Willen und Kräften. Vergrößerung der Maschinerie wie der Geschäfte und Etablissements ist Ursache und Folge des Sieges der mächtigsten Willen im Konkurrenzkampfe; wobei es gleichgültig, ob diese mächtigsten noch individuelle oder ob es assoziierte Willen sind, die gleich individuellen agieren. Denn wie die Partikeln der unorganisierten Materie teils frei sich zu mechanischen Wirkungen verbinden, teils dazu (vorzugsweise durch menschliche Kräfte) verbunden werden, so die menschlichen Willen oder Kräfte selber, sofern sie außerhalb alles organischen Zusammenhanges betrachtet werden. Ihre abhängige - subordinierte, regulierte - Kooperation ist jene in der Fabrik, im Geschäfte; die freie - koordinierte, sich zusammenfügende - kann auf beliebige Zwecke gerichtet sein, als die von kaufmännischen Willen ist sie wesentlich auf kaufmännische Zwecke gerichtet. Daneben die Vergrößerung bestehenden Geschäftes oder Etablissements durch Erwerb - regelmäßig durch Ankauf - anderer. Die Assoziation tritt auf in dreifacher Gestalt: 1. als Fusion ganzer Geschäfte oder Etablissements, die oft nur der Form nach eine freie Verbindung ist, in Wirklichkeit Aufsaugung kleinerer durch ein größeres bedeutet; 2. als Verbindung ganzer (vermögensrechtlicher) Persönlichkeiten für gemeinsame Unternehmungen; 3. als Verbindung von Personen mit begrenzten Teilen ihrer Vermögen, die eine gemeinsame Bestimmung erhalten. - Der individuelle oder kollektive Kaufmann ist hauptsächlich Urheber von Bewegungen als Veränderungen des Ortes. Er bewegt sich selbst, Sachen aller Art, Menschen aller Art; beson-

178

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ders sind ihm die Bewegungen wichtig zum Hin- und Herbringen von Nachrichten, von Bestellungen, von Proben usw., auf Land- und Wasserstraßen. Die größte Geschwindigkeit ist sein Ziel, weil zuvorzukommen sein Gewinn. Er ist aber auch Urheber von Bewegungen an Ort und Stelle bleibender Menschen, die er Arme und Beine bewegen läßt; er wird Leiter von Arbeitsprozessen, indem er nämlich getrennte Arbeiter unter sein Kommando sammelt, nach seinem Zwecke richtet und ordnet; ferner, indem er sie in eine gemeinsame Werkstätte zusammenbringt, um einen einheitlichen Produktionsprozeß unter sie zu verteilen. Dies ist nur eine besondere Gestaltung des Einkaufes von Waren: Vorauseinkauf ist die Bestellung, aus Bestellung wird Auftrag, endlich Herstellung im eigenen Namen; Herstellung der eigenen Ware. Der erste gesellschaftliche Rationalismus hat zum Inhalt: Entbindung und Beförderung der Warenproduktion und des Verkehrs, unter allgemeinem Rechtsschutz. Sein Träger ist die besitzende Klasse. Diese ist überall aus drei Abteilungen zusammengesetzt: 1. der Klasse, die Grund und Boden, 2. der Klasse, die Arbeitsinstrumente, 3. derjenigen, die Geld, d. h. Kapital besitzt. In allen dreien kommen hauptsächlich diejenigen Personen in Betracht, die solche Mittel in ausgezeichnetem Umfange oder in überragender Menge besitzen; daneben die nach Vermehrung ihrer geringeren Mittel mit Entschiedenheit Strebenden. Die dritte Abteilung drückt den allgemeinen Begriff der ganzen Klasse aus; denn Geld kann sich in Grund und Boden oder in Arbeitsinstrumente verwandeln, Geld ist das absolute Mittel, und jene werden gleich einer gewissen Menge Geldes gedacht, insofern sie als Mittel zur Erwerbung von Geld berechnet werden. Daher ist der Kaufmann, neben dem der Leihkapitalist als minder aktiver und mehr verborgener Begleiter einhergeht, historisch der eigentliche Träger des gesellschaftlichen Rationalismus und Fortschritts. Er ist zugleich der allgemeine Ausdruck des vernünftigen Menschen schlechthin, insofern es für diesen als wesentlich gedacht wird, daß er dem klar begriffenen Zwecke seines persönlichen Vorteils alle seine Tätigkeiten als Mittel anpasse, daher auch alle Gegenstände - Sachen und Menschen - zu seinen Mitteln erniedrige. Ihm nähern sich der Grundbesitzer oder Gutspächter und der Fabrikant, je mehr sie die Produktion von Waren sich zum Ziele setzen, je mehr also ihre Tätigkeit sich als Geschäft darstellt. Und der Kaufmann geht in beide Gestalten über, aber viel leichter in die des Fabrikanten, weil sie ihm sozial näher steht - in der Regel gleich ihm städtischen Charakters - und weil die Produktion von Waren in diesem Gebiete eher ins Grenzenlose sich ausdehnen läßt.

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VII. Historismus und Rationalismus

Die V e r a l l g e m e i n e r u n g des k a u f m ä n n i s c h e n o d e r geschäftlichen T y p u s h a t aber für die Geschichte des sozialen Lebens eine b e s o n d e r e B e d e u t u n g . Sie bezeichnet eine G e g e n t e n d e n z gegen die Teilung der A r b e i t , wie diese sich in ihrer u r s p r ü n g l i c h e n Gestalt als Scheidung der Stände darstellt. A n die Stelle h e r r s c h e n d e r Stände tritt eine h e r r s c h e n d e Klasse. Die alte B o d e n aristokratie,

d a s l a n d e d interest, v e r s c h m i l z t m i t der n e u e n

Kapital-

aristokratie, d e m m o n i e d i n t e r e s t 2 . Die geistliche A r i s t o k r a t i e w i r d in die M i t t e g e n o m m e n u n d h i n a b g e d r ü c k t ; Priesterherrschaft w i r d u m s o m e h r lästig, je weniger sie n o c h a n w e l t l i c h e m P a t r i a r c h a l i s m u s ein G e g e n g e w i c h t h a t . Sie erhält sich gleichwohl in K r a f t , je m e h r sie d u r c h B o d e n b e sitz m ä c h t i g bleibt o d e r selber k a u f m ä n n i s c h u n d kapitalistisch w i r d . -

II. Die k a u f m ä n n i s c h e u n d kapitalistische Leitung der ö k o n o m i s c h e n P r o z e s se v e r ä n d e r t ferner und v e r k e h r t zuletzt in dreifacher W e i s e die T e i l u n g der produktiven 2

3

19 27 29 31

Arbeit,

wie diese bis dahin historisch überliefert i s t 3 .

„Der Landjunker ... strebt nach Reichtum neben der Macht; und wenn er nun erst recht den Städter, und in der Stadt den Kaufmann verachtet, so ist es begreiflich, denn er ist ihm innerlich näher gerückt, hat sich also stärker gegen die neue unbequeme Verwandtschaft zu wehren." (Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit, S. 54, wo von der Umwandlung der Grundherrschaft in die Gutsherrschaft, in deutschen Territorien, gehandelt wird.) Während der letzten Jahre, die an sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und Erörterungen reich gewesen sind, ist auch von neuem die Rede auf das Thema der Arbeitsteilung gefallen, das seit Adam Smith einen locus communis der politischen Ökonomie gebildet hat. Es war längst bemerkt worden, daß unter diesem Namen sehr verschieden geartete Erscheinungen des sozialen Lebens zusammenkommen; man hat sich bemüht, den Begriff fester zu stellen, seine Arten zu unterscheiden usw. Hervorzuheben: G. Schmoller, „Die Tatsachen der Arbeitsteilung" und „Arbeitsteilung und soziale Klassenbildung", Jahrbuch XIII. XIV. K. Bücher in Entstehung der Volkswirtschaft, S. 119 ff. Keiner von beiden hat, soviel ich sehe, die hier behandelte Involution der Arbeitsteilung auch nur angedeutet. Ebensowenig ist aus dem Buche von L. Dürkheim, La division du travail social, wo in breiten Ausführungen über die Moral der Arbeitsteilung geredet wird, hierfür zu entnehmen.

Knapp: Vgl. Knapp 1891. G. Schmoller. Vgl. Schmoller 1889 und 1890. K. Bücher. Vgl. Bücher 1898. L. Dürkheim: Vgl. (richtig: E.) Dürkheim 1893.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

1. Soweit als jene Tendenz sich verwirklicht, tritt der Kaufmann oder Fabrikant als allgemeiner Meister an die Spitze aller Betriebe, die sonst je von ihrem besonderen Meister geführt wurden. Die Übung, die den Meister machte, der Geschmack und die Kultur des Geistes, die ihn in den edleren Zweigen der Arbeit zum Künstler erhob, ist nicht mehr nötig. Der Kaufmann ist der wahre „Jack of all trades". Seine Kunst ist die Arbeit zu »geben«, d. h. sie in flüssiger oder geronnener Gestalt aus Künstlern und anderen Arbeitern herauszulocken. Tatsächlich ist aber sehr oft der individuelle Unternehmer, der als solcher ein Kaufmann wird, seiner wahren Qualität nach technischer Leiter der von ihm in Bewegung gesetzten Arbeiten. Insofern er als solcher agiert, ist er auch im Sinne dieser besonderen Arbeit tätig. Hierbei ist aber zu unterscheiden, was er für die Herstellung der (besonderen) Gebrauchswerte, mithin in Richtung auf ihre so sehr als möglich vollkommenen Qualitäten als Güter, und was er für die Herstellung derselben Güter als (allgemeiner) Tauschwerte, also in Richtung auf möglichst große, möglichst absatzfähige Quantitäten von Waren, innerhalb des Produktionsprozesses bewirke. Die Tätigkeiten des Technikers (Ingenieurs u. dgl.) sind als solche höchst qualifizierte geistige Arbeit, aber in dem zweiten Sinne sind sie nur eine Dependenz der kaufmännischen Tätigkeit, die auch ihrerseits eine Menge von Gedankenarbeit enthalten kann, aber sie ist niemals per se eine soziale Tätigkeit, wie auch im System entwickelter Tauschwirtschaft - die Produktion von Gütern als Gütern, die Leistung von Diensten als Diensten es ist, welche Produktionen und Leistungen insgesamt ihre natürliche Qualität verlieren können, in dem Maße, wie sie als Hervorbringungen von Waren oder Quasiwaren in den Dienst der »Spekulation«4 gezwungen werden; und dies eben ist der Gang ihrer rationalen Entwicklung. Die Spekulation ist aber keine besondere Kunst, sondern ist nichts als egoistisches Denken, eine allgemein menschliche Kunst. 4

„Spekulation ist dem Handel wesentlich .... sodann daß der Handel in der Regel nur um des Gewinnes willen betrieben wird .... Daher die Ausdrücke Spekulation, Spekulant, bei anderen Erwerbstätigkeiten und Berufszweigen gebraucht, den sittlichen Vorwurf des Hinüberziehens desselben in die Handelssphäre, d. h. in die Sphäre der reinen Gewinnsucht, in sich zu schließen pflegen!" Goldschmidt,

Handbuch des Handelsrechts 2 , S. 4 0 8 ,

4 1 2 . Vgl. die Stellen bei K. Marx, Kapital I 4 , 113, Anm. 4. 6 „Jack of all trades": [engl.] svw. Alleskönner, wörtlich „Joker in allen Formen wirtschaftlichen Handelns". 34 Goldschmidt:

Vgl. Goldschmidt 1875: 4 0 8 - 4 1 2 .

35 Marx: Vgl. Marx 1890.

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2. Eben dadurch ist die ausgebildete Warenproduktion Ursache einer verwandelten, einer neuen Teilung der Arbeit und trägt durch diese Verwandlung die Tendenz zu ihrer Negation in sich. Die unter 1. behandelte Gegentendenz richtet sich gegen die subjektive Seite der Teilung der Arbeit, sie läßt deren objektive Seite nicht nur bestehen, sondern verbindet sich tatsächlich mit deren Weiterführung und Steigerung. Der Fabrikant, der als Kaufmann und Spekulant nicht mehr ein »geteilter«, d. h. differenzierter und qualifizierter Urheber von Gütern ist, wirft gleichwohl alle seine Kräfte auf die Produktion einer höchst differenzierten, speziellsten Gattung von Waren, um diese in möglichst großer Menge, sei es (was unwesentlich ist) so vollkommen als möglich oder (was wesentlich ist) so absatzfähig als möglich auf den Markt zu werfen. Nicht seine Fähigkeit, Waren hervorzubringen, ist begrenzt (diese kann, je nach der Auffassung = 0 oder = °° gesetzt werden), wohl aber ist sein Kapital begrenzt, und die Produktion von Spezialitäten ist in dem Maße zweckmäßiger, als sie dem Konkurrenzkampfe ausweicht und sich den spezialisierten Bedürfnissen anpaßt. Die so vermehrte objektive Arbeitsteilung wird aber als rationale und neue von der historischen und alten wesentlich verschieden. Diese entspringt aus einer von Natur ganzen Arbeit, die sich teilt und gliedert und eben dadurch in ihrer Einheit sich erhält. Jene entspringt aus den Köpfen der Unternehmer, die sich je einen Teil erwählen, ohne um das Ganze anders bekümmert zu sein, als daß sie darauf bedacht sind, ihre Ware in Geld zu verwandeln, das die Möglichkeit aller anderen Waren bedeutet; und alle zusammen ergänzen sich, so daß man ihre Vereinigung als ein Ganzes betrachten kann. Dieses Ganze ist ideeller Natur, es ist die Vereinigung der Waren auf dem Markte, das natürliche Ganze hingegen ist ein Tätiges, ist die reale Wirtschaft eines gemeinen Wesens, sei dieses nun eine Haus- oder Hofhaltung, eine Dorf- oder Stadtgemeinde oder ein ganzes Volk und die Wirtschaft eine Volkswirtschaft. Was heute Volkswirtschaft genannt wird, „beruht ... auf einer Abstraktion"; diese Volkswirtschaft ist »subjektlos« 5 , (was nicht verhindert, daß der richtig gefaßte 5

Die Ausdrücke bei A. Wagner,

Grundlegung I 3 , 3 5 4 . Wenn Wagner

„trotzdem ... die

Volkswirtschaft als ein reales Ganzes, welches sich in entscheidenden Punkten als ein Organismus darstelle" behauptet, und noch S. 7 7 0 ff. diese Ansicht in sehr ausführlicher

32 Wenn Wagner. In A: Wenn Herr Wagner. 34 „trotzdem

... Organismus

darstelle":

nächst allerdings auf einer Abstraction,

„So aufgefasst, beruht die Volkswirtschaft zuaber nicht mehr und nicht weniger als ,das Volk'

auf einer solchen beruht. Sie ist daher auch trotz ihrer Subjectlosigkeit, wodurch sie sich

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Begriff brauchbar, ja notwendig sein mag). Das wahre Verhältnis der objektiven Arbeitsteilung in ihr wird durch die Einsicht deutlich, daß gerade die großen und bedeutenden Volkswirtschaften keine Autarkie besitzen, sondern notgedrungen einem größeren ideellen Ganzen, der Weltwirtschaft angehören, daß erst auf dem Weltmarkte die Waren ihre entscheidenden und maßgebenden Versammlungen abhalten, daß die internationale Arbeitsteilung diejenige ist, die sich aus der kapitalistischen Produktionsweise gesetzmäßig entwickelt. In dem Maße, als in einer Volkswirtschaft die industrielle Arbeit das Übergewicht erhält, bedarf sie der agrikolen Volkswirtschaften zu ihrer Ergänzung. Bei der internationalen Arbeitsteilung springt aber der Kontrast gegen alle natürliche Arbeitsteilung, die dem organischen Lebensprozeß mit Recht verglichen wird, in die Augen. „Die physiologische Teilung der Arbeit wird, wie bekannt, sowohl im phylogenetischen als im ontogenetischen Zusammenhange, aus einer ursprünglichen Einheit von Organ und Funktion entwickelt. ... In diesem Sinne kann von einer internationalen Teilung der Arbeit, als einer vordem ungeteilten, fürwahr nicht geredet werden. Wenn wir der Deutlichkeit halber, als ein typisches Verhältnis den Austausch zwischen England und China nehmen, so geht ihrer Zweiheit nicht die Einheit vorher, welche etwa zugleich Tee gebaut und baumwollene Waren fabriziert hätte, wenn auch beides in minder vollkommener Weise, um alsdann alle ihre Kräfte für Tee in China zu versammeln, alle für Baumwollenwaren in England nichts dergleichen; sondern wenn wir auch die gesamten Länder als Subjekte ihres Austausches denken mögen (was noch am günstigsten für die Vorstellung ist), so bleiben sie doch durchaus selbständig gegeneinander und ohne jedes organische Verhältnis zueinander. Sie machen den Tausch aus Einsicht in seinen Nutzen, und machen ihn als einen regelmäßigen zu einem dauernden Verhältnisse, das als eine Einheit und gleich einer Sache begriffen werden kann, deren Teile aber nicht die Länder, sondern ihre einzelnen Akte sind, welche sie wie Bausteine zu diesem Gebäude zusamWeise begründet, so muß ich mir hier versagen, auf den Gedankengang des ausgezeichneten Gelehrten kritisch einzugehen. Ich glaube aber, daß bei ihm der objektive Anblick der Tatsachen beeinträchtigt wird durch die ethischen, patriotischen, aber auch nationalökonomischen Postulate, die er mit großer Energie in seine Betrachtung hineinzwingt.

von der Einzelwirthschaft unterscheidet, ebenso gut wie das Volk ein reales Ganzes, welches sich in entscheidenden Puncten als ein Organismus

darstellt, dessen nicht bloss

Theile, sondern Glieder die Einzelwirtschaften, und zwar einschliesslich der vom Staate repräsentirten Gemeinwirthschaft, sind." (Wagner 1 8 9 2 / 9 3 : 354).

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mensetzen" (s. Tönnies, Herbert Spencers soziologisches Werk, Philosophische Monatshefte 1888, S. 71 f.) 6 . Die internationale Teilung der Arbeit ist in Wahrheit nicht eine solche zwischen den Ländern, sondern zwischen den Kapitalien. Für die objektive kapitalistische Spezialisierung der Arbeiten ist aber die Ausscheidung der spezialisierten Betriebe als isolierter Wirtschaften, die mit allen übrigen nur durch den Markt zusammenhängen, keineswegs wesentlich; sie ist historische Anknüpfung an die vorkapitalistische Phase; aber das Kapital tendiert zur Integration der differenzierten Betriebe, je mehr es als einheitliches anwächst und je mehr es sich ablöst von seinen individuellen Eigentümern. Mit der Verwandlung des individuellen in den gesellschaftlichen Kapitalisten - durch Aktienvereine - verschwindet (wo immer sie Platz greift) die letzte Spur der subjektiven Teilung der Arbeit; zugleich ist sie der einfachste Weg, die Masse des in gleichem Sinne wirksamen Kapitals ins Unendliche zu vermehren, und eben dadurch, der objektiven Teilung der Arbeit entgegen, heterogene Betriebe in ein System zu bringen, worin sie ihre Selbständigkeit verlieren. Verschieden von diesem Prozeß, wenn auch in ähnlicher Richtung sich bewegend, ist die Koalition homogener Betriebe (Trusts, Kartelle); verschieden, insofern nicht geteilte Arbeit, sondern konkurrierende aufgehoben wird (nachdem die Konkurrenz der Großbetriebe die äußerste Zuspitzung erfahren hat, wird sie als unsinnig und schädlich aufgegeben); in ähnlicher Richtung, weil auch hier die Selbständigkeit der Betriebe in einem Systeme aufgeht, so daß innerhalb dessen die - vielleicht erleichterte - Spezialisierung nicht mehr als Arbeitsteilung innerhalb der Volks- und Weltwirtschaft auftreten würde, sondern nur als differenzierter 6

„Das Ziel, dem wir entgegenstreben, ist ja die internationale Arbeitsteilung." G.

Kuhland,

Zeitschr. f. d. ges. Staatswissensch. L, 6 6 0 . Über die Konsequenzen, die hier ein gründlicher Kenner der Landwirtschaft aller Länder aus dieser Tatsache zieht, vgl. das. und Jahrb. für Nationalök. u. Stat. 3. F. VII, 8 6 4 ff. („So droht also ein doppelter Zusammenbruch in nicht zu ferner Z u k u n f t . . . " S. 893). Mit ähnlicher Prognose sind Friedrich Engels, Lafargue,

Paul

Rudolf Meyer vorangegangen.

i Tönnies: Vgl. in diesem Band S. 152. - Tönnies hat einige der Hervorhebungen getilgt und gibt das Zitat nicht ganz wortgetreu wieder. 2/ G. Ruhland: Vgl. Ruhland 1894a. 30 „So droht ... in nicht zu ferner Zukunft

. . . " : „So droht also ein doppelter Zusammen-

bruch in nicht zu ferner Zukunft: auf der einen Seite der Zusammenbruch unserer Brotversorgung und wahrscheinlich gleichzeitig der Zusammenbruch unseres industriellen Absatzes im Ausland. Ich kann mir nicht denken, daß irgend ein Krieg an zerstörender Gewalt diesem Ereignis gleich kommen könnte." (Ruhland 1 8 9 4 : 893).

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Teil des Systems, dem sie angehört. Jener kombinatorische Prozeß selber ist erst in bedeutenden Anfängen wahrnehmbar, wenn auch längst durch die Gleichgültigkeit des Kapitals gegen seine Anwendungen angebahnt. Zum Teil auf älteren Voraussetzungen beruht die Verbindung industrieller Betriebe mit der Landwirtschaft in großen Herrschaften. „Ein Großgrundbesitzer ist der vielseitigste Industrielle. Er ist Bierbrauer und Glasfabrikant, Spiritus- und Branntweinbrenner, er besitzt Mühlen und Brettsägen, Eisenwerke und Zuckerfabriken, Bergwerke und Ziegeleien, Knochenstampfen und Kalköfen, Leinenbleichen und Holzschleifereien, er erzeugt Käse und Butter, Faßdauben und Teer, Hobel und Kisten so gut wie Dampfmaschinen, Schindel, Papier, und versteht sich überdies vorzüglich auf das Bankgeschäft 7 ." Auch wo es nicht Latifundien sind, die durch ihre Üppigkeit der Arbeitsteilung spotten, verwischen sich durch die Anpassung der Landwirtschaft an den Weltmarkt und durch gesteigerte Arbeitsteilung innerhalb ihrer die Grenzen zwischen ihr und der Industrie. Sie wird, je mehr sie sich auf die Kultur von Handelsgewächsen wirft und diese Produkte (z. B. Kartoffeln, Rüben) so sehr als möglich in exportfähige Warenform gießt, selber zu einer Art der Industrie und sogar ihrem ursprünglichen Berufe, wenigstens ihre eigenen Arbeiter zu ernähren, entfremdet. Aber für den angezogenen Gesichtspunkt merkwürdiger ist die Tendenz des zentralisierten Kapitals, den Grundsatz der freiwilligen Beschränkung, der der modernen objektiven Arbeitsteilung zugrunde liegt, aufzugeben. Schon wird er an vielen Stellen durchbrochen. Anstatt wie bisher zu sagen: „Mache nie etwas, was du anderswo kaufen kannst", bildet man die Maxime: „Kaufe nie von Anderen, was du selbst fabrizieren kannst" 8 ; eine 7

T. W. Teifen, Das soziale Elend und die „Gesellschaft" in Österreich: Deutsche Worte

8

Herr Sidney Webb hat in der ökonomischen Sektion der British Association (Oxford

(Monatshefte) XIV, 1. 1 8 9 4 ) hierüber eingehend berichtet. Seine Illustrationen beziehen sich hauptsächlich auf englische Eisenbahn-Gesellschaften, Schiffbau- und Ingenieurfirmen, die alle besonders darauf ausgehen, ihre eigenen Produktionsmittel selbst herzustellen; eine Tendenz, die K. Marx schon im 1. Bande des „Kapital" (4. Aufl., S. 312) für den vormaschinellen Betrieb signalisiert hat. Sorgfältigen Auszug aus dem Vortrage Webbs, durch eigene Bemerkungen vermehrt, gibt Hr. E. Bernstein in der Wochenschrift „Die Neue Zeit" 1 8 9 4 / 9 5 , S. 2 2 ff. Vgl. auch / . A. Hobson, The evolution of modern capitalism, London 1894, p. 9 3 ff. Erst indem ich dieses schreibe, lerne ich die Abhandlung des Herrn Ludwig Sinzheimer,

Über

26 T. W. Teifen-, Vgl. Teifen 1894: 10. Der Name ist ein Pseudonym für Theodor Wollschack. 28 Sidney Webb: Vgl. Webb 1 8 9 4 . 32 „Kapital": Vgl. Marx 1 8 9 0 .

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Maxime, die, einmal wirksam, grenzenloser Konsequenzen fähig ist. Sie würde am letzten Ende zu einer Vereinigung aller hauptsächlichen Industrien eines engeren oder weiteren Wirtschaftsgebietes unter dem Kommando eines Kapitals führen, wodurch die Absurdität des Privateigentums an diesem Kapital so hoch erhoben würde, daß sie auch dem unaufmerksamen Zuschauer in die Augen spränge. Sie arbeitet der planmäßigen Ordnung einer gesellschaftlichen Gesamtproduktion durch die Gesellschaft, dem Willen ihrer natürlichen »Vorgesetzten« zum Trotze, vor, die auf diese Weise selber einleiten, was sie verabscheuen. 3. Die endliche und mächtigste Wirkung des Kapitals auf die Teilung der Arbeit geht innerhalb des Werkes, das es unter seinem Kommando hat, vor sich. Sie geht neben der gesamten sozialen Teilung der produktiven Arbeit einher, und was diese in ihrer Entwicklung wird, das ist sie fast von vornherein: künstlich, d. h. hier: durch ausdrückliche menschliche Willkür hervorgebracht oder doch angeeignet und befestigt. Dieses Mindere - die Aneignung - ist die Form des einfachsten Überganges und begegnet hauptsächlich, wo die Produktion von Gebrauchswerten, die schon umfangreiche Kooperation erheischten, in Warenproduktion übergeht. K. Marx, der den „doppelten Ursprung der Manufaktur" in klassischen Zügen schildert, nimmt als Beispiel eines solchen Produktes die Kutsche, „das Gesamtprodukt der Arbeiten einer großen Anzahl unabhängiger Handwerker" (Kapital I 4 , S. 300). Er hätte auch das Haus, wie es als Ware oder als Komplex von Waren hergestellt wird, nennen können; wenngleich hier keine Vereinigung in einer dauernden Werkstätte stattfindet. Solange als ein Bauherr, eine Gemeinde und dergl. für sich bauen läßt, so gehen die geteilten Arbeiten unmittelbar in den Genuß des Konsumenten ein; sie verharren auf der Stufe, die Hr. Karl Bücher schicklich »Kundenproduktion« genannt hat; die Teilung der Arbeit ist hier nicht nur sozial, d. h. trägt selbständige Geschäfte, sondern ist auch noch wesentlich gemeinschaftlich, d. h. durch entfesselte Warenproduktion nicht bedingt. Die spekulative Produktion von Häusern macht die Bauhandwerker aus die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmäßigen Großbetriebes in Deutschland, Stuttgart 1 8 9 3 , kennen, worin S. 2 0 - 3 0 in gründlicher Weise über die Kombination und ihre technischen wie ökonomischen Vorteile gehandelt wird. Auch finde ich richtig hervorgehoben (S. 30), daß die Spezialisation und die Kombination keine entgegengesetzten Formen der Weiterbildung des Großbetriebes bilden. 22 Kapital: Vgl. Marx 1 8 9 0 . 28 »Kundenproduktion«:

So in Bücher 1 8 9 8 : 1 4 9 f.

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Versorgern von Haushaltungen zu Dienern des Kapitals. Sie behalten ihre geteilten Funktionen, aber diese gehen - insoweit als jene Form vorherrscht - die soziale Teilung der Arbeit nicht mehr an. Für den Markt ist nur noch die Bauunternehmung vorhanden. Viel wichtiger ist der andere Ursprung der Manufaktur, der eine neue und künstliche Teilung der Arbeit ganz eigentlich hervorbringt. Sie dient hier als Mittel der bewußten Absicht, die Wirkung der Kooperation zugunsten der Quantität oder, was dasselbe sagt, zur Verminderung der für den einzelnen Gegenstand notwendigen Arbeitsmenge - die an der kostenden Zeit gemessen wird - zu erhöhen. Der Fabrikant betrachtet die von ihm angeworbenen Arbeiter, die er in seiner Werkstätte vereinigt hat, als sein Werkzeug, und bemüht sich, dieses so wirksam als möglich zu machen. Er zieht es daher zusammen, gibt ihm, so sehr es angeht, Einheit. Da er nicht die Leiber der Arbeiter zu vereinigen und einen 100 armigen Briareus daraus zu machen vermag, so muß er sich begnügen, sie ideell zu verschmelzen, sie, wenn nicht zu einem Gesamtmenschen, so doch zu einem Gesamtarbeiter zu machen. Und dies geschieht durch Richtung auf die Einheit eines gemeinsamen Objektes, die möglichst geschwinde Anfertigung eines Gegenstandes. Diese selbst hat teils ihre natürlichen Abschnitte, teils wird sie künstlich geteilt; ihre Teile werden teils den natürlichen Teilen des Gesamtarbeiters (den Individuen), teils dessen künstlichen Teilen (Gruppen von Arbeitern) zugewiesen. Dasselbe Individuum - folglich die Gruppe - vollzieht immer aufs neue die gleiche Teiloperation, wofür es sein Geschick zur Virtuosität ausbildet. Von Natur selber ein Gesamtarbeiter, der aber die Teile des Werkes nur nacheinander machen konnte, wird nun der Einzelne Stück eines kollektiven Gesamtarbeiters, der die nacheinander gehörigen Teile gleichzeitig anfertigt. - Die Unterschiede dieser von der natürlichen Arbeitsteilung, die Adam Smith noch fast übersah - was nicht verhinderte, daß sein Kapitel über die Arbeitsteilung berühmt wurde - , sind von den Neueren wohl bemerkt worden. Aber nur K. Marx, so viel ich sehe, hebt ausdrücklich hervor, daß beide nicht nur graduell, sondern wesentlich unterschieden sind (Kapital I 4 , 319). Er findet den wesentlichen Unterschied darin, daß der Zusammenhang zwischen unabhängigen Arbeiten (von Handwerkern) durch „das Dasein ihrer respektiven Produkte als Waren" hergestellt werde, während die manufakturmäßige Teilung der

14 Briareus: Briäreos, ein 50-köpfiges, 100-armiges Ungetüm. In der griech. Mythologie Sohn des Himmels und der Erde. 29 Kapitel über die Arbeitsteilung:

Vgl. Smith 1791: 1, Kapitel 1 - 3 .

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Arbeit dadurch charakterisiert sei, daß der Teilarbeiter keine Ware produziere. So richtig dies ist bei ausgebildeter Warenproduktion, so findet doch - wie M. selber ausführt - natürliche soziale Arbeitsteilung auch vorher statt, wo sich die geteilten Arbeiten auf die Einheit einer Haushaltung oder Gemeinde beziehen, ohne Warenform anzunehmen. Den wesentlichen Unterschied möchte ich vielmehr darin setzen, daß hier die geteilten Arbeiten, wenn auch Teile, doch zugleich Ganze sind - , indem sie ein fertiges Produkt hervorbringen, auch wenn dies nur ein Stufenprodukt ist, das einem anderen Produzenten als Produktionsmittel dient - , dort aber die geteilten Arbeiten nichts als Teile und wesentlich künstliche Teile sind, d. h. aus einer Zerlegung des Arbeitsprozesses entspringend, die nur einem Zwecke dient, der ihm als äußerliche Bestimmung anhängt, nämlich seine möglichst geschwinde Vollendung um der Warenform des Produktes willen. Auch wenn die Zerlegung an die natürliche Gliederung der Arbeit sich anschmiegt, auch wenn sie einer Tendenz zu ihrer natürlichen Teilung zuvorkommt, so bleibt doch dies, daß die Teile nur Teile und nur Mittel sind, ihnen als auszeichnendes Merkmal anhaften. Während nun der manufakturisch geteilte Arbeiter regelmäßig mit spezialisiertem Werkzeug seine besondere Arbeit verrichtet, so tritt im Fortgange der kapitalistisch bestimmten Produktion eine fernere Veränderung dadurch ein, daß dem Gesamtarbeiter ein Gesamtwerkzeug, die Maschine, oder endlich ein Maschinensystem gegenübertritt, nicht als sein eigenes, aber als das seines Anwenders, dem auch seine Arbeitskraft gehört. Voraussetzung dessen ist die Analyse der Arbeit in ihre elementaren Bestandteile und daraus folgende Reduktion der Teilarbeit auf Führung einfachster Werkzeuge; „die Vereinigung aller dieser Werkzeuge und ihre Unterwerfung unter eine motorische Kraft konstituiert eine Maschine" (Babbage, Economy of manufactures, p. 172). Der Maschine gegenüber, die der Einzelne - nachdem sie einen gewissen Umfang überschritten hat - nicht mehr handhaben, sondern woran er nur einen besonderen Dienst verrichten kann, verschwindet die künstliche Teilung der Arbeit - weil die Arbeit verschwindet, die von der Maschine übernommen wird. Ihre Heizung, Beaufsichtigung, Regulierung, Speisung, Reinigung - kurz Bedienung, mag noch Arbeit genannt werden, aber sie ist ihrem Wesen nach allgemeine, unqualifizierte Arbeit, die sich von (»persönlichen«) Dienstleistungen subjektiv nicht

27 „die Vereinigung

... konstituiert eine Maschine":

„When each process has been reduced

to the use of some simple tool, the union of all these tools, actuated by one moving power, constitutes a machine." (Babbage 1 9 3 2 : 174).

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unterscheidet; aber kein lebendiger Herr zwingt zu so regelmäßiger Aufmerksamkeit, zu so gleichmäßigen Bewegungen, wie das „mechanische Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt, und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemessene Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht". (K. Marx, 1. c., p. 345, in bezug auf das gegliederte System von Arbeitsmaschinen, „worin der Maschinenbetrieb seine entwickeltste Gestalt besitzt"). „Die Hauptschwierigkeit (für den Erfinder der Spinnmaschine) ... lag darin, menschliche Wesen dahin zu erziehen, daß sie ihren desultorischen Arbeitsgewohnheiten entsagen und sich mit der nie variierenden Regelmäßigkeit des komplizierten Automaten identifizieren lernten" (Ure, Philosophy of manufactures, 1835, p. 15). „In der Fabrik kommt die Teilung oder vielmehr die Anpassung der Arbeit an verschiedene menschliche Begabungen wenig in Betracht; im Gegenteil, so oft ein Prozeß besondere Gewandtheit und Festigkeit der Hand erfordert, so wird er so schnell als möglich dem kundigen Arbeiter entzogen, der zu Unregelmäßigkeiten vieler Art geneigt ist, und einem besonderen Mechanismus übertragen, der so sich selbst reguliert, daß ein Kind ihn überwachen kann" (das. p. 19). „Es ist tatsächlich das beständige Streben jeder Verbesserung in der Maschinerie, menschliche Arbeit völlig überflüssig zu machen, oder ihre Kosten zu vermindern durch Einsetzung der Arbeit von Frauen und Kindern für die von Männern; oder der von gewöhnlichen Arbeitern für die von geschulten Handwerkern" „Diese Tendenz, zuletzt bloß Kinder mit wachsamen Augen und gelenkigen Fingern, anstatt alterfahrener Gesellen, anzuwenden, zeigt, wie das scholastische Dogma der Arbeitsteilung von unseren aufgeklärten Fabrikanten über Bord ge8 „worin

der Maschinenbetrieb

... seine entwickelte

Gestalt besitzt"-. „Als gegliedertes

System von Arbeitsmaschinen, die ihre Bewegung nur vermittelst der Transmissionsmaschinerie von einen centralen Automaten empfangen, besitzt der Maschinenbetrieb seine entwickeltste Gestalt. An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer . . . " (Marx 1 8 9 0 : 345). 12 „Die Hauptschwierigkeit

... identifizieren lernten":

„The main difficulty did ... lie ... in

training human beings to nenounce their desultory habits of work, and to identify themselves with the unvarying regularity of the complex automaton." (Ure 1 8 3 5 : 15). 19 „In der Fabrik ... überwachen

kann": „In fact, the division, or rather adaptation of labour

to the different talents of men, is little thought of in factory employment. On the contrary, wherever a process requires peculiar dexterity and steadiness of hand, it is withdrawn as soon as possible from the cunning workman, who is prone to irregularities of many kinds, and it is placed in charge of a peculiar mechanism, so self regulating, that a child may superintend it." (ebd.: 19).

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worfen ist" (Ure, 1. c., p. 2 3 ) . „Die Arbeitsteilung ist vom Arbeiter auf die Werkzeugmaschine übergegangen. Je automatischer sie wird, desto gleichartiger wird die Arbeit ihrer Beaufsichtigung" (Schulze-Gävernitz, Der Großbetrieb, S. 1 6 6 ) . „Es wird oft behauptet, daß die Tendenz der M a schinerie nicht allein dahin gehe, die Tätigkeit des individuellen Arbeiters monoton zu machen, sondern die individuellen Unterschiede zwischen den Arbeitern zu verringern. Diese Kritik findet ihren Ausdruck in dem Worte ,Alle Menschen sind gleich vor der Maschine'. Insofern Maschinerie tatsächlich den Naturkräften Arbeit zuschiebt, die sonst Muskelkraft erfordern würde, tendiert sie unzweifelhaft dahin, Arbeiten von verschiedener Muskelfähigkeit zu nivellieren. Und ferner dadurch, daß sie Arbeit übernimmt, die große Präzision der Bewegung erfordert, ist es in einigem Sinne wahr, daß Maschinerie dahin tendiert, die Arbeiter auf ein gemeinsames Niveau des Geschicks oder sogar des Ungeschicks zurückzubringen" (Hobson, 1. c., p. 2 5 8 ) . „Eben die Eigenschaften: eng beschränkte Sorgfalt und Urteil, detaillierte Aufmerksamkeit, Regelmäßigkeit und Geduld, die wir als charakteristisch für Maschinenarbeit erkennen, sind allgemein menschliche Eigenschaften in dem Sinne, daß sie innerhalb der Fähigkeit aller liegen. ... Allgemeines Können gelangt dahin, eine wichtigere Rolle in der Industrie zu spielen als spezialisiertes Können . . . " (ebenda,

i „Es ist tatsächlich ... geworfen ist": „It is, in fact, the constant aim and tendency of every improvement in machinery to supersede human labour altogether, or to diminish its cost, by substituting the industry of women and children for that of men; or that of ordinary labourers for trained artisans." ... „This tendency to employ merely children with watchful eyes and nimble fingers, instead of journeymen of long experience, shows how the scholastic dogma of the division of labour into degrees of skill has been exploited by our enlightened manufacturers." (ebd.: 23). 3 Schulze-Gävernitz: Vgl. Schulze-Gävernitz 1892. 14 „Es wird oft... des Ungeschicks zurückzubringen": „It is often urged that the tendency of machinery is not merely to render monotonous the activity of the individual worker, but to reduce the individual differences in workers. This criticism finds expression in the saying: ,A11 men are equal before the machine.' So far as machinery actually shifts upon natural forces work which otherwise would tax the muscular energy, it undoubtedly tends to put upon a level workers of different muscular capacity. Moreover, by taking over work which requires great precision of movement, there is a sense in which it is true that machinery tends to reduce the workers to a common level of skill, or even of un-skill." (Hobson 1894: 257 f.). 20 „Eben die Eigenschaften ... als spezialisiertes Können ...": „Those very qualities of narrowly restricted care and judgement, detailed attention, regularity and patience, which we see to be characteristic of machine work, are common human qualities in the sense that they are within the capacity of all ... .General ability' is coming to play a more important part in industry than specialised ability ..." (ebd.: S. 259).

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S. 259 9 ). Mehr als eine starke und allem Anscheine nach siegreiche Tendenz wird hiermit nicht bezeichnet; es widerspricht ihrer Wahrheit nicht, daß, wie Schmoller bemerkt (Jahrbuch f. Gesetzgeb. XIII, 1051), „in der Bergwerks-, Maschinen-, Metall-, Holz-, Möbel-, Lederindustrie, in der ganzen Kunst- und Bekleidungsindustrie die arbeitsgeteilte Spezialisierung auch heute überwiegt". Auch kommt diese, wie schon angedeutet, auf dasselbe Ergebnis hinaus; sie ist wesentlich, was sie im vorigen Jahrhundert genannt wurde, Simplifikation (vgl. z. B .Justus Moser, Patr. Ph. I, 32). Die analysierte und zersplitterte Kunst geht zuletzt in Nichtkunst über.

III. Also bewirkt der gesellschaftliche Rationalismus, wie ihn das Prinzip des Handels ausdrückt, nach zwei Seiten hin die Verminderung - zuletzt also Aufhebung - der subjektiven Arbeitsteilung und Differenzierung, eine Rückkehr zur Einfachheit und Gleichheit der Menschen in Hinsicht auf das, was sie können; auf dem einen Pole zur Einfachheit und Gleichheit von Kapitalisten, auf dem anderen zur Einfachheit und Gleichheit von Arbeitern. Beide können-wenn die Tendenzen sich erfüllen - „alles": jene durch ihr Vermögen, diese durch ihre Person, d. i. die davon ablösbare Arbeitskraft. An beider Gleichheit haben Frauen und Kinder ideell vollkommenen Anteil, wenn auch tatsächlich modifizierten oder beschränkten. Zwischen beiden Gruppen stehen aber die wirklichen Leiter der produktiven Arbeit, insoweit sie nicht zur ersten gehören, in der Mitte. Ihrer Natur nach gehören sie zur Arbeit und stellen deren höchste Potenz und natürliche Autorität dar; durch die soziale Verfassung sind sie im Dienste des Kapitals und ihre Träger wirken als dessen Beauftragte. Als aktuelle Dirigenten gehen sie mit den Herren des Kapitals der Arbeiterklasse voran, beherrschen diese im Interesse jener; als ideelle Dirigenten '

Schon Vre nennt das mechanische System equalization of labour im Gegensatz zum graduation system der Manufactur (1. c. p. 21 f.). 6 „in der Bergwerks-

...Spezialisierung

auch heute überwiegt":

Bei Schmoller ( 1 8 8 9 : 1051)

leicht abweichend: „... in der Bergwerks-, Maschinen-, Metall-, Holz-, Möbel-, Lederindustrie, in der ganzen Kunst- und Bekleidungsindustrie überwiegt die arbeitsgeteilte Spezialisierung auch heute . . . " . 8 Moser: Vgl. Moser 1 8 4 2 . Das Kapitel 32 ( 2 6 3 - 2 8 9 ) trägt die Überschrift: „Von dem Verfall des Handwerks in kleinen Städten" - der Begriff „Simplificationen" für den arbeitsteiligen Manufakturbetrieb findet sich auf S. 2 6 4 . 28

Vre-. Vgl. Ure 1 8 3 5 .

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dienen sie dem Arbeitsprozeß, mithin der Arbeiterschaft selber, und hängen ihr an, würden aus ihr wie ein Organ hervorgehen, wenn sie ein unmittelbares Verhältnis zur Produktion hätte. Hierbei ist aber zu unterscheiden. Die tatsächliche Leitung zerfällt in kaufmännische und technische Leitung; sie entsprechen den beiden Seiten des Produktionsprozesses, insofern er Tauschwert und insofern er Gebrauchswert hervorbringt. Der größte Teil der kaufmännischen Direktion ist nur durch seine kapitalistische Form bedingt; solange als diese besteht, herrscht die kaufmännische Direktion über die technische (auch wo das eigentliche Handelsgeschäft von der Fabrik abgesondert ist und in anderen Händen liegt, bleibt sie der Technik von Warenproduktion inhärent). Wenn jene Form gesprengt werden könnte, so würde das umgekehrte Verhältnis eintreten: die kaufmännische Leitung würde auf die Technik der Buchführung und der Korrespondenz zwischen den kooperierenden Produktionsstätten reduziert werden. Die ganze Gruppe, die so zwischen den Klassen schwankt, kann die der geistigen Arbeiter heißen. Sie sind neu qualifiziert, aber nicht sowohl nach der Seite des Könnens als nach der des Wissens. Der gesellschaftliche Rationalismus, der sonst die allgemeine Ausgleichung bewirkt, hat in ihnen seinen eigentümlichen Ausdruck innerhalb des ökonomischen Prozesses dargestellt, der sich durch innere Bedeutung über beide Klassen erhebt. Von hier aus möge der gesellschaftliche Rationalismus in seiner anderen Gestalt, die bis jetzt wesentlich ideeller Natur ist, betrachtet werden. Sie verhält sich zur ersten zugleich als logische Konsequenz und als zeitliche Folge. Jene hat mit der Begründung des gezeichneten Zustandes, mit Anbahnung der Koalition konkurrierender, der Kombination zusammenhängender Geschäfte, mit der technischen Überwindung des alten Systems der Teilung der Arbeit innerhalb der Werkstatt, gleichsam ihr letztes Wort gesprochen. Die kapitalistische Klasse tendiert nicht dahin, sich zu erweitern, sondern sich zu verengern. Zwar die Theorie ihrer eigenen Verallgemeinerung vermag sich zu bilden und sich zu erhalten, so lange die gesellschaftliche Bewegung noch langsam fortschreitet, gewinnt neues Leben, so oft diese ihr Tempo wechselt; sowohl wenn es retardiert, als wenn es beschleunigt wird, kann es in diesem versöhnenden Sinne auf die Gedanken wirken. Parzellierung des großen Grundeigentums, genossenschaftliche Beteiligung Vieler an Fabrikunternehmungen, Hebung der materiellen Lage der Arbeiter durch Sparsamkeit, durch Einschränkung der Kindererzeugung, endlich durch Lohnkämpfe vermöge ihrer Gewerkvereine und dgl. m. werden, mehr oder minder in gutem Glauben, als

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Heilmittel gegen die absolute Plutokratie in Vorschlag gebracht. Alle solche Ideen haben für die gegenwärtige Ansicht keine Bedeutung, weil sie ein Prinzip entscheidender Veränderung nicht enthalten, wie es im Rationalismus als solchem vorhanden ist, insofern als er die Linie einer rücksichtslosen Bestrebung anzeigt. Die Bestrebung der Arbeiterklasse geht auf ihre eigene Verallgemeinerung, indem sie die Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung in ihre Konsequenzen verfolgen und dadurch umkehren will. Sie denkt das fortgeschrittenste Verhältnis der Kapitalisten zur Produktion verallgemeinert. Das Einkommen dieser ist purer Rentenbezug oder Handelsgewinn; auch ein erheblicher Teil des Einkommens, das die technischen Leiter der Werke beziehen, ist daraus ableitbar. Die Geschäfte sind gegen ihre Eigentümer durchaus selbständig geworden; was insonderheit an den Aktiengesellschaften wahrnehmbar. Gleichwohl werden sie so geführt, als ob die Vermehrung von deren Vermögen und Einkommen ihr eigentlicher Zweck, hingegen ihr Objekt, auch die Produktion von Gütern, nur Mittel dazu wäre. Von einem ganzen Volke oder einer internationalen Arbeiterschaft aus gesehen, existiert dies Verhältnis von Zweck und Mittel nicht. Die Produktion von Gütern hat vielmehr ihren unmittelbaren Wert, insofern als diese Güter menschlichen Bedürfnissen entsprechen. Sie haben die Verwandlung in Geld und Rückverwandlung des Geldes in sie nicht nötig, diesen schweren Umweg, auf dem sich eine Verteilung vollzieht, die von der Kapitalistenklasse so sehr als möglich zu ihrem Vorteile gelenkt wird; so daß eben darum die Verflechtung aller produktiven Arbeit in die grenzenlose Weltwirtschaft immer notwendiger wird; die bloße Ernährung der großen Menge findet ihre einzige Sicherheit in den Bewegungen des leicht erschütterten Welthandels, während für ein denkendes Volk die erste wirtschaftliche Sorge sein sollte, das Notwendige durch seine Arbeit selbst und zuerst hervorzubringen. Trotz der vermehrten, wenn auch noch zunehmenden Volksmenge würden die technischen und wissenschaftlichen Hilfsmittel, welche die bisherige Kultur gezeitigt hat, erlauben, dem Grund und Boden so große und regelmäßige Erträge abzugewinnen, daß Alle Befriedigung finden. Die industrielle Tätigkeit würde zum Teil unmittelbar in den Dienst dieser Aufgabe treten, teils sich ihr anschließen und über ihr sich erheben. Für alle Gegenstände, die nicht in so großer Menge, um dem vernünftigen Leben Aller seine Grundlagen zu gewähren, hergestellt werden müssen, tritt die Arbeit der Hand, und damit die Kunst, in ihre Rechte wieder ein; an Arbeitszeit wird es dafür nicht mangeln, da die »grobe« Arbeit insgesamt von der Maschine übernommen wird, deren vermehrte Anwendung nur noch im Geschmack und

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in ethisch begründeter Meinung, aber nicht mehr in Erwägungen privater Rentabilität ihre Grenzen findet. Die Verteilung der nicht mehr als Waren produzierten und nicht mehr nach den Gebrauchs- und Tauschbedürfnissen einer kleinen genießenden Minderheit vermannigfachten Genußwerte denn die Produktionsmittel verharren im gemeinsamen Eigentum - würde nach dem Maßstabe der Gerechtigkeit, daher vom Grundsatze der Gleichheit zur Angemessenheit fortschreitend, so geschehen, daß jede als werktätig angestellte Familie den Anspruch auf eine bestimmte Menge von Gütern, die ihren Anteil an dem gemeinsamen Jahresprodukte darstellt, jährlich erwürbe; es bleibt jeder überlassen, was sie darüber hinaus zum Schmucke des Lebens mit eigenen Mitteln und Werkzeugen, aus ihrem eigenen Geiste heraus, herstellen oder auch eintauschen wolle. Die Volksarbeit, die seither auf den Kopf gestellt war, nämlich auf die Vernunft der Egoisten, die ihr das Blut entzogen, wird durch die eigene Vernunft des Volkes wieder auf die Füße gestellt und gewinnt die Sicherheit des Stehens und Gehens auf ihrem natürlichen Boden wieder. - Diese Gedanken und das ungeheuere Problem, das sie aufgeben, knüpfen an die gegebenen Tatsachen überall an, deren Konsequenzen sie ziehen wollen. Nicht allein an die der Technik und der wissenschaftlichen Herrschaft über Naturkräfte, sondern auch an die schon dadurch umgestaltete soziale Verfassung, die durch ihre eigene Steigerung ihre Aufhebung vorbereitet. Die selbständigen Unternehmungen, auf deren Recht und Nützlichkeit sie beruht, werden durch den Sieg des Großbetriebes verhältnismäßig immer geringer an Zahl; die wenigen verlieren ihre Abhängigkeit vom Unternehmungsgeist und der Tüchtigkeit des isolierten Geschäftsmannes; sie verlieren ferner ihre eigene Individualität, teils indem sie von Kartellen sich abhängig machen, teils durch Kombination Teile von größeren Systemen werden. Da die große Mehrheit der Menschen - in der Nation oder dem Kulturgebiete - nicht mehr durch geschäftliche und Konkurrenzinteressen getrennt ist - denn die Konkurrenz im Verkaufe der Ware »Arbeitskraft« wird am leichtesten als absurd erkannt und aufgegeben - , so ist um so freiere Bahn für Erwägung der gemeinsamen Interessen, die zu verfolgen nun alle Vernunft angespannt wird. Je mehr die Teilung der Arbeit als Besonderung der Geschicklichkeit zurücktritt, um so mehr wird die lebenslänglich gleiche Tätigkeit und die willkürliche Festschmiedung an eine einzelne Verrichtung technisch unnötig, wird Abwechslung ein psychologisches Bedürfnis und ein moralisches Gebot. Die temporäre Rückkehr des Industriearbeiters zur Landwirtschaft, die durch Scheidung der Berufe unmöglich gemacht war, wird zu seinem

194

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Heile ganz selbstverständlich, je mehr auch die Landwirtschaft Anwendung von Maschinerie wird, und „die Vertrautheit mit den verschiedenen Maschinen als der einzige industrielle Beruf" sich entwickelt10. Eine charakteristische Kontroverse besteht über die Wirkung, welche durchgebildete Maschinenarbeit auf den menschlichen Geist habe. Das Zugeständnis überwiegt, daß sie durch ihre Monotonie ermüdend wirke, daß sie die künstlerische Volkskraft verderbe, daß ihre moralischen Gebote im günstigsten Falle höchst einseitig seien als: Ordnung, Genauigkeit, Ausdauer, Anpassung an zwingende Regelmäßigkeit. Auf der anderen Seite wird aber doch ein günstiger Einfluß auf den Intellekt behauptet. Durch zunehmenden Umfang, Kraft, Geschwindigkeit, Kompliziertheit der Maschinen werde auch die Aufsicht und Bedienung schwieriger, erfordere Urteil, Aufmerksamkeit, mechanisches Verständnis. „Die Maschinen erfordern ... eine gewisse liebevolle Behandlung, ein verständnisvolles Eingehen auf die in ihnen niedergelegten Gedanken der Technik seitens des Arbeiters ... selbst Wunderwerke des menschlichen Geistes, liefern sie dort das beste Erzeugnis, wo der an ihnen beschäftigte Arbeiter selbst zu der Höhe geistiger Arbeit aufsteigt." Mit der Steigerung der Produktivität des einzelnen Arbeiters „wächst seine Verantwortlichkeit" ... „Die Notwendigkeit einer allmählichen Hebung der Lebenshaltung der arbeitenden Klassen ist damit gegeben 11 ." Es ist klar, daß die intellektuell günstigen Wirkungen der Sache nach möglich, daß sie im System latent, aber durch die kapitalistische Form, die es - durch die ökonomische Entwicklung selber mit dem

10

P. Lafargue,

11

v. Schulze-Gaevernitz,

„Die Neue Zeit", VI, S. 138. Der Großbetrieb, S. 167 f., 171. Vgl. auch Schoenhof, The Economy

of High Wages, New York 1 8 9 2 und Brentanos daran anknüpfende Schrift „Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung". Leipzig 1 8 9 3 .

18 „Die Maschinen

... Arbeit aufsteigt.":

Vgl. Schulze-Gävernitz 1 8 9 2 : 1 6 7 f.; dort leicht

abweichend: „Zudem erfordern die Maschinen . . . " . 19 „wächst seine Verantwortlichkeit"-.

„Damit wächst die Verantwortlichkeit des einzelnen

Arbeiters." (ebd.). - Der nachfolgend zitierte Satz lautet vollständig: „Steht demgegenüber fest, daß der gewerbliche Fortschritt heute auf der Maschine beruht, so ist damit die Notwendigkeit einer allmählichen Hebung der Lebenshaltung der arbeitenden Klassen gegeben." (ebd.: 171). 24 Lafargue-. „An Stelle der Lehrlingszeit wird schließlich ein technologischer Unterricht treten, der den Mechanismus der Maschinen verstehen lehrt; die Vertrautheit mit den verschiedenen Maschinen wird der einzige industrielle Beruf sein." (Lafargue 1 8 8 8 : 138). 25 Der Großbetrieb:

Vgl. Schulze-Gävernitz 1 8 9 2 .

VII. Historismus und Rationalismus

195

immer mehr sich gebietenden Prinzip hoher Löhne und kurzer Arbeitszeit - abzustreifen tendiert, gebunden sind. In jeder Hinsicht gebietet also die Vernunft, daß die Menschheit, nachdem sie der Naturkräfte in so hohem Maße Herr geworden, auch ihrer eigenen Werke Herr werde, 5 denen sie bisher zu dienen gezwungen ist.

Vili.

Der Soziologen-Kongreß in Paris (1894)

2 Der Soziologen-Kongreß in Paris (1894): Tönnies' Bericht über den Gründungskongress des Institut international de sociologie wurde zuerst in der Wochenschrift Die Zeit (Nr. 4, vorn 27. Oktober 1894, S. 52 f.) veröffentlicht (im folgenden: A). - A u s einem Brief an Friedrich Paulsen am 27. September 1894 (Tönnies/Paulsen 1961: 312) werden Motive deutlich, die Tönnies bewegten, nach Paris zu reisen: „Wie meine Frau geschrieben hat, entschließe ich mich noch nach Paris zu fahren, nachdem seit dem Frühjahr Herr Dr. René Worms mich darum angeschrieben hat. Die Begründung eines Institut international de sociologie scheint mir wichtig genug, um persönlich und um als Deutscher daran teilzunehmen. Ich habe der neuen Wiener Wochenschrift ,Die Zeit', die mich um Mitarbeiterschaft anging, einen Bericht darüber angeboten, wodurch man ja auf einen Teil der Reisekosten kommen kann." Nach dem Ende des Kongresses berichtete Tönnies am 6. Oktober 1894 auf einer Postkarte an Paulsen aus Paris: „Daß ich hergekommen, freut mich. Es war auch gut, daß das deutsche Reich vertreten war. Wir haben nach Kräften Brüderschaft getrunken." (ebd.: 313).

Ein internationales Institut für Soziologie zu begründen, war ein kühner Gedanke, ein noch kühnerer, sogleich einen Kongreß dieses Institutes zu berufen. Der erste forderte wohl den zweiten und dieser hat sich als ein glücklicher bewährt. In Worten der Anerkennung, die dem Urheber beider, Herrn René Worms, am Schlüsse zuteil wurden, hat man auch ausgesprochen, daß in Paris jeder Kongreß Erfolg habe. Und Paris hat in diesem Falle noch eine besondere Bedeutung: Von Paris ist der Name »Soziologie« in die Welt gegangen und mit ihm die große Anregung für das gesamtwissenschaftliche und historische Denken, die Auguste Comte seinen Rang unter den Philosophen dieses Jahrhunderts sichert. Sein höchster Ehrgeiz war darauf gerichtet, die Wissenschaft, deren Namen er prägte, die „speziellste und komplizierteste", in ihr definitives, ihr positives Stadium zu erheben. Neben das System Comtes hat sich die innerlich verwandte und oft trotz der Proteste ihres Autors als seiner Schule angehörig betrachtete Philosophie Herbert Spencers gestellt. Auch sie sucht in der noch unvollendeten Soziologie ihren Gipfel. Noch mehr als durch seine Vorgänger ist durch Spencers Werk dieser Name in alle Länder getragen worden. Comte und Spencer haben weit größeren Einfluß als selbst in ihrer Heimat, teils dort, wo die moderne Wissenschaft einen wenig bearbeiteten Boden vorfindet, wie in Rußland, in Amerika, in den englischen Kolonien, teils dort, wo deren Entwicklung schwere Unterbrechungen erlitten hat, wie in den südlichen Ländern romanischer Zunge. Darum ist auch der Name Soziologie diesen vertrauter, bedeutet ihnen mehr, hat für sie den Charakter eines blendenden Programms, einer geglaubten und lebendigen Idee, die ihre Studien befruchtet. Bei den führenden Nationen sind inzwischen gleichartige Studien aus ganz anderen Quellen geflossen. Eine große Menge der Forschung und des Denkens ist das Jahrhundert hindurch der menschlichen Kultur aller Phasen zugewandt worden. Zwar die Historie, als akademisch behäbige Fürstin, hält über dem breitesten Gebiete der Tatsachen mit dem Gewichte der traditionellen Rechtmäßigkeit ihre Hand; nur als ihre Hilfswissenschaften läßt sie die Statistik und die Disziplinen gelten, die sich mit einzelnen Merkwürdigkeiten der Vergangenheit beschäftigen. Aber die großen Fort12 „speziellste und komplizierteste": Comte 1844: Nr. 73.

Zitat nicht nachgewiesen, vgl. dem Sinn nach aber

200

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

schritte sind überall mindestens ebenso reichlich außerhalb der Hochschulen und ihrer Vorurteile, als in deren Bannkreis gemacht worden; wenn hier noch äußere Förderung und Beschleunigung zugute kommt, so sind die inneren Hemmungen um so größer. Wie im 17. Jahrhundert die neue Physik, so ist im 19. Jahrhundert die neue Sozialwissenschaft, der Hauptsache nach, ein unzünftiges, von Freimeistern betriebenes Handwerk. Und dieser Charakter verbindet sie wiederum mit den meisten epochemachenden philosophischen Systemen des früheren und des gegenwärtigen Jahrhunderts, auch mit den Systemen Comtes und Spencers, die ebensowohl die Erforschung und Theorie der ursprünglichen ökonomischen, sittlichen und rechtlichen Verfassung des Menschengeschlechtes als die Erforschung und Theorie ihrer modernen Entwicklung, ihrer gegenwärtigen Zustände anstreben. Etwas außerhalb dieser Gebiete stehen die prähistorische oder, wie sie in Frankreich genannt wird, die archäologische, und die ihr nah verwandte anthropologische Forschung in dem Sinne, den ihr Broca gegeben hat, ferner die eigentliche Ethnographie und Ethnologie. Sie alle sind akademisch mehr oder weniger anerkannt und könnten insbesondere als Museumswissenschaften bezeichnet werden. Die Beziehungen auf bestimmte Gebiete, Völker, Zeiten verbinden hier die Philologie als Sprachen- und Literaturwissenschaft, von den klassischen auf die nichtklassischen Völker sich ausdehnend, die Mythologie und das ganze Gebiet, das Steinthal »Völkerpsychologie« genannt hat, die Sitten- und Rechtshistorie und was darüber noch als Abteilung der allgemeinen Kulturgeschichte sich konstituieren mag: die meisten dieser Studien werden auch von akademischen Lehrern, gleichsam im Nebenberuf, betrieben. Ohne Zweifel gewinnen sie erst ein wissenschaftliches Gerüste durch die Idee der Vergleichung, durch die Konzeption einer gesetzmäßigen Entwicklung, durch ihre Zusammenfassung unter einheitlichen Gesichtspunkten. Wenn diese Gedanken konsequent verfolgt werden, wenn mehr und mehr die Anwendung der Begriffe und Methoden auf allen Gebieten in die jüngeren Schichten der menschlichen Entwicklung hineindringt, wenn sie endlich auch das Reich der politischen Vorgänge sich unterwirft, so erhebt sich neben der Historie wie über allen jenen historischen Disziplinen eine allgemeinere Wissen3 noch: In A: auch. 16 Broca: Vgl. Broca 1 8 7 1 - 1 8 8 8 . 23 »Völkerpsychologie«:

Vgl. einen programmatischen Aufsatz von Lazarus/Steinthal 1 8 6 0 :

„Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft".

VIII. Der Soziologen-Kongreß in Paris

201

schaft, wie sich neben und über der Zoologie und Botanik, über der menschlichen Anatomie und Physiologie siegreich die Biologie erhebt, als Theorie und Entwicklungsgeschichte des organischen Lebens, so die Theorie und Entwicklungsgeschichte des sozialen Lebens, die ihren besonderen Gegenstand dadurch gewinnt, daß sie es mit den Werken der Menschen zu tun hat; denn zu diesen müssen auch die Formen alles Zusammenlebens gerechnet werden. Und so erobert sich der Begriff, und wohl auch der Name der »Soziologie« durch eine innere Notwendigkeit sein Dasein und sein Recht. Der Begriff selber unterscheidet sich von der Kulturgeschichte nicht bloß durch seine unerläßliche Anknüpfung an die Biologie, sondern auch dadurch, daß er wesentlich, und zuerst die Theorie als ideales Ziel zu bezeichnen und das Verständnis von Zuständen und Vorgängen durch die Werkzeuge der Begriffe zu fordern bestimmt ist. Und sofern es um Zustände sich handelt, da sind die gegenwärtigen, unserer Beobachtung am unmittelbarsten zugänglichen sozialen Zustände ihr gegebenes nächstes Objekt. Sie wollen beschrieben, wollen erklärt werden. Hier begegnen sich aber wiederum, als schon erfahren in diesem Gebiet, die politische Ökonomie und die Statistik. Aber beide haben, je mehr sie an Breite zunahmen, ihren Schwerpunkt verloren, sind schwankende Existenzen in der Gelehrten-Republik geworden, von sonderbaren Streitigkeiten über ihr Wesen, ihre Aufgaben erfüllt. Die Nationalökonomie weiß nicht recht, was sie will, aber unter ihren gründlichsten Denkern ist die Meinung oft ausgedrückt worden, daß sie der allgemeinen Sozialwissenschaft sich gleichsam kommendieren und ihr Arbeitsfeld von ihr zu Lehen nehmen müsse. Die Statistik ist mehr und mehr zur bloßen Methode geworden: jede Darstellung von Tatsachen, die sich der Zahlen bedient, pflegt eine Statistik geheißen zu werden. Vergebens hat man sie auf Massenerscheinungen einzuschränken gesucht: vergebens hat man den Begriff der Demographie und Demologie aus dieser rohen Masse herauszubilden versucht; außer in einigen französischen Publikationen ist der erstere Begriff nur durch den Kongreß bekannt geworden, der neulich in Budapest getagt hat. Eine seltsame Zusammenstellung, die der Hygiene und der Demographie: neben der Hygiene würde man die Ethik erwarten, und die Demographie, die sich ausdrücklich nur auf Tatsachen der Bevölkerung beziehen will, gehört doch in ein System der Beschreibung sozialer Zustände, wie es die Statistik, ihrem alten Sinne nach, sein sollte. Dieser alte Sinn hatte ihr, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, besonders durch 31 Kongreß:

Diese Tagung fand vom 1. bis 9. September 1 8 9 4 statt (vgl. Gerloczy 1896).

202

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

die Göttinger Schule, einen hohen Ruf verschafft: sie galt als vornehmste unter den »Kameralwissenschaften«. Jetzt überlebt der Begriff fast nur noch in einigen Lehrstühlen, besonders in Österreich, und in herkömmlich gewordener Paarung mit der Geographie oder als statistische Geographie. Die Geographie hat neuerdings im Deutschen Reich eigene Lehrkanzeln für sich errichten lassen, die Statistik mit ihrer jetzigen, höchst unsicheren Gestalt wird es nicht leicht dahin bringen. Und das ist doch wohl zum Schaden der Sachen, die unter ihrem und anderem Namen betrieben werden. In einer ganz bescheidenen Ecke und mit geringen Wirkungen hat sich ferner die »Moralstatistik« aufgetan. Nun mehren sich die Zeichen, daß man übereinkommen wird, alle diese Untersuchungen als soziologische zu bezeichnen. Unter diesem Namen dringen sie ein in ganz entferntes Gebiet, für welches aber die Wichtigkeit der Statistik längst bemerkt worden ist, in das des Kriminalrechtes. Die internationale, kriminalistische Vereinigung stellt als einen ihrer Grundsätze auf, daß die „Ergebnisse der anthropologischen und der soziologischen Forschung" in Theorie und Gesetzgebung der Strafe Rücksicht finden sollen. Und unter dieser Fahne haben sich, vielleicht zum großen Teile ohne die Bedeutung klar zu erkennen, in sehr stattlicher Zahl Gelehrte aller Länder zusammengefunden. Man muß freilich zugestehen, daß nur wenige und unsichere Ergebnisse dieser Art sich behaupten lassen. Aber die Kriminalsoziologie ist wie die von ihr nicht loszureißende Kriminalanthropologie als eine bedeutende Aufgabe feierlich anerkannt worden. Die statistischen Forschungen aller Art gehen von der Gegenwart aus in die Vergangenheit. Wie wichtige Erkenntnisse sind schon dem Studium der Archive, der alten Bürgerlisten, der Zunfturkunden, Rechnungshefte, Kirchenbücher zu danken. Mitunter erschrickt man bei der Betrachtung des unermeßlichen Materiales, das schon aufgehäuft ist, noch ausgegraben werden wird. Je mehr diese Masse den Gedanken zu erdrücken droht, um so mehr bedarf es der beherrschenden, durchgreifenden, ordnenden Idee. Die Einfügung dieser Spezialforschungen in ein System der Wissenschaft ist notwendig, in das System, das man schon darum Grund genug hat, Soziologie zu nennen, weil dieser Name ein internationaler Name ist, und jeder Wissenschaft Sache ist international, vorzüglich aber dieser, die so sichtlich an Bedeutung gewinnt, je mehr das soziale Leben, die »soziale l Göttinger Schule: Gemeint ist die von Gottfried Achenwall begründete und von August Ludwig Schlözer fortgeführten Schule, die auf beschreibender Basis „Staatsmerkwürdigkeiten" untersuchte und darstellte; vgl. John 1884, 74 ff.; der Begriff „Göttinger Schule" ebd.: 8 9 und 128 f.

VIII. Der Soziologen-Kongreß in Paris

203

Frage« wenigstens, die westeuropäischen Länder in ihren lebhaftesten Elementen zusammenknüpft. Dem ersten Kongreß des neuen Instituts hat Sir John Lubbock präsidiert. Seine Eröffnungsrede stand vielleicht nicht durchaus „auf der Höhe der Situation", war aber so sympathisch, wie der Eindruck seiner Persönlichkeit. Eine lange Reihe von Abhandlungen wurde sodann, während vier Tagen in acht Sitzungen, teils von den Verfassern, teils in deren Namen gelesen. Ich hebe hervor die Mitteilung des ausgezeichneten Rechtshistorikers Kovalevsky, ehemaligen Professors in Moskau, über neuere russische Forschungen, zu denen seine eigenen über das Gewohnheitsrecht der Osseten gehören, und den dadurch gewährten Einblick in sehr primitive Formen des Landeigentums bei den donischen Kosaken, in die Veränderungen dort mit dem Nachlassen des Wanderlebens, in die fortschreitende Zersetzung des Mir-Kommunismus: in die rasche Auflösung des Mutterrechtes und der fratriarchalischen Familie, die bei sibirischen Stämmen der Beobachtung noch vorliegen; das Memoire endete in einem geistreichen Überblick über die verschiedenen Phasen, durch welche die menschliche Gemeinschaft bisher hindurchgegangen sei. An eine Darstellung, die Paul von Lilienfeld gesandt hatte, knüpfte sich eine belebte Debatte über die »organischen« Theorien des sozialen Lebens; an eine Verteidigung seines Erklärungsprinzips der Nachahmung für die Gleichheit der Institutionen, Sitten usw., die Gabriel Tarde vortrug, schloß sich eine Besprechung dieses weitreichenden Problems. Ein Exposé des nicht anwesenden Gumplowicz-Graz wurde mit großer Entschiedenheit und Übereinstimmung kritisiert, und nur ehrenhalber durch den sehr gewandten Sekretär des Institutes, Herrn Worms, verteidigt. Worms bot eine eigene Arbeit über das Verhältnis der Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst, in der Soziologie; Novikoff-Odessa, Verfasser eines in Frankreich übersetzten und viel bemerkten Buches über „Les Luttes entre les sociétés humaines", sprach über die Idee der Gerechtigkeit im Verhältnis zum Darwinschen Prinzip. Am letzten Tage las Baron Krauß, ein in Paris ansässiger Pole, über die falschen Anwendungen pathologischer Prinzi4 Eröffnungsrede-,

Vgl. Lubbock 1 8 9 5 . - D i e Verhandlungen des Kongresses wurden im

ersten Band der „Annales de l'Institut International de Sociologie" dokumentiert. Die im Folgenden von Tönnies erwähnten Kongressbeiträge sind in der Bibliographie des vorliegenden Bandes einzeln nachgewiesen. 28 Soziologie;: Im Original irrtümlich ein Doppelpunkt, in A korrekt. 30 „Les Luttes entre les sociétés humaines": 31 Baron Krauß: Vgl. Krauz 1 8 9 5 .

Vgl. Novicow 1 8 9 3 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

pien, mit einer scharfen Kritik Nordaus, dessen Werk über »Entartung« man in Frankreich wichtiger zu nehmen scheint, als es verdient; endlich F. Tönnies-Kiel über die vorwaltenden Mächte der neueren Geschichte, als welche er die Gesellschaft, den Staat, und die Wissenschaft in ihren Wechselwirkungen zu beschreiben versuchte. Für den nächsten Kongreß, dessen Ort und Zeit noch nicht bestimmt wurde - man war fast einmütig, ihn schon in das nächste Jahr zu setzen - , ist Schäffle zum Präsidenten erwählt worden. Die Themata sind im voraus bestimmt und Referenten dafür bestellt. Die Auswahl der Themata ist mit richtigem Takte geschehen, und bedeutet zugleich ein Programm des Institutes für den größeren Teil seiner Arbeit, die es zu organisieren wünscht. Es sind 1. Die Definitionen der Soziologie: Referent Worms; 2. Das Matriarchat: Referent Westermarck-Helsingfors; 3. Der Übergang vom kollektiven zum individuellen Eigentum. Referent Kovalevsky; 4. Gibt es ein Gesetz der Entwicklung politischer Formen?: Referent Tönnies. 5. Das Verbrechen als soziale Erscheinung: Referent Tarde. Als sechstes wichtiges Thema, selbst auf Kosten eines der Genannten, würde ich noch vorzuschlagen haben: Die Soziologie im System des höheren Unterrichts. Hier wäre unter anderem die Forderung zu erheben, daß die bestehenden und zu vermehrenden statistischen Ämter in rein wissenschaftliche Observatorien verwandelt würden, die den Regierungen und Gemeindekörpern nach wie vor Dienste leisten, aber finanziell und sachlich von ihnen unabhängig sein sollten.

i Werk über »Entartung«:

Vgl. Nordau 1 8 9 2 - 1 8 9 3 , in französischer Übersetzung Nordau

1894. 3 Tönnies-Kiel:

Vgl. Tönnies 1895a.

6 nächsten Kongreß:

Der Kongress fand vom 30. September bis 3. Oktober 1 8 9 5 in Paris

statt, die Verhandlungen wurden im zweiten Band der Annales de l'Institut International de Sociologie (1896) veröffentlicht. 12 Worms: Vgl. Worms 1 8 9 6 . 13 Westermarck-Helsingfors:

Vgl. Westermarck 1 8 9 6 .

14 Kovalevsky: Vgl. Kovalevsky 1 8 9 6 - Für den Rest des Absatzes fehlt in A jeweils das Wort „Referent". 15 Referent

Tönnies:

Vgl. Tönnies

1896; zu diesem Thema gab es 1 8 9 5 noch weitere

Vorträge, die in den Annales nachgewiesen sind. 16 Referent Tarde: Ein solcher Beitrag ist im Kongressband der Annales nicht nachgewiesen.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung 1 Erster Teil

5

1

Veranlaßt durch das Preisausschreiben (Jena 1900): „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten und der Preisschriften?" - Über meine eigene Beteiligung an dem Wettbewerbe habe ich Rechenschaft gegeben in Schmollers Jahrbuch, X X X I , 2. 3 Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung: Der Text wurde unter dem Titel „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre" im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] (29.1905, S. 2 7 - 1 0 1 [H 1, 27-101]; im Folgenden: A) veröffentlicht. - Dieses und die folgenden Kapitel im ersten Band der „Soziologischen Studien und Kritiken" dokumentieren Tönnies' Auseinandersetzung mit einem Preisausschreiben zur Deszendenztheorie (vgl. Preisausschreiben, 1900) und allgemeiner mit den Ansätzen eugenischer Theorie und Gesellschaftspolitik. Für die Wiederveröffentlichung in den „Soziologischen Studien und Kritiken" kürzte Tönnies fast alle Teile des Aufsatzes um insgesamt etwa 20 Druckseiten. Weg fielen Teile der Polemik gegen die Preisstifter und insbesondere gegen den ersten Preisträger Wilhelm Schallmayer. Diese Auslassungen sind im Folgenden angezeigt und im editorischen Bericht dokumentiert. Für den in A vorgestellten Text sowie für das in Schmollers Jahrbuch übliche kurze Inhaltsverzeichnis vgl. im editorischen Bericht, S. 653. 7 „Was lernen wir ... der Preisschriften?": Der Text ist offensichtlich verdorben. Richtig ist: Veranlaßt durch das Preisausschreiben (Jena 1900): „Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?" und die Preisschriften. - Vgl. Preisausschreiben, 1900. 8 habe ich Rechenschaft

gegeben:

vgl. in diesem Band S. 675 ff.

Wir hören, daß die gefeiertsten Biologen, gerade in Deutschland, daß Männer von so leuchtenden Namen wie Ernst Haeckel und August Weismann, keineswegs von den Prinzipien der Deszendenztheorie eine übereinstimmende, sondern eine weitauseinandergehende Ansicht haben; daß jener an der Vererbung erworbener Charaktere festhält, während dieser sein Lebenswerk darein gesetzt hat, die Möglichkeit solcher Vererbungen zu widerlegen und dagegen als einziges Prinzip der Deszendenztheorie die natürliche Auslese zwischen zufällig entstandenen Varianten zu behaupten. Denn die Vererbung für sich allein ist kein unterscheidendes Prinzip der Deszendenztheorie; vielmehr muß gerade die entgegengesetzte Ansicht der Artenkonstanz sich wesentlich darauf stützen; wie sie es auch immer getan hat und sich mit Recht darauf berufen konnte, daß durch freie Kreuzung innerhalb einer Art kleine Abweichungen der Charaktere immer wieder ausgeglichen und reduziert werden; daß aber solche Kreuzung regelmäßig fruchtbar sei, während Kreuzung zwischen verschiedenen Arten ebenso regelmäßig sich als steril erweise. Die Deszendenztheorie fordert neben dem Prinzip der Erhaltung - das ist die Erblichkeit der Struktur und Eigenschaften an und für sich - ein Prinzip der Abänderung, das jenem in irgendwelchem Maße entgegenwirke und dann doch wieder mit ihm zusammenwirke, gleichsam seiner Hilfe sich bediene. Ein solches Prinzip der Abänderung ist nun die Anpassung der Individuen an ihre Lebensbedingungen offenbar; aber auch nur dann, wenn es jenes erste Prinzip - die Vererbung - in seine Dienste zu nehmen vermag. Wird dies geleugnet, so verliert es für die Deszendenz alle und jede Bedeutung. Wird es bejaht, so folgt nicht, daß Anpassung das einzige Prinzip der Abänderung sein müsse, ein anderes solches kann sogar eine viel weiterreichende Bedeutung haben: dies eben war die Meinung Darwins, in erster Linie mit der »natürlichen« Auslese, in zweiter, und besonders in Anwendung auf Abstammung des Menschen, mit der geschlechtlichen Auslese. Aber auch das Prinzip der Auslese ist nicht notwendigerweise ein Prinzip der Abänderung; es ist nach seiner negativen Seite mit der Konstanz der Arten sehr wohl vereinbar, ja es bedingt diese als Gegengewicht gegen die Tendenzen zur Entartung. Wenn der Steinadler geschaffen worden ist mit großen Augen und scharfem Gesicht, und ihrer bedarf, um seine Beute zu i Wir hören-. In A: Wir hören aber.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

erjagen, so folgt, daß alle Varianten, die mit nicht hinlänglich scharfem Gesicht ausgestattet sind, entweder selbst zugrunde gehen oder eine auf die Dauer nicht existenzfähige Nachkommenschaft erzeugen, zumal wenn sie sich mit ebenso schlechten Varianten paaren. Die normalen Individuen wären auch so von der Natur für die Fortpflanzung bevorzugt. Darin, daß die natürliche Zuchtwahl zu einem Prinzip der Abänderung gemacht wird, wie es die künstliche Zuchtwahl, wenngleich in engen Grenzen, ohne Zweifel ist, liegt die ungeheure Bedeutung der Darwinschen Ansicht vom Ringen um die Existenz, mit anderem Worte, von der nur beschränkt möglichen Koexistenz von Organismen. Dieser zufolge müssen auch die normal angelegten Individuen einer Art teils durch die Konkurrenz um Nahrungsmittel und andere Lebensbedingungen, den Unbilden des Wetters und des Klimas gegenüber, teils durch die große Zahl von Feinden und Verfolgern, massenhaft zugrunde gehen, und werden regelmäßig nur solche, die mit vorzugsweise günstigen Eigenschaften für die besonderen Lebensverhältnisse und Schwierigkeiten, denen die Art ausgesetzt ist, versehen sind, sich dauernd, d. h. in ihrer Nachkommenschaft erhalten; genauer ließe sich das Prinzip dahin ausdrücken, daß die Chancen der Individuen, ihre eigentümlichen Fähigkeiten zu vererben, ihrer angeborenen Tauglichkeit oder Angepaßtheit proportional sind; sicherlich eine ebenso bedeutsame als einleuchtende Verallgemeinerung, wenngleich ebensowohl eine regressive wie eine progressive Entwicklung daraus hergeleitet werden kann, wie Weismann mit Schärfe betont hat, andere gern vergessen. Heinrich von Treitschke hörte ich einmal in einer Vorlesung sagen, der »häusliche Streit« der Naturforscher über die Entstehung der Arten und die Abstammung des Menschen gehe den Historiker nichts an, er könne der Austragung dieses Streites gleichgültig zusehen. Dies war schon damals, vor etwa 20 Jahren, eine enge Ansicht; daß die höheren Gattungen aus den niederen sich entwickelt haben, war unter namhaften Naturforschern kaum mehr streitig. Aber der wirklich, und heute mehr als zuvor, streitigen Frage gegenüber, die das Wie dieser Entwicklung betrifft, muß der Historiker und Soziologe allerdings sich bescheiden, wenn auch der Ausgang dieses Kampfes ihm keineswegs gleichgültig sein darf. *

*

*

14 nur: In A kursiv. 29 schon damals, vor etwa 20 Jahren:

D. i. um 1 8 8 5 .

I X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

209

Es liegt auf der Hand, welch ein gewaltiger Unterschied der Betrachtung sich ergibt, je nachdem man annimmt, daß die Anlagen der Menschen - in denen Fähigkeiten und Neigungen so intim zusammenhängen - durch die Lebensweise und gewöhnlichen Tätigkeiten so stark beeinflußt werden, daß die Modifikation einer Anlage möglicherweise, besonders im Falle einer günstigen Paarung, auf die Kinder übergeht - oder daß alle Anlagen unverändert übertragen werden, so daß die zufällig besseren nur durch Kreuzung gesteigert werden können. Im ersten Falle wäre eine durch die Generationen fortschreitende Kumulierung oder Abnahme jeder organischen, also auch jeder psychischen Fähigkeit zu gewärtigen, jene, wenn sie fortwährend gebraucht, also geübt und ernährt, diese, wenn fortwährend nicht gebraucht, also atrophiert wird. Allerdings blieben diese Tendenzen immer mitbedingt durch die Kreuzung, aber sie wären doch ein stetig wirkender Faktor der Entwicklung. Im anderen Falle könnten die besseren Anlagen, ob geübt oder nicht, nur dadurch einen Vorsprung vor den schlechteren gewinnen, daß sie einmal dem Individuum nützlich waren und eben dadurch ihm gestatteten, sich stärker fortzupflanzen, dann aber durch geschlechtliche Verbindung mit so sehr als möglich gleichbegabten, durch Inzucht oder Vermeidung der Panmixie. Wenn diese Bedingungen gegeben wären, so würde aber auch die differenzierende Evolution mit Sicherheit stattfinden, und die schlechtere Varietät könnte in keinem Falle konkurrieren, auch wenn die Lebensbedingungen auf die Individuen dieser Varietät so einwirkten, daß in jeder Generation die individuellen Anlagen gesteigert oder veredelt würden; selbst bei fortdauernder Kreuzung mit Individuen, bei denen das gleiche der Fall wäre, würden die Anlagen immer die schlechteren und erfolglosen bleiben. Man bemerkt, wie viel langsamer im zweiten Falle die Abänderungen geschehen sein, wie viel größere Zeitspannen sie also erfordert haben müssen. Nehmen wir ein Merkmal, wodurch sich der Kulturmensch vor den Naturvölkern auszeichnet, z. B. die größere und an Windungen reichere Gehirnmasse und die dadurch bedingte Wölbung des Vorderschädels. Nach der strengen Selektionslehre wäre dieser Charakter nur dadurch entstanden, daß Gehirnmasse nützlich ist: eine kleine Gruppe von Individuen, die zufällig ein wenig nach dieser Richtung hin variierte, fand dadurch erweiterten Nahrungsspielraum, indem etwa einer von ihnen auf den Einfall kam - die Erfindung machte - zwei Holzstäbe solange gegeneinander zu reiben, bis sie sich entzündeten; diese Gruppe pflanzte sich durch Inzucht fort; dadurch erhielt sich nicht nur, sondern vermehrte sich

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

das Merkmal, wodurch sie sich auszeichnete, da es zugleich fortwährend im Kampfe ums Dasein sich als vorteilhaft erwies. Aber wie vieler Generationen bedurfte es, damit auf diese Weise ein kaum merklicher Unterschied der Struktur zu einem neuen Typus anwachsen konnte! Anders, wenn die Wirkungen der Übung auch dem Keimplasma zugute kommen, so daß ein Wachstum der Hirnmasse infolge von vielfacher Tätigkeit möglicherweise in einer etwas verstärkten Anlage, wenn auch nur eines einzigen Nachkommen sich abbildet. Die Lebensweise wäre ein Faktor von außerordentlich viel größerer Bedeutung; die Tendenz zur Abänderung, zur Bildung neuer Varietäten würde, unter sonst günstigen Umständen, sehr viel rascher fortschreiten, es kämen eben nicht nur die äußeren Errungenschaften der Eltern, sondern auch die inneren, wenngleich nur als Anlagen, den Kindern und Enkeln zugute. Historische Zeitspannen kämen für die Ausbildung der zivilisierten Völker als besonderer anthropologischer Typen in Betracht. Insofern also als die „innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten" durch die Qualitäten der Menschen bedingt ist, und wiederum auf diese zu wirken bestimmt wird, ergibt sich ein ganz und gar verschiedener Gesichtspunkt, je nachdem diese Qualitäten betrachtet werden, als im wesentlichen konstant, und nur einer sehr langsamen Modifikation durch Zuchtwahl der Natur unterworfen oder aber als sehr variabel, weil fortwährend mitbedingt durch das natürliche und soziale Milieu, wie auch durch die Beimischung der besonderen Verstandes- und zumal Willensanlagen in den Individuen, die zu energischer Tätigkeit reizen, also das notwendige Mittelglied für den Erwerb oder doch die Verstärkung von Qualitäten nicht nur des Individuums, sondern auch der Gattung darstellen. *

*

*

Wenn man auch gelten läßt, daß der Gegensatz zwischen Überlieferung und Neuerung im Leben eines Volkes biologisch aufgefaßt, ja interpretiert werden kann, so versagt doch die Analogie sehr bald, wie es das leidige Schicksal aller übrigen biologischen Analogien für das Studium des sozialen Lebens ist. Wenn man allenfalls das Recht eines Volkes oder Stammes, sofern es „in Fleisch und Blut übergegangen ist", insbesondere also in der 29 Wenn man auch gelten läßt: A\ Indessen, wenn man auch gelten läßt - Vor diesem Satz hat Tönnies eine längere Passage aus A gestrichen. Siehe im editorischen Bericht, S. 654. 34 „in Fleisch und Blut übergegangen

ist": Vgl. Ziegler 1903: 3.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

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Form des Gewohnheitsrechts, worauf sich ein lebendiges Rechtsgefühl, ein starker Rechtsglaube bezieht, mit einem organischen Gewebe vergleichen mag, das gleichfalls durch die Übungen von Generationen immer mehr für seine Funktion tüchtig, also zweckmäßig geworden ist - ebenso wäre Recht zweckmäßig, wenn es der Erhaltung und Förderung des Zusammenlebens durch Streithemmungen und Streitentscheidungen dient; so wird es doch nicht gelingen, nach den „Prinzipien der Deszendenztheorie" die Beschaffenheit eines geltenden Rechts irgendwie zu erklären, da von den Wirkungen bewußter menschlicher Willensakte in diesen Prinzipien nichts vorkommt und nichts vorkommen kann. Mögen wir diese immerhin als versuchte Anpassungen verstehen; mögen wir uns dabei beruhigen, daß soziale Vererbung erworbener Abänderungen nicht nur möglich ist, sondern regelmäßig stattfindet; wir sind doch keineswegs in der Lage, ein mit solchen und solchen rechtlichen Institutionen ausgestattetes »Volk«, sei es als Individuum oder als biologische Spezies resp. Varietät, aufzufassen; in einigen Beziehungen ist es jenem (dem Individuum), in anderen der Spezies resp. Varietät ähnlich, und es ist doch als soziales Gebilde von beiden sehr verschieden. Als Subjekt der Rechtsbildung begreifen wir für ältere Perioden allerdings „das Volk" in seinem „dunklen Drange"; Modifikationen des Herkommens geschehen am ehesten durch priesterliche Einflüsse, mehr und mehr aber, indem gerade die Religion schlechthin konservativ wird, durch die Macht der Heerführer; endlich durch Bürgergemeinden und weltliche Richter. Immer aber sehen wir das Volk sich mannigfach gestalten und sich differenzieren: in Stämmen und in lokalen Teilen, am ausgeprägtesten in Städten, die dann ihr eigenes Recht für ihre Bedürfnisse zu schaffen vermögen, aber auch fertiges von anderen entlehnen oder anderen mitteilen; diesen Differenzierungen und Traditionen gegenüber erhebt sich endlich der Staatswille, vereinheitlichend und ausgleichend, abschaffend und neuernd: - wenn wir „das Volk" als sein Subjekt verstehen, so tritt hier zuerst und auf einmal das Volk als Individuum auf, während es bisher die Natur einer Spezies bewährte, innerhalb derer vielmehr die einzelnen Territorien und Landschaften besonders aber die Städte, als soziale Individuen erschienen. Ist das ein biologischer Begriff, ein Ding, das viele Jahrhunderte lang seine Wirklichkeit als Gattung hat und dann in kurzer Zeit, fast plötzlich, sich in ein individuelles Lebewesen verwandelt? Oder will man jene Differenzierungen mit der physiologi-

17 und es ist doch:

In A: und ist doch.

212

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sehen Teilung der Arbeit innerhalb eines Organismus vergleichen, also Landschaften und Städte, die ihre eigenen Institutionen, ihr besonderes Recht haben, als Organe vorstellen? Wie stellt sich aber dann der zentralisierte Wille dar, der solche Organe nicht etwa nur sich dienstbar macht, sondern sie ihres eigenen Lebens und Willens beraubt, aus selbständigen oder doch fast selbständigen Individuen doch erst zu Teilen eines durch ihn - den Staatswillen - repräsentierten Ganzen macht - ? Verwandlung eines wirbellosen, polypenartigen Tieres in ein menschenartiges, vom Zentralorgan geleitetes? Und diese Verwandlung im Verlaufe von etlichen Jahrhunderten? Und doch ist der Fortschritt, die Entwicklung, die wir in der Menschheitsgeschichte mit Sicherheit beobachten können, immer noch mit mehr Wahrscheinlichkeit erklärbar als Fortschritt und Entwicklung eines quasiindividuellen Lebens des »Superorganismus« einer Nation oder einer Rasse, als daß man sagen dürfte, es sei darin die Entwicklung einer neuen Spezies oder speziesähnlichen Abteilung erkennbar; sagen dürfte, es unterscheide sich der moderne Europäer von seinen Vorfahren, die vor 2000 Jahren lebten, in wesentlich derselben Weise, wenn auch in viel geringerem Maße, wie der Mensch als solcher von seinem nächsten Vorfahren, der noch nicht Mensch war, sagen wir vom Pithekanthropus, sich unterscheide. Dies war ohne Zweifel die Meinung Herbert Spencers, und ist das stille, oder ausgesprochene Vorurteil aller derer, die die Anwendung der Prinzipien der Deszendenztheorie auf die menschliche Geschichte für eine einfache und durch die Tatsachen als von selbst verständlich gegebene Sache halten. Man kann nicht sagen, daß diese Ansicht schlechthin widerlegt worden sei, auch nicht, daß sie durchaus innerlich unwahrscheinlich ist, aber von einem Beweise dafür ist bisher auch kein Schimmer vorhanden. Nicht einmal zwischen den rohesten jetzt lebenden Wilden und den Kulturmenschen lassen sich irgendwelche morphologische Unterschiede des Sinnes entdecken, daß jene den Affen näher zu stehen schienen als diese. Und wenn auch angenommen werden darf, daß die durchschnittliche Kapazität des Schädels, die Masse des Gehirns, die Menge der Windungen des Vorderhirns, unter dem Einfluß der Kultur sich vergrößert haben, so bleibt es doch sehr fraglich, ob dadurch mehr als eine Spielart, ob ein dauernd fortpflanzungsfähiger Typus sich gebildet hat, ob nicht vielmehr die Kultur selber wieder zerstört, was sie geschaffen hatte. Ich hege die Meinung,

20 Pithekanthropus:

[griech.] svw. diluvialer (eiszeitlicher) Frühmensch.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

213

daß wir jedenfalls das Menschengeschlecht betrachten müssen als in fortwährendem Ringen um die Existenz begriffen, und nicht nur die Rassen, sondern alle verschiedenen Gruppen als in mehr oder minder bewußtem Wetteifer, sich zu behaupten und zu vermehren; daß aber die natürliche Auslese alternierend zugunsten und zuungunsten des höher kultivierten Menschen wirkt; ersteres, indem seine Machtmittel ihm den Nahrungsspielraum erweitern und seine Konkurrenten zu verdrängen oder in Schranken zu halten gestatten; letzteres indem er degeneriert und steril wird, so daß der minder kultivierte Mensch durch die einfache Potenz der vegetativen Kraft und der natürlichen Fruchtbarkeit wieder die Oberhand gewinnt. Daß in diesem Wechsel allmählich doch ein dauernder höherer Typus sich entwickeln kann, in Wirklichkeit sich entwickelt hat und ferner entwickeln wird, haben wir alle Ursache als wahrscheinlich zu setzen: ein Typus, der in sich vereinigt, was in einem gewissen Maße immer feindlich gegeneinander ist: Natur und Kultur, Gesundheit und Verfeinerung, Zeugungskraft und Gehirnleben; der wider die vielfachen zerstörenden Kräfte eines künstlichen Milieus sich zu behaupten und zu dauern vermag. Es wäre aber sehr voreilig zu schließen, daß die Steigerung der äußeren Kultur, Fortschritt der Wissenschaft und Technik, unmittelbar die Ausbildung eines solchen höheren Typus begünstigen; das Gegenteil wird eher durch Beobachtung bestätigt. *

*

Ist die Erkenntnis der Erblichkeit menschlicher Geistes- und Charakteranlagen erst mit der Deszendenztheorie zur Welt gekommen? „Expérimentateurs moins exercés que nous, mais observateurs vrais, et au plus près des choses, quand ils se bornent à voir, les anciens ont connu tous les faits généraux de l'hérédité. Médécins, philosophes, ou législateurs, ils avaient simplement mais largement saisi son influence sur l'être; ils en avaient fait remonter le principe jusqu'aux sources premières de la nature physique et de la nature morale et de tous les états de santé et de maladie.

23 Ist die Erkenntnis

... zur Welt gekommenanstelle

dieses Satzes in A: Man bemerke, wie

hier ohne Umstände die Begriffe „natürliche Betrachtungsweise" und „Deszendenztheorie" gleichgesetzt und durcheinandergeworfen werden. Herr Ziegler scheint sagen zu wollen, daß die Erkenntnis der Erblichkeit menschlicher Geistes- und Charakteranlagen erst mit der Deszendenztheorie zur Welt gekommen sei. - Vor diesem Satz hat Tönnies einen längeren Abschnitt aus A gestrichen; vgl. im editorischen Bericht, S. 6 5 8 .

214

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Il n'y a, pour ainsi dire, qu'une voix, à cet égard dans l'Antiquité." So Prosper Lucas, Traité .. sur l'héréd. Introd. p. VIII, 1847. Lucas selber stand der Deszendenztheorie ferne. Und hat etwa die materialistische oder sagen wir lieber, um die metaphysischen Folgerungen Haeckels und seiner Anhänger aus dem Spiele zu lassen, die physiologische Ansicht der menschlichen Seele, hat die Erkenntnis der „natürlichen Bestimmtheit des psychischen Lebens in jedem Menschen" m. a. W . der Unhaltbarkeit des Indeterminismus, hat überhaupt die Betrachtung des Menschen „als eines Naturobjekts" auf Lamarck oder auf Darwin und Haeckel gewartet? Konnte man erst jetzt zur Einsicht der „erblichen Verschiedenheit" der Menschen gelangen? Insoweit als die »alten« Gleichheitstheorien biologische Bedeutung haben und in Anspruch nehmen, so behaupten sie einen Satz, der einen wesentlichen Bestandteil der Deszendenztheorie ausmacht, wenngleich für diese der Begriff der Art seine alte Bedeutung einbüßt, und auf die einheitliche (monophyletische) Abstammung reduziert wird; ich meine die Behauptung der Einheit des Menschengeschlechts. Jene philosophische Lehre von der menschlichen Gleichheit hatte den besonderen Wert und Sinn, daß der Begriff des Menschen - der auch in den Anfängen des Christentums seine Rolle spielte - gleichsam neu entdeckt und den theologischen Begriffen von Heiden, Juden und Christen entgegengesetzt wurde. Sie steht daher in der neueren Zeit wie im Altertum, wo vorzugsweise die Stoa sie vertrat, im engsten Zusammenhang mit einer naturwissenschaftlichen und monistischen Denkweise. Sie hat wesentlich eine politische Tendenz und ist als Dogma des Bürgers gegen die Institutionen der Sklaverei wie des erblichen Adelsregimentes gerichtet. Mit Leugnung erblicher Unterschiede l „Expérimentateurs

moins ... dans l'Antiquité.":

Vgl. Lucas 1 8 4 7 - 1 8 5 0 : 1, VII f.: „Weni-

ger geübte Experimentatoren als wir, aber echte und sachbezogene Beobachter, kannten unsere Vorfahren alle allgemeinen Fakten zur Erblichkeit. Mediziner, Philosophen oder Gesetzgeber, sie hatten in einfacher Weise, aber weitsichtig, den Einfluß der Erblichkeit auf das Sein erkannt. Sie führten dieses Prinzip bis zu den Quellen der physischen und moralischen Natur und der Gesundheits- und Krankheitszustände zurück. Es gibt sozusagen in der Antike in diesen Bereichen nur eine einzige Stimme." 3 Lucas selber stand der Deszendenztheorie

ferne: In A: Lucas selber, dessen Arbeit seither

nicht wieder erreicht, geschweige denn übertroffen wurde, stand der Deszendenztheorie ferne. 10 „erblichen

Verschiedenheit":

Tönnies übernimmt und variiert Formulierungen Zieglers

(1903: 11 f.). 12 die »alten«

Gleichheitstheorien:

In A: die (nach Herrn Zieglers Meinung durch die

Deszendenztheorie veralteten) Gleichheitstheorien.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

215

innerhalb des Menschengeschlechtes hat sie an und für sich nichts zu tun. Allerdings waren die Denker des 18. Jahrhunderts geneigt, den Spielraum der Vererbung möglichst einzuschränken, eben dies aber aus Gründen ihrer, mit Herrn Ziegler zu reden, „natürlichen Betrachtungsweise". Die Vererbung erschien ihnen als etwas Dunkles, eine okkulte Qualität, als ein Wort, das etwas Unerklärtes, vielleicht Unerklärliches, decken soll, die Berufung darauf als Mystik, als Teleologie. Die maßgebende Naturwissenschaft war - und ist es in einem gewissen universalhistorischen Sinne bis heute geblieben - die Mechanik: man wollte eben auch die erblichen Verschiedenheiten mechanisch erklären; mechanisch d. h. aus äußeren Ursachen, aus Ursachen der Natur, z. B. die schwarze Hautfarbe des Negers aus den Einwirkungen der Sonnenstrahlen. Wenn man diese Bestrebung auf moderne Art und nach ihrem idealen Ziel bezeichnen will, so wird man sagen dürfen, daß sie darauf hinausging, alle Vererbung in Anpassung aufzulösen und eben dadurch zu erklären. In den Zusammenhang dieser Bestrebung gehört die gesamte Entwicklungstheorie, namentlich in ihrer ersten Gestalt, auf deren Vorarbeit Haeckel mit Recht so viel Gewicht legt, als Lehre von der embryonischen Entwicklung des Wirbeltieres durch Epigenesis. Der Deszendenzlehre ist es ebenso wesentlich, auf die Alleinheit und Gleichheit des Organischen - und wiederum jeder natürlichen Gruppe: also auch der menschlichen Art - hinzuweisen, wie auf die Unerschöpflichkeit der individuellen Variation und auf die Möglichkeit, daß aus jeder, wenn auch noch so geringen Besonderheit ein Gattungsmerkmal werde; welche Möglichkeit sich zur Wahrscheinlichkeit und Gewißheit entfaltet, je mehr solche Besonderheit die Chancen der Dauer und Fortpflanzung verbessert. Je enger eine durch Abstammung zusammenhängende Gruppe, desto weniger haben die erblichen d. h. (wie es gemeint ist) ererbten Verschiedenheiten zu bedeuten gegenüber den hinzugekommenen Differenzen, möge man diese nun insgesamt auf Anpassungen (einschließlich der fötalen) zurückführen oder wie immer sonst betrachten; in Wahrheit lassen sich wohl als Ernährung alle variierenden Einflüsse zusammenbegreifen. Die Entwicklungstheorie, die ihrem Wesen nach auf die Erkenntnis der Veränderungen, wirklicher und möglicher, geschehener und zukünftiger, angelegt ist, wird daher gerade auf die Unstabilität, die Flüssigkeit und Modifizierbarkeit der Merkmale in den kleinsten Gruppen ihre Aufmerksamkeit einstellen; zumal wenn Erblichkeit aller, also auch der erworbenen Eigenschaften statuiert wird, wie dies Haeckel in so be4 „natürlichen

Betrachtungsweise"-.

Vgl. Ziegler 1903: 11.

216

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

stimmter und zuversichtlicher Weise zu tun nicht abläßt. Aber auch ohne das wird sie sagen, die erblichen Verschiedenheiten innerhalb einer engen Gruppe (z. B. einer Nation der Menschen) seien nicht so groß, die Untergruppen nicht so ausgeprägt, daß nicht innerhalb jeder Untergruppe Abweichungen vom Typus erhebliche Wahrscheinlichkeit hätten, die Exemplare des einen Typus dem anderen näherten, ja gerade in bezug auf Merkmale, die sonst diesen auszeichnen, ihn überträfen. Diese Variationen werden nicht ganz leicht auf den Knochenbau und die Beschaffenheit der Muskeln, wohl aber ziemlich leicht auf die Faserung und Funktionsfähigkeit der Großhirnrinde, mit anderen Worten auf die jüngsten und modifikabelsten Erwerbungen des Menschengeschlechts und etwa der Rasse oder Unterrasse sich erstrecken. Es macht daher einen recht seltsamen Eindruck, wenn die Meinung ausgesprochen wird, die erbliche Verschiedenheit der Menschen müsse nunmehr anerkannt werden, nachdem man gewahr geworden sei, daß die natürlichen Geistes- und Charakteranlagen des einzelnen Menschen „auf der Vererbung beruhen". Vom (Haeckelschen) monistischen Standpunkt aus (so hören wir) erscheine das psychische Leben in jedem Menschen bestimmt, einerseits durch die ererbten Anlagen, andererseits aber ... „durch die Kenntnisse und Erfahrungen, also durch Eindrücke, welche das Individuum in seinem bisherigen Leben aufgenommen hat". Nur durch Kenntnisse und Erfahrungen? und das sind insgesamt die »Eindrücke«? Ich fürchte, es können »Eindrücke« ganz anderer Art, materielle und mechanische Eindrücke, die auf den Schädel und das zarte Gehirn eines Embryo wirken, die schönsten ererbten Anlagen zuschanden machen! Ich denke, es wird die Art der Ernährung, des ganzen Körpers und somit auch des Nervensystems, nicht ganz unerheblich für „das psychische Leben in jedem Menschen" sein, und das wird gelten, ob man „diese Seele" als „beruhend auf der Tätigkeit des Gehirns" ansieht oder vielmehr, nach konsequenter monistischer Ansicht, das psychische Leben für wesentlich identisch mit dem physischen Leben hält; mit dem Leben, nicht mit irgend14 wenn die Meinung ausgesprochen 17 „auf der Vererbung

beruhen":

18 Vom (Haeckelschen)

wird: In A: wenn Herr Prof. Ziegler meint.

Vgl. Ziegler 1 9 0 3 : 11.

monistischen Standpunkt

... erscheine ...: In A heißt es stattdessen:

Wenige Zeilen vorher hat er proklamiert, vom (Haeckelschen) monistischen Standpunkt aus erscheine ... 21 „durch die Kenntnisse 29 „das psychische

... Leben aufgenommen

hat"-. Vgl. Ziegler 1 9 0 3 : 11.

Leben ... Tätigkeit des Gehirns":

rungsstrichen sind zum Teil Paraphrase.

Vgl. ebd.; auch die Worte in Anfüh-

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

217

einem Organe, so wesentlich auch das Zentralorgan die Betätigung dieser psychischen Seite des Lebens ausdrücken mag. Setzen wir einmal voraus, die ererbten Anlagen der Menschen innerhalb eines Volkes seien in dem Sinne verschieden, wie es diejenigen annehmen, die den Satz vertreten, daß die Verteilung der Güter im großen und ganzen der Verteilung der Anlagen entspiele. Es sei also richtig, daß der durchschnittliche Bürgersohn intellektuell höher begabt ist als der durchschnittliche Proletarier. Wenn dies Urteil, das von Ammon nach einer ihm eigentümlichen Methode 2 deduziert wird, irgendwie durch Beobachtungen bestätigt werden kann, so wird man diese Beobachtungen doch nur an erwachsenen Personen oder an Kindern, die über das Säuglingsalter hinaus sind, mit Erfolg anstellen können. Gesetzt, Beobachtungen an Schulkindern, die eben das schulpflichtige Alter erreicht haben, bestätigten jenes Urteil. Wären wir dann auch sicher, daß schlechthin die ererbten Anlagen dies Ergebnis bewirken? daß es ganz ebenso sich herausgestellt hätte, wenn je 100 Kinder der einen Klasse mit je 100 der anderen „in den Wiegen ausgetauscht" wären? Wirken nicht ganz abgesehen von „Kenntnissen und Erfahrungen", für die möglicherweise das Proletarierkind günstiger situiert ist, tausend Einflüsse höchst materieller Art auf das zarte und plastische Gehirn des Kindes? Ist es zu erwarten, daß das chronisch unterernährte Kind die gleiche Lernbegierde und Lernfähigkeit - in welchen beiden Stücken sich die intellektuellen Anlagen zuerst manifestieren zeige, wie das sorgsam gepflegte, immer gesättigte Kind wohlhabender Eltern? Ich glaube es nicht, aber ich verzichte auch darauf, irgend etwas dogmatisch über diese Frage auszusprechen; es genügt mir, auf die große Oberflächlichkeit mit Nachdruck hinzuweisen, womit ununtersuchte und in hohem Grade fragwürdige Dinge von Dogmatikern, die sich der Naturforschung berühmen, als ausgemachte Sachen hingestellt werden.

2

Zur Beleuchtung dieser Methode erlaube ich mir, auf meine Kritik: „Ammons

Gesell-

schaftslehre" im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik X I X , 1, hinzuweisen.

6 Setzen wir einmal voraus ... der Anlagen entspiele.: Statt „entspiele" lies: entspreche. Eine abweichende Fassung des Satzes in A ist im editorischen Bericht (S. 6 6 0 ) dokumentiert. 28 als ausgemachte Sachen hingestellt werden.: In A schließt sich hier eine längere Passage an, vgl. im editorischen Bericht, S. 661. 30 „Ammons

Gesellschaftslehre":

Gesellschaftstheorie.

Vgl. Tönnies 1 9 0 4 - Der Aufsatz trägt den Titel: Ammons

218

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Mit der »Anwendung« der Selektionstheorie auf Sitte und Recht 3 , auf „alle Kulturerrungenschaften, alle gesellschaftlichen Einrichtungen" (Schallmayer, S. 214) hat es bei etwas näherer Betrachtung doch eine recht seltsame Bewandtnis. Darwin hat sich selber dagegen verwahrt, als ob der Begriff „natürliche Zuchtwahl" eine andere als bildliche Bedeutung in Anspruch nehmen könnte. Seine These ist: der Mensch züchtet Varietäten künstlich, durch mehr oder minder bewußte und absichtliche Auslese der Individuen, die zur Nachzucht genommen werden; durch Wiederholung werden allmählich gewisse Eigenschaften angehäuft; in ähnlicher Weise geschieht die Bildung von Varietäten und schließlich sogar von Arten und Gattungen in der Natur; durch allmähliche, wenn auch in viel längeren Zeiträumen erfolgende Anhäufung der die Dauer und Vermehrung solcher Gruppen begünstigenden Merkmale, die gleichsam „von der Natur" vorgezogen werden, weil eben unter mehreren sonst gleichen Individuen diejenigen dem Verderben weniger ausgesetzt sind, die (wenn auch noch so wenig) besser zu widerstehen vermögen, also in der bestimmten Hinsicht, auf die es gerade ankommt, ein wenig stärker sind. Diese subtile Lehre wird von den Vertretern der (nach Schäfßes Ausdruck) „soziologischen Erweiterung der Selektionstheorie" dahin vergröbert, daß die bessere Chance des Überlebens, die bei Darwin die weitgehende Divergenz der Charaktere erklären soll und nur für die nächstverwandten, am meisten konkurrierenden Individuen Geltung hat, einfach verwechselt wird mit dem „Recht des Stärkeren" in der Natur (Schallmayer, S. 213, 223 usw.), also mit der Tatsache, daß die großen Fische die kleinen fressen, daß der Raubvogel regelmäßig »Sieger« über den Singvogel, der Mensch Sieger über Tiere überhaupt, wenigstens Wirbeltiere u. dgl. m. Wenn nur die fressenden Tiere überlebten, welche würden dann übrig bleiben? und wie würde es den fleischfressenden selber ergehen, wenn ihre Beutetiere vertilgt wären? Schallmayer wird uns nun versichern, er denke hier beim Recht des Stärkeren nur an die Konkurrenz im Kampfe ums Dasein, also 3

Solche ist gemeint in der gekrönten Preisschrift „Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker" von Dr. Wilhelm Schallmayer. Jena, Fischer 1903. 2 „alle Kulturerrungenschaften

... Einrichtungen":

Bei Schallmayer (1903: 2 1 4 ) ist der Text

gesperrt gedruckt. 19 „soziologischen

Erweiterung

der Selektionstheorie":

Als Zitat nicht nachgewiesen.

24 die großen Fische die kleinen fressen-. Hier spielt Tönnies auf Spinoza an; später löst er diese Anspielung auf (vgl. in diesem Band, S. 339). 29 Schallmayer.

In A: Herr Schallmayer.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

219

an die größere Lebenstüchtigkeit und Angepaßtheit an die jedesmaligen Umstände. „Sind sie (die Kulturwerte) geeignet, den Personen oder den Gesellschaftskörpern, in deren Besitz sie sich befinden, direkt oder indirekt Überlegenheit über andere Personen oder andere Gesellschaftskörper im Kampf um die Existenzmittel zu verleihen, so werden sie sich erhalten und ausbreiten auf Kosten der unvollkommener an „die Daseinsbedingungen" angepaßten Kulturwerte anderer Personen und Gesellschaftskörper, deren mangelhafte Kultur hierdurch dem Untergang geweiht ist" (S. 214). Nur die Kultur oder auch die Menschen und ihre sozialen Körper? Dies letztere ist gemeint: „diese Auslese findet indirekt statt, durch Auslese unter ihren (der Traditionswerte) Trägern." „Denn das Schicksal der Kulturgüter hängt ab von dem Schicksal der Personen oder Gesellschaften, von denen sie hervorgebracht oder angenommen worden sind. . . . " Als Beispiel wird dann angeführt, die natürliche Auslese habe „stets solche Völker ausgerottet oder in den Hintergrund gedrängt, bei denen der Familiensinn nachließ usw." Soll das heißen, daß der mangelhafte Familiensinn diese Völker im Wettbewerb unterliegen ließ, auch wenn sie in Reichtum, Wissenschaft, Technik, besonders in der Waffen- und Kriegstechnik, weit überlegen waren? Ohne Zweifel richtig, sofern der mangelhafte Familiensinn sich in zu geringer Fortpflanzung äußerte, bei der kein Volk auf die Dauer bestehen kann. Dann wäre es aber mehr als ein Beispiel, es wäre das Merkmal, ein mehr natürliches als kulturelles, bezeichnet, das von der Natur gleichsam prämiiert wurde, und die Zuchtwahl, die „bei der sozialen oder kulturellen Entwicklung die treibende Kraft" sein soll, käme darauf hinaus, daß eine energische Vermehrung das beste Mittel ist, um eine Rasse oder ein Volk zu erhalten und auszubreiten. Oder soll der Familiensinn nützen, auch wenn er nicht diese, wenn er etwa gar die entgegengesetzte Wirkung hat? (was keineswegs unerhört ist; der Pariser Kleinbürger, und in einigem Maße der moderne Mensch überhaupt, betätigt seinen Familiensinn eben dadurch, daß er den Divisor für das Vermögen nicht zu groß werden läßt). Was bedeutet es nun aber, daß „alle Kulturerrungenschaften die Entwicklung der Technik, der Rechtspflege usw. unter dem

6 „die Daseinsbedingungen":

In A stehen Asterisken an Stelle der Anführungszeichen, bei

Schallmayer findet sich keine Auszeichnung, n

„diese Auslese ... (der Traditionswerte)

Trägern.":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 2 1 3 . - Tönnies

hat eine Sperrung Schallmayers nicht übernommen. 13 „Denn das Schicksal ... angenommen 16 „stets solche Völker ... Familiensinn 24 „bei der sozialen ... Entwicklung

worden sind. ...":

Vgl. ebd.

nachließ usw.": Vgl. ebd.: 2 1 4 .

die treibende Kraft": Vgl. ebd.

220

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Gesichtspunkte betrachtet werden sollen?" Sind sie ebenfalls Merkmale, die für den Wettbewerb im Kampfe ums Dasein entscheidend sind, so daß eben ihr Besitz die Erhaltung und Vermehrung derjenigen „Personen und Gesellschaftskörper", die sie besitzen, bedingt hat? nur wenn dem so wäre, könnte ja mit Recht gesagt werden, daß sie (die »Traditionswerte«) ganz wie erbliche Eigenschaften, durch den „auslesenden Daseinskampf bevorzugt worden" seien. Oder soll es etwa heißen, daß die Menschen selber in der „Hervorbringung oder Annahme" dieser Werte auslesend verfahren, daß sie hervorbringen und annehmen, was ihnen nützlich scheint oder erfreulich ist, ohne daß dadurch irgendeine Garantie dafür gegeben wäre, daß sie durch den Besitz dieser Werte, die Chancen ihrer Erhaltung und Vermehrung verbesserten? mehr verbesserten als andere Menschen, die anderen Werten den Vorzug geben? Ist überhaupt Erhaltung und Vermehrung der „Personen und ihrer Gesellschaftskörper" einerlei? Was heißt: Vermehrung der Gesellschaftskörper? die Bildung großer Reiche? durch Eroberung? Dann würde ja wohl in erster Linie die Waffentechnik und Strategie entscheidend sein, wie sie z. B. Makedonien unter Alexander und Frankreich unter Bonaparte überlegen und siegreich machten. Aber haben diese Eroberungen auch Erhaltung und Vermehrung der erobernden Personen zur Folge gehabt oder bedeutet? Hat überhaupt das siegreiche Makedonien oder auch nur das unter ihm geeinte Hellas nach diesen Eroberungen noch eine erhebliche politische Dauer gehabt? „Nein, sie wurden wiederum von Stärkeren, von den Römern, überflügelt und unterworfen; aber eben dadurch, und schon infolge der makedonischen Eroberungen in Asien, wurde die Erhaltung und Fortpflanzung der hellenischen Kulturwerte, ihrer Kunst und ihrer Literatur, wenigstens einiger Bruchstücke davon, vermittelt und gesichert." Die Erhaltung der Kulturwerte hängt also nicht schlechthin von dem Schicksal der Personen oder Gesellschaften ab, von denen sie hervorgebracht wurden? „oder angenommen i „alle Kulturerrungenschaften die Entwicklung der Technik, der Rechtspflege usw. unter dem Gesichtspunkte betrachtet werden sollen?": Das Zitat lautet vollständig: „Demnach müssen alle Kulturerrungenschaften, alle gesellschaftlichen Einrichtungen, die sexuelle Ordnung durch Sitte und Recht, einschließlich der Familienordnung, die Eigentumsund Wirtschaftsordnung, die politische Organisation, die religiösen Einrichtungen, die Höhe und Ausbreitung der sittlichen und der wissenschaftlichen Bildung, die Entwicklung der Technik, der Rechtspflege usw., unter dem Gesichtspunkt der Ausrüstung zum sozialen Daseinskampf betrachtet werden, und ihre fortschreitende Entwicklung, die in der Anpassung an die steigenden Erfordernisse sozialer Machtentfaltung besteht, als Ergebnisse dieses Kampfes." (ebd.) 27 „Nein, sie wurden ... vermittelt und gesichert."-. Als Zitat nicht nachgewiesen.

I X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

221

worden sind". Also die Annehmer überwinden im Daseinskampfe die Hervorbringer? War es der Besitz der griechischen Sprache, Kunst, Wissenschaft und Poesie, was den Römern Überlegenheit über die Griechen gab? haben diese Werte dadurch sich erhalten und ausgebreitet „auf Kosten der unvollkommener an die Daseinsbedingungen angepaßten Kulturwerte anderer Personen und Gesellschaftskörper" - der Griechen selber? oder der Germanen? der Gallier? war es die Überlegenheit der griechisch-römischen Tragödie über die keltischen Barden, die Caesar siegreich machte? - Plausibler ist es, bei Vermehrung der Gesellschaftskörper an die Kolonisation zu denken; das Gleichnis von Mutterland, Tochter- und Pflanzstädten ist uns hergebracht und geläufig. In der Tat hat sich der Typus der griechischen Polis so im Altertum ausgebreitet; auf ähnliche Art in neuer Zeit etwa der Typus der englischen Staatsform. Aber sind diese Vorgänge natürlicher Zuchtwahl zu verdanken? Hat jeder Typus eine grenzenlose Tendenz zu derartiger Vermehrung, so daß diejenigen Exemplare jedes Typus, die mit gewissen Vorteilen ausgerüstet sind, am meisten Aussicht sich zu perpetuieren haben? Nichts Derartiges zeigt uns die Erfahrung; sondern jene Kolonien sind lebensfähiger Nachkommenschaft der Gemeinwesen, von denen sie ausgingen, allerdings vergleichbar, aber damit ist die Analogie auch zu Ende: die Tendenz der Gemeinwesen, sich in dieser Weise fortzupflanzen, ist mehr Ausnahme als Regel; davon daß vorzugsweise gerade die nächstverwandten einander die schärfste Konkurrenz machen - welche Beobachtung bei Darwin zugrunde liegt - ist nichts zu bemerken. „Es ist aber doch unleugbar" (möge man mir wiederum entgegenhalten), „daß ein Prozeß der Entwicklung, wie ihn die Deszendenztheorie in bezug auf die Formen der Organismen annimmt, auch in der historischen und prähistorischen Entwicklung der Menschheit und ihrer Kultur stattgefunden hat, und es scheint doch notwendig zu denken, daß diese Entwicklung jene fortsetzt, daß sie durch dieselben Ursachen bestimmt wird, derselben Gesetzmäßigkeit unterliegt". Ich bin durchaus dieser Meinung; aber jene extravaganten Folgerungen Schäffles - worauf Schallmayers Darstellung völlig beruht - sind damit keineswegs gegeben. Die Gemeinwesen sind nicht Organismen; und wenn sie als solche gedacht werden, so sind doch ihre Verhältnisse zueinander so sehr von den Verhältnissen zwischen Organismen verschieden, daß eine Entwicklung, deren Voraussetzung diese Verhältnisse sind, auf Grund jener vielmehr unwahr-

6 „auf Kosten ... anderer Personen und Gesellschaftskörper": 30 „Es ist aber doch unleugbar...

Gesetzmäßigkeit

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 2 1 4 .

unterliegt": Als Zitat nicht nachgewiesen.

222

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

scheinlich als wahrscheinlich wäre. Lassen wir die ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Tochterstädte u. dgl. gelten, d. h. mehr als ein Gleichnis sein; auch die Teilung haben niedere Organismen und manche menschliche Gemeinschaften gemein. Aber während die Tendenz zur Vermehrung für die Organismen schlechthin charakteristisch und gerade für die natürliche Zuchtwahl unerläßliche Bedingung ist, wird sie im sozialen Gebiete durch eine Tendenz zur Verminderung übertroffen, indem selbständige Gemeinwesen ihre Individualität einbüßen und in größeren aufgehen; Vorgänge, die man füglich ein Gefressenwerden nennen mag, aber das »Überleben« der großen Staaten durch Fressen ist kein Überleben durch Auslese; abgesehen davon, daß die kleinen im Leibe der großen zu leben fortfahren, was schwerlich eine Analogie in der organischen Natur haben dürfte. Schäffle legte zwar das ganze Gewicht seines Denkens darauf, daß das Gesetz der sozialen Entwicklung im Grunde identisch sei mit dem Gesetz, das nach der Ansicht der naturwissenschaftlichen Selektionstheorie dem Fortschritte der ganzen natürlichen Schöpfung zugrunde liege; zugleich will er aber „eine die eigentümlichen Voraussetzungen und Triebkräfte der höchsten - zivilen - Schöpfungsphase umsichtig erwägende, wirklich soziologische, nicht nur zoologische Formulierung des Gesetzes der vervollkommnenden Auslese aufstellen und die Eigenartigkeit der die soziale Auslese vermittelnden Variations-, Anpassungs-, Vererbungs- und Streiterscheinungen vollauf zu berücksichtigen bemüht sein" 4 . Wenn das große Wollen und Wissen Schäffles bewundert werden muß, so wird man doch vergebens in den vielfach wiederholten Versuchen dieser Formulierung einen präzisen Gedanken suchen. Ich wenigstens kann darin nur ein vergebliches Ringen mit unüberwindlichen Schwierigkeiten erkennen. Indessen dies nachzuweisen muß einer besonderen Aufgabe vorbehalten bleiben. Schallmayer erörtert schon in seinem ersten Teil (Kap. 6) die „ungünstigen Wirkungen unserer Kultur auf die generative Entwicklung", er wägt die „günstigen Wirkungen unserer Kultur" dagegen ab, und kommt zu 4

Bau und Leben II, S. 2 und oft.

23 „eine die eigentümlichen Voraussetzungen ... berücksichtigen bemüht sein": Vgl. Schäffle 1875-1878, 2: 2; dort heißt es „... nicht bloß zoologische Formulierung ...". Schäffles Sperrungen wurden nicht alle von Tönnies übernommen. 30 „ungünstigen Wirkungen .. auf die generative Entwicklung": 111 ff. 31 „günstigen Wirkungen unserer Kultur": Vgl. ebd.: 156 ff.

Vgl. Schallmayer 1903:

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

223

dem Ergebnis, daß jene weit überwiegen, daß „insbesondere die natürliche und geschlechtliche Auslese nach manchen Richtungen mangel- und fehlerhaft werde". Er stellt in einem folgenden (7.) Kapitel die „Physiologie und Geschichte der generativen Völkerentwicklung" dar, und zwar: 1. die Analogie mit der individuellen Entwicklung, 2. die tatsächlichen Bedingungen der generativen Entwicklung (wo auch die Ursachen des Unterganges der heutigen Naturvölker besprochen werden), 3. Degenerationserscheinungen bei den alten Griechen und Römern und ihre Ursachen, 4. Entartungserscheinungen bei den westlichen Kulturvölkern der Gegenwart, 5. den biologischen Wert der chinesischen Kultur, dem er das Zeugnis ausstellt, daß ihre Einrichtungen und Sitten der natürlichen Auslese weit mehr entsprechen als die der untergegangenen Kulturvölker, soweit wir von ihnen Kenntnis haben, und auch mehr als die unsrigen; das 3 - 4 0 0 0 j ährige Bestehenbleiben des hochkultivierten Staatswesens der Chinesen habe darin seine Ursache. - Der zweite Teil kommt auf die hiermit angeschlagenen Töne vorzugsweise zurück. Die Hauptsätze des Verfassers, die den Gedankengang leiten, sind folgende: Die höchste Aufgabe der inneren Politik ist, innerhalb der Bevölkerung die Daseinsbedingungen so zu gestalten, wie es das Machtbedürfnis im internationalen Daseinskampf erfordert; es gilt dabei, nicht nur für die Gegenwart, sondern auf die Dauer sich zu behaupten; der definitive Sieg im Daseinskampfe der Völker hängt von ihrer inneren sowohl kulturellen als generativen Entwicklung ab. Auf die Dauer hängt eben auch der Grad der kulturellen Entwicklung, und im Zusammenhang damit die politische Machtstellung von den generativen Anlagen ab; Kulturvölker, die sich nicht durch eine entsprechende Auslese ihre generative Ausrüstung für die Erfordernisse des Kulturlebens bewahren und steigern, können auf die Dauer nicht dem Schicksal entgehen, von sogenannten jüngeren Völkern verdrängt zu werden, d. h. von solchen, die noch nicht solange dem entartenden Einfluß gewisser, die Auslese störender, sozialer Einrichtungen ausgesetzt gewesen sind wie die »gealterten« Völker, trotzdem aber deren wichtigste Kulturerrungenschaften sich bereits angeeignet haben. Das Wertverhältnis verschiebt sich zu ungunsten der bloß kulturellen und zugunsten der generativen Fortschritte um so mehr, je weiter der Blick in die Zukunft reicht. Es muß daher die Aufgabe einer künstlichen Zuchtwahl in Anwendung auf den Menschen, oder

3 „insbesondere

die natürliche ... fehlerhaft werde": Der Satz lautet bei Schallmayer (ebd.:

158): „Insbesondere wird [in unserer Kultur] die natürliche und geschlechtliche Auslese nach manchen Richtungen mangel- und fehlerhaft.".

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

wenigstens einer zweckmäßigen Leitung der menschlichen Zuchtwahl ins Auge gefaßt werden. Es käme darauf an, die degenerierten oder beträchtlich unter dem Durchschnitt ausgefallenen Individuen von der Fortpflanzung auszuschließen; noch etwas mehr ließe sich leisten, wenn es so eingerichtet werden könnte, daß das M a ß der Fortpflanzung eines jeden im geraden Verhältnis zu seinem »Erbwert« stände, der teils nach seiner individuellen Beschaffenheit, teils nach dem generativen Wert seines Stammbaums ermessen werden müßte. Der Verfasser, der sich hier gegen „sehr phantastische" und dilettantenhafte Vorschläge anderer „für eine positive menschliche Zuchtwahl" verwahrt, nimmt seine eigenen im vorletzten Kapitel des Buches, wo er die Frage aufwirft, welche Reformbedürfnisse auf den einzelnen Gebieten der inneren Politik vom Gesichtspunkte der Ausrüstung zum Daseinskampf sich ergeben, unter dem Titel der Bevölkerungspolitik wieder auf. Er kommt zunächst zu dem Schlüsse, daß eine auf möglichst starke Vermehrung gerichtete Bevölkerungspolitik „völlig ungefährlich" sei, soweit sie nicht auf Kosten der generativen Qualität geschehe; sie könne nicht zu weit gehen, denn die nötigen Schranken stellen sich von selbst ein. Zur Ergänzung sei aber auch eine qualitative oder auslesende Bevölkerungspolitik geboten, die fast in jedem Grade nützlich, und bis zu einem gewissen Grade unentbehrlich sei. Von der Deszendenztheorie müsse sie sich den Weg weisen lassen; aber nicht mit der Folgerung, daß der Mensch einem bitteren Daseinskampf, d. h. der Not, ausgesetzt bleiben müsse, sondern die natürliche Auslese müsse durch eine bewußte ersetzt werden. Den Individuen, welche den für die Auslese jeweilig maßgebenden Anforderungen nicht genügen, müsse die Ehe durch Sitte oder Gesetz versagt werden. Die nähere Ausführung dieses Gedankens in Anwendung auf die für uns, nach des Verfassers Ansicht, maßgebenden Anforderungen, geschieht im Abschnitt (7) über Gesundheitswesen. Tuberkulose Personen - „die mit Tuberkulose behafteten und zu Tuberkulose disponierten Individuen" - müßten - gewissermaßen zum Entgelt für die ihnen zugewandte Humanität - auf Fortpflanzung verzichten; ganz freiwillig werden sie dies nicht tun: die öffentliche Meinung muß dahin erzogen werden, einen starken Druck in diesem Sinne auszuüben; noch wirksamer wäre die Nichterteilung der staatlichen Ehebewilligung -

10 „sehr phantastische 16 „völlig ungefährlich"

... menschliche

Zuchtwahl"-. Vgl. ebd.: 2 5 9 .

sei: Vgl. für diese und die folgenden Ausführungen Schallmayer ebd.:

3 3 5 ff. 28 Abschnitt (7): Vgl. zum Folgenden ebd.: 3 4 7 ff.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

225

dieser Forderung steht aber unsere kurzsichtige Humanität entgegen. Mehr Erfolg verspricht der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten. Zur Verbreitung der Kenntnis über die große Ansteckungsgefahr muß eine gesetzliche Verhinderung der Eheschließungen Geschlechtskranker hinzukommen. Überhaupt muß die »Vererbungshygiene« die bisherigen sozialhygienischen Aufgaben ergänzen und krönen, um „die degenerierenden Wirkungen der Kultur des Westens, die so vielen Völkern verderblich geworden sind, auszugleichen und ins Gegenteil zu kehren". Unter dieser Parole entfaltet der Verfasser nun sein eigentliches Programm, das er bisher nur zaghaft angedeutet hat: gesetzliche Ehehindernisse! Geschlechtskranke, Gewohnheitsverbrecher, chronische Alkoholisten, psychopathisch Belastete, mit Tuberkulosis und anderen Krankheiten Behaftete, sollten von der Ehe ausgeschlossen werden. Indessen werden diese Forderungen einstweilen noch, außer etwa in bezug auf die zwei ersten Kategorien, das sittliche Gefühl wider sich haben. Jedenfalls würde es zu viele Grenz- und Streitfälle geben. „Für eine Gesetzgebung, die sich auf erbliche Anlagen berufen soll, bedarf es (also) einer Vermehrung unseres Wissens über die Erblichkeit der Krankheiten und Krankheitsanlagen, und dazu ist in erster Linie eine zweckmäßige Erblichkeitsstatistik nötig." Diesem letzten Satze stimme ich ohne anderen Vorbehalt zu, als den, daß diese überaus wichtige Forschung nicht in den Dienst der Gesetzgebung, ebensowenig in den Dienst vorgefaßter Theorien gestellt werde, sondern wie um ihrer selbst willen, aus schlechthin unbefangenem wissenschaftlichen Interesse geschehe. Übrigens anerkenne und teile ich durchaus, was Verfasser das »generative« Interesse nennt; ich halte für eine sehr bedeutende sittliche Aufgabe, es zu fördern, und glaube auch, daß die Erörterung der delikaten Fragen, die damit verknüpft sind, überwiegend nützlich ist; in diesem Sinne heiße ich diese Schrift willkommen. Den spezifischen Ansichten des Verfassers, insbesondere seinem Eintreten für zwingende Gesetze zugunsten jenes Interesses, setze ich den schärfsten Widerspruch entgegen. Er selber begegnet dem Einwand, „daß es nicht viel helfen könne, erblich Belastete von der Ehe auszuschließen, solange sie nicht verhindert „die degenerierenden Wirkungen ... ins Gegenteil zu kehren"-. Vgl. ebd.: 354 (bei Schallmayer gesperrt gedruckt). 19 „Für eine Gesetzgebung ... Erblichkeitsstatistik nötig.": Vgl. ebd.: 357-Tönnies hat die Klammer hinzugefügt und Schallmayers Sperrungen getilgt. 24 wissenschaftlichen: In A gespert und fett. 8

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

werden können, sich außerehelich fortzupflanzen," und will ihn auf folgende Art widerlegen. Von den meist unfruchtbaren Prostituierten abgesehen, seien es nur verhältnismäßig wenig Mädchen, die sich der außerehelichen Schwängerung seitens eines Mannes preisgeben, den sie nicht als ihren künftigen Gatten ansehen. Überdies habe „bei Verbindungen, die nur als vorübergehend gedacht sind, das Mädchen in der Regel so viel Grund, die Schwängerung zu vermeiden, daß solche Verbindungen im allgemeinen unfruchtbar bleiben". Auch habe nicht überall, wo die Eheschließung gesetzlich oder sonst erschwert sei, dieser Zustand eine größere Häufigkeit außerehelicher Geburten im Gefolge. Endlich sei es ja Tatsache, daß von den außerehelich geborenen Kindern ein wesentlich kleinerer Prozentsatz das Alter der Mannbarkeit erreiche, als von den ehelichen. Und es sei zu erwarten, daß an Stelle der verhinderten Ehen andere treten würden, da der Nahrungsspielraum nicht verändert wäre; schon darum sei auch keine Zunahme der unehelichen Geburten zu befürchten. „Es dürfte also kaum nötig sein, besondere Maßregeln gegen die uneheliche Fortpflanzung der von der Ehe auszuschließenden Personen zu schaffen. Nötigenfalls aber wäre es töricht, davor zurückzuschrecken." Maßregeln dieser Art wären denn freilich radikal; worin sie »nötigenfalls« bestehen sollen, wird nicht angegeben. Vermutlich wird an chirurgische Operationen gedacht, wovon in der Literatur über den Gegenstand öfter schon die Rede war. Was aber die Eheverbote betrifft, so halte ich die ganze Idee, dadurch die generative Auslese zu verbessern, für durch und durch verfehlt und utopisch. Kehrt sich ein solches Verbot gegen rechtschaffene, zum ehelichen Zusammenleben entschlossene und die wirtschaftliche Last der Erzeugung von Kindern zu tragen fähige Leute, so werden solche sehr bald lernen, ihre, durch Eintracht geheiligte, Ehe höher zu schätzen als die staatlich privilegierte Ehe; wenn der Staat jene Konkubinat nennt, so werden sie sich darum so wenig kümmern als heute freisinnige Katholiken, die protestantisch oder bloß bürgerlich getraut wurden, daran sich kehren, daß ihre Ehe für die katholische Kirche nichts als Konkubinat ist. Heute ist der Staat auch sittlich die überwiegende

i „daß es nicht viel helfen ... sich außerehelich fortzupflanzen,"-. Bei Schallmayer (ebd.: 3 6 1 ) heißt es „ . . . verhindert

werden

könnten

. . . " . - Bis auf die ersten zwei Worte ist bei

Schallmayer die ganze Passage gesperrt gedruckt. 8 „bei Verbindungen

... unfruchtbar

bleiben": Bei Schallmayer (ebd.) grammatisch inkohä-

rent: „ . . . im allgemeinen ziemlich unfruchtbar bleibt.". 18 „Es dürfte also ... davor zurückzuschrecken.":

Vgl. ebd.: 3 6 3 .

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

227

Macht; er ist es aber nicht immer und nicht seinem Wesen nach. Gegen ein durch starke Bedürfnisse unterstütztes Gewissen werden äußere Mächte immer vergebens kämpfen. Darum sind alle Bemerkungen, die unser Autor über uneheliche Geburten macht, hinfällig. Er scheint nicht zu wissen, daß in der großen Menge des Volkes der Entschluß zur Ehe regelmäßig die Folge der Erzeugung eines Kindes ist, sei es (wie in den meisten Fällen), daß es noch ungeboren, oder daß es schon geboren ist und legitimiert werden soll. Oder setzt er voraus, daß jeder Jüngling mit dem amtlichen Zeugnis der Tauglichkeit oder Untauglichkeit (es würde dann doch wohl auch eine „bedingte Tauglichkeit" geben müssen) ausgestattet sein soll, ehe er in Verkehr mit Mädchen tritt, und daß dann nur „verhältnismäßig wenige Mädchen" sich mit den jungen Männern, die das Tauglichkeitszeugnis nicht besitzen - das sie ja wohl am Hute tragen müssen - einlassen werden? Und geschieht denn die Vererbung von Krankheiten und Mängeln nur von der väterlichen Seite? Müssen nicht auch die Mädchen ihr Gesundheitsattest erhalten? Müssen sie nicht geprüft werden, ob sie voraussichtlich zum Säugen fähig sein werden? ob Vater oder Mutter dem Trunk ergeben, oder mit Tuberkulose behaftet waren? Und wenn nun ein junger Mann sich trotzalledem in ein hübsches Mädchen verliebt? wenn er um die Geliebte wirbt? soll sie dem Freier antworten: ich bedauere sehr; ich komme als Gattin „nicht in Betracht" (S. 361), denn ich bin „offiziell eheuntauglich befunden worden" (ibid.)? Soll dies nur in den unteren Klassen statthaben? oder soll auch der Großgrundbesitzer oder der Bankdirektor, dem Assessor oder Offizier - in diesen Kreisen pflegt ja nur lautere Liebe zu Heiratsanträgen zu führen - erklären: „machen Sie sich keine Hoffnungen, meine Herren; leider ist mein Individualstammbaum nicht in Ordnung, meine Töchter sind sämtlich dazu verdammt, alte Jungfrauen zu werden ...?!" Aber der Verfasser wird uns entgegnen; es handle sich doch nur um verhältnismäßig wenige extreme Falle, zunächst und vor allem um die Ausschließung der Geschlechtskranken: diese sei auch nach den heute herrschenden Begriffen durchführbar. Er trägt kein Bedenken, die Einführung einer amtsärztlichen Untersuchung vorzuschlagen; der behandelnde Arzt hätte durch eine gutachtliche Äußerung mitzuwirken. „In allen zweifelhaften Fällen könnte die ärztliche Behörde dem Ehekandidaten die Beibringung einer solchen zur Auflage machen. Jedenfalls müßte dieser bei Vermeidung strenger Strafe verpflichtet sein, die Fragen bezüglich etwaiger früherer pathologischer Erlebnisse, die bei der amtsärztlichen Untersuchung an ihn gerichtet würden, nach bestem Wissen wahrheitsgemäß zu

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

beantworten." Wer dies redlich auszudenken versucht, muß erkennen, daß es sich um eine der vielen Ideen handelt, die in die Wirklichkeit übertragen bis zur Lächerlichkeit absurd sich darstellen. Daß ein Zweck damit vertreten wird, der an und für sich erstrebenswert scheint, gibt solchen Ideen den Mut und ein scheinbares Recht, sich ans Licht zu wagen. Es wird hier vorgestellt, daß Verwehrung der Ehe das geeignete Mittel sei, Frauen und Nachkommenschaft vor geschlechtskranken Männern (an andere Fälle wird gar nicht gedacht) zu schützen; zwischen der „Untersuchung und der Eheschließung dürften nur einige Wochen liegen", offenbar damit die Wahrscheinlichkeit so gering als möglich gemacht wird, daß der Ehekandidat sich doch noch infiziere. Wenn aber einmal liederliche und gewissenlose Männer vorausgesetzt werden, wer schützt dann die Frauen und die Früchte ihres Leibes in der Ehe? Gibt das amtliche Zeugnis eine Gewähr dafür, daß der damit Ausgestattete gewissenhaft und solide sei? Sollte es auch nur häufiger vorkommen, daß ein Geschlechtskranker das Brautbett beschreitet - sei es nach oder, wie im Volke gewöhnlich, vor der Eheschließung-, als daß Ehemänner, die während der Schwangerschaft und des Wochenbettes der Frau, oder auf Reisen sich infiziert haben, den gewohnten Verkehr mit der Gattin wieder aufnehmen? Das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher. Der Gedanke, gegen Sittenlosigkeit durch prohibitive Gesetze zu wirken, ist nicht nur unausführbar - , auch wenn die Ausführung möglich wäre, würde sie wenig nützen. Viel einfacher wäre es ja, schlechtweg die Prostitution zu »verbieten« und nach guter alter Weise jedes stuprum mit Strafe zu bedrohen. Warum treten wohl unsere Sozialhygieniker dafür nicht ein? „Daß ahnungslose Bräute vor der Verbindung mit geschlechtskranken Männern geschützt werden müssen", meint unser Verfasser, werde selbst dem einleuchten, der gegen das generative Interesse gleichgültig sei. Gewiß, wenn es tunlich ist; es fragt sich nur, welche die mögliche und geeignete Art des Schutzes sei. Jeder Erfolg in »Bekämpfung« jener Krankheiten verringert die Gefahr; und reellen Erfolg darf man sich nur von Verminderung der Prostitution versprechen; Hauptmittel zur Verminderung der Prostitution ist die Hebung des weiblichen Geschlechtes im allgemeinen, des weiblichen Proletariates insbesondere, überhaupt aber die Solidisierung unseres Lebens, die nicht durch

i „In allen zweifelhaften Fällen ... zu beantworten.": Vgl. ebd.: 351 f. 9 „Untersuchung und ... Wochen liegen"-. Vgl. ebd.: 352. 26 „Daß ahnungslose Bräute ... geschützt werden müssen": Vgl. ebd: 356. - Schallmayers Sperrungen sind gelöscht.

DC. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

229

Strafgesetze, wohl aber durch energische sozialpolitische Operationen als erreichbar gedacht werden kann. - Es ist bezeichnend, daß unser Verfasser sein amtsärztliches Attest durch das Bedürfnis eines Schutzes der Bräute beglaubigen will; in der Tat wäre dem generativen Interesse auch durch die mögliche Verhinderung schädlicher Ehen sehr wenig geholfen. Das Schlimmste was diesen Ehen nachgesagt wird, ist, daß sie steril oder monoteknisch 5 sind; ein Gewinn wäre also nur, wenn man sogleich fruchtbare und generativ wertvolle Ehen in die leeren Stellen einschieben könnte, wofür doch die Chancen sehr gering sind. Jenes Schlimmste gilt speziell von der leichteren und bei weitem häufigsten Art des Übels; die schwere und seltenere ist, wie Herr Schallmayer sich ausdrückt (S. 145), auch „insofern noch schlimmer, als sie die Konstitution direkt in erblicher Weise beeinflußt". Dazu wird aber ausgeführt u. a., daß „Hyde in Chicago beobachtete 1700 Schwangerschaften syphilitischer Frauen, von denen 34 % mit Fehl- und Totgeburten endigten, und 956 Lebendgeborene starben innerhalb der ersten 12 Monate, macht zusammen 1534 unter 1700, das sind über 90 % . Auch von dem überlebenden Rest trägt ein Teil, trotz zweckmäßiger Behandlung, Zeichen körperlicher oder psychischer Entartung davon, wie Entwicklungsstörungen an den Zähnen, den Augen, dem Knochen-, Gefäß- und Nervensystem, z. B. Lähmungen, Taubstummheit, Idiotie, ferner allgemeine Ernährungsstörungen in Gestalt von Zwergwuchs, auffälliger Lebensschwäche, endlich auch Monstrositäten oder Mißgeburten". Also? was bleibt? die allgemeine Wirkung ist (sofern dies verallgemeinert werden darf), daß die mit dieser Seuche erblich Behafteten schon in der ersten Generation beinahe spurlos untergehen. Soll man das bedauern? folgt daraus wirklich Blaschkos (dem die Angaben entnommen werden) Folgerung, die sogleich als wohlbegründet daran angeknüpft wird, daß die ungeheuere Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter der großstädtischen Bevölkerung an deren zunehmender Entartung einen wesentlichen Anteil habe? Ob es der Fall ist, lasse ich dahingestellt; aber aus jenen Daten läßt sich viel eher wahrscheinlich machen, daß der Anteil 5

So schlage ich vor, die Ehen, aus denen nur ein Kind entspringt, zu benennen.

13 „insofern noch schlimmer ... Weise beeinflußt":

Bei Schallmayer (ebd.: 145): „Die Syphi-

lis, welche die ungeheuere Verbreitung der Gonorrhoe glücklicherweise nicht besitzt, ist insofern noch schlimmer als diese, als sie die Konstitution direkt in erblicher Weise verschlechtert.". 23 „Hyde in Chicago ... oder Mißgeburten".-. 27 Blaschkos ... Folgerung:

Vgl. ebd.

Vgl. ebd., 146. Schallmayer bezieht sich auf Blaschko 1 9 0 0 : 6 f.

230

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nicht erheblich sein kann. Unser Verfasser selber legt viel mehr Gewicht auf eine andere, ihm eigentümliche Ansicht, daß nämlich infolge der Geschlechtskrankheiten „unsere »begabteren« Volksschichten im Verhältnis zu den weniger begabten mit einem zu kleinen Anteil an der Erzeugung der folgenden Generationen beteiligt sind, so daß die Auslese eine unnatürliche Verschiebung zugunsten der weniger Begabten erfährt". Diese Ansicht gründet sich wiederum vorzugsweise auf die Betrachtung des an sich geringeren und nicht vererblichen Übels: die Infektion vernichte oder verringere die Fruchtbarkeit der Frauen, und da es gerade die gebildeten Stände seien, die am meisten davon betroffen werden, so sei dieser Volksbestandteil, „dessen generativer Wert über dem Durchschnitt stehen dürfte", auch aus diesem Grunde viel zu schwach in der Nachkommenschaft vertreten, und die Folge sei ein entsprechend stärkeres Sinken des generativen Durchschnittswerts der Bevölkerung. Diese Erwägung trägt dazu bei, den allgemeinen Satz des Verfassers zu befestigen, daß unsere Kultur eine Zunahme der Krankheitsanlagen, und noch rascher eine Abnahme der Begabung „gerade für die Aufgaben dieser Kultur" bewirke. „Denn in bezug auf Krankheitsanlagen herrscht nur eine ungenügend strenge Auslese, hingegen in bezug auf jene Anlagen eine direkt umgekehrte, wenn es richtig ist, daß die begabteren Individuen sich durchschnittlich weniger vermehren als die geringer Begabten, und auf diese Weise die besten Elemente immer aufgebraucht werden und dem Aussterben anheimfallen." Daß dies der Fall sei, glaubt zwar der Verfasser nicht beweisen zu können, aber er hält es doch beinahe für ausgemacht: der Unterschied der Kindersterblichkeit zugunsten der höheren Schichten sei nicht so erheblich, wie von einigen vorgestellt werde, der Überschuß der Geborenen sei wesentlich von der Geburtenziffer abhängig; es scheine, daß sich die unteren Gesellschaftsklassen in bezug auf Fruchtbarkeit, Kindersterblichkeit und Geburtenüberschüsse ganz analog zu den oberen verhalten, wie z. B. die slavische Bevölkerung zur germanischen, wie nach einem von Darwin zitierten Ausspruch „der sorglose schmutzige Irländer" zum „mä-

6 „unsere

»begabteren«

... Begabten

erfährt":

Vgl. Schallmayer, ebd.: 146 - Das Wort

„begabteren" ist bei Schallmayer nicht hervorgehoben und steht in A zwischen Asterisken. 8 geringeren

und nicht vererblichen

12 „dessen generativer

Übels: Gemeint ist die Gonorrhoe.

Wert über dem Durchschnitt

stehen dürfte": Vgl. ebd.: 145.

17 „gerade für die Aufgaben dieser Kultur": In A stehen Asterisken anstelle der Anführungszeichen. 23 „Denn in bezug auf Krankheitsanlagen

... dem Aussterben anheimfallen.":

Vgl. ebd.: 159.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

231

ßigen, vorsichtigen, sich selbst achtenden, ehrgeizigen Schotten". Ein solcher Zustand führe aber unvermeidlich zu einem allmählichen Verschwinden der höchsten generativen Werte; es genüge dazu sogar schon, daß die Begabteren sich nicht relativ stärker fortpflanzen. „Eine Kultur, die von der natürlichen Auslese in solchem Grade abweicht, ist offenbar ungesund und revisionsbedürftig." Die Tatsache, daß die oberen Schichten sich schwächer vermehren als die unteren, nehme ich als gegeben an. Sie gilt um so sicherer, wo lebenslängliche Ehelosigkeit eines höheren Berufstandes - des geistlichen - statthat, und um so mehr, da die außerehelich von höher gestellten Männern erzeugten Kinder mit geringen Ausnahmen in die unteren Schichten fallen. Die Folgerungen unseres Autors aus diesem Tatbestande sind unrichtig. Sie ruhen zunächst auf der völlig unzulässigen Voraussetzung, daß der „generative Wert" mit der intellektuellen Fähigkeit zusammenfalle oder ganz und gar dadurch bedingt sei. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, wie schwer gerade für die Selbstbehauptung und - insbesondere bei den Frauen - für die Aufzucht von Kindern, moralische Qualitäten ins Gewicht fallen, die (wenn auch keineswegs völlig, so doch) in einem hohen Grade von intellektuellen Fähigkeiten unabhängig sind, und wiederum deren in sozialem Sinne nützliche Entfaltung und Anwendung in hohem Maße bedingen. Wenn die oberen sozialen Schichten wirklich eine intellektuelle Elite darstellen, so folgt aus ihrer schwächeren Vermehrung nicht, daß „die generative »Qualität« der Gesamtheit mit jeder Generation einen geringeren Durchschnittswert erhalte", wenngleich Herr Schallmayer dies für »offenbar« ausgibt; denn es ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, daß die moralisch wertvolleren Eigenschaften in der sich stärker vermehrenden »Hälfte« (S. 159) besser vertreten sind. Grey, an jener nach Darwin so oft (auch in unserem Buch S. 167) zitierten Stelle, dachte gerade an moralische Eigenschaften, die nach seiner Ansicht dem Kelten fehlen und dem Sachsen eigen seien. Ganz im Banne Malthusscher Vorstellungen sieht er in der stärkeren Vermehrung geradezu ein Zeichen und eine Folge geringer moralischer Eigenschaften; denn nach jener etwas überreifen, um i „der sorglose schmutzige Irländer ... ehrgeizigen Schotten":Vgl.

ebd.: 1 6 7 ; es handelt sich

um ein Sekundärzitat von William R. Greg in Darwin 1 9 1 0 a : 153. 6 „Eine Kultur ... ungesund 24 „die generative

»Qualität«

und revisionsbedürftig.": ... Durchschnittswert

Vgl. Schallmayer, ebd.: 169. erhalte":

Vgl. ebd.: 168. „Qualität"

erscheint in A zwischen Asterisken, bei Schallmayer ohne Anführungszeichen. 27 Grey: hier wie auch weiter unten im Text ist der britische politische Schriftsteller William Rathbone Greg gemeint.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nicht zu sagen greisenhaften Idee, ist ihm die bürgerliche Vorsicht und Weisheit aller Tugenden Mutter. Starke Fortpflanzung ist aber nicht nur und nicht immer die Folge von Sorglosigkeit und proletarischer Lebensweise, sondern oft, und sogar im Zusammenhange mit gedrückten Zuständen, auch ein Zeichen von Gesundheit und Jugend 6 und der ihnen eigenen Tugenden und Kräfte, in denen auch die Intelligenz noch unentwickelt schlummert; nebst derjenigen Art des Wollens, die Grey an jener Stelle ein Höherhinauswollen nennt, d. i. das Streben nach Macht und Besitz - so daß der dort vorgetragene Schluß irrig gedacht ist, wie er durch die Erfahrung widerlegt wird, wenn ein Land von je 1000 Kelten und Sachsen bevölkert wäre, so würden nach 12 Generationen zwar fünf Sechstel der Volksmenge Kelten, aber „fünf Sechstel des Besitzes, der Macht, des Intellekts würden dem übriggebliebenen Sechstel der Sachsen gehören". Das Experiment liegt in Amerika vor, es ist auch in London schon zu beobachten. Gerade die heute (mehr als zuvor) erforderliche und erfolgreiche Art der Intelligenz und des Wollens - jene Art, die ich »Kürwillen« nenne - entwickelt sich mit fabelhafter Geschwindigkeit aus der Seele eines noch jugendlich-frischen, barbarischen Volkes, wenn es einmal in die Arena gestellt ist; man vergleiche auch Japan. Ob die so »getriebenen« Völker lange blühen und gedeihen werden, ist eine andere Frage. Auch ist es recht wahrscheinlich, daß die im Sinne einer alten Kultur wertvollste Intelligenz - nur um diese ist offenbar Herr Schallmayer besorgt - nicht eben unter solchen Lebensbedingungen sprießen wird; daß also diese bei der schwachen Vermehrung alter Nationen - und um seine Parallele zuzulassen, höherer Stände - Gefahr läuft, einstweilen unterzugehen. Ich halte in der Tat diese Prognose für einigermaßen zutreffend. Eben diese - künstlerische, philosophische - Intelligenz ist aber in sehr weitem Umfange an physische Eigenschaften gebunden, oder doch mit solchen verbunden, die keineswegs „generativ wertvoll" sind, ja deren Fortpflanzung und Vererbung eben das ist, zu dessen Verhütung er die Gewalt der medizinischen 6

Ich weise darauf zurück, daß eben dies der allgemeinen darwinistischen Voraussetzung entspricht, die auch von Schallmayer geteilt und sogar sonst mit Nachdruck betont wird.

13 „fünf

Sechstel

des Besitzes,

der Macht,

des Intellekts

würden

dem

übriggebliebenen

Sechstel der Sachsen gehören ": „Man nehme ein Land, welches ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Celten bevölkert gewesen sei, und nach einem Dutzend Generationen werden 5/6 der Bevölkerung Celten sein, aber 5/6 des Besitzes, der Macht und des Intellects werden dem einen übrig gebliebenen Sechstel der Sachsen angehören." (Greg, zit. nach Darwin 1 9 1 0 a : 153). 16 »Kürwillen«: In A: „Willkür".

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

2 33

Polizei und des Strafgesetzbuches anspannen will. Denn der verfeinerte und tiefere Geist wächst in, ich weiß nicht wie vielen, aber ich wage zu behaupten, in der Mehrzahl der Fälle, auf einem schwachen, wenn nicht gebrechlichen und kranken Leibe, er ist der Ausdruck eines abnorm erregbaren, überzarten, daher sehr oft eines pathologisch affizierten, oder wenigstens sehr gefährlichen Nervensystems. Ich versage mir, hier einzugehen auf die Beziehungen zwischen Genie und Wahnsinn; aber es ist vielleicht nicht ohne Wert, die Ausdrücke anzuführen, mit denen F. Galton (im Zusatzkapitel der 2. Ausgabe seines Hereditary Genius) sich darüber ausspricht, nachdem er die nach seiner Ansicht übertriebenen Darstellungen Lombrosos und anderer zurückgewiesen hat. „Ich kann", sagt er, „lange nicht so weit gehen wie sie, und nicht die Hälfte ihrer Daten akzeptieren, ... und doch bleibt ein breiter Rest von Material, der auf eine ziemlich enge Beziehung zwischen Fähigkeiten sehr hohen Ranges und Geisteskrankheit hindeutet, und ich muß hinzufügen, daß meine eigenen späteren Beobachtungen mich in dieselbe Richtung gewiesen haben, denn ich bin überrascht gewesen zu finden, wie oft Wahnsinn und Idiotismus unter den nahen Verwandten ungewöhnlich begabter Menschen auftreten. Auch kann es wohl nicht anders sein, als daß diejenigen, die übereifrig und in ihrer geistigen Tätigkeit von grenzenloser Emsigkeit sind, oft im Besitze von Gehirnen sind, die reizbarer und sonderbarer sind, als mit Gesundheit sich verträgt. Die Wahrscheinlichkeit ist vorhanden, daß sie zeitweilig verrückt werden, und vielleicht, daß sie völlig zusammenbrechen. Ihre angeborene Erregbarkeit und Sonderbarkeit tritt, so darf man erwarten, auch bei einigen ihrer Verwandten auf, aber ohne (eine) gleiche Dosis erhaltender Qualitäten, welcher Art diese auch sein mögen. Solche Verwandte würden, wenn nicht wahnsinnig, so doch geistig abnorm sein." Nähere Erwägung lehrt aber, daß diese Beziehungen nur den besonders 27

„Ich kann ... geistig abnorm seiti.":

„1 cannot go nearly so far as they, nor accept a moiety

of their data, on which the connection between ability of a very high order and insanity is supposed to be established. Still, there is a large residuum of evidence which points to a painfully close relation between the two, and I must add that my own later observations have tended in the same direction, for I have been surprised at finding how often insanity or idiocy has appeared among the near relatives of exceptionally able men. Those who are over eager and extremely active in mind must often possess brains that are more excitable and peculiar than is consistent with soundness. They are likely to become crazy at times, and perhaps to break down altogether. Their inborn excitability and peculiarity may be expected to appear in some of their relatives also, but unaccompanied with an equal dose of preservative qualities, whatever they may be. Those relatives may be .crank', if not insane." (Galton 1 8 9 2 : ix f.).

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ausgeprägten Fall einer allgemeineren Erscheinung darstellen. Unter Kindern sind es überhaupt die zarten, und allzu oft geradezu kränklichen, die sich durch schöne Geistesgaben, Phantasie und rasche Fassungskraft, durch Gedächtnis, und auch durch die entsprechenden Neigungen auszeichnen; Frühreife in dieser Hinsicht ist sogar sehr oft ein Symptom, das auf Skrofulose und Rachitis deutet. Es sind recht selten die derben und robusten Naturen, denen der Sinn für Bücher, die Begierde nach Wissen, die Lust an einsamem Sinnen und Bilden, oder auch die natürliche Gewandtheit der Rede und des Denkens eigen sind. Dagegen bemerkt man z. B. fast regelmäßig außergewöhnliche Geistesgaben bei Männern und Frauen, die mit dem tuberkulösen Übel einer verkrümmten Wirbelsäule behaftet sind, und auch sonst bei solchen, die durch jene traurige Disposition zur tödlichen Erkrankung der Atmungsorgane auf ein kontemplatives Leben sich gedrängt sehen, das oft trotz kurzer Dauer die köstlichsten Früchte zeitigt. - Wie zahlreich sind die Kurzlebigen unter den Dichtern, Musikern, Malern, Philosophen und sonst Gelehrten! Wie gering an Zahl - und oft, ach! wie gering an Qualität - ist die Nachkommenschaft der Hervorragenden! - Alle diese Erwägungen müssen uns den Gedanken gründlich austreiben, als stellten die Höherbegabten eine normale Varietät dar, die nur einer überdurchschnittlichen Fortpflanzung bedürfte, und etwa gar der Paarung mit ebenfalls Höherbegabten (in Wirklichkeit haben ja die geistig bedeutenden Frauen wenig Kinder und sind auch zumeist wenig begabt für die Mutterschaft), um eine besondere Rasse von gleichgearteten Wesen hervorzubringen. Es ist nichts als Illusion, was uns hier vorgegaukelt wird. In Wahrheit werden die oberen sozialen Schichten immer auf den Reservefonds der Gesamtkraft des Volkes für ihre Erneuerung angewiesen sein; der Vererbung des Ranges und der Macht entspricht in notorisch unzulänglicher Weise die Vererbung der Fähigkeiten; nicht ihre zu geringe Fortpflanzung, sondern ihre Degeneration ist der Fluch jeder herrschenden Kaste. Und damit ist zugleich angedeutet, daß die ohne Beweis zugrunde gelegte Annahme, in den oberen Schichten stelle sich eine Elite der besten Begabungen - was höchstens in intellektueller Hinsicht überhaupt gemeint sein kann - dar, keineswegs eine große Wahrscheinlichkeit für sich hat. Zu einem Teile ist es der Fall, zu einem anderen Teile nicht; die Verhältnisse zu messen sind wir gar nicht in der Lage. Man kennt die Nöte und Qualen, die in den Beamtenfamilien durch die schlechten Zeugnisse, zuweilen durch den vergeblichen Fleiß der Knaben verursacht werden; jeder Gymnasialdirektor weiß, wie viele sehr mittelmäßige Köpfe er schließlich durch das Maturitätsexamen befördern muß, nachdem gar viele Künste ange-

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

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wandt wurden, sie die verschiedenen »Klassenziele« notdürftig erreichen zu lassen. Und man höre einmal, wie über die Fähigkeiten der jungen Referendare und Assessoren geurteilt wird, wenn alte und gescheite Juristen unter sich sind! Dem Eindrucke kann man sich doch nicht entziehen, daß ebenso wie halb imbezille junge Lords im Hause der erblichen Gesetzgeber ihren Sitz haben, ebenso viele nicht geringe Beamtenposten tatsächlich ohne die dazu gehörigen Geisteskräfte vererbt werden - eine oft wiederholte Anklage behauptet dies sogar von den Lehrstühlen der Universitäten, quelle horreur! Von dem Hineinspielen des politischen Erbrechtes in die angebliche Auslese der Tüchtigsten, wozu doch auch die tatsächliche Bevorzugung adliger Herren gehört, zu schweigen. Bei alledem bin ich sehr geneigt zu glauben, daß regelmäßig auf 100 Söhne der oberen Schichten ein kleines Mehr von Gutbegabten fällt als auf ein durchschnittliches Hundert der mittleren und noch ein etwas größeres Mehr als auf ein Hundert der unteren Schichten. Dafür sind aber die mittleren und vollends die unteren so viel zahlreicher, daß sie selbst bei einem sehr ungünstigen Verhältnis noch ein starkes Mehr von in diesem Sinne Tüchtigen stellen würden. Man setze, in einer Gesellschaft von 100 000 wären 5 0 0 0 leitende Stellen zu besetzen. 5 0 0 0 Kinder der oberen Schichten kämen in Betracht; darunter wären etwa 1 0 % Begabte. Unter den 95 000 Kindern der übrigen Schichten wären nur 5 % Begabte - sicherlich eine Schätzung, die den Einbildungen jener, denen die höhere Klasse für eine begabtere »Rasse« gilt, sehr entgegenkommt. So würden die mittleren und unteren Schichten immer noch 4 7 5 0 Kandidaten für die leitenden Stellen hervorbringen, also wenn sie in der Lage wären, darüber zu verfügen, nur die Hälfte der kleinen Zahl, die aus höheren Regionen stammte, zur Ergänzung heranzuziehen brauchen. „Aber", wird man einwenden, „es würden den Kindern des Proletariats immer gewisse Eigenschaften mangeln, die für das Ausüben von Autorität wesentliche Bedeutung haben." Eigenschaften - sicherlich (oder doch wahrscheinlich und oft): moralische Eigenschaften, die auf Erziehung beruhen; vererbte und angeborene Anlagen kommen da wenig in Betracht. Die Frage, ob und wie jener Prozeß, den Darwin natürliche Zuchtwahl nennt, unter den Menschen statthabe, und besonders unter Menschen, die den Lebensbedingungen heutiger Kultur unterliegen, ist sicherlich der Erörterung wert, und auch vor unserer Preisfrage ist ihr diese durch mehrere Autoren, unter denen ich John B. Haycraft und als den gründlichsten 37 John B. Haycraft: Vgl. Haycraft 1 8 9 5 .

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Alfred Plötz hervorhebe, zuteil geworden. Plötz hat das besondere Verdienst, durch eine gute Terminologie die mannigfachen in dieser Hinsicht konkurrierenden Einflüsse unterschieden zu haben. Ebenso wie Plötz beurteilt Schallmayer die Bedeutung der Kriege, die auch sonst des öfteren als eine kontraselektorische angeklagt worden ist. Schallmayer meint (S. 115), der positive Selektionswert der Kriege habe mit zunehmender Kultur schon längst sich stetig verringert, und sei durch die modernen militärischen Einrichtungen ohne Zweifel zu einem negativen geworden. „Denn diese begünstigen geradezu den mit körperlichen Mängeln behafteten Teil der Bevölkerung in tief eingreifender Weise." Wenn nun aber diesen körperlichen Mängeln seelische Vorzüge entsprechen? Als ein „kleines Beispiel" für „die unnatürliche Änderung der natürlichen Auslese" (S. 117) wird angeführt, daß der Schlechtsehende nicht Soldat wird und „infolgedessen leichter dazu kommt, seine schlechten Augen zu vererben als der Scharfsehende seine guten Augen vererben kann". Nun darf als Tatsache gelten, daß die höheren Grade der Kurzsichtigkeit die vom Kriegsdienst dispensieren, vorzugsweise unter den höheren Schichten vorkommen, die Schallmayer an so vielen Stellen seines Buches die generativ wertvolleren nennt, von deren Vermehrung er das Schicksal der Rasse abhängig erachtet, die er „durchschnittlich für die Träger größerer Gehirne" (S. 130 Anm.) hält, und ganz besonders in den gelehrten Ständen, die er vor den übrigen Teilen jener Schichten mit gutem Grunde hervorhebt. In der Schweiz z. B. ergaben die ärztlichen Rekrutenuntersuchungen von 1 8 8 4 - 1 8 8 9 , daß von geringerer Sehschärfe als 1 S waren gegenüber einem Mittel von 1 3 % , unter Studenten 19, unter Lehrern 17, unter Geistlichen 31, unter Ärzten und Advokaten 15, unter öffentlichen Beamten 20, Kommis, Schreibern u. dgl. 16 von Hundert. Nun macht die geringe Sehschärfe nicht ohne weiteres dienstuntauglich. Es wurden aber z. B. im Herbst 1889 in der Schweiz von 23 382 l Alfred Plötz: Vgl. Ploetz 1895. 10 „Denn diese begünstigen ... eingreifender Weise.": Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 115. 15 „infolgedessen leichter ... vererben kann": Bei Schallmayer (ebd.: 117) eine etwas andere Wortstellung „... aber er wird nicht Soldat, und kommt infolgedessen leichter dazu, . . . " . 20 „durchschnittlich für die Träger größerer Gehirne": Vgl. Schallmayer (ebd.: 130, Anm.) mit anderer Wortstellung: „Das Material ist allerdings zu klein, um genügend Beweiskraft für die Annahme zu besitzen, daß die Angehörigen der höheren Berufsklassen durchschnittlich Träger größerer Gehirne sind.". 22 In der Schweiz: Nachstehende Zahlen sind der Tabelle „Verhältniszahlen aus den Resultaten der ärztlichen Rekruten-Untersuchungen von 1 8 8 4 , 85, 86, 87, 88 und 89, nach Berufsarten" (Statistisches Jahrbuch der Schweiz, 2. 1 8 9 2 : 2 9 0 - 9 3 ) entnommen. 24 geringerer Sehschärfe als 1 S: Korrekt: 1 D[ioptren]. 28 im Herbst 1889 in der Schweiz: Nachstehendes Zitat und Zahlen sind nicht belegt.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

237

definitiv Beurteilten wegen „Blindheit, Sehschwäche infolge von Myopie = 4 D oder mehr, sonstiger Sehschwäche und anderer oder unbestimmter Augenleiden" für „definitiv untauglich" erklärt 2403 = 10,25%, in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt und Basel-Land 7 aber von 3571 Beurteilten 553 = 15,48%. Für ähnliche Verhältnisse könnten, wie jeder sieht, viele Belege beigebracht werden. Die Sache ist diese: unsere Züchtungs-Soziologen ermangeln jeder Klarheit darüber, was sie eigentlich erhalten und züchten wollen: die Kraft und Gesundheit des Volkes (die vorzugsweise auf dem Lande, und wiederum in minder kultivierten Gegenden am meisten, zu Hause ist) oder die Intelligenz und Angepaßtheit an Handel und Wissenschaft und Künste (die vorzugsweise in den Städten und allgemein in entwickelteren Volksteilen ihren Sitz hat)? In einem gewissen positiven Verhältnisse, wenn auch keineswegs in dem der Deckung, zu diesem Unterschied und Gegensatz steht der Unterschied und Gegensatz der großen Menge zu den oberen Schichten, der Arbeiterklasse zur Herrenklasse; und wiederum entspricht der physischen Kraft und Gesundheit in einigem Maße die moralische, wenigstens in gewissen für die Dauer der Gattung vorzugsweise wichtigen Beziehungen (Ungebrochenheit der natürlichen Triebe und Gefühle); während in hohem Grade sowohl dem Städtertum als der besser ernährten, höher gebildeten Klasse eine durch Intelligenz geförderte Schwächung der moralischen Motive, die bis zum Raffinement des Egoismus geht, zur Last fällt. Der Rassenzüchter ist in der leidigen Lage, in der wir vielbegehrenden heutigen Menschen so oft sind: man möchte gerne das Gute der einen Seite mit dem Guten der andern verbinden; man muß aber für die eine oder andere Seite sich entscheiden. Nicht einmal nahe verwandte Zwecke lassen sich immer vereinigen; denn sie haben immer noch viel Gegensätzliches in sich. Dem Freier z. B. ist daran gelegen, eine gute Mitgift, aber auch Schönheit heimzuführen; nicht selten findet er beides zusammen; die reichen Familien zeichnen sich zuweilen durch edle Gesichtsbildung, schönen Wuchs usw. aus; die sorgfältige Pflege kommt auch der Schönheit ihrer Kinder zugute. Wem aber sehr an der Mitgift gelegen ist, der muß doch recht oft mit einer erklecklichen Portion Häßlichkeit fürlieb nehmen, ja, wie die Spötter sagen, zuweilen einen kleinen Höcker sich gefallen lassen. Aber auch der vernünftige Freier, der weder auf Geld noch auf Schönheit allzuviel Wert legt, befindet sich gar leicht in einem Dilemma. Selbst wenn er unter dem Einflüsse der Rassen-Hygieniker weniger an 7

Kantonen, in denen die höheren Schichten und leitenden Intelligenzen offenbar stärker als im Durchschnitt vertreten sind.

238

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sich als an seine Kinder denkt, nach welchem Gesichtspunkte soll er wählen? Vor allem doch eine intelligente Frau, denn er muß ja dazu beitragen, die Rasse zu vervollkommnen, sagen die Rassenhygieniker. Vor allem eine Frau, die voraussichtlich ihre Kinder selbst zu säugen imstande ist; denn es kommt darauf an, den Nachwuchs vor Entartung zu bewahren - sagen auch die Rassenhygieniker. Gibt es denn nicht intelligente Frauen, die mit jener Naturgabe ausgestattet sind? Gewiß gibt es solche; über dem Suchen nach einer Dame, die seiner Ansicht nach diese Vorzüge in sich vereinigt, möchte er oft leicht ein alter Garçon werden, was doch der Rassenhygieniker auch nicht will, wenn es ein gesunder und intelligenter junger Mann ist, der bei ihm anfrägt. Ist er nur das eine oder das andere, so wird er vielleicht nichts dagegen einwenden, obgleich dadurch die quantitative Vermehrung, also der Spielraum der Auslese, eingeengt würde, was er doch wiederum auch nicht will. Im Ernste aber wird ihm ganz besonders daran gelegen sein, dem Jüngling, der gesund und intelligent ist, zu einer frühen Heirat mit einer gleichgearteten Gattin zu verhelfen, und dieses Paar als ein optimum et rarissimum zur Aufbringung einer zahlreichen Nachkommenschaft zu ermutigen. - Auch dann, wenn der gesunde und intelligente junge Mann ein Bruder Liederlich ist, wie das nicht eben selten vorkommen soll? oder wenn das gesunde und intelligente Mädchen jedes Interesses für Ordnung und Sauberkeit bar ist, also mutmaßlich die Hauswirtschaft verkommen läßt, und - vielleicht eben infolge ihrer Intelligenz und Bildung - so viele Bedürfnisse hat, daß sie den Bankerott ihres gesunden und intelligenten Eheherrn herbeiführen wird? „Nein, das Pärchen muß auch moralisch gut geartet sein, es muß in jeder Hinsicht von edler Art sein." Wie sehr teilt man den Wunsch, daß solche Menschen nicht nur vorhanden seien, sondern auch miteinander verbunden werden und ein Geschlecht erzeugen, das ihnen gleich sei! Wenn nun aber wirklich nur die Vereintheit und Harmonie der Vorzüge Wert hat, während sonst immer die große Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine Trefflichkeit auf Kosten der anderen gezüchtet wird, was nützt dann z. B. die von unserem Autor postulierte Begünstigung früher Ehen und zahlreicher Familien in der besitzenden Klasse? (Vgl. z. B. S. 338 f.) Zugegeben, daß dadurch mehr gescheite Männer und Frauen hervorgebracht würden, als sonst sich erwarten läßt, wäre damit wirklich in bezug auf Verbesserung der Rasse etwas gewonnen? Wenn das nicht der Fall ist, so wird das ganze Hauptargument unseres

7 Gewiß gibt es: In A: Gewiß es gibt. 25 „Nein, das Pärchen ... edler Art sein.": Als Zitat nicht nachgewiesen.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

239

Autors, daß nämlich der bestehende Zustand „unvermeidlich zu einem allmählichen Verschwinden der höchsten generativen Werte führe", hinfällig. Es beruht darauf, daß er für „Abnahme der Begabung", was nach dem Zusammenhange immer heißt: der intellektuellen Fähigkeiten, nach Belieben einsetzt: Abnahme der höchsten generativen Werte. Es bedarf, so sagt er ausdrücklich (S. 168) „zum Sinken des »generativen Durchschnittswertes« einer Bevölkerung nicht einmal der »relativ schwächeren« Fortpflanzung der »Begabteren«. Es genügt zu diesem Ergebnis, daß sie sich nicht relativ stärker fortpflanzen". Der generative Durchschnittswert wäre also nach ihm erhöht, wenn auch eine relativ stärkere Fortpflanzung der Begabteren die Vermehrung der Neurastheniker, der Dyspeptiker, der Engbrüstigen und Krummbeinigen involviert: mit anderen Worten, der generative Durchschnittswert wächst durch die Degeneration. Aber nein - alle Begabteren, die zu solchen Übeln die Anlagen in sich tragen, Männlein wie Fräulein, sollen ja gesetzlich von der Ehe ausgeschlossen werden. Und doch wollt ihr die Begabteren intensiver vermehren?? - Es gibt nur einen Weg, auf dem ihr euer Ziel erreichen könnt. Die wenigen Prachtexemplare der männlichen Menschheit müssen, s. v. als Zuchthengste verwandt werden, und dürften, nach der Regel der Arbeitsteilung, kaum einen anderen Beruf haben, als den, ihre Art in eine zahlreiche Nachkommenschaft zu übertragen; ihnen müßten die in jeder Hinsicht besten Frauen zwangsweise zugeführt werden: Polygamie, und zwar ohne alle Wahl und Neigung, wäre unausweichliche, ja selbstverständliche Konsequenz. Wie die Pferde, die wir haben wollen, in einem Gestüt, so müßten die Menschen, die wir haben wollen, in einem Harem erzeugt werden! - Wir wissen, daß unser Autor die phantastischen Vorschläge für eine positive menschliche Zuchtwahl, „die alle Schwierigkeiten durch bloßes Ignorieren wegzaubern", verwirft, und daß für ihn gewisse „Verbesserungen der menschlichen Zuchtwahl im Ernst allein in Betracht kommen" (S. 259). Es soll also bei der Ausschlie-

2 „unvermeidlich

zu einem ... generativen

Werte führe"-. Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 168.

9 „zum Sinken ... relativ stärker fortpflanzen":

Bei Schallmayer (ebd.: 168) sind die Aus-

drücke „relativ schwächeren" und „Begabteren" nicht hervorgehoben, in A stehen sie zwischen Asterisken. 29 „Verbesserungen

der menschlichen

... Betracht

kommen":

Tönnies zitiert nicht ganz

wortgetreu: „So dilettantenhafte Vorschläge für eine positive menschliche Zuchtwahl, die alle Schwierigkeiten durch bloßes Ignorieren wegzaubern, sind nur geeignet, den Widerstand seitens der heute herrschenden Anschauungen zu vergrößern, der überwunden werden muß, ehe jene Verbesserungen der menschlichen Zuchtwahl verwirklicht werden können, welche im Ernst allein in Betracht kommen." (ebd.: 259).

240

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ßung der erblichen Krankheitsanlagen sein Bewenden haben? und diese soll geschehen, auch wenn sie die Begabteren trifft? In wie vielen Zirkeln werden wir hier herumgeführt?! Wie sonderbar berührt angesichts dieses gänzlichen Versagens biologischer Sozialwissenschaft und Politik der Abschluß des jene Vorschläge enthaltenden Kapitels mit folgenden „beherzigenswerten Worten /. Conrads": „Sicher erscheint es uns, daß eine Degeneration nicht als naturnotwendig mit äußerer Kulturentwicklung verbunden anzusehen ist. Vielmehr sind die Wissenschaften der Medizin und der Ökonomie gemeinsam berufen und imstande, einer solchen entgegenzuwirken, indem sie die Ursachen klarlegen und die Mittel zu ihrer Bekämpfung ausfindig machen." Ich bin der Meinung, daß wir allerdings alle Ursache haben, der Zunahme erblicher Krankheitsanlagen nach Kräften zu wehren, obschon kaum irgendwelche Staatsgesetze, es sei denn etwa gegen die Heiraten naher Blutsverwandter, dazu beitragen können. Wir sollten uns aber nicht darüber täuschen, daß die wachsende Bedenklichkeit der heiratsfähigen Männer und der Eltern heiratsfähiger Töchter - eine sehr begründete Bedenklichkeit ohne allen Zweifel - eine gewisse Folge haben wird: die Zunahme der Ehelosigkeit unter den Gebildeten, den Wissenden und Denkenden; wie auch die Furcht der Verehelichten vor entarteter Nachkommenschaft die schon vorhandenen zahlreichen Ursachen der Kinderlosigkeit oder doch Kinderarmut vermehren muß. Das Überwuchern der Reflexion in diesem Gebiete, wie auf allen Gebieten des natürlichen Wollens - einer durchaus richtigen und sinnvollen Reflexion (ich wiederhole es) - ist selber ein Symptom des Übels, auf dessen Bekämpfung sie gerichtet ist: nämlich der leidigen Phänomene des Alterns, die im sozialen und im individuellen Leben unerbittlich zunehmen, wie emsig oder verdrossen wir uns dagegen sträuben mögen. Daher ist auch nicht im sozialen Interesse die Ausdehnung jener Reflexion unbedingt günstig und erwünscht; das soziale Interesse wird immer eine starke Dosis Mut, daher auch eine nicht geringe Beimischung von Unbesonnenheit und Gedankenlosigkeit erfordern, es wird also auf diesem Gebiete immer heißen; paaret euch, erzeugt

11 „Sicher erscheint ... Bekämpfung

ausfindig machen."-. Vgl. Conrad 1 9 0 2 : 4 7 6 , zit. bei

Schallmayer, ebd.: 365. - Tönnies hat Schallmayer falsch zitiert, dort heißt es: „... mit unserer Kulturentwicklung . . . " . Auch Schallmayer jedoch zitiert nicht korrekt. Der Text lautet bei Conrad: „Sicher erscheint uns indes, dass eine Degeneration nicht als naturgesetzlich mit unserer Kulturentwicklung verbunden anzusehen ist. Vielmehr sind die Wissenschaften der Medizin und der politischen Oekonomie gemeinsam berufen . . . " .

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

241

Kinder! ohne Einsatz kein Gewinn! wir müssen die Nieten in den Kauf nehmen; auf eine große Zahl kommen einige starke Fälle; wenn die Quote abnimmt, um so mehr müssen wir die absolute Zahl vergrößern ... Das alles ist ja auch im streng darwinistischen Sinne! - Außerdem aber wird das soziale Interesse sagen: mittelbar und in weiter Aussicht, also für die Zukunft der Rasse, mag es allein auf Gesundheit und Stärke ankommen; ich bin aber als unmittelbares vorhanden, ich brauche Menschen, die nicht schlechthin tüchtig, sondern die für gewisse sehr spezielle Verrichtungen tüchtig sind; diese Arten der Tüchtigkeit sind aber zum guten Teile bedingt durch geringe Muskelstärke, sind jedenfalls mit Defekten aller Art durchaus verträglich; für den Kriegsdienst taugen nicht alle; aber wie viele solche Untaugliche taugen weit besser als der gute Soldat fürs Bureau, fürs Kontor, für die Fabrik, fürs Katheder usw. usw. Dies ist nun durchaus in einem Sinne gedacht, den unser Autor kennt und in seinen Grenzen gelten läßt. Er ist sich des notwendigen Konfliktes völlig bewußt, den die Kultur zwischen den »Traditionswerten« und den »generativen« Werten herbeiführe. Die Bedingungen für die natürliche und geschlechtliche Auslese sind nach ihm bei den westlichen Kulturvölkern der Gegenwart „stark überwiegend" zuungunsten der generativen Entwicklung geändert. „Hingegen", heißt es in dem Schlußworte (S. 378) „bei einer Betrachtung der Auslesebedingungen, wie sie bei dem ältesten lebenden Kulturvolk, dem chinesischen, bestehen, stellte sich heraus, daß sie der »generativen Höherentwicklung« entweder gar nicht oder doch weit weniger entgegenwirken, als bei uns ..." In Wahrheit ist in dem Abschnitt über den biologischen Wert der chinesischen Kultur von generativer Höherentwicklung nur insofern die Rede, als herausgestrichen wird, daß die höheren Gesellschaftsschichten in China nicht wie bei uns in geringerem, sondern sogar in etwas stärkerem Maße sich fortpflanzen als die niederen, und daß die besten Elemente aus diesen ständig in die höheren Klassen aufsteigen können, ohne daß infolgedessen ihr generativer Wert für den Volkskörper verloren gehe. Demnach erwartet der Verfasser, daß hier durch die höheren Klassen, und innerhalb ihrer, eine allmähliche Vervollkommnung stattfinde, und zwar in der Richtung der Intelligenz, wie aus der Hinweisung auf die Mandarinenprüfungen, die Beamten- und Gelehrtenaristokratie hervorgeht. Daß diese Vervollkommnung wirklich stattfinde, hat er nicht unternommen zu beweisen, sondern 23 »generativen Höherentwicklung«

- steht in A zwischen Asterisken.

31 verloren gehe: In A: verloren gehe (S. 197).

242

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

betont ausschließlich das unerhörte »Standhalten«, die »Dauerhaftigkeit«, das „ 3 - 4 0 0 0 jährige Bestehenbleiben" der chinesischen Kultur und führt eben diese Stabilität auf jene günstigen Auslesebedingungen zurück, zum Teil auch auf den „außerordentlich großen Konservatismus", das „zähe Festhalten am Althergebrachten", obschon dieses sich „als ein Hemmschuh des kulturellen Fortschritts erwiesen" habe (S. 205). Dies spricht nun eben nicht dafür, daß die Chinesen sich im Verlaufe ihrer Kulturgeschichte „nach den Prinzipien der Deszendenztheorie" höh er entwickelt, daß sie, um es in bekannten Vorstellungen auszudrücken, sich weiter vom Affen entfernt und mehr der Idee des Menschen genähert haben - keineswegs; sondern allein dies kann (und will im Grunde) der Verfasser beweisen, daß die chinesischen Lebensbedingungen - zu denen er in erster Linie den harten Daseinskampf, die niedrige Lebenshaltung und dadurch bedingte, häufig noch durch Jahre der Teuerung oder Hungersnot verschärfte, „sehr scharfe Auslese" (S. 196) rechnet - zusammen mit den alten Institutionen, die bei anderen Nationen wirksamen Ursachen der Degeneration und des Verfalles nicht haben aufkommen lassen, ihnen vorgebeugt haben. Was aber hat dies mit der Deszendenztheorie zu schaffen? Die Deszendenztheorie will ja doch nicht die lange Lebensdauer von Gattungen, Arten, Varietäten, sondern ihre Abänderungen, Metamorphose, die Entstehung neuer Varietäten, Arten usw. erklären. Möge also in jener Hinsicht der biologische Wert der chinesischen Kultur noch so hoch sein; als eine Entwicklung im Sinne der Deszendenztheorie ließe sich doch wohl eher der kulturelle Fortschritt, der, wie Verfasser nicht leugnen will, auf Seiten der europäischen Völker sich findet, deuten, wenn ... ja wenn ihm ein biologischer Fortschritt entspräche - aber dies stellt er eben in Abrede, und seine, wenn auch nicht in diesen Worten ausgesprochene These ist, daß der Kulturfortschritt, - die Entwicklung - wesentlich auf Kosten des biologischen Fortschritts, - der Entwicklung der generativen Werte - geschehe; er selber nennt „die Kultur" schlechtweg »völkermordend« (S. 380: da müßte also die chinesische ausgenommen werden?) und nimmt für die Deszendenztheorie in Anspruch, daß sie nicht nur die merkwürdige Erscheinung, daß auf eine Kulturentwicklung regelmäßig der Verfall zu folgen pflegt, besser als bisher verstehen lehre, sondern auch uns verrate,

2 „3-A000

jährige Bestehenbleiben":

Vgl. Schallmayer, ebd.: 2 1 1 .

15 „sehr scharfe Auslese" ist bei Schallmayer gesperrt gedruckt. 17 nicht: In A gespert und fett. 31 da müßte also: In A: da müßte denn doch.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

243

wie „der völkermordenden Kultur der Giftzahn auszuziehen sei". Hier wird also behauptet, daß die Deszendenztheorie negativ als Erklärungsprinzip anzuwenden sei: die Völker verfallen, weil und wenn ihre Auslesebedingungen nicht taugen; sie leben lange, wenn diese ungünstig sind; ihre Lebensdauer läßt sich ins Ungemessene verlängern, wenn wir sie verbessern, qualitative Bevölkerungspolitik, soziale Hygiene treiben usw. Es könnte aber allerhöchstens zugegeben werden, daß eine gewisse Mitwirkung ungünstiger Auslesebedingungen bewiesen wäre; der Verfall eines Volkes prägt sich in elementarster Weise und gerade biologisch, ohne Zweifel durch stetigen Rückgang seiner Bevölkerungszahl aus, und dieser Rückgang hat mit den Auslesebedingungen nichts zu schaffen; er kann eintreten, auch wenn die »Besten«, die höheren Klassen, sich stark vermehren sollten, im Volke als einer Gesamtheit bilden diese eine zu geringe Quote; er kann eintreten nicht nur trotz sehr scharfer Auslese, möge diese auch durch Jahre der Teuerung oder Hungersnot verschärft sein, sondern er ist gerade die Folge dieser vernichtenden Ursachen, wenn ihnen nicht eine allgemeine starke Vermehrungstendenz die Wage hält (man lasse diese sehr scharfe Auslese auf die heutigen Franzosen wirken, so dürfte es um ihr Dasein als Volk bald geschehen sein). Übrigens soll die Auslese doch zur Entstehung neuer, höherer Rassen, also wohl auch Völker, führen, und nicht zur chinesischen Versteinerung der alten! - Zu den Auslesestörungen unserer Kultur rechnet der Verfasser in medizinisch-sachkundiger Ausführung (S. 146 ff.) die Bekämpfung der Tuberkulose und anderer epidemischer Krankheiten, die Geburtshilfe, und die Erfolge, welche von Heilkunde und Hygiene in Verbindung mit der verbesserten Lebenshaltung der Massen, gegenüber der Kindersterblichkeit erzielt worden seien. Ein Gedanke, der sich jedem Betrachter aufdrängt, und der, nachdem er schon vor Jahrzehnten leise zu tönen angefangen, neuerdings bekanntlich mit einigem Lärm in den Lüften schwirrt. Demgegenüber muß ich im Vorbeigehen von neuem auf die Zweischneidigkeit dieser ganzen Ausleselehre hinweisen: gewiß werden, wie Herr Dr. Schallmayer schreibt, „infolge der besseren Säuglingspflege und der bekömmlichen Kindernahrung jetzt viele schwächlich veranlagte Kinder am Leben erhalten, die früher, bei nicht so günstiger Behandlung hätten zugrunde gehen müssen" (S. 150). Gingen i „der völkermordenden

Kultur der Giftzahn auszuziehen sei"-. „ . . . die Descendenztheorie

... verrät uns, wie der völkermordenden Kultur der Giftzahn auszuziehen ist." (ebd.: 380). 34 „infolge der besseren Säuglingspflege

... zugrunde gehen müssen"-. Tönnies hat den Satz

geändert, um ihn in seine Formulierung grammatisch einzubinden: „... bekömmlicheren Kindernahrung werden jetzt viele . . . " (ebd.: 150).

244

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

damit auch die moralisch oder gar intellektuell schlechteren Kinder zugrunde? Durch Mutterbrust und tüchtige Ammen sind immer viele schwächlich veranlagte Kinder erhalten worden; übrigens waren »früher« in dieser Hinsicht in sehr weiten Kreisen die Erhaltungsbedingungen günstiger, also die Auslesebedingungen ungünstiger als heute; und zu den so zum Schaden der Zuchtwahl erhaltenen Kindern gehörten z. B. Descartes, Kant, Schiller und - ich will nicht versuchen aufzuzählen, wie viele andere »schwächlich«, aber mit unersetzlichen Kräften der Großhirnrinde veranlagte Menschen. Übrigens aber: gesetzt, wir ließen dem auslesenden Tode freien Lauf; gesetzt, dies hätte zur Folge, daß nur wirklich Starke und Gesunde überlebten; würde daraus auch folgen, daß diese Starken und Gesunden sich nunmehr so stark vermehrten, daß sie den Ausfall wenigstens decken würden? Würde z. B. der französische Bauer, der dann auch, wie wir annehmen wollen, im Durchschnitt etwas stärker und gesunder ausfiele, zugleich geneigt werden, das Zwei-Kinder-System aufzugeben? oder würde nicht vielmehr die Sterbeziffer rapide über die Geburtsziffer steigen und nach etlichen hundert Jahren nur noch eine Handvoll - vielleicht eine Handvoll Giganten - übrig geblieben sein? Ist es nicht der Selbsterhaltungstrieb, die Selbsterhaltungspflicht, die uns sozial wie individuell die Abwehr des Todes, den Kampf gegen die, wenn auch im Sinne der Natur noch so heilsame, Vernichtung gebieten?! Eine seltsame Anwendung der Deszendenztheorie, die uns lehren will, daß ihr Hauptgesetz oder was dafür ausgegeben wird - denn unser Autor verneint sehr ausdrücklich die Vererbung funktioneller Modifikationen in der menschlichen Kulturwelt nicht gelte, ja durch ihre Bedingungen aufgehoben werde. Ob und inwiefern innerhalb unseres Geschlechtes diese Ursache, in historischen Zeiten, in progressivem Sinne gewirkt habe, möchte ich nicht entscheiden. Aber sicher scheint mir, daß Auslese, die freilich keine Zuchtwahl bedeutet, also mit dem Darwinismus nichts zu tun hat, fortwährend in konservativem Sinne - zugunsten des Arttypus gewirkt hat und wirkt, daß m. a. W. dauernd immer nur das Normale und Gesunde hat leben und sich fortpflanzen können, und ich sehe nicht, wie diese Regel durch irgendwelche Kulturverbesserungen umgestürzt werden könne. Sie zu hemmen, vermag menschliche Kunst; sie aufzuheben keineswegs. Seien wir froh, wenn die Hygiene uns das Leben eines schwindsüchtigen Denkers oder Künstlers erhält, ob wir gleich zugestehen, daß für die »Rasse« das Leben jedes Pferdeknechts sehr viel höheren Wert hat, daß die Nachkommenschaft dieses in wenigen Generationen auf 100 Köpfe steigen wird, während jener zwar in seinen Werken, aber kaum noch in seinen

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

245

Enkeln fortleben wird. Die Natur wird sich durchsetzen, wenn wir auch ihren Gang verlangsamen mögen. Und wenn wir glauben dürfen, daß sie unter anderem auch im Sinne der Veredlung animalischer Typen wirkt, daß sie insbesondere der Veredlung des Menschen - in absehbaren Zeitläufen - günstig ist, so dürfen wir auch glauben, daß sie in diesem ihrem (um anthropomorphisch zu reden) Absehen sich durch keine menschlichen Vorkehrungen, die ihr scheinbar entgegen sind, wird »stören« lassen. Im Gegenteil: auch diese menschlichen Vorkehrungen gehören ihr an; sie sind in ihrem Plane vorgezeichnet; sie sind Mittel, derer sie für ihre Zwecke bedarf. Denn auch die Kultur, so sehr mit Grund wir sie in mancher Hinsicht der Natur entgegensetzen mögen, ist etwas Natürliches, sie stellt einen Modus des Lebens dar, menschlichen Zusammenlebens, das auf gegenseitigen Duldungen und Förderungen beruht, fortwährend gekreuzt und unterbrochen durch Gegensätze und Kämpfe. Die Kampfgenossenschaft erhält eine Masse Leben, die sonst in »der Natur« untergehen würde, aber zuletzt behält die Natur immer wieder Recht, die gleichsam eine Minimalforderung an das Leben stellt, dem sie Dauer gewähren soll. Daß schwaches Leben nur bis zu einer gewissen Grenze »durchgebracht« werden kann, daß, wie das pathologische Individuum fortwährend stärker durch den Tod bedroht wird als das gesunde, so auch pathologische Varietäten trotz aller Pflege einem baldigen Aussterben unterliegen, das hat man längst vor der Deszendenztheorie gewußt, und bleibt wahr, wenn auch (was nicht zu vermuten) der Glaube an die Konstanz der Art sich neu befestigen sollte. „Das Dasein der degenerierten Wesen" schrieb 1857 der treffliche Morel, „ist notwendigerweise beschränkt, und merkwürdigerweise ist es nicht immer notwendig, daß sie bis auf die letzte Stufe der Entartung sinken, um mit Sterilität geschlagen und folglich unfähig zu werden, den Typus ihrer Entartung zu reproduzieren." Sein ganzes Werk (Traité des dégénérescences de l'espèce humaine) ist eine Ausführung dieses Gedankens.

28 „Das Dasein der degenerierten

... Entartung zu reproduzieren.":

„... l'existence des êtres

dégénérés est nécessairement bornée, et, chose merveilleuse, il n'est pas toujours nécessaire qu'ils arrivent au dernier degré de la dégradation pour qu'ils restent frappés de stérilité, et conséquemment incapables de transmettre le type de leur dégénérescence." (Morel 1 8 5 7 : 5 ) - A m Ende des Absatzes ist eine längere Passage aus A ausgelassen, vgl. im editorischen Bericht S. 6 6 3 .

246

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

III. Durch die politische Anthropologie Ludwig Woltmanns werden wir zunächst eingeführt in „die Faktoren der organischen Entwicklung", die „physiologischen Grundlagen der Variation und Vererbung", die „natürliche Variation und Vererbung beim Menschen". Woltmann schließt sich in bezug auf jene offene Frage der Weismannschen Lehre an, die er aber in ihrer jüngsten Gestalt adoptiert, wonach sie nicht schlechthin den umbildenden Einfluß der Außenwelt und die Vererbung erworbener Eigenschaften ausschließen will: das ganze Gewicht wird hier auf die Keimauslese gelegt, und die Wirkung des Gebrauchs von Organen kann insofern übertragen werden, als Keim und Organismus die gleichen Einwirkungen erfahren. Sorgfältig zusammengelesenes Material enthält das Kapitel über menschliche Vererbung, worin uns besonders der Abschnitt (6) über die Vererbung der geistigen Fähigkeiten interessiert. Es wird zugegeben (S. 93), daß es oft schwer sei, erbliche Anlagen und äußerliche Tradition in ihrer Wirksamkeit zu unterscheiden „und ein ursächliches Verhältnis zwischen spezifischer Begabung und »Berufsfamilie« einwandfrei festzustellen". Gleichwohl wird im Tone der Sicherheit der Satz aufgestellt, daß es Mangel an Inzucht oder Hochzucht sei, was die Vererbung des Genius so überaus selten mache. Dann aber wird wieder anerkannt: wenn auch die Vererbung geistiger Überlegenheit im allgemeinen zweifellos feststehe, „so gehen die übereinstimmenden Ansichten der Forscher in bezug auf die Vererbung spezifischer Geistesbegabungen dahin, daß solche zwar vorkommen, aber verhältnismäßig selten sind" (S. 95). Das Schlußergebnis kann auch hier, wenn nicht als pures Ignoramus, so doch als „Valde exiguum est quod exploratum habemus" bezeichnet werden. Es folgen ebenfalls hübsche Ausführungen über künstliche Rassenzucht, über Inzucht und Kreuzung der Menschenrassen, wo die Schwächung der Nach-

1 III.:

Tönnies übernimmt von hier an unbemerkt die Nummerierung der Überschriften

entsprechend der Erstveröffentlichung A. - Für einen ausgelassenen Absatz aus A nach der Überschrift vgl. den editorischen Bericht, S. 6 6 3 . 2 Durch

die politische

... Woltmanns

werden

wir ...: In A ein anderer Satzanschluß: Auch

hier werden wir ... s

Woltmann:

In A: Auch W o l t m a n n . - Vorstehende Zitatsplitter stammen aus dem Inhalts-

verzeichnis von W o l t m a n n , 1 9 0 3 . 17 » B e r u f s f a m i l i e « : Bei W o l t m a n n (ebd.: 9 3 ) ohne Anführungszeichen. 26 „Valde

exiguum

est quod exploratum

was wir herausgefunden h a b e n " .

habemus":

[lat.] svw. „Es ist nur sehr beschränkt,

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

247

kommenschaft blutsverwandter Ehen mit vielen Daten belegt wird, aber auch den Kreuzungen verschiedener Rassen werden schädliche Folgen zugeschrieben, abgesehen davon, daß jede Vermischung einer höheren mit einer niederen Rasse einen unersetzlichen Verlust für den organischen Bestand der edleren Rasse in sich schließe. Wenn aber das Individuum der »edlen« Rasse ein degeneriertes Wesen, eine Bestie ist - auch dann? Wir kommen sogleich auf „Rassenentartung infolge von Mangel an Selektion" (S. 114 ff.). Hier geschieht eine rigorose Anwendung des Weismannschen Begriffes der Panmixie. So ist z. B. die Zunahme der Kurzsichtigkeit ihr zuzuschreiben. „Bei Kulturvölkern ist Myopie kein Hindernis der Existenz und der Familiengründung, ja die künstliche Korrektion durch Brillen kann einen Myopen mit einem Normalsichtigen in jeder Hinsicht durchaus konkurrenzfähig und bei günstiger geistiger und ökonomischer Ausstattung sogar überlegen machen. Daß dadurch die physische Zuchtwahl gestört wird, ist außer allem Zweifel" (S. 120). Wir sind also bei den Störungen wieder angelangt. Ich verstehe nicht, wie man da von Störungen reden kann, wenn man gelten lassen muß, daß die Ausbildung einiger Organe immer durch Verkümmerung anderer gleichsam erkauft wird, wie dies schon Goethe wußte, wenn er dabei auch mehr an einen Plan der Natur als an zeitliches Geschehen dachte - ? Sind doch auch unsere Füße, unsere Ohrmuscheln verkrüppelt und wie viele andere Stücke unseres Leibes! Auch legt Weismann mit Recht besonderes Gewicht auf den »Rückschritt« in der Entwicklung organischer Wesen, der mit dem Fortschritt immer parallel gehe; ein Lieblingsbeispiel ist ihm der Maulwurf. Wie, wenn sich nun eine Rasse gelehrter Maulwürfe ausbilden wollte? Jedenfalls könnten wir den Gesamtprozeß dann nicht Rückschritt nennen, wenn wir in der fortschreitenden Vervollkommnung des Gehirns den größten und entscheidenden »Fortschritt« sehen. Wie stellt sich dazu der geehrte Verfasser? Im Prinzip schließt er sich völlig an Weismann an, indem er sehr treffend sagt: „Nicht nur beim Menschen, sondern auch bei allen anderen Lebewesen sehen wir bestimmte Organe in progressiver, andere in regressiver Bildung begriffen. Entwicklung ist ebenso ein fortschreitender wie rückschreitender Prozeß. Vervollkommnung und Entartung, positive und 7 „Rassenentartung

infolge von Mangel an Selektion":

Bei Woltmann (ebd.: 114): „ . . .

infolge von Mangel an Auslese" 19 wie dies schon Goethe wußte-. Vgl. hierzu dessen häufige Äußerungen in den morphologischen Studien. 24 ein Lieblingsbeispiel

ist ihm der Maulwurf: Vgl. z. B. den Aufsatz „Über den Rückschritt

in der Natur" von 1 8 8 6 in Weismann 1 8 9 2 : 5 4 7 - 5 8 6 , besonders 5 5 6 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

negative Auslese stehen in wechselseitigen Beziehungen und beherrschen untrennbar die Entwicklungsgeschichte der organischen Formen" (S. 115). Soviel ich sehe, unterscheidet er aber nicht zwischen Entartungen, die sozusagen selbstmörderisch sind - oder wie man auch sagen könnte, die von der Natur als unmöglich verworfen sind - und solchen, die durch Anpassung entstanden, die Vitalität nicht beeinträchtigen und sich fortpflanzen können. Hier aber läge gerade das Problem. Es kommt allerdings der genannten Unterscheidung nahe, wenn „außer der organischen Entartung, die sich in einer Rückbildung und Schwächung unserer vollkommenen Körperteile und Funktionen bemerkbar macht", solche „erbliche Verschlechterungen der Rasse" aufgezählt werden, die entweder auf pathologischen Keimvariationen und Entwickelungsstörungen beruhen oder durch schädigende Einflüsse der Außenwelt verursacht werden" (S. 120). Daß diese erblichen Verschlechterungen zum „Untergang des Geschlechts" führen, wird ausdrücklich anerkannt. Daß es aber teilweise mit der vorher behandelten „organischen Entartung" nicht anders ist, sieht offenbar der Verfasser nicht. An jenem wesentlichen Unterschiede geht er vorüber. So erörtert er als gleichschlimme „Entartungen im Gebiete des Fortpflanzungsgeschäftes" die Unfähigkeit der Frauen, durch die natürlichen Kräfte ihres Körpers zu gebären und die Unfähigkeit, Kinder mit der eigenen Milch zu ernähren (S. 118 f.). Es könnte aber doch sehr wohl sein, daß die letztere Unfähigkeit konstitutionell würde oder teilweise schon geworden wäre, daß also eine stillungsunfähige Varietät von Menschen sich entwickelt, während eine gebärunfähige freilich nicht denkbar ist. Die Geburtshilfe wird von Woltmann wie von anderen Autoren angeklagt, daß sie minder gebärfähige Mutter rette und solche Schwäche auf ihre Nachkommenschaft übertragen lasse. Wenn aber diese Entartung fortschreitet, so dürfte sie sehr bald an einem Punkte anlangen, wo entweder die Gebärunfähigkeit in Konzeptions- oder doch Austragungsunfähigkeit (die heute schon so häufig ist) übergeht oder die Geburtshilfe nicht mehr zu helfen vermag. - Wir kommen zum fünften Kapitel, das „die biologischen Grundgesetze der Kulturentwicklung" behandeln will. Im ersten Abschnitt (S. 128 bis 131) bemerken wir hier eine auffallende Unsicherheit in bezug auf den soziologischen »Organizismus«. So heißt es S. 128, „diese Theorie hat

13 die entweder auf... Außenwelt verursacht werden": Vgl. Woltmann 1903: 120; Zitatbeginn in der Vorlage und in A nicht gekennzeichnet. 19 „Entartungen im Gebiete des Fortpflanzungsgeschäftes": Vgl. ebd.: 118; eine Sperrung wurde durch Tönnies getilgt.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

249

ohne Zweifel eine gewisse Berechtigung, denn die Gesellschaft ist in der Tat ein Organismus" („aber sie ist zugleich mehr als ein Organismus"), hingegen S. 130 „man kann die Gesellschaft nicht direkt einen Organismus nennen" („sondern nur dahin physiologisch kennzeichnen, daß sie eine Organisation besitzt"). Wir lassen diese Frage hier auf sich beruhen. Es folgen kenntnisreiche Abschnitte über „die Stufen der tierischen Gesellschaften", über „soziale Vererbung und geistige Erfindung". In dem letzteren begegnen wir einer interessanten Diskussion der „Möglichkeit eines Überlebens und Vererbens der geistigen Fähigkeiten durch natürliche Zuchtwahl", die von Wallace und Weismann verneint wird. Daß die Tradition der Punkt sei, der den tiefen Unterschied zwischen Mensch und Tier in seiner Wurzel aufdecke, sei zuerst von Büchner und Weismann betont worden; es sei aber dagegen zu halten, daß auch die höheren Tiere der sozialen Vererbung in keimhaften Anlagen nicht gänzlich bar seien. Ebenso stehe es mit den geistigen Anlagen des Menschen, die bei den höheren Tieren vorgebildet seien. Ich finde nicht, daß Herr Woltmann, der hier Weismann und Wallace zu widerlegen glaubt, auch nur einen genügenden Versuch macht, sie zu widerlegen. Er wirft ihnen vor, daß sie den Kampf ums Dasein allzu einseitig als rohen Kampf um das materielle Dasein des einzelnen und der Gattung auffassen. Er führt dagegen die geschlechtliche Zuchtwahl ins Treffen. „Farbenschmuck und Formen haben den Zweck, Wohlgefallen zu erregen, das andere Geschlecht anzulocken und anzuregen. Hier überleben die am schönsten organisierten Individuen, die sowohl ihre ästhetische Struktur wie den vollkommeneren Geschmack am Schönen auf ihre Nachkommen vererben können." Weismann meinte, es werde wohl niemand behaupten wollen, daß dichterische oder musikalische Begabung eine besonders starke Aussicht auf Gründung einer Familie geben. Will Woltmann sagen, daß wie nach Darwin die Männchen der Singvögel, die am schönsten flöten konnten, von den Weibchen bevorzugt wurden, so auch unter den Menschen die mit ästhetischem Sinne Begabten vor anderen zur Fortpflanzung gelangt sind, weil die Frauen sich am liebsten mit ihnen verbanden? Es handelt sich doch darum, die höheren Geistesgaben, insofern sie ein gemeinsames Erbteil unseres Geschlechtes sind, zu erklären. Wie mir scheint, spielt die geschlechtliche Zuchtwahl bei den Biologen eine etwas seltsame Rolle. Für Darwin gehörte sie zu den zwar sekundären, aber doch sehr wichtigen

10 „Möglichkeit

eines Überlebens

25 „Farbenschmuck

und Formen

... natürliche Zuchtwahl"-. Vgl. ebd.: 142 ff. ... vererben

können.":

Vgl. ebd.: 1 4 4 .

250

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Erklärungsprinzipien, neben den Wirkungen des Gebrauchs, der kumulativen Abänderung, der direkten Wirkung der Umgebung. Die Neueren, zumal Weismannscher Richtung, machen entweder keinen Gebrauch davon, ohne doch die Bedeutung dieses Erklärungsprinzips einer Kritik und Widerlegung zu würdigen, oder sie bedienen sich seiner als eines Lückenbüßers, ohne aber zu untersuchen, wie es mit der sonst »allmächtigen« natürlichen Zuchtwahl konkurrieren könne, was auch Darwin, soviel ich sehe, nicht getan hat. Ich meine nun allerdings, man könnte alle die Eigenschaften, die reizend und bezaubernd auf das andere Geschlecht wirken - unter den Menschen ist doch wohl der Wettbewerb des weiblichen Teils noch stärker in dieser Hinsicht - als in besonderem Sinne nützlich, wenn nicht im Kampfe um die Existenz, so doch in dem um die Fortsetzung der Existenz begreifen, an deren Verursachung bekanntlich den lebenden Wesen ebensoviel oder mehr als an ihrer Selbsterhaltung gelegen ist. Sofern nun solche Eigenschaften mit den sonst nützlichen sich decken, so verstärken sie deren Wirkung; wie aber, wenn sie von diesen ganz und gar verschieden sind, wenn sie sogar im Gegensatz zu ihnen stehen? Hatte oder hat der musikalisch Begabte auch dann verbesserte Aussicht, seine Anlagen zu vererben, wenn er von schwachem Körperbau war (oder ist), und wenn die Schwächlichen regelmäßig den Unbilden des Klimas und den Verfolgungen der Feinde erliegen? Mir scheint, daß hier die ganze, im wesentlichen ja deduktiv begründete Deszendenztheorie noch nicht gehörig durchdacht worden ist, daß aber Herr Woltmann die Bedenken seiner Vorgänger etwas zu leicht nimmt. Er meint außerdem (außer dem Hinweise auf geschlechtliche Zuchtwahl), es gebe schon innerhalb der tierischen Herden einen Kampf um die soziale Stellung, um die Führung und Leitung - offenbar soll dies a posteriori von den menschlichen Verbänden gelten, und der nicht eben klar ausgedrückte Gedanke geht dahin, daß Geltung und Ansehen, als Folge besonderer Fähigkeiten, so auch von künstlerischen Anlagen, die Erhaltung und dadurch auch die Fortpflanzung der mit solchen Anlagen ausgestatteten Menschen bewirken. Es scheint aber hier vergessen zu werden, daß diese Anlagen, wenn sie durch natürliche Zuchtwahl erklärt werden sollen, einen Vorteil, vor anderen gewährt haben müssen, wodurch sie einen Vorsprung gewannen; denn wenn etwa die Sänger gefüttert und gehätschelt, aber gleichzeitig oder vorher kastriert wurden, oder wenn die Priester zur Keuschheit verpflichtet wurden, so nützte ihnen Geltung und Ansehen nichts in dieser Hinsicht, womit überdies die Besitzer künstlerischer und wissenschaftlicher Talente überwiegend nur kärglich und kümmerlich belohnt worden

251

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

sind; sehr oft werden sie als Fremde oder gar als Unfreie gering geachtet. Wie stark unser Autor sich diesem Problem gegenüber in haltloser Verlegenheit befindet, möge noch die Zusammenstellung folgender Sätze zeigen, die nacheinander auf Seite 144 aufmarschieren. „Große Kunstwerke .... können zum Symbol einer großen Leistung und Zukunft werden. »Insofern« sind die künstlerischen Anlagen ,einer natürlichen Selektion' unterworfen und werden sie erhalten, vererbt und weiterentwickelt. (Abs.) Die Kunsttriebe sind immanente Selbstzwecke der Natur. Sie ... bilden Bestandteile der seelischen Veranlagung aller Menschen und variieren in Art und Grad, je nach den Rassen und Familien. Besonders hochbegabte Varianten werden erhalten, wenn der Kunstsinn und das Kunstbedürfnis einer Gesellschaft ihnen ,einen geistigen Selektionswert' zuerteilt . . . " Das nenne ich um eine Sache herumreden. Es folgt ein wichtiger und innerlich mit den letzten Erwägungen verbundener Abschnitt über „die Formen der menschlichen Auslese". Das Bevölkerungsproblem, von dem bekanntlich Darwin ausgegangen ist, wird hier berührt. Alsbald aber, und ganz unvermittelt, tritt der Begriff der sozialen Auslese auf. Es entsteht die Frage, „wieweit die natürliche Zuchtwahl im Daseinskampf auch für die politische und geistige Kulturgeschichte als ein Mittel des Fortschrittes angesehen werden kann" (S. 147). Schon bei höheren Tieren finde soziale Auslese statt und zwar in doppeltem Sinne, als Auslese der Individuen im Kampf um hervorragende soziale Stellungen und als Auslese der Gesellschaften im Kampf mit anderen Gattungen. Gleich nachher wird aber der Kampf individueller Tiere um sozialen Rang widerrufen, denn es wird als dritter wesentlicher Unterschied zwischen organischer und sozialer Auslese bezeichnet (S. 148), daß bei den Tieren der Daseinskampf ein Wetteifer um die Erhaltung der Gattung durch organische Produktion und Reproduktion sei, „während in der menschlichen Gesellschaft selbständige Kämpfe um Besitz, Genuß, Stellung, um moralische Handlungen und geistige Ideen stattfinden, die keineswegs immer mit der organischen Erhaltung der Rasse in Verbindung stehen, sondern sie vielmehr schädigen können". (Die zwei ersten wesentlichen Unterschiede sind: 1. daß bei den Tieren sich die Auslese nur auf organische Mittel des Daseinskampfes, beim Men12 „Große

Kunstwerke

.... Selektionswert'

zuerteilt ...":

In A stehen die in diesem Zitat

durch »...« bzw. ,...' hervorgehobenen Ausdrücke zwischen Asterisken, bei Woltmann (ebd.: 144) sind sie nicht hervorgehoben. 17 Es entsteht die Frage: In A: Es entstehe die Frage. 31 „während

in der menschlichen

Gesellschaft

...

Woltmann, ebd.: 148 f. Sperrungen tilgte Tönnies.

vielmehr

schädigen

können"-.

Vgl.

252

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sehen auch auf Werkzeuge, geistige Ideen und moralische Antriebe beziehe; 2. daß beim Menschen zur organischen Vererbung die soziale Vererbung von unpersönlichen wirtschaftlichen, geistigen und moralischen Gütern hinzutrete, die mit der organischen Vererbung „keine direkte Parallelität zu bilden braucht".) Was im dritten Hauptunterschied als mögliche Schädigung der Rasse zu verstehen, ist unmittelbar vorher dahin präzisiert, daß die moralischen Gefühle und Vorstellungen „die Schwachen, Kranken, Dummen und Lasterhaften durch Hilfeleistungen zu erhal-

ten suchen", „während in der tierischen Gesellschaft durch eine strenge natürliche Auslese alle minderwertigen Elemente ausgeschieden werden". Wir befinden uns also hier wieder auf dem bekannten Terrain, wo die Kreuzung der wohlwollenden Absichten der Natur durch den kurzsichtigen Willen der Menschen, die Schädigung der Rasse durch den Schutz der Schwachen verhandelt wird. Woltmann führt aus, nur eine fortwährende hygienische Auslese könne die elementarste Bedingung für die Existenz einer Rasse garantieren. Philanthropische Empfindungen, besonders indem sie zur Einschränkung der Kindersterblichkeit führen, wirken dieser Auslese entgegen. Diese Erörterung steigt dann zu dem stark hervorgehobenen Satze empor: „In der Tat, in allen Fällen, wo an Stelle eines Organs ein technisches Instrument, an Stelle einer physiologischen Funktion eine künstliche tritt, wo soziale Hilfen der verschiedensten Art die individuelle Leistungsfähigkeit und Verantwortlichkeit ersetzen, da ist Gelegenheit zur

Wirkung der Panmixie gegeben, d. h. jene Organe und Funktionen entfallen der stets züchtenden strengen Kontrolle der natürlichen Auslese." Wenn ich nicht irre, werden auch hier zwei ganz verschiedene Betrachtungen durcheinander geschoben. Woltmann vertritt einmal den Standpunkt: natürliche Auslese ist immer wohltätig; er sagt nicht ausdrücklich, daß sie immer progressiv ist, aber zum wenigsten - so muß man verstehen - doch immer konservativ. Durch Kultur wird natürliche Auslese gehemmt, ja die Folgen sozialer Auslese wirken der natürlichen entgegen. Folglich hat Kultur Verfall zur Folge, erbliche Gebrechen und Krankheiten werden fortgepflanzt, das unvermeidliche Ende (diese Folgerung fügen wir hinzu) ist das Aussterben einer solchen »Rasse«. Der Obersatz, daß natürliche Auslese immer wohltätig wirke, rührt von Darwin her. Was sich an s „keine

direkte

10 „die Schwachen

Parallelität

zu bilden

... ausgeschieden

braucht": u/erden"-.

Vgl. ebd.: 1 4 8 . Vgl. ebd. Tönnies' Hervorhebung ist in A

durch Asterisken gekennzeichnet. 24 „In der Tat... Tönnies.

Kontrolle

der natürlichen

Auslese.":

Vgl. ebd.: 1 5 3 ; Hervorhebungen durch

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

253

organischen Formen erhält - so ist die Meinung - , erhält sich durch natürliche Auslese. Wenn also menschliche Kultur ihr entgegenwirkt, sie kann sie doch nicht aufheben. Eine kranke und gebrechliche Varietät kann nicht dauernd existieren; wird also eine ganze Rasse oder ein Volk so beschaffen, so wird damit gleichsam nur das Material vermehrt, an dem die Zuchtwahl ihren Prozeß vollziehen kann und muß; denn gegen die kranken Varianten ist der Vorteil der gesunden so offenbar und so bedeutend, daß die Voraussetzungen der Theorie (der natürlichen Zuchtwahl) hier wie unter einem Vergrößerungsglase erscheinen. Physische Gesundheit nennt ja Woltmann die elementarste Bedingung für die Existenz einer Rasse. Nun tritt aber zu dieser rein Darwinschen Betrachtung die Weismannsche hinzu. Nach dieser wirkt zwar auch natürliche Auslese immer heilsam, d. h. zugunsten der Organe, in bezug auf welche sie sich geltend macht. Diese ihre heilsame Wirkung ist aber gebunden an den Ausschluß der freien Kreuzung: sobald nach den Lebensbedingungen der Art usw. auch Individuen, die in bezug auf das zu züchtende oder gezüchtete Organ mangelhaft sind, überleben und also zur Paarung gelangen, so hört diese Züchtung auf, aber damit hört nicht das Leben der Art auf, es kann sich vielmehr üppig fortsetzen, wenn auch unter Verkümmerung oder schließlichem Verluste des fraglichen Organs; es paßt sich eben den nicht mehr dieses Organ erfordernden Lebensbedingungen, in bezug darauf also leichteren Lebensbedingungen an. Bekanntes und schon erwähntes Beispiel: der Maulwurf; noch signifikantere Spezialfälle die Schmarotzer. Die natürliche Auslese, als bloßes Lebenserhaltungsprinzip verstanden, wirkt mithin ebensoviel, ja eher regressiv als progressiv, es kann aber auch die regressive Entwicklung einzelner Organe Bedingung für die progressive Entwicklung der Art und Rasse sein. Und die Anwendung auf das Kulturproblem? - Offenbar wären die Entartungserscheinungen in bezug auf gewisse Organe und Funktionen durchaus anders zu beurteilen, wenn etwa mit ihnen und durch sie eine lebens- und fortpflanzungsfähige Modifikation des Genus Homo sich ausbildet, als wenn sie unmittelbar mit der Vitalität zusammenhängen und direkt zum Aussterben führen. In jenem Falle wären sie normale Anpassungserscheinungen, wie alles Rudimentärwerden von Organen, wie in der Phylogenie des Menschen z. B. die Verkrüppelung der Greiforgane an den unteren Extremitäten, und wie ohne Zweifel wohl beim zivilisierten Menschen die Verminderung der Sinnesschärfe, insbesondere der Riechfähigkeit, im Vergleiche mit dem Wilden. Nehmen wir einmal an, die Atrophie der weiblichen Milchdrüsen wäre eine solche Anpassungserscheinung; mit ihr würde eine Steigerung

254

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

des weiblichen Hirnlebens gleichsam erkauft. Wie würde unser Autor vom hohen „Standpunkt der Deszendenztheorie" aus dann darüber urteilen? Würde er nicht nebenher den Ersatz der Muttermilch durch „eine künstliche Funktion" freudig begrüßen müssen, da sie bekanntlich das allerstärkste Gegengewicht gegen die von ihm dokumentierte „Einschränkung der Kindersterblichkeit" bildet, mithin indirekt ein wichtiges Hilfsmittel zur „Selbstreinigung der Rasse" (S. 152) darbietet? Oder ist auch die natürliche Auslese unter Umständen sehr unnatürlich, ist es doch besser, daß von 100 Säuglingen sage 80 mit Muttermilch ernährte überleben, als daß etwa nur 60 überleben, die das Examen der Kuhmilch oder gar der Kindermehle bestanden haben? obgleich doch sonst gelten müßte: je strenger das Examen, desto besser die Elite? Alle diese Möglichkeiten und Komplikationen finden sich in diesem wie in dem anderen Buche nicht einmal angedeutet! - Das Kapitel wird durch zwei kurze Abschnitte über „Kampf ums Dasein und Kampf ums Recht" und über »Rassenveranlagung« und Kulturübertragung beschlossen. In dem ersten finden wir die SchäfflescYit Betrachtung (ohne daß auf diese Bezug genommen wird) wieder. Alle Gesetze, rechtlichen Bestimmungen usw. unterliegen als soziales Gebiet der Variation und Auslese, Anpassung und Vererbung, Vervollkommnung und Rückbildung, indem ihr Selektionswert an der Bedeutung gemessen wird, die sie für die organische, politische und geistige Entfaltung einer »Rasse« besitzen. Höchst auffallend ist uns gleich hier der Gebrauch des Wortes »Rasse«. „Soziale Institutionen, wie geistige und technische Gebilde, können von einer Rasse auf die andere übertragen werden", so hebt der sechste Abschnitt an. Als Beispiel wird die Rezeption des Römisches Rechts durch die „germanischen Stämme" angeführt. Sind Römer und Germanen verschiedene Rassen? Ja, wenn diese Terminologie in bewußter Weise dem Sprachgebrauch entgegengesetzt, wenn sie durchgeführt wäre. Sogleich wird aber mit Beifall die Ansicht von Klemm und Gobineau zitiert, daß die Übertragung einer hohen Zivilisation »auf niedere Rassen« nur durch Blutmischung möglich sei (S. 158); offenbar wird hier als Rasse verstanden, was wir sonst darunter zu verstehen gelernt haben. Einen Absatz früher stehen sehr fragwürdige Behauptungen, in denen Rasse dasselbe bedeutet wie Volk. „Besonders günstig wirkt die l unser Autor: In A: Autor - und dasselbe gilt für den früher besprochenen Autor - . 22 »Rasse«: In A: Asterisken statt der Anführungszeichen. 25 „Soziale Institutionen

... übertragen

werden":

Vgl. ebd.: 157.

31 »auf niedere Rassen«: In A stehen Asterisken an Stelle der Anführungszeichen; die Hervorhebung stammt von Tönnies.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

255

psychologische Vermischung, wenn die übertragenen Ideen, Werke und Einrichtungen »von naheverwandten Rassen« herstammen." Durch eine sehr tiefe, genealogische Kluft, vielleicht sogar durch wirkliche Rassendifferenz geschieden, waren Hellenen und Ägypter; dennoch nahmen jene die bildende Kunst dieser zu ihrem Vorbilde! Von den Einflüssen der Phöniker, der Thraker usw. zu schweigen! Als Gegenbeispiel macht Woltmann geltend, daß die germanischen Stämme die Kultur der Juden „nur in abgeänderter griechischer Form" aufgenommen haben, „und heute noch mache sich germanische Antipathie gegen den semitischen Geist des Alten Testaments bemerkbar". Heute noch! Diese Rassephilosophen scheinen nicht zu wissen, daß das A. T. gerade in neuerer Zeit, nämlich seit den Kirchenreformationen, gerade bei „germanischen Stämmen", das geistige tägliche Brot gewesen ist und so viele unbegrenzte Sympathien gefunden hat, wie einem Buche immer gewiß sein muß, gleichviel, von welcher Rasse es herstamme, das für das reine Wort Gottes und für die älteste Offenbarung gehalten wird. Und wo ist da die abgeänderte griechische Form? Die nächsten Kapitel erörtern (6) die Entwicklung der Familienrechte und (7) die soziale Geschichte der Stände und Berufe. Wenn gleich in dem ersten der beiden die gegen Morgan gerichtete Kritik nicht stichhaltig ist, so wird man doch anerkennen dürfen, daß die Ergebnisse neuerer Forschungen zwar recht unvollständig, aber mit guten Kenntnissen und mit Takt verwertet werden. Einseitig wird dabei das Moment der Herrschaft betont. „Die Familienherrschaft des Mannes ist eine biologische Tatsache und Notwendigkeit, gegen welche rationalistische Gleichheitstheoretiker vergeblich anstürmen." Herrschaft gibt es von sehr verschiedener Art. Wie sagte doch Cato von den Römern? Die ganze Welt werde von den Römern beherrscht, die Römer aber von ihren Hausfrauen. Soll die Herrschaft des Mannes aus seiner überlegenen Körperkraft abgeleitet werden, so ist doch diese keine „biologische Tatsache" schlechthin. Bei manchen »Rassen«

2 „Besonders

günstig wirkt...

Rassen« herstammen."

Tönnies; „von naheverwandten

Rassen"

ebd.: 1 5 8 ; Hervorhebung durch

ist in A mit Asterisken eingeschlossen und er-

scheint bei Woltmann als Fließtext. 10 „und

heute

noch

... Testaments

bemerkbar":

Vgl. ebd.: „ . . . heute noch machen sich

germanische Antipathien . . . " . 26 „Die

Familienherrschaft

des Mannes

...

vergeblich

anstürmen."-.

Vgl. ebd.: 1 7 9 : „Die

familiäre Herrschaft des Mannes . . . " . 27 Wie sagte doch Cato von den RömernDie

Anekdote entstammt den „Lebensbeschrei-

bungen" von Plutarch, hier über Marcus Cato (maior); vgl. z. B. Plutarch 1 9 7 9 : 3 2 9 .

256

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sind die sekundären Geschlechtsmerkmale wenig differenziert. Aber auch davon abgesehen, wird man umsonst fragen, was denn von der so mühsam und noch so lückenhaft erforschten Entwicklungsgeschichte des menschlichen Familienlebens aus den Prinzipien der Deszendenztheorie »gelernt« worden sei? Aufklärung werden wir aus dem ersten Abschnitt des 7. Kapitels erwarten, der überschrieben ist: „Der soziale Kampf ums Dasein". Darin heißt es denn nun (S. 193): „Es ist die natürliche Zuchtwahl im Daseinskampf der Rassen, Stämme, Geschlechter, Familien und Individuen, welche die soziale Geschichte des Menschengeschlechts beherrscht. Die Überlebenden und Sieger in der natürlichen Auslese sind die durchschnittlich und relativ Besten, in mancher Hinsicht die absolut Besten, die berufen sind, aus ihren Taten und Leistungen rechtlich gültige Vorzüge und Ansprüche herzuleiten." Hier tritt also plötzlich eine unbedingt günstige (»optimistische«) Auffassung der Kultur auf, die natürliche Zuchtwahl beherrscht ihre Entwicklung, ergo - Wie verhalten sich denn dazu die früheren Klagen, z. B. Seite 116, daß das differenzierte gesellschaftliche und geistige Leben des Kulturmenschen neue Bedingungen der Auslese und Vermischung schaffe, „welche gegenüber dem Naturzustande zum Teil einen Fortschritt, »zum Teil einen Rückschritt« bedeuten", daß der Mangel an einer allseitigen physischen Auslese notwendig zu einer erblichen Entartung führen müsse - ? Dort folgte noch ein ganzer Abschnitt (S. 120 ff.) über Rassenentartung infolge erblicher Krankheiten: Tuberkulose, Syphilis, Alkoholismus usw. Wir bemerken nur, daß diese Betrachtungen im 9. Kapitel, das die anthropologischen Grundlagen der politischen Entwicklung darstellen will, mit dem Abschnitt 3, „Erschöpfung und Aussterben der Rassen", wieder aufgenommen werden. Selbstfolge scheint zu sein, daß hier von dem Aussterben der „durchschnittlich und relativ" schlechten Rassen erzählt wird, denn die „durchschnittlich und relativ" besten sind ja die Überlebenden und Sieger. Horchen wir. „Bei einer so kleinen Nation wie die Griechen, mußten alle Kriege und Revolutionen ... auf die Dauer nicht nur zur Verringerung, sondern auch zur qualitativen Verschlechterung der Rasse beitragen" (S. 261). „An dem Beispiel Griechenlands können wir lernen, wie Bürgerkriege und innere Revolutionen die Rasse dezimieren" [das eben sollten wir ja für die heilsame natürliche Zuchtwahl halten!]. „Es gibt noch eine andere still 19 »zum Teil einen Rückschritt«:

Diese Passage hob Tönnies hervor; sie ist in A durch

Asterisken gekennzeichnet und erscheint bei Woltmann als Fließtext. 32 (S. 261):

Richtig: S. 2 6 7 .

34 „An dem Beispiel Griechenlands

... Rasse dezimieren":

Vgl. ebd.: 2 6 8 .

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

257

aber sicher wirkende Individualausjätung, die im Leben der Völker eine nicht minder große Rolle spielt ... Landesverweisungen, freiwillige oder erzwungene Auswanderungen, Kerkerzellen, Ächtungen, Konfiskationen, Hinrichtungen, das sind die Mittel einer negativen politischen Auslese, durch die eine Rasse dezimiert und in ihren besten Schichten ausgerottet wird." Des weiteren tritt dann die Erschöpfung und das Aussterben der höheren Stände auf den Plan, die doch auch hier für die besseren und siegreichen gelten sollen. „Die Umwandlung eines Agrarstaates in einen Industriestaat beschleunigt den Aussterbeprozeß in hohem Maße" (S. 273). Kein Wunder, wenn am Schluß dieses Abschnittes (S. 278) ein innerer Widerspruch zwischen der organischen Züchtung und der kulturellen Entwicklung „einer Rasse" gefunden, wenn ausgesprochen wird, daß diejenigen Staaten am längsten auf dem Gipfel ihres Glanzes beharren, die weder einer einseitigen physiologischen Zuchtwahl, noch einem überstürzten kulturellen Aufschwung »huldigen«. Vorher war es ja der Mangel einer allseitigen physischen Auslese (welcher Ausdruck völlig gleichbedeutend ist mit dem, was jetzt einseitige physiologische Zuchtwahl heißt), der notwendig zur erblichen Entartung führte. Der Entwicklung moralischer Gefühle und Vorstellungen wurde die Schuld gegeben, der allzu sorgfältigen Kinderpflege, der Beschränkung und Aufhebung der »hygienischen« Auslese, als der wohlwollenden und heilsamen Naturabsicht, die das minder Lebensfähige zum Tode verurteilt. Jetzt heißt es geradezu - denn es bleibt nicht etwa bei den politischen Ursachen, die ja ebenfalls als Kreuzungen der Naturauslese gedeutet werden könnten - daß die städtischen, sowohl als die ständischen Auslese- und Ausjätebedingungen „eine Ausrottung der Besten und Tüchtigsten im Kulturprozeß herbeiführten" (S. 2 7 2 , 2 7 7 ) . „Im Altertum und Mittelalter", heißt es (S. 273), „waren die Städte in der Tat die Massengräber der Völker." „Sie waren Brutstätten für die Seuchen . . . " „Die Kindersterblichkeit ist in den Städten eine ungeheuere." Man erinnere sich, daß Darwin Malthus verallgemeinerte, in Übereinstimmung damit legt auch Woltmann „die natürliche Übervölkerungstendenz" (S. 146) als allgemeine Natur- und Kulturtatsache 6 „Es gibt noch eine andere ... Schichten ausgerottet wird.": Vgl. ebd.: 2 6 8 f.: „ . . . sicher arbeitende politische lndividual-Ausjätung 21 als der wohlwollenden: 26 „eine Ausrottung

...".

In A: d. h. der wohlwollenden.

... herbeiführten":

Vgl. ebd.: 2 7 2 , dort im Präsens: „... im Kulturprozeß

herbeiführen.". 30 „Die Kindersterblichkeit

ist in den Städten eine ungeheuere.":

wurden von Tönnies getilgt.

Woltmanns Sperrungen

258

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

zugrunde - die soziale Organisation, die von den sozialistischen Theoretikern als Ursache des Elends, der Krankheiten, der allzu frühen und allzu vielen Opfer angeklagt werde, sei ebenso ein Stück Natur, wie die Vermehrungstendenz, müsse also als zur heilsamen Naturordnung gehörig („indem durch eine strenge Auslese die besser organisierten Individuen und ihre Keime erhalten, die schwächeren dem Untergange geweiht werden") (S. 145) „hingenommen und verstanden werden". „Besonders sind »Seuchen und Kinderkrankheiten« zu nennen, welche die Tendenz haben, die Schwachen und Kranken aus dem Rassenprozeß auszuscheiden" (S. 150). Jetzt wird dem Stück Natur eine „Ausrottung der Besten und Tüchtigsten" zur Last gelegt. „In dem Erschöpfungs- und Aussterbeprozeß der Rassen waltet ein immanentes Verhängnis . . . " (S. 278). Also auch die Besten vermögen sich nicht zu erhalten, trotz aller daraufgerichteten Absicht der Natur. „Die beweglichen und zugleich aktiven Menschenrassen sind kurzlebig" (S. 266) - eben »die besten«. Und doch ist wieder das ganze 7. Kapitel von dem Gedanken durchdrungen, daß der „soziale Kampf ums Dasein" ein »Stück« des natürlichen sei, daß „Verdrängung, Ausbeutung, Vernichtung" den „Weg zur Vollkommenheit" begleiten, und „wo eine Existenz sich durchsetzt und zu einem hohen Dasein sich entfaltet, da hat sie mehr Recht als eine andere" (S. 193). Die Auslesevorgänge in der Gesellschaft seien sogar viel vollkommener als die in der Natur (S. 193), „der Wille und das Bewußtsein der Menschen verändern den Daseinskampf nur in seinen Mitteln, nicht in seinen Zielen und Wirkungen" (S. 195). Darum ist die „erbliche und isolierende Ständebildung eine durchaus notwendige und für gewisse Kulturstufen natürliche Gesellschaftsordnung" (S. 209); aber „keine Epoche der Gesellschaft hat so günstige und zweckmäßige Ausleseeinrichtungen für die Entfaltung der höheren Begabungen hervorgebracht, wie die gegenwärtige, und ohne Zweifel ist der industrielle Typus der Gesellschaft mit seinen Selektionswerten und Selektionsbedingungen viel mehr geeignet, zahlreichere geistig begabte Talente zu erhalten und fortzuzüchten als der agrarische und

7 „hingenommen 9 „Besonders

und verstanden werden"-. Als Zitat nicht nachgewiesen.

sind »Seuchen

... aus dem Rassenprozeß

auszuscheiden":

Bei Woltmann

(ebd.: 150) heißt es „Rasseprozeß"; alle Hervorhebungen stammen von Tönnies, in A sind dabei die Buchdruckanführungszeichen durch Asterisken dargestellt. 23 „der Wille und das Bewußtsein verändern den Daseinskampf...":

Korrekt: „... verändern

den natürlichen Daseinskampf . . . " . 25 ist die „erbliche und isolierende Ständebildung...":

Korrekt: „... Ständebildung ist eine . . . " .

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

259

kriegerische Typus" (S. 217). Da in den Städten die Begabtesten aufgefressen werden, so sind vermutlich die Fabrikdörfer als die am meisten charakteristischen Bildungsstätten der heutigen Gesellschaft gemeint, wo die „geistig begabten Talente" erhalten und fortgezüchtet werden??! Das 8. Kapitel, das „die politische Entwicklung der Völker" skizzieren will, enthält ebenfalls eine Mischung der sich widersprechenden Ansichten über das Verhältnis von Natur und Kultur. Ich begnüge mich auf die Abschnitte: (1. der politische Charakter der Gesellschaften, 2. die politische Befähigung der Rassen, 3. der Bildungsprozeß der Staaten, 4. die Rechtsgeschichte der öffentlichen Gewalten) hinzuweisen. Im 10. und letzten Kapitel wird noch über die politischen Parteien und Theorien einiges ausgeführt. Wichtig ist es nicht. Es begegnet uns heute nicht selten ein vorzüglicher Kopf, ausgerüstet mit Fleiß und Eifer und mit Ehrgeiz, an dem wir mit tiefem Bedauern wahrnehmen müssen, daß die gerade bei einem hohen Grade der Empfänglichkeit um so mehr notwendige Balance ihm fehlt. Es sind zu schwer beladene Schiffe. Goethe spricht einmal von den ganzen, Halb- und Viertelsirrtümern, es sei gar schwer und mühsam, sie zurecht zu legen, zu sichten und das Wahre dahin zu stellen, wohin es gehört. In der Tat ist gerade heute dies eine immer furchtbarere Aufgabe geworden. Geister der bezeichneten Art sind eben solchen ganzen, Halb- und Viertelsirrtümern rettungslos preisgegeben. Nicht so wie Geister geringeren Ranges es sind, die nämlich völlig durch den äußeren Schein der umlaufenden und angebotenen Theorien sich bestechen und bestimmen lassen. Nein, jene unterscheiden wohl; sie greifen und wählen; aber die Masse ist so groß, der Andrang so heftig, daß sie nicht Herren ihrer selbst und daher nicht Herren ihrer Wahl bleiben. Ihr Selbstvertrauen dämpft ihre Bedenken, so daß sie die Widersprüche nicht bemerken, die sie unbesehen mit an Bord genommen haben, Widersprüche, die ihr Schiff rank machen müssen, denn sie machen ihr Dasein früher oder später in verhängnisvoller Weise bemerklich. Mehr noch als das Schallmayersche läßt das Woltmannsche Buch ausgezeichnete Fähigkeiten des Forschens und Denkens vermuten, wenn sie i aber „keine Epoche der Gesellschaft hat...

kriegerische

Typus": Korrekt: „... daß keine

Epoche der Gesellschaft so günstige und zweckmäßige Ausleseeinrichtungen ... hervorgebracht hat . . . " . 17 Goethe spricht einmal: Siehe in den Fragmenten zu Wilhelm Meisters Wanderjahren (Goethe 1 9 0 7 : 169): „Ganze, Halb- oder Viertelsirrthümer sind gar schwer und mühsam zurecht zu legen, zu sichten und das Wahre daran dahin zu stellen, wohin es gehört.".

260

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

auch hier wie dort vor lauter Theorien und Lesefrüchten nicht ordentlich zur Geltung gelangt sind. Den wissenschaftlichen Wert dieses zweiten Buches möchte ich etwas höher schätzen als den des ersten.

IV. Während nun die beiden bisher behandelten Schriften wesentlich vom Standpunkte des Naturforschers aus verfaßt sind, so verrät die in der Reihe des Sammelwerkes erste schon durch ihren Titel, daß sie sich als eine philosophische Arbeit vorstellen will. Auch geschieht der Gang der Untersuchung hier in strengem Anschluß an die Preisfrage. Das Werk zerfällt in zwei Teile: Der erste frägt: sind? der zweite: wie sind die Prinzipien der Deszendenztheorie auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten anzuwenden? Der erste Teil zerfällt wieder in zwei Bücher. Im ersten wird noch spezieller gefragt: können ..., im anderen: müssen die Prinzipien usw.? Als Ergebnis des ersten Buches, das als seinen Gegenstand auch bezeichnet: „die Prinzipien der Deszendenztheorie und die Ethik" wird ausgesprochen, nachdem fünf Abschnitte einer »Wertethik« als Güterlehre, Tugendlehre, Pflichtenlehre, Glaubenslehre, Heilslehre entwickelt worden, daß diese sich auf die Prinzipien der Deszendenztheorie, insbesondere auf das Prinzip der Anpassung, zurückführen lassen; und daraus gefolgert, daß dieselben Prinzipien auch auf die innerpolitische Entwicklung usw. angewandt werden können. Das zweite Buch („die Prinzipien der Deszendenztheorie und das Weltprinzip") resümiert sich dahin, daß das Prinzip der Anpassung, als einer Veränderung, durch welche etwas auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwand an Energie und mit kleinerem Zwange geschieht als ohne die Veränderung, aus der Herrschen Mechanik (diese wiederum aus logischen Grundsätzen) abzuleiten und damit das Grundprinzip nicht bloß der Deszendenztheorie, sondern aller Entwicklung festgestellt sei. Allgemeine

3 etwas höher schätzen als den des ersten.-. In A schließt sich die Passage an: Wenn auch den Preisrichtern zugute gehalten werden mag, daß sie - was überdies bei der großen Geschwindigket des Urteilens kaum vermeidlich war - mehr auf eine flotte Schreibart und sonst gefällige Form, als auf die Gründlichkeit des Inhaltes Wert gelegt haben, so bleibt es doch ein seltsames Verhältnis, daß die eine dieser Schriften den höchsten Preis, die andere nur den 5. Teil des Preises zugewiesen erhielt. 7 die in der Reihe des Sammelwerkes

erste: Vgl. Matzat 1903.

261

I X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

Folgerungen daraus seien 1. das Prinzip der Auslese, 2. das der zunehmenden Beständigkeit; spezielle: 1. das Prinzip der Vererbung, 2. das Prinzip der Zweckmäßigkeit („für bewußte Wesen gibt es auch vorbedachte und gewollte Anpassungen"). So fügt sich alles wohl ineinander. „Denn Werte sind Anpassungen, der Unterschied zwischen Gut und Schlecht ist nur ein Spezialfall des Prinzips der zunehmenden Beständigkeit." Die Wertethik ist die Fortsetzung der auf Anpassung gegründeten Entwicklung aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein. Entwicklungslehre und Wertethik ergeben für die Gegenwart dasselbe: es wird immer besser in der Welt, und wir können dazu helfen, daß es besser wird (alles S. 120). Die Prüfung der hier vorgetragenen Ethik und Metaphysik würde über das Bereich dieser Erörterung allzu weit hinausführen. Wir müssen uns genügen lassen, zu sehen, wie die Anwendung geschieht, in der zunächst Wesen und Werden des Rechts, alsdann Wesen und Werden des Staates untersucht werden soll. Die Rechtsphilosophie Matzats gelangt nach sehr ausgeführten Polemiken gegen Menschenrechte, gegen Spencer, gegen Stammler, zu dem Schlüsse (S. 169): (das Recht sei eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen, ein Rechtsverhältnis aber), ein Verhältnis wechselseitiger Anpassung zwischen zwei oder mehreren Menschen, in welchem ein Teil des äußeren Verhaltens der einen Partei nach dem Willen der zweiten, und ein Teil des äußeren Verhaltens der zweiten nach dem Willen der ersten bestimmt ist. Ich frage mich, ob ein Gewinn für mich aus dieser Auffassung sich ergebe. Die Ansicht, die ich bisher über den Begriff des Rechts gehegt und vertreten habe, ist etwa folgende. Recht ist ein Werk sozialen Wollens. Soziales Wollen schafft und erhält Recht als eines der Maße, an denen es individuelles Wollen und Handeln mißt. Das Schaffen von Recht geschieht in der entwickeltsten Form durch gemeinsamen Beschluß, der dahingeht,

6 „Denn

Werte sind Anpassungen,

Spezialfall

...":

der Unterschied

zwischen

Gut und Schlecht

ist nur

ein

Das Zitat ist in der Vorlage verdorben, einige Zeilen fehlen. Bei M a t z a t

(ebd.: 1 2 0 ) endet der Satz so: „ . . . des Prinzips der Auslese, und die sittliche W e l t o r d n u n g nur ein Spezialfall des Prinzips der zunehmenden Beständigkeit.". In A abweichend: „ . . . göttliche Weltordnung . . . " . 16 Rechtsphilosophie

Matzats: In A stattdessen: Rechtsphilosophie, die also zuerst entwickelt

wird,. 22 ein Verhältnis

wechselseitiger

Anpassung

... nach dem Willen der ersten bestimmt

ist: Dies

ist ein wörtliches Zitat aus M a t z a t (ebd.: 1 6 9 ) , dort ist diese Passage gesperrt gedruckt.

262

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

daß eine bestimmte Art und Weise der Streitentscheidung für richtig gehalten werden, »gelten« solle. Aber dasselbe Wollen kann sich in mehreren anderen Formen ausdrücken, und wie aus einem explizierten Beschluß regelmäßig die Meinung der Beschließenden hervorgehen muß, daß das durch den Beschluß Gesetzte richtig sei (wie er auch solche Meinung voraussetzt), so ist überhaupt die Meinung, der Glaube, selber eine der Formen sozialen Wollens, die Recht zu schaffen und besonders die es zu erhalten vermag. Solcher Glaube geht am unmittelbarsten und leichtesten aus der tatsächlichen Übung hervor, die selber als Gewohnheit einem Beschlüsse formell gleichwertig und materiell an Kraft weit überlegen sein kann. Jedoch unterscheidet sich das Recht im Verlaufe seiner Entwicklung von der sozialen Gewohnheit bestimmter Handlungsweise - der Sitte dadurch, daß es vorzugsweise Normen enthält, die oft nicht befolgt werden, die also den Charakter des Postulats, der Idee annehmen, wie das in noch höherem Grade den moralischen Normen eigentümlich ist, mit denen die Rechtsnormen daher völlig verwachsen und sich vermischen; durch religiösen Glauben werden beide Arten befestigt. Wenn aber die Abgrenzung des Rechts gegen die Sittlichkeit zunächst - was freilich rein theoretische Bedeutung hat - in der Beziehung auf äußeres Verhalten und den möglichen Zwang - die Erzwingbarkeit - gesetzt wird, so konkurrieren doch noch in dieser Beziehung viele andere soziale Normen mit dem Rechte, die von der Sitte als wirklich geübter sich abheben und ebenfalls, wie das Recht - ideelle Geltung in Anspruch nehmen. Von diesen unterscheidet sich das Recht nicht durch den Anspruch auf Zwang; dieser ist kein wesentliches, sondern immer nur ein akzessorisches Merkmal seines Begriffs. Es unterscheidet sich nur durch die Dignität seiner Objekte, durch seine Beziehung auf diejenigen sozialen Interessen, die mehr und mehr als die vitalen Interessen anerkannt werden, daher vor allem - als Privatrecht - auf die materiellen Interessen, schlechthin aber auf solche, deren Ordnung für ein friedliches Zusammenleben als wesentlich und notwendig angesehen wird. Die empirische Abgrenzung des Rechts als eines Inbegriffs von Normen oder Satzungen gegen andere Normen und Satzungen ist daher, wie andere sprachliche Abgrenzungen, durch den Brauch, also durch Herkommen bestimmt und kann, wie alles derartige, als konventionell begriffen werden. Warum heißen die Bestimmungen der katholischen Kirche über ihre Priesterweihe Recht, das Organisationsstatut der Gewerki bestimmte Art und Weise der Streitentscheidung-. In A stattdessen: bestimmte Art und Weise des Handelns, ganz besonders aber, daß eine bestimmte Art und Weise der Streitentscheidung.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

263

schaftskartell-Kommission nicht? Der Staat erzwingt die einen so wenig wie die anderen. Es ist das Herkommen und die anerkannte Dignität des Objektes, was die Canones als kirchliches Recht auftreten läßt. Jeder Verein, wie jeder einzelne, bedient sich, nach Maßgabe zureichender Motive, derjenigen Zwangsmittel, die ihm zur Verfügung stehen, um seinen Willen, daher insbesondere, um sein Recht durchzusetzen. Jeder Verein hat in bezug auf seine Mitglieder und gemäß deren (sozialem) Willen, ein begrenztes subjektives Recht auf Zwangsmittel, auch der Staat hat rechtlich kein unbegrenztes solches Recht. Für das Verhältnis, daher für das Recht, eines Vereins in bezug auf seine Mitglieder, ist aber von entscheidender Bedeutung, ob der Verein gedacht wird als nur durch die Willen seiner Mitglieder gesetzt, oder als unabhängig von diesen, außer und vor ihnen existierend. Dasselbe gilt schon von dem bloßen gegenseitigen Verhältnisse zwischen zwei Personen, wodurch Pflichten und Rechte der einen in bezug auf die andere gesetzt werden. Und hier hängt der Unterschied mit den Grenzen von Moral und Recht zusammen. Wird das Verhältnis als ganz und gar durch die Willen, genauer durch die Willkür, der beiden Personen bedingt gedacht, die sich geeinigt haben, so kann es auch als ein rein rechtliches gedacht werden, als ein Vertragsverhältnis, aus dem die Obligation hervorgeht. Es wird ein bloßes vinculum juris hergestellt, d. h. ein Band, das lediglich in der Vorstellung der beiden Personen - und etwa auf Grund dessen in der Vorstellung Dritter - vorhanden ist und gedacht wird. Anders, wenn das Band als real und antezedent begriffen werden will, wenn die daraus fließenden Pflichten und Rechte ihrem Wesen nach als unbegrenzt, und die spezielle rechtliche gegenseitige Verpflichtung nur als eine Folge und gleichsam als ein übrigbleibender Rest gedacht wird, nachdem von allen übrigen Pflichten und Rechten abstrahiert worden ist. Für die reine und scharfe begriffliche Konstruktion des Rechtes ist daher der hier zuerst betrachtete Fall wesentlich leichter und günstiger. Die Entwicklung der naturrechtlichen Disziplin, bestimmt, wie sie war, durch die Tendenz auf strenge Unterscheidung des Rechts von der Moral, hat daher mehr und mehr dahingeführt, ausschließlich die Begründung wirklicher Rechtsverhältnisse durch Verträge zwischen den von Natur - wie in Übereinstimmung mit der gesamten nominalistischen Philosophie gemeint wurde - allein vorhandenen individuellen Personen als rationaler Weise möglich darzustellen; und eben dies wurde so ausgedrückt, daß dieses durch die Vernunft selber als allgemein und notwendig gesetzte Recht Naturrecht benannt, resp. der überkommene theologische Begriff des Naturrechts in diesen Begriff hineingedeutet wurde.

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„Der Grundfehler der naturrechtlichen Rechtsphilosophie liegt darin, daß sie das Recht vom subjektiven Recht aus zu konstruieren versuchte. Das ist deswegen falsch, weil das subjektive Recht, wie die Wertethik und das geltende positive Recht gleichermaßen zeigen, etwas Sekundäres ist; das Primäre ist das objektive Recht oder die Rechtsordnung . . . " So belehrt uns Matzat (S. 147). Das Recht aber oder die (objektive) Rechtsordnung, so heißt es nachher (S. 169 s. oben), ist eine Gesamtheit von Rechtsverhältnissen, ein Rechtsverhältnis aber ein Verhältnis wechselseitiger Anpassung. Wenn Gesamtheit, wie man verstehen muß, hier so viel als »Summe« bedeutet, und die Summanden voraussetzt, so ist der Widerspruch eklatant. Daß dies aber fraglich sein könne, wird gar nicht angedeutet. Die Naturrechtslehre wollte begrifflich (nicht historisch) den Übergang aus einem Nicht-Rechtszustande in einen Rechtszustand darstellen. Am schärfsten verfährt sie (bei Hobbes), indem sie jenen als einen Zustand des Krieges oder allgemeiner Gewaltübung auffaßt, worin jedem alles freisteht, oder seine »Rechte« nur an seiner Macht ihre Grenze finden. Den Übergang bildet die freiwillige Beschränkung dieser Rechte zugunsten anderer, der Verzicht, der als gegenseitiger und allgemeiner gedacht, den friedlichen oder Rechtszustand begründet. Er enthält alle Merkmale des Vertrages. Der notwendige Inhalt eines jeden Friedensvertrages ist die Enthaltung von Feindseligkeiten; dazu verpflichten sich die Paziszenten. Der Wille ist nicht mehr frei in dieser Hinsicht; die Freiheit ist somit in einem Teil ihres Bereiches aufgehoben, das in ihr enthaltene Recht alles Mögliche zu tun, ist in bezug darauf preisgegeben, ein entsprechendes Recht auf Handlungen (oder Unterlassungen) des anderen wird zu gleicher Zeit erworben: eine Forderung. Mithin ist der allgemeine Vertrag ebenso die Basis des Rechtszustandes, wie innerhalb dessen alle besonderen Rechtsverhältnisse als durch besondere Verträge begründet gedacht werden. Insofern als sie an der Vernunft teilhaben, sind alle Menschen, man möge also sagen, alle dem Kindesalter entwachsenen Menschen gleich. Von Natur ist jeder Herr über seine Handlungen, er kann von Natur alles tun, was er will, d. h. er hat ein unbegrenztes Recht, nach seiner, wenn auch falschen Erkenntnis zu handeln, wenn auch in moralisch mißfälliger, ja objektiv unmoralischer Weise zu handeln, solange als nicht Rechte anderer entgegenstehen, solange er also nicht Rechte anderer verletzt. Die gegenseitigen gleichen Rechte heben einander zum großen Teile auf: so 7 s. oben)-. Siehe hier S. 2 6 1 . Im vorstehenden Zitat hat Tönnies die Sperrungen Matzats getilgt.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

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wird mein Recht, mit meiner Stoßwaffe frei in den Lüften herumzufuchteln, durch dein Recht, deinen Leib vor Püffen zu bewahren, teilweise negiert. Der Zustand, worin man sich der Feindseligkeit, d. h. des gewollten Eingriffes in die Rechte anderer, der dolosen Gebietsüberschreitung enthält, ist hiernach, auch ohne daß jener allgemeine Vertrag, der die Achtung des gegenseitigen Besitzstandes heischt, vorausgesetzt wird, schon durch die logische Vernunft gesetzt, die aus der Gleichheit der vernünftigen Menschen die Konsequenz zieht, daß ursprünglich (logisch ursprünglich) alle die gleichen Rechte haben, d. h. daß meine Verletzung derjenigen Rechte, die du natürlicherweise ebenso wie ich hast, Unrecht ist. Besondere Rechte auf Handlungen oder Unterlassungen eines anderen erwerben kann ich nur durch Verträge. Es gibt aber der gegebenen Deduktion zufolge auch ursprüngliche, angeborene Rechte, wenigstens auf Unterlassungen anderer, und zwar aller anderen, nämlich eben die von Natur allen gleicherweise zukommenden Rechte, sofern diese durch Handlungen der anderen verletzt werden können. Welche sind diese ursprünglichen angeborenen Rechte des Menschen als Menschen? Hat jeder etwas, was in diesem Sinne von Natur das Seine ist, was er nicht veräußern kann, ohne zugleich aufzuhören, ein Mensch nach der hier zugrunde liegenden Idee zu sein? Daß er so etwas hat, ist die Voraussetzung, nämlich eben die Vernunft, und daraus folgt ein Recht auf den freien Gebrauch seiner Glieder, auf den Genuß seines unversehrten Leibes. Es folgt ferner ein Recht auf den Gebrauch von Sachen, die er ohne Verletzung fremder Rechte sich angeeignet hat - ist solche Aneignung möglich, da doch ursprünglich jeder gleichviel Recht auf alle Sachen hat? Sie ist möglich, sofern einer die Sachen, die er sich aneignen will, erst als solche wirklich gemacht, sie durch den freien Gebrauch seiner Vernunft und seiner Glieder, d. i. durch Arbeit geschaffen hat. Was ist Arbeit? ist auch das bloße Abpflücken von Früchten, ist vor allem die bloße Aufnahme ins eigene Gewahrsam, ist die nackte Okkupation als solche zu rechnen? das sind Fragen, die auf der Basis des Naturrechts verschieden beantwortet werden können und verschieden beantwortet worden sind. „Gäbe es allgemeine und natürliche Menschenrechte, so müßten sie bei allen Völkern und zu allen Zeiten vorhanden sein oder in irgendeiner früheren Zeit gewesen sein: die Völkerkunde und die Geschichte lehren aber das Gegenteil." So die „Philosophie der Anpassung" (S. 132). „Das 18 Seine: In A durch Sperrung hervorgehoben. 36 „Gäbe es allgemeine ... aber das Gegenteil.":

Tönnies tilgte Matzats Hervorhebungen.

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Naturrecht der früheren Zeit hat Bergbobm abgetan (!) in seinem vortrefflichen Buche: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie 1892", daselbst Anm. 2. Ob Bergbohm das Naturrecht der früheren Zeit abgetan habe, lassen wir einstweilen dahingestellt. Die eigene Weisheit unseres Autors ist ungefähr soviel wert, als wenn gesagt würde: Geometrie der Ebene ist Unsinn; es gibt keine Ebene; alle Ebenen, die in der Erdbeschreibung vorkommen, sind gekrümmte Flächen. Oder: wie kann man mit Zahlen operieren, und gar mit imaginären Zahlen! Der Naturforscher hat noch nie Gelegenheit gehabt, so etwas wie eine Zahl zu beobachten; er kennt wohl Dinge, die sich zählen lassen, aber Zahlen? Unser gesamtes heutiges Recht beruht, ebenso wie das spätere römische Recht, von dem es sich zum größten Teil ableitet, auf den Fundamenten des Naturrechts, wenn diese auch nicht mehr als solche anerkannt und ausgesprochen werden. Es ist, wie dieses, durchaus individualistisch gedacht. Freiheit und Gleichheit aller Rechtssubjekte sind dort wie hier die Voraussetzungen. Daß es unveräußerliche Menschenrechte gibt, ist in unserem BGB. nicht statuiert, aber doch darin enthalten. Gegen Herbert Spencer, der das Naturrecht, also auch die Menschenrechte neu zu formulieren unternommen hat, und der für falsch erklärt, daß die Begründung dafür, was man vernünftigerweise Recht nennt, in den Gesetzen zu suchen sei, da im Gegenteil das Gesetz seine Begründung in den Rechten zu finden habe, bemerkt die Philosophie der Anpassung (S. 135): „Ist das alles wirklich so, und können Gesetze nur auf diese (Menschen-) Rechte begründet werden, dann haben wir in Deutschland nichts eiligeres zu tun, als unser Strafgesetzbuch abzuschaffen. Denn dann sind, um von der Todesstrafe schon gar nicht zu reden, alle Gefängnisstrafen Eingriffe in das Recht auf freie Bewegung und Ortsveränderung, und alle Geldstrafen Eingriffe in das Eigentumsrecht, und zwar unberechtigte Eingriffe, denn ein höheres Recht als jene individuellen Rechte soll es ja nicht geben. [Absatz!] Ja, nicht bloß das Strafgesetzbuch, alle unsere Gesetze müssen wir abschaffen. Denn entweder stimmen sie mit den allgemeinen Menschenrechten überein, dann sind sie überflüssig, oder sie stimmen damit nicht überein, dann sind sie verwerflich." Der Anpassungsphilosoph ist also unfähig, als möglich zu denken, daß Robinson und Freitag eines Tages eine Schar schiffbrüchiger Männer und 3 Ob Bergbohm

das Naturrecht der früheren Zeit abgetan habe: Vgl. Bergbohm 1 8 9 2 : 118.

19 und der für falsch erklärt: In A: und die Meinung für falsch erklärt. 33 „Ist das alles wirklich so ... sind sie verwerflich.": hebungen.

Tönnies tilgte Matzats Hervor-

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Frauen auf ihrer Insel empfangen, und daß Robinson zu folgender Rede das Wort ergreife: Meine Damen und Herren! Ihre Aussichten, wieder in die Heimat zu gelangen, sind verschwindend gering, wir raten Ihnen, sich hier heimisch zu machen und heißen Sie als unsere Genossen willkommen. Wir könnten Sie als unsere Gäste behandeln, aber das ergäbe kein dauerndes Verhältnis, es würde uns auch zu sehr belasten und Sie beschämen. Wir könnten Sie auch zu unseren Sklaven machen - ihr seid zwar in der Überzahl, aber wir haben Waffen, und wenn ihr euch zur Wehre setztet, so würden wir uns wohl als Herren gefürchtet machen. Aber Sklaverei ist eine barbarische und vernunftwidrige Einrichtung; im Grunde sind wir als vernünftige Menschen doch gleich viel wert und müssen Achtung füreinander hegen. Wir wollen einander daher, wie die richtige Vernunft gebietet, als Freie und Gleiche anerkennen. Um aber friedlich miteinander zu leben, müssen wir einen Verein gründen und uns Satzungen geben. Ich habe einen Entwurf dafür gemacht, den ich euch hiermit vorlege. Wir werden uns darüber einigen, wenn alle einverstanden sind, daß Stimmenmehrheit gelten solle. Da niemand Widerspruch erhebt, so ist dies beschlossen. Ihr werdet nun sehen, daß in meinem Entwurf gewisse Grundrechte festgestellt sind, die wir einander zugestehen wollen, weil dies im allgemeinen Interesse liegt und weil sie, wie von hervorragenden Denkern, z. B. Mr. Spencer bewiesen worden, aus der vernünftigen Überlegung als recht und billig sich ergeben, also natürliches Recht bedeuten. „Diese Rechte sollen sein (eben nach Mr. Spencer): das Recht auf körperliche Unverletzlichkeit, das Recht auf freie Bewegung und Ortsveränderung, das Recht auf den Genuß der natürlichen Medien, das Recht auf Eigentum, das Recht auf geistiges Eigentum, das Recht zu schenken und Vermächtnisse zu stiften, das Recht auf freien Handel und freien Vertrag, das Recht auf freien Erwerb, das Recht auf Freiheit des Glaubens und des Kultus, das Recht auf Freiheit der Rede und der Presse." Wenn ihr diese Menschenrechte anerkennt, so ist eine notwendige Folgerung, daß wir, nicht nur jeder für sich den guten Vorsatz hegen, sie bei jedem anderen zu achten, sondern, daß wir auch beschließen, wie ein Mann zusammenstehen zu wollen gegen den, der sich unterfangen sollte, sie böswillig zu verletzen. Damit wir aber nicht wild und ungeordnet gegen einen solchen verfahren, 2 Meine Damen und Herren!:

In A: Gentlemen and Ladies!

29 „Diese Rechte sollen sein ... Freiheit der Rede und der Presse.": Vgl. Matzat ebd.: 1 3 4 f., der sich auf Spencer ( 1 8 9 5 : 6 9 - 1 7 3 ) bezieht. Abweichend von Tönnies heißt es bei Matzat: ,„... das Recht auf Schenkung und Vermächtnis' (d. h. das Recht, solche zu machen), ,das Recht auf freien Handel . . . " ' .

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so ist es geraten, daß wir sogleich eine Regel festsetzen, nach der in solchem Falle verfahren werden soll (eine Strafprozeßordnung), und damit wir nicht maßlos, im Zorne, ihn seine Auflehnung gegen die Vernunft und gegen unseren allgemeinen Willen büßen lassen, daß wir auch sogleich festsetzen, was er in solchem Falle leiden soll (Strafgesetz). Wenn jeder vorher weiß, welche Gefahr er läuft, so oft er durch seine Leidenschaften sich überreden läßt, wider die Grundrechte und überhaupt wider unsere Gesetze zu verstoßen, so wird dies dazu beitragen, seine Leidenschaften zu dämpfen und seinen Willen in Schranken zu halten. Tut er das Verbotene doch, so gibt er zugleich uns, der Gesamtheit, das Recht, in unserem Namen und im Namen des Geschädigten uns gegen ihn zu wehren, in seine Rechte einzugreifen, und zwar hätten wir das Recht, dies in maßloser Weise zu tun, wenn wir dieses Rechtes nicht durch vorherige allgemeine Bestimmung der von uns zu erwartenden Gegenwirkung uns begeben, wenn wir unseren Willen nicht durch die Drohung wie durch ein Versprechen gebunden hätten; und ob wir gleich ohnehin aus moralischen Gründen nicht geneigt wären, von diesem Rechte einen maßlosen Gebrauch zu machen. Dagegen haben wir, wenn wir nunmehr beschließen sollten, gemessene und bestimmte Strafen vorauszubestimmen, dann nicht nur das Recht, gegebenen Falles diese Strafen zu verhängen, sondern auch die rechtliche Pflicht, keine anderen zu verhängen (nulla poena sine lege), und diese wirklich zu verhängen; die eine Pflicht gegen den Delinquenten und also gegen jeden einzelnen von uns als möglichen Delinquenten; die andere gegen den Geschädigten und also wiederum gegen jeden von uns als möglichen Geschädigten, denn nur gegen dies Versprechen, das wir als Gesamtheit geben (den, der gegen die Bedingungen unseres Zusammenlebens verstößt, zu bestrafen), gibt jeder von uns das Recht auf, das er sonst als natürliches Recht besitzt, selber sich zu wehren, insbesondere also auch sich zu rächen für widerfahrene Unbill und sich mit Gewalt gegen deren Wiederkehr zu versichern. Gänzlich kann man sich dieses natürlichen Rechtes nicht entäußern; denn es hätte keinen vernünftigen Sinn, die Aussicht (selbst wenn sie Gewißheit wäre), daß der andere bestraft werden wird, als ein Äquivalent anzusehen für den Verlust des eigenen Lebens, der eigenen Gliedmaßen, oder sonst eines sehr kostbaren und unersetzlichen Gutes. Daher gehört die Notwehr, und sogar über die äußerste Not hinaus eine begrenzte Selbsthilfe, zu den ewigen unveräußerlichen Menschenrechten, die jedes Gesetz, wenn es auf Vernunftgemäßheit berechtigten An12 Recht: In A gesperrt gedruckt.

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spruch erheben will, anerkennen, ja beschützen muß." - Soweit Robinson. Ich sage, der Anpassungsphilosoph ist unfähig zu denken, daß solche Rede gehalten würde. Gemeint ist auch: zu denken, daß sie den Beifall vernünftiger Menschen finde, daß demgemäß beschlossen würde. Er fährt fort zu argumentieren: „Unsere Gerichte hätten alsdann nur noch auf Grund der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen" [das haben sie wirklich: sie können nicht rechtmäßig erkennen, daß A dem B als Sklave gehorchen müsse; die Unrechtmäßigkeit solchen Erkenntnisses ist erst positiv-rechtlich geworden, auf Grund dessen, daß sie als naturrechtlich, d. h. eben als in den allgemeinen Menschenrechten begründet, philosophisch erkannt und festgestellt worden war!] ... „Aber auch das würde nur die Bedeutung einer Rechtsbelehrung haben; denn irgendwelche Zwangsfolgen könnten sie ihren Urteilen ja nicht geben, das würde wider die allgemeinen Menschenrechte verstoßen." Es hat keine Schwierigkeit, zu denken, daß wir in einen Verein eintreten, dem wir zugleich die Befugnis geben, uns unter bestimmten Umständen in Geldstrafen zu nehmen; wir sind von vornherein bereit, wenn wir aus irgendwelchen Ursachen uns gegen das von uns selber mitgewollte Interesse des Vereins verfehlen sollten, die Strafe zu leiden, d. h. zu zahlen. Stark ist dagegen die Schwierigkeit oft empfunden worden, das Recht des Staates auf Verhängung von Freiheits- und Lebensstrafen zu begründen. Sogar Hobbes meint, daß dieses Recht nicht kraft des Staatsgrundgesetzes der souveränen Gewalt beiwohne. Denn - so argumentiert er8 - das Recht Widerstand zu leisten (Recht der Notwehr) gibt niemand auf; folglich kann nicht gedacht werden, daß jemand einem anderen irgendwelches Recht verlieh, gewaltsam Hand an seine Person zu legen. „Bei der Schaffung eines Staates gibt jeder das Recht auf, einen anderen zu verteidigen; aber nicht sich selber. Auch verpflichtet er sich, dem, der die Souveränität besitzt, beizustehen in Bestrafung eines anderen, aber nicht in Bestrafung seiner selbst. Das Versprechen aber, dem Souverän beizustehen bei Zufügung von Leid an einen anderen, wenn der Versprechende selber kein Recht hat, solches Leid zuzufügen, heißt nicht, jenem ein Recht zu strafen geben. Es ist daher offenbar, daß das Recht, welches der Staat, d. h. dessen 8

Leviathan (engl.), P. II, Ch. 2 8 .

l ja beschützen

muß."-. Zitatanfang in der Vorlage nicht gekennzeichnet.

14 „Aber auch das würde ... Menschenrechte

verstoßen.":

Vgl. Matzat, ebd.: 135.

22 kraft des Staatsgrundgesetzes-. In A-. kraft des Staatsvertrages. 34 (engl.)-. Der Klammerausdruck fehlt in A.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Repräsentant hat zu strafen, nicht sich gründet auf irgendwelche Einräumung oder Hingabe der Untertanen." Es sei also aufzufassen als aus dem ursprünglichen Recht auf unbeschränkte Selbsthilfe hervorgehend, das dem Staate, d. h. dessen Souverän verblieben sei, während die Privaten es niederlegten und eben dadurch seine Macht, es zu gebrauchen, verstärkten. Es sei also ein Rest des Naturzustandes. Ich halte dies für eine der Inkonsequenzen in der im ganzen durch ihre Folgerichtigkeit so berühmten Staatskonstruktion des Philosophen. Nach seinen eigenen Grundsätzen ist der Staat, also auch dessen Repräsentant, selbst wenn es eine einzelne natürliche Person ist, seinem politischen Wesen nach, im Naturzustand gar nicht vorhanden. Da aber die Staatsschöpfung um des Friedens und der Sicherheit willen geschieht, so ist es ein wesentliches Element in ihr, daß der Inhaber der souveränen Gewalt nicht nur das Recht, sondern das Mandat erhält, zwar nicht zu strafen, aber Strafen anzudrohen, zu bestimmen: solche, von denen er erwartet, daß die Aussicht darauf den Antrieben zu feindlichen Akten hinlänglich entgegenwirken werde; das Recht, gegebenenfalls diese Strafen wirklich zu verhängen, folgt als ein notwendiges Ingrediens aus diesem Mandat, um die Androhungen nicht kraftlos werden zu lassen. (Der scharfsinnigste unter den deutschen Theoretikern des Strafrechts, Feuerbach, der ganz auf dem Boden des Naturrechts, und zwar des Kantischen steht, vertritt bekanntlich genau diesen Standpunkt; nach ihm unter den Juristen der neueren Zeit nur einer der hervorragendsten, R. v. Jhering, der überhaupt ohne es zu wissen und zu wollen, die Gedanken der naturrechtlichen Doktrin erneuert hat; soviel ich sehe, auch ohne daß seine Fachgenossen es gemerkt haben!) Es liegt nicht, wie Hobbes glaubt, etwas Widersprechendes darin, daß ich, erkennend, daß ohne solche Mittel mein Zweck, der friedliche Zustand, nicht erreichbar ist, dem Staatsverein, wenn auch nur indirekt, die Befugnis gebe, an den eventuellen Übeltäter gewaltsam Hand zu legen, 2 „Bei der Schaffung

... Hingabe der Untertanen."-. „In the making of a commonwealth,

every man giveth away the right of defending another; but not of defending himself. Also he obligeth himself, to assist him that hath the sovereignty, in the punishing of another; but of himself not. But to covenant to assist the sovereign, in doing hurt to another, unless he that so covenanteth have a right to do it himself, is not to give him a right to punish. It is manifest therefore that the right which the commonwealth, that is, he, or they that represent it, hath to punish, is not grounded on any concession, or gift of the subjects." (Hobbes 1 8 3 9 : 2 9 7 ; vgl. Hobbes 1 9 9 4 : 2 0 3 f. [II, 28, 2]). 23 R. v. Jhering:

Vgl. Ihering 1 8 7 7 - 1 8 8 3 .

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auch wenn ich mit der Möglichkeit rechnen muß, daß ich selber dieser Übeltäter sei. Allerdings ist es nur verständlich, wenn ich selber den friedlichen allgemeinen Willen habe, also zu wissen glaube, daß ein aggressives Vorgehen von mir aus nicht stattfinden wird. Dieser friedliche Wille muß also, kann aber auch, bei allen normalen Subjekten des Staates, also der Gesetzgebung, vorausgesetzt werden. Wer delinquiert, handelt durch Spezialwillen, zufälligen Willen, seinem eigenen Generalwillen, wesentlichen Willen entgegen. Daraus folgt aber auch, daß der prinzipielle Verbrecher, bei dem das Verbrechen nicht mehr ein Fehltritt, sondern Gegenstand seines stetigen Wollens ist, nicht als Subjekt des Staates, nicht als Bürger geachtet werden kann. So wenig wie der Wahnsinnige oder sonst Unzurechnungsfähige, kann er zu denen gehören, auf die das Strafgesetz als Androhung von Übeln berechnet ist. Wer als Verbrecher erkannt ist, geht seiner Bürgerrechte dauernd verlustig. Was an den Menschenrechten unveräußerlich ist, bleibt auch ihm, aber von dem Veräußerlichen muß ihm auch genommen werden, was sonst in die Bürgerrechte übergeht. Es hat keinen Sinn mehr, ihm mit Übeln zu drohen, es hat auch keinen Sinn mehr, ihn mit Übeln zu plagen. Er unterliegt einer Behandlung, wie sie als notwendig erscheint, um seine verbrecherischen Intentionen zu hemmen, die im übrigen aber von der Absicht, ihm Leid zuzufügen, völlig frei sein kann, die nicht nur aus Rechtsgründen die Achtung für seine unveräußerlichen Menschenrechte wahren, sondern sogar aus sittlichen Gründen seine Menschenwürde anerkennen darf - und muß, wenn das Sittengesetz wie das Rechtsgesetz befolgt wird. Der Irrtum Matzats beruht darin, die Unveräußerlichkeit für eine wesentliche Qualität der Menschenrechte oder Urrechte zu halten; während die Idee des Naturrechts ist, daß einige dieser Rechte bei Eingehung des Staatsvertrages preisgegeben werden, um den Genuß der anderen dadurch zu sichern. Preisgegeben wird vor allem das Recht der uneingeschränkten Selbsthilfe: gesichert soll werden der Genuß des Rechts auf Unversehrtheit der eigenen Person, auf den Ertrag der eigenen Arbeit usw. Wie jeder Vertrag, so gibt auch der Staatsvertrag - oder geben der Gesellschafts- und der Staatsvertrag, wo diese unterschieden werden - dem oder den anderen Rechte auf einen Teil der eignen, sonst der Möglichkeit nach unbegrenzten Willens- und Machtsphäre. So lesen wir in einem der jüngsten zu einiger Bedeutung gelangten Lehrbücher des Naturrechts (Karl Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts. 3. Auflage, Tübingen 1815, § 174): „Ich verfüge über einen gewissen Teil meiner äußeren Wirksamkeit zum Besten eines anderen dadurch, daß ich den

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Entschluß fasse, diesen Teil in der Voraussetzung, wenn der andere denselben seiner Willkür unterwerfen will, nicht mehr als der meinigen unterworfen zu betrachten. Ist nun in dem anderen das vorausgesetzte Wollen vorhanden, so steht jener Teil meiner äußeren Wirksamkeit nicht mehr unter meiner, sondern unter seiner Willkür, und ihm kommt jetzt die freie Verfügung über denselben ebenso zu, wie sie ursprünglich mir zugestanden hat." Und die Philosophie der Anpassung? „In allen diesen Anpassungen handelt es sich stets um Anpassung äußeren Verhaltens eines Menschen (oder einer Gesamtheit). Aber niemals um das ganze äußere Verhalten, sondern immer nur um einen Teil des äußeren Verhaltens, derart, daß ein Teil des äußeren Verhaltens eines Menschen (oder einer Gesamtheit) durch seinen (ihren) eigenen Willen bestimmt bleibt, und nur der übrige Teil des äußeren Verhaltens nach dem Willen des anderen Menschen (oder der anderen Gesamtheit) bestimmt ist" (S. 167). Den Anhängern des Naturrechts wird an früherer Stelle der Vorwurf gemacht, daß sie - „dreist und gottesfürchtig", wie der Volksmund richtig sagt „vor allen Dingen Rechte zu haben behaupten und beweislos behaupten" (S. 147, dagegen sei die Lehre der Wertethik, daß Rechte erworben und behauptet sein wollen durch Anerkennung und Erfüllung von Pflichten). Unser Schriftsteller weiß nicht, daß für die „Anhänger des Naturrechts" eben dies: das Bestimmtsein des äußeren Verhaltens durch meinen eigenen Willen mein (ursprüngliches und angeborenes) Recht bedeutet; daß er mithin ganz dasselbe wie jene, nur in anderen Worten sagt: vor allen Anpassungen (vor allen Verträgen sagt das Naturrecht) ist mein äußeres Verhalten nur durch meinen eigenen Willen bestimmt (Gros, § 173: „Ursprünglich ist der ganze Umfang der möglichen äußeren Wirksamkeit eines Menschen ... nur von seiner Willkür abhängig"). Das heißt doch: ich kann tun, was ich will, insbesondere ich darf tun, was ich will, ich habe das Recht oder die Befugnis, zu tun, was ich will, niemand hat mir etwas zu sagen, zu gebieten oder zu verbieten, ich bin mein eigener Herr, bin eine selbständige und unabhängige Macht. Zur Verdeutlichung dieses Begriffes dient es (wie gesagt), wenn der dadurch gegebene Zustand konkurrierender Willen als ein (wenn auch latent bleibender) Kriegszustand gedacht 7 „Ich verfüge über ... ursprünglich 14 „In allen diesen Anpassungen

mir zugestanden

hat."-. Vgl. Gros 1 8 2 2 : 1 2 2 f.

... Gesamtheit) bestimmt ist": Tönnies hat den ersten Satz

Matzats (1903: 167) unvollständig zitiert: „In allen diesen Anpassungen handelt es sich stets um Anpassung äußeren Verhaltens eines Menschen (oder einer Gesamtheit) an den Willen eines anderen Menschen (oder einer anderen Gesamtheit).". 27 „Ursprünglich

ist der ... Willkür abhängig":

Vgl. Gros 1 8 2 2 : 122.

I X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

273

wird, was nach Hobbes nur wenige Naturrechtslehrer auszusprechen gewagt haben. „Solange diese (die Dauer der Anpassungsverhältnisse) nicht vorhanden ist, besteht, was allen Anpassungsverhältnissen vorhergeht, »Kampf« ... der Kampf hört auf, und die Anpassung tritt ein, sobald jede von beiden Parteien einen Teil ihres äußeren Verhaltens nach dem Willen der anderen Partei derart geändert hat usw." (Matzat, S. 168). Ist es ein Vorzug, wenn anstatt Vertrag Anpassung gesetzt wird? Unser Verfasser rühmt sich - will aber das Verdienst daran dem ausgezeichneten Physiker Hertz zuweisen - daß in seiner Ableitung der Anpassung und ihrer Wirkungen (S. 68, 83) von »Wollen« oder »Finalität« nirgend mit einer Silbe die Rede sei (S. 84). Im Anschluß daran macht er geltend, daß der „Kampf ums Dasein" keineswegs das Hauptprinzip der Darwinschen Theorie sei, sondern die Auslese; eigentlich aber auch die Auslese nicht, sondern die Anpassung. Anpassung aber will er als rein mechanischen Vorgang verstehen. Aber auch Denken und Wollen will er so verstehen. In bezug auf die sehr ausführliche Erörterung der Tatsachen des Bewußtseins in ihrem Verhältnis zur Gehirnarbeit, also zu physischen Vorgängen teile ich, was den Kernpunkt angeht, die Anschauungen des Verfassers, die er wesentlich in Anlehnung an Avenarius und Petzoldt darlegt. Ich weiche aber dadurch von ihm ab, daß ich das Leben und den lebenden Organismus ihrem Wesen nach für früher halte als die unorganische Materie, daher nicht für ableitbar aus den Gesetzen, die für diese Geltung haben. Darum können wir die psychische Elementartatsache nicht aus irgendeiner anderen erklären, sondern müssen uns daran genügen lassen, sie aus sich selber zu erklären und abzuleiten, wie wir Leben immer nur aus Leben erklären und ableiten können; denn sie aus der Elementartatsache des Lebens, mit der sie identisch gesetzt werden muß, erklären, nützt uns in Absicht auf physikalische Erklärung offenbarerweise nichts, denn das Leben selber ist physikalisch unerklärt und wenigstens mit den bisherigen Mitteln - durch mechanische Begriffe - unerklärbar. Ich glaube freilich an die von Ostwald und einigen anderen mit so großem Verstände unternommene Umbildung der Physik und Chemie durch die Energetik. Indessen muß ich hier auf eingehende Diskussion dieser Sache verzichten. Matzat »wagt« (S. 94) folgende Definitionen: 1. Denken ist Gehirnarbeit bei intransitiver Anpassung, 2. Wollen ist Gehirnarbeit bei transitiver 4 »Kampf«:

Tönnies' Hervorhebung, in A mit Asterisken.

10 (S. 68, 83): Richtig ist: S. 6 8 - 8 3 . 32 Umbildung

der Physik und Chemie

ders. 1 9 0 4 : 1 8 5 ff.

durch die Energetik:

Vgl. z. B. Ostwald 1 9 0 2 : 1 6 3 ff.,

274

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Anpassung. Intransitive Anpassung soll es heißen, wenn ein System sich (se) einem anderen; transitive, wenn es ein anderes sich (sibi) anpaßt. Wie diese Begriffe nützen, kann uns eine viel später, in der Deduktion des Rechtsbegriffes auftretende Anwendung zeigen (S. 162): „Indem ein Gewalthaber seine Zwecke und nichts als seine Zwecke verfolgt, kommt er ganz von selbst dahin, daß er diese Zwecke auf kürzerem Wege, mit geringerem Aufwände an Energie und mit geringerem Zwange, d. h. mit geringerem Widerstand des Unterworfenen, erreicht, wenn er auch auf die Zwecke des letzteren Rücksicht nimmt, d. h. nicht bloß diese sich (sibi), sondern auch sich (se) ihnen anpaßt." Da das Verfolgen von Zwecken und das Rücksichtnehmen doch wohl Gehirnarbeit involviert, so wird dies heißen: wenn er nicht nur will, sondern auch denkt. Ich halte menschliches Wollen ohne Denken nicht für denkbar. Die wechselseitige Anpassung zwischen dem Gebietenden und dem Unterworfenen (mag dabei der Gebietende sich dem Unterworfenen auch noch so wenig, der Unterworfene sich dem Gebietenden auch noch so sehr anpassen) soll nun die willkürlichen Gebote eines Gewalthabers in Rechtsgebote verwandeln, und diese „haben ein Verhältnis wechselseitiger Anpassung zur Folge, welches ein (objektives) Rechtsverhältnis ist" (ib.). „In diesem Verhältnis", heißt es weiter, „hat jeder von beiden Pflichten, und infolgedessen jeder von beiden die (subjektiven) Rechte, welche aus diesen Pflichten entspringen, mögen Pflichten und Rechte zwischen beiden auch noch so ungleich verteilt sein." Hiermit soll die Frage beantwortet sein: wie kommt ein Gebietender dazu, Regeln zu erlassen, an die er selbst auch gebunden sein will? Wie kommt die Willkür dazu, sich selbst zu beschränken, d. h. zu regieren? (S. 158.) Und diese Antwort gibt sich aus für eine Deutung derjenigen, die (in langen Zitaten) als die Jheringsche vorgeführt wird, „in die Begriffe der Anpassung hinein. Jhering nennt das Recht auf der Stufe der Despotie Recht, wenn man darunter lediglich einen Inbegriff von Zwangsnormen verstehen wolle; dagegen seien nur die Keime des Rechts vorhanden, wenn man den Maßstab dessen anlege, was das Recht sein kann und sein soll". Jhering hat ganz recht, aber der Anpassungsphilosoph macht aus dem Keim das Ding selbst, das aus dem Keime werden kann. Aus einem nackten Gewaltverhältnis kann allerdings ein Rechtsverhältnis werden (es

19 „haben ein Verhältnis ... Rechtsverhältnis

ist"-. In A steht das Zitat (vgl. Matzat 1 9 0 3 :

162) zusätzlich in Asterisken. Das folgende Zitat findet sich ebd. 25 zu regierenKorrekt

wohl: zu negieren.

31 „in die Begriffe ... kann und sein soll": Als Zitat nicht nachgewiesen.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

275

ist nicht der Keim, aber es enthält möglicherweise den Keim) - nämlich in dem Maße als einer den anderen als seinesgleichen erkennt und anerkennt, als es dadurch einem freien Vertragsverhältnisse ähnlicher wird. Ein solches aber hat zur Voraussetzung, daß ein erklärter Wille vorliegt, d. i. ein Wille, der vernünftige Grunde hat, ein spezifisch menschlicher Wille. Wechselseitige Anpassung findet auch zwischen Mensch und Bestie statt; so kann der Löwenbändiger auf dem friedlichsten und freundschaftlichsten Fuße mit dem König der Wüste leben. Aber ein Rechtsverhältnis ist hier eben nicht möglich, weil etwas dem Vertrage Ähnliches nicht denkbar ist. Jhering rechnet ganz und gar wie Hobbes nur mit Gewalt, Egoismus, wohlverstandenem Interesse als mit den Faktoren des Rechts; nur die Konstruktionen des Naturrechts fehlen ihm. Auch Matzat läßt, wie wir sehen, seiner Anpassung ganz allgemein den Kampf vorausgehen. Hier liegt der Irrtum, der dem Naturrecht (in jener typischen Gestalt des Hobbismus), Jhering, dessen Restaurator (ohne daß er es kennt) und Matzat, dessen Verächter (gleichfalls ohne daß er es kennt) gemeinsam ist. Sie alle setzen völlig getrennte und geschiedene Willenssphären der Menschen als allgemein und notwendig voraus. Ich behaupte dagegen: es gibt eine ursprüngliche und wesentliche Einheit zwischen Mensch und Mensch, die in nächster Nähe der Instinkt, in unendlicher Entfernung nur die höchst entwickelte Vernunft zu erkennen vermag, die aber immer vorhanden ist, und durch die Vernunft auf allen Stufen ihrer Entwicklung sich kundbar macht. Je näher aber das in ihr wurzelnde Verhältnis, desto vollkommener ist es, desto tiefer und bedeutender sind seine Wirkungen. Auch aus diesem Verhältnis menschlicher Gemeinschaft kann ein reines Rechtsverhältnis sich ergeben und hervorgehen, und zwar ohne daß irgend so etwas wie der »Vorgang« wechselseitiger Anpassung eintritt; man könnte eher von wechselseitiger Anpassung reden; die allgemeinen und unbestimmten Rechte und Pflichten entwickeln sich zu besonderen und bestimmten. Ich muß darauf verzichten, auch das vierte Buch der „Philosophie der Anpassung", das über den Staat handelt, in eingehender Weise zu prüfen. Zur Bequemlichkeit für den Leser sind die Ergebnisse dieses Buches (wie übrigens auch jedes früheren) am Schlüsse auf wenigen Seiten zusammengefaßt (S. 307 ff.). Mit dem ersten Satze, der sich hier findet, bin ich sehr einverstanden; er lautet: „Staaten hat es keineswegs, wie viele behaupten, seit undenklichen Zeiten gegeben; der Staat ist vielmehr ein sehr junges Gebilde." Auch ist die vorausgehende Erörterung, die den Satz begründet (S. 233 ff.), historisch gelehrt und enthält gute Gesichtspunkte. Eine tiefe Einsicht in den Gang der modernen und insbesondere der staatlichen

27 6

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Entwicklung kann ich aber nicht darin finden. Der Verfasser huldigt einem so einseitigen Optimismus in bezug auf den Fortschritt, wie nicht einmal Herbert Spencer ihn festzuhalten vermocht hat. Alles soll aus dem Begriff der Anpassung folgen. Aber auch Dissolution, auch das Sterben ist Anpassung. Freilich nimmt er dann die »Auslese« zur Hilfe: »gelingende« Anpassungen führen zu einem positiven, »mißlingende« zu einem negativen Ergebnis der Auslese; jenes ist Stabilität, Festigkeit, Dauer, dieses Verdrängung, Ausmerzung, Vernichtung. Dies gelte auch für Rechtsverhältnisse. Recht wird teils ausgeglichen, teils gesteigert: auf beide Weisen entstehen immer »gerechtere« Rechtsverhältnisse. „Ein gerechtes Rechtsverhältnis ist ein solches, in welchem der eine von dem anderen nicht mehr verlangt, als er selbst leisten (tun oder unterlassen) will und kann." Die Schwankungen der Staatstätigkeit bezeichnen „Entwicklungsstufen der Rechtsausgleichung und Rechtssteigerung, welche in säkularen Perioden abzuwechseln scheinen" (S. 296). Man sieht, die historische Betrachtung haftet durchaus, und ganz im Einklang mit den Ideen des Naturrechts und des Liberalismus, am formalen Charakter der Volksentwicklung. Die materielle, d. h. wirtschaftliche und anthropologische Ansicht ist ihr völlig fremd. Dadurch steht der Grundton des Werkes in einem höchst auffallenden Kontraste zu den beiden früher besprochenen, die darin übereinstimmen, daß sie (was auch Darwins Meinung war) die Entwicklungstendenzen der Natur durch die Entwicklungstendenzen der Kultur unheilvoll gekreuzt, ja aufgehoben halten. Und beides lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie! Dabei halten sich jene sachgemäß - wenn auch bei Schallmayer in äußerlicher und nicht eben klarer Weise der metaphorische Gebrauch der Ausleseprinzipien usw. damit verbunden ist - an den biologischen Inhalt der Entwicklung. Wenn aber der Anpassungsphilosoph sein Ergebnis in die Formel zusammenfaßt: „Abnahme der Vererbung, Zunahme der Anpassung, Verschärfung der Auslese", wo diese Begriffe alle im soziologischen Sinne verstanden werden, so ist besonders das erste Lehrstück eine sehr seltsame »Folgerung« aus der Deszendenztheorie. Freilich wird, um es plausibel zu machen, ein Satz von Wundt zitiert, daß, wo die individuelle Entwicklung größeren Raum habe, notwendig die Determination durch Vererbung geringer werde (S. 241); und dies soll dann, analoger-

15 „Entwicklungsstufen ... abzuwechseln scheinen": Als Zitat nicht nachgewiesen. 18 materielle: In A: materiale. 29 „Abnahme der Vererbung ... der Auslese": Vgl. ebd.: 310; dort alles gesperrt gedruckt.

IX. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Erster Teil

277

weise, von erblichen Rechtsverhältnissen gelten. Alles, was sich hierauf bezieht, ist recht unklar gedacht. Manche Fragen werden mit Schwadronenhieben entschieden.

3 Fragen werden mit Schwadronenhieben entschieden.: In A schließt sich ein weiterer Absatz an, vgl. im editorischen Bericht S. 663.

X. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung Zweiter Teil

4 Zweiter Teil-. Der Text wurde zuerst unter dem Titel „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Zweiter Abschnitt" im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] (29.1905, S. 1283-1321; im Folgenden: A veröffentlicht. - Für die in Schmollers Jahrbuch übliche kurze Inhaltsangabe und eine von Tönnies für diese Ausgabe gestrichene einleitende Passage aus A vgl. den editorischen Bericht, S. 664; beachte auch die Anmerkung zum ersten Teil oben auf S. 205.

Im Sinne Stammlers und unter Berufung auf ihn setzt Hesse1 in seiner Einleitung auseinander (S. 13 f.): ein Zusammenwirken von Individuen sei nur möglich, wenn Wechselbeziehungen vorliegen, wenn dem Recht auf der einen eine Pflicht auf der anderen Seite entspreche. (Insoweit richtig, aber nicht neu.) Dies könne nur geschehen durch »äußere« Regeln oder Normen, die von der Triebfeder des einzelnen, sie zu befolgen, ihrem Sinne nach unabhängig, »äußere« Legalität fordern: solche »äußere« Regeln seien a) die Rechtssatzungen, b) die Normen der Konvention, „unter denen wir zusammenfassen: Sitte, Brauch, Usance, alle die Sätze, die nicht als Zwangsgebote auftreten, denen man sich entziehen kann, deren Befolgung aber der Druck der öffentlichen Meinung gebieterisch fordert". Ich halte diese Aufstellung, die der allgemeinen Sozialwissenschaft als Fundament dienen soll, für unzulänglich. Stammler (ihm folgt Hesse auch hierin genau) setzt diesen »äußeren« Regeln entgegen „Lehren der Moral", ihre Befolgung (so drückt wiederum Hesse fast wörtlich nach Stammler sich aus) verlange innere Übereinstimmung, Überzeugung von ihrer Richtigkeit. Als Urheberin »äußerer« Normen als gewisse Handlungsweisen verneinend, andere bejahend, kommt Moral oder ein sittliches Gemeinbewußtsein oder ein öffentliches Gewissen (mit Austin, dem Anhänger Benthams, setze ich dafür am liebsten „die positive Moralität") in diesem System nicht vor. Alles, was mit »äußerer« Korrektheit »zufrieden« ist, gehört entweder zum Recht oder ist lediglich konventioneller Natur; lediglich konventionell wäre also auch die positive Moralität, sofern sie gewisse Handlungen verwehrt und verurteilt, andere gebietet und vorschreibt. Denn in dem Maße als es mit Verboten und Geboten ernst ist, auf 1

Natur und Gesellschaft, Jena, Fischer 1 9 0 4 . 5 »äußere«:

In A durch Asterisken hervorgehoben, so auch bei den Wiederholungen des

Wortes in den folgenden Zeilen. Ii „unter denen wir zusammenfassen 16 innere Übereinstimmung: bens den Lehren

... gebieterisch

fordert":

„So steht die äußere Regelung

Vgl. Hesse 1 9 0 4 : 14.

des menschlichen Zusammenle-

der Moral gegenüber." (Stammler 1 8 9 6 : 105) „Nur in der inneren

Ubereinstimmung und überzeugten Hingebung des Wollenden an ihre Wahrheit liegt dem Sinne der Ethik nach ihre Befolgung." (ebd.: 106); vgl. Hesse 1 9 0 4 : 14. 17 Normen:

In A folgt ein Komma.

20 „die positive Moralität": Vgl. z. B. Austin 1 8 6 1 : 1 1 3 f. 26 Natur und Gesellschaft: Fußnote fehlt in A.

282

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

bestimmte Handlungen und Unterlassungen hinzuwirken, muß jeder Gesetzgeber gegen die Motive gleichgültig sein, und die „Lehren der Moral" unterscheiden sich nicht dadurch, wie Stammler will, von den sozialen Regeln, daß jene »innerliche« Gesetze geben, sondern dadurch, daß sie gar keine »Gesetze«, d. h. Normen von sozialer Geltung zu geben vermögen, daß sie eben nichts als Lehren sind, also mit gebietenden und verbietenden Regeln nicht auf gleicher Stufe stehen; denn insoweit als dies der Fall ist, sei es, daß sie mit Vorschriften der positiven Moralität übereinstimmen, oder daß sie andere Vorschriften geben - wenngleich es dann nur solche ohne soziale Geltung sein können - insoweit haben auch die „Lehren der Moral", wie etwa ein Vater sie seinem Sohne, ein Geistlicher seinem Gemeindekinde geben mag, mit den Beweggründen zu ihrer Befolgung keine notwendige Verbindung. Wenn ich z. B. einem Jüngling die „Lehren der Moral" in bezug auf das Geschlechtsleben entwickle, und ihm vorstelle, daß und warum die außereheliche Befriedigung des Naturtriebes gegen das Sittengesetz verstößt, so werde ich zwar wünschen und hoffen und darauf hinwirken, daß er dies nicht nur erkenne, sondern auch auf Grund dieser Erkenntnis und aus Achtung vor dem Sittengesetz sich danach richte - sofern ich »lehre«, ist mir eben um das Lernen, mithin das Erkennen des anderen in erster Linie zu tun, also freilich um etwas »Inneres« - ; wenn ich aber in der Lage bin und es darauf anlege, Vorschriften zu geben, oder das moralische Gesetz als Gesetz zur Geltung zu bringen; wenn also (z. B.) mein Absehen wesentlich und unmittelbar darauf gerichtet ist, den Jüngling jedenfalls von Handlungen der Unkeuschheit abzuhalten, so kann ich auf die Erkenntnis verzichten, wenn ich nur dem Willen die von mir gewollte Richtung zu geben vermag - und je dringlicher mein Geheiß, je mehr es als Befehl oder Verbot auftritt (ob es sich als solches Achtung verschaffen könne oder nicht), um so gleichgültiger muß es mir sein, aus welchen Gründen es befolgt wird, wenn es nur befolgt wird; ja, ich werde froh sein, wenn auch außermoralische Beweggründe, und zufrieden sein, wenn solche allein zu dem erwünschten Tun oder Lassen bewegen2. Auch wenn mir als Moralisten zuletzt nur um die seelische 2

Lehren „der Moral", das wird in der Regel heißen: dessen, was die positive Moralität, d. i. eine Form des sozialen Wollens tatsächlich ge- und verbietet; es kann aber auch heißen: dessen, was uns durch einen ideellen Willen, z. B. den göttlichen, oder durch eine bloß vorgestellte Moralität vorgeschrieben wird. Auf diesen möglichen Sinn beziehen sich die folgenden Sätze.

4 »innerliche«: In A: * innerliche*, n Moral: In A nicht hervorgehoben.

X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

283

Beschaffenheit, mithin um reine sittliche Motive des Menschen überhaupt, also auch meines Zöglings zu tun ist, so kann mir gerade um dieses Zieles willen an der bloßen äußeren Befolgung rein moralischer Vorschriften, d. i. solcher Regeln, die gar nicht durch das Recht und keineswegs durch irgendeine Art von Konvention (diese weist viel eher in entgegengesetzte Richtung und ist jedenfalls immer mit dem Schein der moralischen Handlungsweise zufrieden) gesetzt und sanktioniert sind, unermeßlich viel gelegen sein. Eine soziale Regelung (die nach Stammler zuweilen „den Inhalt moralischer Lehren unmittelbar in sich aufnimmt") werden sie dadurch nicht. Sie sind auch von dem, was ich positive Moralität genannt habe, wesentlich verschieden. Bei allen diesen steht eine (drohende) Reaktion des sozialen Willens (des »Staates«, der »Gesellschaft« oder irgendwelcher bestimmter »Kreise«) im Hintergrunde. Wenn ich moralische Regeln behaupte und einschärfe, so mögen diese mit Regeln des Rechtes oder der Konvention oder der positiven Moralität zusammenfallen; sie können aber auch völlig außerhalb dieser Bereiche liegen und doch rein »äußere« Regeln sein, die ein bestimmtes Handeln vorschreiben und für »gut« erklären, aus welchen Beweggründen es auch geschehen möge. Stammler denkt offenbar nicht an Lehren der Moral, wie sie in der Erfahrung vorhanden sind, sondern an die von ihm gebilligte Kantisehe Idee von Lehren der Moral, also an eine philosophische Ethik. Daß er diesen Unterschied nicht beachtet, macht den Kern seines Gedankens logisch mangelhaft. Nun ist aber nicht nur ethische Theorie oder moralische Lehre, sondern ist vor allem auch die positive Moralität darauf bedacht, auf das Wollen, sofern es rein »innerlich« ist, zu wirken, gute Gesinnungen zu postulieren und nach den Beweggründen und Absichten das Handeln und Betragen zu beurteilen. Und empirisch ist alles, was hier als Recht, besonders aber was als Konvention begriffen wird, mit positiver Moralität vermischt; will sagen, sie fragen auch nach der Gesinnung; die normale Gesinnung, die gute Gesinnung, welche alle haben, wird eben vorausgesetzt, und um der verlangten Gesinnung willen wird auf die Zeichen solcher der hohe Wert gelegt. So ist es gewiß konventionelles Gebot, daß man bei einem Hoch auf den Landesherrn sich erhebe und darin einstimme; wer es aber unterläßt, wird nicht empfunden wie einer, der unterläßt, reine Wäsche oder eine Krawatte zu tragen: dieser wird als ein Mensch von sonderbarem und mißfallendem Geschmacke, oder als

9 „den Inhalt ... in sich aufnimmt"-. Vgl. Stammler 1 8 9 6 : 106. 17 »äußere«:

In A: *äußere*.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

einer, der keinen Wert darauf legt, zur guten Gesellschaft gerechnet zu werden, angesehen; jener erregt als Nichtpatriot, wohl gar als Feind, jedenfalls als Mensch von inkorrekter Gesinnung, in einer Gesellschaft monarchisch Gesinnter »sittliche« Entrüstung. Und nun denke man erst, wie zu allen Zeiten der angesehen wurde, der zu verraten schien, daß er nicht an die Götter »glaube«, die man öffentlich verehrte! Ich lasse auf sich beruhen, ob es zweckmäßig ist, wie Stammler nach dem Vorgange der naturrechtlichen Autoren (mit Einschluß Kants) tut, begrifflich die Sphären des Rechts und der Konvention so auszuscheiden, daß sie auf bloße »äußere«, gegen alle Beweggründe gleichgültige Regeln beschränkt werden. Wenn es aber geschieht, so war es um so mehr geboten, den Begriff der positiven Moralität anzuerkennen und aufzustellen, und nicht die Sache unrichtigerweise so darzustellen, als ob es empirisch nichts anderes gebe, als jene mit ihren »äußeren« Regeln und außerdem nichts als die „Lehren der Moral", soll ja wohl heißen mit »inneren« Regeln; da doch »Lehren« überhaupt gar nicht in das Gebiet hineingehören, wenn es sich darum handelt, Formen und Ausdrücke des sozialen Willens zu analysieren. Hesse kommt nach ausgedehnter Erörterung von »Vorfragen« über 1. Naturgesetz, 2. Erkennen und Beurteilen, in seinem „Ersten Buche", worin die „grundsätzliche Bedeutung", und zwar zum ersten die »sachliche«, zum andern die »methodologische« Bedeutung der Prinzipien der Deszendenztheorie für die innerpolitische Entwickelung usw. abgehandelt wird, auf die Frage: „wie sind Naturgesetze des sozialen Lebens möglich?" (S. 48). Er kommt zu dem Ergebnisse: 1. die Tatsache menschlichen Zusammenwirkens lasse uns die Aufstellung sozialer Naturgesetze noch nicht erreichen, 2. weil das zweite Element sozialen Lebens, äußere Regeln, alle sozialen Erscheinungen bedinge, so könne ein Gesetz für soziales Zusammenwirken nur ein Gesetz der Bedingung dieses sozialen Zusammenwirkens sein; nun sei aber auch die Rechtsordnung ein Ergebnis menschlichen Handelns; da dieses naturgesetzlicher Bestimmung sich »noch« entziehe, so können wir Naturgesetze des sozialen Lebens nicht aufstellen (S. 58), 3. dagegen lassen sich Regeln und Tendenzen im sozialen Leben feststellen. Dies alles soll sich auf die „innerpolitische Entwicklung" beziehen; die Gesetzgebung setze Werturteile voraus, und so erhebe sich die Frage, was 7 Stammler. Vgl. Stammler 1 8 9 6 : 106. 15 „Lehren

der Moral": In A: „Lehren

23 „wie sind Naturgesetze

... möglich?":

der Moral" Bei Hesse (1904: 4 8 ) ist das ganze Zitat gesperrt

gedruckt. 34 Werturteile: In A ist das ganze Wort gesperrt gedruckt.

X. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

285

sich aus der Behauptung sozialer Naturgesetze für die Beurteilung der sozialen Phänomene und die Gesetzgebung der Staaten ergebe. Diese Frage wird dahin beantwortet, die Aufstellung sozialer Gesetze bestreite für dieses Gebiet menschlichen Handelns die Möglichkeit einer Zwecksetzung; die Vorstellung eines zu bewirkenden Erfolges werde zur Illusion; „denn das, was ich als kausal notwendig eintretend behaupte, kann nicht mehr Gegenstand einer Zwecksetzung sein" (S. 64); insbesondere aber wäre, wenn die Prinzipien der Deszendenztheorie als soziale Naturgesetze ausnahmlos geltend wären, dann die Aufstellung von Zielen und das Streben nach dem Guten überflüssig; eine Politik in Konsequenz zu der Annahme jener Prinzipien als sozialer Gesetze müsse einmal jeden gesellschaftlichen Zustand billigen und dann die Hände in den Schoß legen. Die Maxime laissez faire sei in jedem Falle das Ergebnis dieser Auffassung, wie es auch bei Spencer erscheine; eine Beurteilung des sozialen Lebens verliere jeden Sinn, das Eingreifen der Gesetzgebung vermöge nichts zu bessern, ja nicht einmal den Gang der Entwicklung zu ändern (S. 65, 66). Als Beispiele für den oben nach S. 64 zitierten Lehrsatz führt der Verfasser an (das.): „Es wäre ein vollkommener Widersinn der Zweck, sich mit der Erde um die Sonne zu drehen, oder aus dem Fenster zu springen und nicht auf die Erde zu fallen." Beide Beispiele wollen sagen: es hat keinen Sinn, etwas zu wollen, was entweder schlechthin notwendig oder schlechthin unmöglich ist. In Wirklichkeit ist alles, was geschieht, schlechthin notwendig; alles was nicht geschieht, schlechthin unmöglich. Unser Wollen ist, zum großen Teile, dadurch bedingt, daß wir nur in wenigen Fällen mit Gewißheit wissen, was geschehen wird, und daß wir daher mehreres für möglich halten, wovon wir das eine (das was wir wünschen) befördern, das andere (was wir nicht wünschen) zu hemmen uns vornehmen. Fälle, in denen wir mit Gewißheit wissen, was auch ohne unser »Zutun« geschehen wird, gibt es im Bereiche des sozialen Lebens ebensogut, wie in den Bereichen, die auch nach Herrn Hesses Ansicht naturgesetzlich bestimmt sind. In diesen Fällen ist es dort wie hier ein Widersinn, dasselbe noch besonders zu wollen; aber in dem einen wie in dem anderen Gebiet geschieht oft genug dies widersinnige Wollen, sogar mit 7 „denn das ... Zwecksetzung sein"-. Vgl. Hesse 1904: 63 f. 17 Als Beispiele: Der Absatzes beginnt in A so: Ich kann in dieser ganzen Argumentation nichts als einen Irrtum erkennen. Da eine ganz prinzipielle Widerlegung zu weit führen würde, so will ich an einer Betrachtung der Schlußfolgen mir genügen lassen und beginne mit der letzten. 27 nicht: In A gesperrt gedruckt.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Bewußtsein, wenn nämlich heterogene Motive dazu bestimmen. Man weiß, daß die meisten kleinen Indispositionen „von selbst" besser werden; und wieviel Überflüssiges wird an Hausmitteln und Medikamenten dagegen eingegeben! Mancher Arzt verschreibt, zumal für ländlich-einfältige Patienten, große Bouteillen unschädlicher Flüssigkeit, weil er sonst nicht für einen rechten Arzt gehalten würde. Und im ganzen sozialen Leben: wieviel überflüssige Worte werden gemacht, Worte, von denen wir wissen, daß sie überflüssig sind! - Wie mit dem Wollen dessen, was ohnehin geschieht notwendig geschieht - so ist es mit dem Wollen dessen, was ungeachtet unseres Zutuns jedenfalls nicht geschieht. Widersinnig wäre es, zum Goldschmied zu gehen und für eine goldene Uhrkette eine Schachtel mit Stahlfedern als Preis anzubieten; ich weiß gewiß, daß er mir die Uhrkette nur geben wird, wenn ich ihm den Preis dafür zahle oder verspreche; einen Sinn hat es, ihm ein altes Silbergeschirr zum Tausch anzubieten, ich weiß nicht voraus, wie er sich dazu verhalten, ich darf für möglich halten, daß er das Tauschobjekt annehmen wird. Wollen ist Versuchen (conari); wenn wir alles voraus wüßten, was ohne Zweifel naturgesetzlich bestimmt ist, so hätte das Experiment des Physikers keinen Sinn; wie es denn auch seinen ursprünglichen und eigentlichen Sinn nicht mehr hat, wenn man das Naturgesetz, zu dessen Erforschung es zuerst angestellt wurde, schon kennt; so wie das Fragenstellen an Schüler seinen eigentlichen Sinn nicht mehr hat, wenn es als Demonstration in einer öffentlichen Prüfung geschieht. Sonst aber weiß man zwar, daß die völlig gleiche Kombination von Ursachen die völlig gleiche Wirkung haben wird, aber man weiß (etwa) schon darum die Wirkung nicht vorher, weil man noch nie die Kombination der anderen Ursachen mit dem, was man selber hinzufügt, erfahren hat. Auch im übrigen ist die wirkliche Natur beinahe ebenso variabel, wie ein Knabe, den wir als Erzieher befragen; die gleichen Bedingungen - etwas absolut genommen rein Ideelles - müssen künstlich, so sehr als möglich und nötig ist, hergestellt werden, wenn man eine sonst verborgene Gesetzmäßigkeit aufdecken will. - Wäre Hesses - oder vielmehr Stammlers, der auch hier zugrunde liegt - Denken richtig, so wäre auch der verzweifelte Kampf des Schiffers gegen Wind und Wellen sinnlos, wie er es unter Umständen wirklich ist und doch nicht unterlassen wird, so lange als der Schiffer nicht völlig überzeugt ist, daß ein Erfolg seines Wollens schlechthin unmöglich ist, d. h. daß dies Wollen eine verschwindende Größe gegenüber den feindlichen Mächten darstellt; und so in allen Fällen des Streites und Strebens. Wenn wir die Naturgesetze, sei es der Elemente oder der menschlichen Seele und des sozialen Lebens, vollkom-

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men erkannt und ihre Erkenntnis immer gegenwärtig hätten, so würden wir freilich sehr vieles Streben und Wollen teils als überflüssig, teils als vergeblich aufgeben; wenigstens würde diese Konsequenz ziehen, wer von der vollkommenen naturgesetzlichen Bedingtheit des menschlichen Handelns völlig durchdrungen und erfüllt ist. So würde der »Streber«, der um eine Ehrenstelle ringt, gar viele Wendungen und Windungen unterlassen, wenn er an dieser Einsicht Anteil hätte und zugleich wüßte, daß die Ehrenstelle entweder ihm sowieso sicher ist (etwa weil Reichtum und Einfluß seines Vaters oder seiner Gattin gehörig für ihn vorgearbeitet haben), oder aber, daß sie einem anderen unabänderlich zugedacht ist. In der Tat wirkt ja das Wissen und die Weisheit dämpfend auf das Wollen; nicht nur weil viele Ziele als nichtig und der Mühe unwert erkannt werden, sondern auch weil eben die Überflüssigkeit oder Vergeblichkeit vieles Strebens dem Bewußtsein klar wird. Aber alles Streben und Wollen würde keineswegs überflüssig; es bliebe das auch jetzt sehr große Quantum, wo wir sicher wissen, daß in einen geschlossenen Ring von Kausalität unser Wollen gesetzlich hineingehört. - Nach Stammler-Hesse kann aber ferner die Behauptung notwendigen Eintretens übereinstimmender Wiederholungen „immer nur besagen, daß sie unter der Bedingung der gegebenen äußeren Regelung notwendig sind, nicht schlechthin, ohne Rücksicht auf diese Ordnung; denn nur unter einer solchen sozialen Ordnung werden sie als soziale Phänomene uns gegeben, und sind sie möglich" (S. 60). Daß das soziale Leben durch regelndes menschliches Wollen wesentlich bedingt ist, soll nach vielverbreiteten Angaben Stammler entdeckt haben. Ob er es entdeckt hat oder nicht, richtig ist es, und Stammler hat jedenfalls das Verdienst, dieser Wahrheit eine systematische Darstellung gegeben zu haben 3 . Daß aber durch diese Bedingung die Notwendigkeit des Geschehens im sozialen Leben modifiziert werde, ist eine unbegründete Folgerung. Auch das Steigen und Fallen des Quecksilbers in meinem Thermometer ist durch menschliches Wollen bedingt; ohne Kultur, Kunst, Arbeit gäbe es kein Quecksilber in zylindrischen Röhren. „Die Zusammenfassungen sozialer Erscheinungen und die Aussichten in die Zukunft, Regeln und Tendenzen, sind dadurch bedingt und beschränkt, daß die regelnde Form gesellschaftlichen Daseins unverändert bleibt" (S. 61). 3

Das Beiwort „äußere" zu Regeln ist überflüssig und daher störend wie ein Epitheton ornans immer in der Begriffsbildung ist. Soziale Regelung kann nur „äußere" sein - ihrer direkten Wirkung nach.

25 Stammler: Tönnies bezieht sich auf Stammler 1 8 9 6 .

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Selbstverständlich! Wenn und solange sie es bleibt. Wird sie verändert, wird z. B. durch eine Novelle zum BGB. die Ehescheidung erheblich erleichtert, so haben die Tendenzen zur Ehescheidung, die auch jetzt sehr stark sind, freiere Bahn, die Scheidungen werden sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vermehren. Auch das Fallen des Quecksilbers in der Nacht, wenn mein Ofen abkühlt, und seine »Tendenz« zum Steigen, wenn er wieder angeheizt wird, sind dadurch bedingt und beschränkt, daß das Thermometer unverändert bleibt; wird ein Loch hineingeschlagen, so daß atmosphärische Luft Zutritt hat, so hört seine »Empfindlichkeit« auf. Die Veränderung menschlicher Gesetze geschieht ebensowenig zufällig und ohne Ursachen, wie die Veränderungen des Thermometers; und die Vermehrung oder Verminderung der Ehescheidungen ist so gut ein Vorgang der »Natur« - in dem Sinne, der das gesamte Leben der Menschheit einschließt - wie das Steigen und Fallen des Quecksilbers, das seinerseits, wie gesagt, auch durch Kultur (durch menschliches Wollen) bedingt ist. Wir brauchen den Vergleich nicht zu verfolgen. Das organische Leben (und vollends das soziale Leben) ist der Erkenntnis so viel schwerer zugänglich, weil die Wechselwirkung so viel weiteren Spielraum darin hat. Darum sind hier ganz andere und viel kompliziertere Denkmittel notwendig, um das allgemeine Denkgesetz der Kausalität auf adäquate Weise anzuwenden. - Nach Hesse aber (S. 63, ebenso S. 35) stellen wir uns einige Effekte als naturnotwendig eintretend vor, andere nicht als notwendig geschehend, »sondern« als zu bewirkend; wenn man auch diese für notwendig hält, so wird das für eine „Eliminierung des Zweckmoments" eine „Ablehnung des Zweckgedankens" ausgegeben. Unrichtigerweise. Ich sage dagegen: alle zukünftigen Ereignisse denken wir als „zu bewirkend" und zugleich als „naturnotwendig eintretend"; als zu bewirkend nämlich durch bestimmte Ursachen, die (rein logisch, d. h. allgemein gedacht) Bedingungen des Eintretens solcher Ereignisse sind; sei es, daß diese Ursachen Vorgänge der unorganischen Natur, oder etwa menschliche Willensakte sind. „Diese Bark wird Schiffbruch leiden" - sicherlich nicht ohne Ursache, aber wenn der gerade tobende Orkan die Stärke 10 erreichen wird: dann aber auch gewiß und notwendigerweise. „Dies Ruderboot wird im Wettlauf das andere schlagen" - sicherlich nicht ohne Ursache, aber wenn der Ruderer mit Anspannung aller seiner Kräfte das Ziel ins Auge fassen, den Erfolg wollen wird; dann aber auch gewiß und notwendigerweise. Ob der Zyklon die Stärke 10 erreichen wird; ob der Ruderer 23 »sondern«-. In A: * sondern*.

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energisch genug wollen wird - das sind Fragen, die mit der relativen Gewißheit der erwarteten Wirkungen nichts zu tun haben. Vielleicht können wir sie bejahen - wenn wir nämlich auch davon die Bedingungen kennen, und wissen, daß sie vorhanden sind. Nicht anders, wenn es etwa um ein tierisches Wollen sich handelt. Der Vorstehhund wird mir das angeschossene Rebhuhn apportieren: wenn er so wollen wird, wie er soll; wenn die Dressur sich bewährt, wenn er nicht infolge ungenügender Prügel das Wasser scheuen wird; mit einem gut beanlagten und gut erzogenen Tier fühlt aber der Jäger sich in dieser Hinsicht vollkommen sicher. Wie weit beim Tier das »Zweckmoment« als vorhanden und wirksam gedacht werden muß, ist nicht leicht zu bestimmen, hängt aber auch von Definitionen unserer Begriffe ab. Ein klarer und deutlicher »Zweckgedanke« ist auch beim erwachsenen Menschen vergleichungsweise selten vorhanden. Wenn ich aber ihn erkenne, so wäre dadurch ausgeschlossen, daß ich die „Ergebnisse menschlichen Handelns", das auf diese Zwecke abzielt, als notwendig erkennen sollte? Ich weiß ganz genau, welchen Zweck dieser Roué im Tanzsaal hat: er will das Herz der Kommerzienratstochter erobern, zu diesem Zweck macht er ihr in so auffallender Weise den Hof (sein eigentlicher und Endzweck ist aber, daß der Kommerzienrat seine Schulden bezahle, eben darum will er das Herz der Tochter erobern). Und die Folgen seiner höchst zweckmäßigen Handlungen sehe ich mit Gewißheit voraus: es sind alltägliche Vorgänge, die sich ganz regelmäßig ereignen, und so notwendig, wie irgendein Geschehen ist, nämlich der Idee der Kausalität gemäß notwendig, die sich auf moralische Vorgänge nicht anders als auf physische bezieht. Der richtige und herkömmliche Gegensatz gegen »notwendig« ist nicht „zu bewirkend", sondern entweder »möglich« oder »zufällig«; der eine hat nur einen subjektiven, der andere nur einen relativen Sinn; beide sind mit dem Begriff der objektiven und absoluten Notwendigkeit alles Geschehens vollkommen verträglich - beide finden aber berechtigte Anwendung ebensowohl auf Objekte, die in der Vergangenheit, wie auf solche, die in der Zukunft liegen, auf solche, die Ergebnisse menschlichen Handelns sind, in gleicher Weise wie auf solche, die es nicht sind. - Nationalökonomen wird die Behauptung vorzugsweise interessieren, daß die Maxime des laissez faire notwendiges Ergebnis der Annahme herrschender sozialer Gesetzmäßigkeiten sei; man müsse bei solcher Denkungsart jeden gesellschaftlichen Zustand billigen und die

8 gut erzogenem In A: gut gezogenen. 17 Roué: [frz.] svw. durchtriebener, gewissenloser Mensch.

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Hände in den Schoß legen; die Aufstellung von Zielen, das Streben nach dem Guten sei überflüssig und die Beeinflussung des naturnotwendigen Ganges der Entwicklung außerdem auch unmöglich (so muß man, wie es scheint, die unklare Folge der Sätze S. 65 verstehen). Eine seltsame Logik! Nach derselben Logik wären alle Bemühungen der Tierzüchter durch die Anerkennung der Abstammungslehre sinnlos geworden: die bewußte Zuchtwahl müßte ihre Praxis aufgeben, weil die natürliche Zuchtwahl entdeckt wäre. Das Wort »somit« muß die Blößen dieser Logik decken: ... „dann ist jeder soziale Zustand ein Produkt der Auslese und »somit« der beste, der möglich ist". „Alles was ist ... ist in jedem Augenblick soweit erreicht, wie es naturgesetzlich möglich ist. »Somit« ist denn die Aufstellung von Zielen ... überflüssig." Es liegt ein loses Spiel mit Worten vor: der Gebrauch des Superlativs von »gut« und der Gebrauch des Wortes »möglich«. Wenn irgendein Zustand als naturgesetzlich notwendig begriffen wird, so ist - im gegebenen Augenblicke - kein anderer, weder ein schlechterer noch ein besserer »möglich«; in diesem Sinne wäre jeder der beste, aber auch der schlechteste, der möglich ist. Natürliche Auslese aber läßt dauern, was unter den gegebenen Umständen das kräftigste (the fittest) ist; setzt man kräftig oder tüchtig = gut, so ist es auch das beste. Nun hat aber »gut« auch manchen anderen Sinn, z. B. bedeutet es, was mir gefällt oder für meine Zwecke tauglich ist; und schlechthin, was Menschen gefällt oder für menschliche Zwecke tauglich ist. In bezug auf diesen Sinn folgt nichts weiter, als sich daraus ergibt, daß unter anderem auch das Kräftige oder Tüchtige Menschen gefällt und für menschliche Zwecke tauglich ist. Aber auch nur unter anderem; es folgt in keiner Weise, daß die Natur nach allen Seiten hin für menschliche Zwecke und menschliches Gefallen vorgesorgt habe. Die Zweckmäßigkeit in der organischen Natur kennen zu lernen, bedurfte keiner Entwicklungstheorie und Lehre von natürlicher Zuchtwahl; diese haben vielmehr jene zur Voraussetzung und wollen sie erklären, wollen aber nebenher auch das Beharren und Überleben vieler Unzweckmäßigkeiten erklären: die Dysteleologie der rudimentären Organe. Wird die Zweckmäßigkeit in der alten Weise durch den schöpferischen Willen Gottes erklärt, so könnte ebensowohl, wie es hier geschieht, gefolgert werden: „der Herr hat alles wohl gemacht, wir müssen alle Zustände billigen und die Hände in den Schoß legen." Psychologisch liegt eine

12 „dann ist ... überflüssig.":

Beide Zitate bei Hesse 1 9 0 4 : 65. In A steht „somit" jeweils

zwischen Asterisken, bei Hesse steht es ohne Anführungszeichen. 28 bedurfte:

In A: bedurfte es.

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solche Folgerung viel näher, und der politische Quietismus ist einem extremen Konservatismus innerlich verwandter, als daß er, wie Hesse meint, zu einem extremen Liberalismus führt; in der Tat behauptet ja regelmäßig der Konservatismus z. B. die monarchische Staatsform oder auch die Gesellschaftsordnung als „gottgewollt" und deshalb unabänderlich; in demselben Sinne ist bekanntlich insbesondere die »Heiligkeit« des Eigentums, des Erbrechts usw., immer behauptet worden. Die Maxime, die aus dem System Quesnays abgeleitet wurde, hätte ganz wohl auch so begründet werden können; tatsächlich wurde sie nur rationalistisch begründet. Gleichwie nun aber auch politische Revolutionäre, wie etwa die Puritaner, sich auf göttlichen Willen und Offenbarung berufen, so können auch die extremen Gegner des laissez-faire-Prinzips, also die Kommunisten, sich biologisch oder theologisch, wie es verlangt wird, rechtfertigen - nur die biologische Argumentation interessiert uns hier. Sie werden sagen: die gegenwärtige Eigentumsordnung ist allerdings ein Produkt natürlicher Auslese und zugleich der Vererbung und Anpassung; aber auch unser Wollen und unsere Lehre ist es, die jener den Krieg erklärt; im Laufe einiger Jahrhunderte wird unsere neue kommunistische Eigentumsordnung die gegenwärtige ausgerottet und verdrängt haben, wie eine Moosart im Walde die andere verdrängt und überwuchert. Wenn wir die Hände in den Schoß legen, so wird freilich nichts geschehen; aber die Gesetzmäßigkeit der Natur sorgt dafür, daß wir eben nicht die Hände in den Schoß legen. Der Wille zum Leben, der Hunger und der Trieb zur Fortpflanzung ist in uns wie in allen Organismen wirksam; dazu die besonderen Kräfte des Menschen, die diesen Trieben helfen; wir kämpfen in bewußter Weise um unsere Existenz, eben darum auch um unsere Theorien und um die Institutionen, die uns dienen sollen: deren zukünftiges Dasein ist entwicklungsgeschichtlich ebenso begründet, wie das gegenwärtige Dasein der bestehenden Gesellschaftsordnung. Und dergleichen. - Kein Argument für oder 2 Hesse: In A: Herr Hesse 3 extremen

Liberalismus:

Vgl. Hesse 1 9 0 4 : 65.

12 Gegner: In A gesperrt gedruckt. 29 Kein Argument...:

Vor diesem Satz steht in A: Die Richtigkeit dieser oder einer entgegen-

gesetzten Schlußreihe zu prüfen, darauf war die Preisaufgabe (wie früher gezeigt) zum Teil angelegt und zwar mit deutlicher Anweisung auf das bessere Recht jener entgegengesetzten Folgerungen zugunsten der kapitalistischen Gesellschaft (so weit denn diese mit einem Systeme der freien Konkurrenz sich deckt). Ich behaupte nicht, daß über solchen Streit nach den Prinzipien der Deszendenztheorie entschieden werden könne. Wenn diese für den Menschen und also für das soziale Leben des Menschen gelten, so folgt daraus nicht, daß irgendwelche Folgerungen dieser Art daraus gewonnen werden können.

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wider freie Konkurrenz, für oder wider Kartelle und Trusts, für oder wider Staatsbetriebe und Monopole, für oder wider Kapitalismus oder Sozialismus, liegt in den Prinzipien der Deszendenztheorie wie in einem Wunschsacke verborgen - von ihrer Anwendung ist weder etwas Erhebliches zu befürchten noch zu erhoffen, wie sehr sich Parteigänger auf der einen oder der anderen Seite darum bemühen mögen; diese Bemühungen haben eine starke Färbung von Lächerlichkeit an sich, wie sie allem niggerhaften Aufputz mit Scheinargumenten anhaftet, sie bezeichnen ein niedriges Niveau des wissenschaftlichen Denkens. Etwas anders steht die Sache, wenn man von allen Maximen praktischer Politik absieht und lediglich aus der Geltung der Prinzipien der Deszendenztheorie eine Prognose für die Zukunft herleiten will. Zunächst scheint es sich aufzudrängen, daß der weiße Mensch (mit seinem Kulturapparat) die Erde allmählich ganz erobern wird - aber kaum können wir es aussprechen, ohne daß gerade die gegenwärtigen Zeitläufte uns die Ebenbürtigkeit der gelben Rasse in Erinnerung bringen. Werden die beiden zusammen siegen? Werden sie dann friedlich nebeneinander leben? Werden sie sich fruchtbar vermischen? Wird die weiß-gelbe Mischrasse schließlich zur herrschenden werden? Oder werden sie einander auf Tod und Leben durch Jahrtausende bekämpfen, bis eine von ihnen - welche? - siegreich bleibt? Kommen ferner die Schwarzen gar nicht in Betracht? Haben die Schwarzen in Nordamerika keine Zukunft als Rasse? Pflanzen sie nicht sich stärker fort als die Yankees? Wird nicht verbesserte Hygiene der Städte ihre Sterblichkeit verringern, während zugleich ihre Naturwüchsigkeit und Sorglosigkeit das Bestehen einer hohen Geburtsrate sichert? - Diese Fragen und viele, die sich daran knüpfen, sind in der Tat reelle und überaus wichtige Probleme; es sind die biologischen Probleme des Menschenwesens, die als solche geradezu angewiesen sind auf die „Prinzipien der Deszendenztheorie", nach denen sie gleichsam Hilfe suchend sich umschauen: Was könnt ihr uns bieten, damit wir zu größerer Klarheit gelangen? Liegt in euch der Schlüssel für unsere Rätsel? Ist die Gesetzlichkeit der bisherigen organischen Entwicklung, namentlich etwa die der Primaten, so aufgehellt, daß sich der fernere Gang daraus mit leidlicher Sicherheit mutmaßen läßt? - Oder versagt ihr kläglich und laßt uns im Stich? - Wenn mehreren Autoren für ihre sachlichen Untersuchungen über die Gefahr der Entartung einer gesunden und geistig begabten Menschenrasse so wenig wie für praktische Vorschläge zu deren Hem-

3 liegt in den Prinzipien

der Deszendenztheorie:

In A stattdessen: liegt in jenen Prinzipien.

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mung die Deszendenztheorie erhebliche Dienste leisten konnte, so lag das nicht daran, daß deren Prinzipien nicht »anwendbar« sind auf das soziale Leben, sofern dieses biologisch betrachtet wird, sondern daran, daß sie viel zu allgemein für diese höchst komplizierten Erscheinungen sind, und daran, daß wir über die bisherige Entwicklung des Menschengeschlechtes, namentlich über die Phasen des Rückschrittes und Vergehens von Kulturen viel zu wenig wissen, um daraus mit einiger Sicherheit ableiten zu können, wiefern etwa gerade die Entartung von Völkern integrierendes Element der Gesamtentwicklung sein möchte, also gleichsam im Plane der Natur vorgezeichnet sei, die ja fortwährend auch hochentwickelte Arten und Varietäten untergehen laßt, teils um höher entwickelte, teils aber auch, um minder hoch entwickelte leben und sich ausbreiten zu lassen. Wenn man nun zu erkennen glaubt, daß die Gefahr der Entartung des eigenen Volkes vorhanden sei, so liegen gewiß außerhalb aller Entwicklungs- und Deszendenztheorie Motive genug, dieser Gefahr zu wehren; und auch den Glauben, daß dies mit Erfolg geschehen könne, wird man diesen Theorien nicht entlehnen, auch die etwanigen Mittel und Wege braucht man von ihnen nicht zu »lernen«; man findet auch innerhalb ihrer nicht einmal die Motive zu solchen Versuchen, da es, wie gesagt, keineswegs unwahrscheinlich ist, daß man mit ihnen dem Plane und (noch anthropomorphischer zu reden) den Absichten der Natur entgegenarbeitet; wo denn freilich wieder mit einiger Zuversicht sich voraussagen läßt, daß die Natur solcher Versuche spotten werde, wie das Meer der Kinderfestungen im Sande, und daß menschliche Kunst so wenig dem Tode der Völker, wie dem der Individuen auf die Dauer begegnen kann. Die Prinzipien der Deszendenztheorie - so war der Gedankengang Hesses - sind nicht Gesetze des sozialen Lebens, die sozialen Erscheinungen können überhaupt nicht unter Naturgesetze gefaßt werden. Aber - so geht nun der Gedanke weiter - die Gesetze der Naturwissenschaft sind gleichwohl für das soziale Leben von Bedeutung; insofern einmal dessen konkrete Ausgestaltung von den äußeren Naturbedingungen abhängt, vor i Wenn mehreren ... Dienste leisten konnte: In A lautet diese Passage: Von diesen, ich wiederhole es, reellen Problemen, mit denen die Biologie hoch in die Soziologie hineinragt, weiß die Preisaufgabe nichts; wenn aber sowohl Schallmayer als Woltmann ihre Argumentation auf die Gefahr der „Entartung" einer gesunden und geistig begabten Menschenrassse zugespitzt haben, so zeigt dies, daß sie zwar nicht den Weisungen der Preisaufgabe, aber den wirklichen Problemen nachgegangen sind. Wenn ihnen gleichwohl für ihre sachlichen Untersuchungen so wenig wie für praktische Vorschläge die Deszendenztheorie erhebliche Dienste leisten konnte ...

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allem aber der Mensch selbst ein Teil der organischen Welt ist und nach ihren Gesetzen die Kreise seines Daseins vollendet. Wenn also die Prinzipien der Deszendenztheorie die Geltung von Naturgesetzen, welche sie in Anspruch nehmen, wirklich hätten, so käme ihnen eine große Bedeutung für das soziale Leben zu. Denn die natürliche Veranlagung des Menschen kommt für die Erkenntnis der Phänomene innerpolitischer Entwicklung in Betracht, insofern als diese in menschlichen Handlungen und deren Ergebnissen sich darstellen, und durch die geistige und körperliche Konstitution des Menschen bestimmt werden. Der Mensch, das Subjekt des sozialen Lebens untersteht den Prinzipien der Deszendenztheorie. Gleichwohl sind diese Prinzipien nicht als soziale Gesetze anzuerkennen. Denn die Abhängigkeit menschlichen Handelns von der natürlichen Anlage und deren Gesetzen ist „in naturwissenschaftlicher Exaktheit" überhaupt nicht erkannt, mithin auch der notwendige Zusammenhang zwischen sozialem Zusammenwirken und dessen organischen Grundlagen nicht. Aber auch für die Beurteilung der sozialen Ordnung kommt die natürliche Begabung in Betracht, weil sie maßgebend ist für die Stellung, die dem einzelnen in der Gesellschaft zukommt. Und die Gesetzgebung hat die Bedingungen organischer Entwicklung auch deshalb zu berücksichtigen, weil nur in der körperlichen und geistigen Kraft des Volkes ein Staat fest fundiert ist, und dieser die Aufgabe hat, die Wohlfahrt der Bürger zu fördern. - Indem nun aber der Autor auf die einzelnen Prinzipien eingeht, findet er, daß sie die supponierte Geltung von Naturgesetzen gar nicht haben. Eine Regelmäßigkeit der Vererbung rein individueller Eigentümlichkeiten lasse sich weder allgemein erkennen, noch besitzen wir die Einsicht in die Notwendigkeit solches Geschehens; und das gleiche gelte für die Erscheinungen der Variation und des Kampfes ums Dasein. Die Vorgänge dieser Art seien auch im einzelnen zum weitaus größten Teil noch nicht genügend erkannt, um Nutzanwendungen auf die innerpolitische Entwicklung zu gestatten und die Grundlage für ein Eingreifen der Gesetzgebung zu bieten. Die Naturwissenschaft müsse in der Erkenntnis dieser natürlichen Verhältnisse weiter vorgedrungen sein, bevor die Sozialwissenschaft für die Lösung ihrer Probleme die Ergebnisse verwerten könne. Diese Ansicht über die einzelnen Prinzipien wird im „Zweiten Buche" der Schrift eingehend begründet. Hier wird in vier Kapiteln über die natürliche Grundlage, über die Tatsachen, die Gesetzmäßigkeit, die Bedeutung der Vererbung eingehend gehandelt; sodann in zwei Kapiteln über die natürlichen Tatsachen und die soziale Bedeutung der Variation, in einem dritten Abschnitt über Vererbung von Variationen. Sodann wird in einem

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„Zweiten Teile" (dieses zweiten Buches) die natürliche Zuchtwahl betrachtet und zwar zuerst (erster Abschnitt) in bezug auf die organische Welt, im zweiten Abschnitt in bezug auf das soziale Leben. Gegen die scharfe Kritik, die hier gegen unkritische Verallgemeinerungen, oberflächlich-hastige Anwendungen und Übertragungen gerichtet wird, habe ich sehr wenig einzuwenden und anerkenne den Scharfsinn wie die Sorgfalt, womit es geschieht. Aber die Voraussetzung? Welchen Sinn hat es, die isolierten »Prinzipien« der Deszendenztheorie zu untersuchen, wenn die Anerkennung dieser Prinzipien mit Anerkennung und Anwendung der Deszendenztheorie selber gar nichts zu tun hat? Der Verfasser ist sich des Unterschiedes wohl bewußt; er meint, diese Prinzipien „können durchaus zutreffend sein, auch wenn sie, in verfehlter Kombination verbunden, eine unrichtige Theorie darstellen oder ein lückenhaftes System bilden sollten" (S. 10). Dennoch lassen seine weiteren Ausführungen an mehr als einer Stelle es unklar - wenn sie auf den Geltungsanspruch »der Prinzipien« sich erstrecken - , ob die isolierten einzelnen Prinzipien gemeint sind oder die Deszendenztheorie, d. h. das Ensemble ihrer Prinzipien, wie es selbstverständlicherweise die Preisaufgabe gemeint hatte. Diese denkt nur an das Zusammenwirken von Vererbung und Anpassung; sie ist ganz im Sinne Häckels zu verstehen, der die Deszendenztheorie oder den Transformismus immer vom Darwinismus unterschieden hat und sogar (im Jahre 1876) darüber klagte, daß sie immer miteinander verwechselt würden („Freie Wissenschaft und freie Lehre", S. 91). Das isolierte Prinzip der »Vererbung« ist in keiner Weise mehr charakteristisch für den Transformismus; es ist im Gegenteil, wie ich von neuem betonen muß, ein Schwierigkeiten erhaltendes Prinzip; ja es ist bekanntlich eine der größten für die Abstammungslehre, daß bei freier Kreuzung auch angeborene Variationen immer wieder ausgelöscht werden, daß der Regreß „towards mediocrity" stattfindet, und die Artcharaktere als die allgemeinen immer wieder sich durchsetzen. Aber wir haben früher gesehen, daß ein Naturforscher sogar die Sache unglaublicherweise so darstellt, als sei die Vererbung erst durch die Erfinder der Deszendenztheorie festgestellt oder entdeckt worden! Und dieser Auffassung steht Hesse allem Anschein nach nicht fern, wenigstens geht seine allgemeine Darstellung der Bedeutung, die den Prinzipien der Deszendenztheorie „für die Gestaltung des sozialen

23 „Freie Wissenschaft und freie Lehre": Diese Aussage findet sich nicht am angegebenen Ort (Haeckel 1 8 7 8 : 91). 31 daß ein Naturforscher:

In A: daß

Ziegler.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

L e b e n s " z u k o m m e (S. 69 ff.) dahin, das Prinzip der Vererbung wolle „die Bedingungen der natürlichen Veranlagung des Menschen a u f w e i s e n " , und „die Beachtung der natürlichen A u s s t a t t u n g " sei deshalb nötig, weil die Veranlagung der Individuen nicht gleich sei. „Während »die alte Schule unserer Wissenschaft« eine natürliche Gleichheit der Menschen annahm, diese allgemeine Menschennatur in einer Abstraktion zu konstruieren und aus ihr die gesellschaftlichen Erscheinungen zu erklären suchte, geht »die neue Richtung« aus von einer Verschiedenheit der einzelnen Rassen, Völker und Individuen" (S. 71). Die alte Schule „unserer Wissenschaft" soll offenbar „ d a s N a t u r r e c h t " sein. Der letzte große und einflußreiche Vertreter des Naturrechts ist Kant gewesen. K a n t hat gleichzeitig besonders eingehende Studien über die Verschiedenheit der menschlichen Rassen, versteht sich die erbliche Verschiedenheit, gemacht. Es wäre gut, wenn alle modernen Philosophen von diesen Tatsachen ebenso genaue Kenntnis hätten wie dieser Meister der alten Schule 4 . Hesse behauptet ja freilich 4

Gewiß gibt es keinen so typischen Vertreter der alten Schule in dem hier gemeinten Sinne, mit ihrer Gleichheitslehre, wie J . J. Rousseau.

N u n beginnt der zweite Absatz seines

Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes mit den Worten: J e conçois dans l'espèce humaine deux sortes d'inégalité: l'une que j'appelle naturelle ou physique, parce qu'elle est établie par la nature et qui consiste dans la différence des âges, de la santé, des forces du corps, et des qualités de l'esprit ou de l'âme. ... Er hat nicht einmal die Tendenz, die Bedeutung

dieser Unterschiede zu verkleinern, die sich sonst

allerdings nicht selten findet und bis zur Paradoxie ihrer Leugnung durch Helvetius

führt,

der aber damit so gut wie allein steht, und dies ist beinahe selbstverständlich. Denn auch

Helvetius will im Grunde nur seine These erhärten, daß alle geistige Tätigkeit durch die sinnliche, und daß diese durch die Energie der Aufmerksamkeit wesentlich bedingt sei, die Aufmerksamkeit aber durch Interesse und Leidenschaft, deren Erregung ganz von den Umständen, nämlich von Gesetzen, Institutionen und ganz besonders von der Erziehung abhängig sei. Seine Theorien werden durch praktische Tendenzen bestimmt. 2 „die Bedingungen

... aufweisen":

Bei Hesse ( 1 9 0 4 : 71) heißt es: „ D a s Prinzip der Verer-

bung will die Bedingungen der natürlichen Veranlagung des Menschen nachweisen . . . " . 3 „die Beachtung

der ... Ausstattung"-.

Bei Hesse (ebd.) leicht abweichend: „Ein weiterer

Gesichtspunkt, der die Berücksichtigung der natürlichen Ausstattung der Individuen erforderlich macht, ist der: die N a t u r des Menschen ist nicht unveränderlich feststehend.".

9 „Während ... Völker und Individuen": D a s Zitat findet sich ebd. (S. 70); die Buchdruckanführungszeichen innerhalb des Zitats ersetzen Asterisken in A, sie finden sich bei Hesse nicht. 2i Je conçois ... de l'âme: Vgl. R o u s s e a u 1 7 9 3 : 51. - „Ich nehme zwo Arten von Ungleichheit unter den Menschen an. Eine nenne ich die natürliche,

oder physische Ungleichheit, weil

sie von der N a t u r eingeführt worden ist. Sie besteht in der Verschiedenheit des Alters, der Gesundheit, der körperlichen Stärke, und der Seelenkräfte." (Rousseau 1 7 5 6 : 4 3 f.). Im Original steht der Satzfehler „inégalité".

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nicht mit ausdrücklichen Worten, daß man erst durch die Deszendenztheorie auf die Eigenschaften der Rassen und Völker aufmerksam geworden sei. Jedenfalls aber will auch er gerade die Vererbung zugunsten der natürlichen Unterschiede der Menschen ins Gefecht führen. Es braucht kaum ausgesprochen zu werden, daß sie mindestens mit ebenso großem Rechte zugunsten der Gleichheit geltend gemacht werden kann. Alle Menschen erben die gleiche menschliche Struktur, einschließlich der Struktur der Großhirnrinde, also auch die gleiche psychische Beschaffenheit, die „menschliche Natur" (versteht sich, daß von Abnormitäten und Mißbildungen bei anatomisch-physiologischer Betrachtung abgesehen wird). Außerdem erbt der Mensch auch die besonderen Merkmale seiner Rasse, seines Volksstammes usw., sofern er von ungemischter Abstammung ist, während er jene allgemeinen Qualitäten jedenfalls erbt, und die Einheit der menschlichen Art bewährt sich eben bekanntlich darin, daß ihre Rassen und vollends alle Unterrassen sich fruchtbar miteinander vermischen können, daß auch alle Mischlinge wieder fortpflanzungsfähig sind, daß also durch Kreuzungen immer neue Varietäten entstehen können, die an der gleichen menschlichen Struktur und psychischen Beschaffenheit Anteil haben. Wie der Adelsstolz schon dadurch gedemütigt wird, daß man auf die gleiche Abstammung - nämlich Herkunft etwa vom niedersächsischen Stamme - des Fürsten mit dem Schneidergesellen hinweist; so wird der Rassenstolz durch die Tatsache gedämpft, daß die höchsten Rassen mit den niederen gleicher Abstammung sind (was ungenauerweise so ausgedrückt zu werden pflegt, daß sie von ihnen abstammen); und endlich wird, gerade durch die Deszendenztheorie - denn alles frühere haben wir nicht von ihr »gelernt« - der Menschenstolz auf die härteste Probe gestellt, wenn man ihm einzuräumen zumutet, daß der Mensch mit seiner scheußlichen Karikatur, dem Affen, gleicher Abstammung ist (was wiederum ungenauen Ausdruck findet, denn es besteht ja keine Notwendigkeit, die gemeinsame Stammesart auch »Affen« zu nennenl). Versteht sich nun, daß ebenso wie der Mensch als solcher, auch die Rasse und zuletzt das Individuum sich auf Vererbung berufen kann, daß es m. a. W. ebensowohl spezielle als allgemeine Vererbungen gibt; auch können wir schwerlich irgendwelche »Anlagen« anders erklären als durch Vererbung, außer sofern (wie früher bedeutet) schon die intrauterinen Lebensbedingungen mitwirken, überhaupt aber die Lebensbedingungen, die auf Anlagen gewirkt haben, ehe sie unter unsere Beobachtung fallen. Je mehr wir aber in diesem Sinne die natürliche Ausstattung in ihrer speziellen Beschaffenheit beachten, desto weniger kommt dabei die Deszendenztheorie in Frage:

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nämlich tatsächlich gar nicht, sobald wir uns innerhalb des Menschentums halten; denn daß der Mensch vom Menschen abstammt, haben wir doch nicht etwa von den Prinzipien der Deszendenztheorie »gelernt«? - Ich behaupte also, daß diese ganze Erörterung, wie sie bei Hesse vorgelegt wird, gegenstandslos ist. Dies gilt ebenso von dem Abschnitt über Variation; denn auch hier handelt es sich um Tatsachen, die ganz unabhängig von Wahrheit oder Irrtum der Deszendenztheorie dastehen, die längst vor ihr bekannt gewesen und beachtet worden sind, die wir nicht von ihr zu lernen haben, sondern von denen eben sie gelernt hat, um darauf ihre Hypothesen - zumal in der anfänglichen Lamarcksehen Gestalt, wo eben die Anpassung schlechthin das Prinzip der Umbildung bedeutete - aufzubauen. Wenn also für einen Satz wie: „Auch die Körperform des Menschen, z. B. der Grad der Fettablagerung ist verschieden nach der Nahrung"' (S. 136), Häckels Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 2 2 1 , zitiert wird, so macht das mehr einen komischen als einen anderen Eindruck. In dem Kapitel über die „soziale Bedeutung" (der Variation) wird 1. von bewußtem Eingreifen, um das Individuum zur Erfüllung seiner sozialen Aufgaben geeigneter zu machen, gesprochen, aber sogleich zugestanden, die Grundeigenschaft der Variabilität vermöge uns nur zu zeigen, daß wir die Individuen beeinflussen können, dann werden 2. Variationen als unbeabsichtigte Folgen sozialen Zusammenwirkens behandelt, und zwar vorzugsweise die Einflüsse unseres Wirtschaftslebens auf die Konstitution. Da wird denn der Unterschied von Stadt und Land in bezug auf Wehrfähigkeit und Sterblichkeit (S. 1 4 4 - 1 5 0 ) erörtert. Schon der alte / . P. Süßmilch widmete das dritte Kapitel seines berühmten Werkes „einigen Ursachen von der größeren Sterblichkeit in Städten". Die „zwote Ursache", meint er, liege in den „verderbteren Sitten und in der Vergiftung durch die Venusseuche". „Wenn aber auch das nicht geschieht: wie viele junge Leute werden nicht durch die öffentlichen Gelegenheiten zum Sündigen verführet und an Kräften vor der Zeit erschöpfet? Kann das wol starke und dauerhafte Kinder geben? Es ist ein Gesetz der Natur: Fortes creantur fortibus et bonis 5 ." Der wackere Propst ahnte nichts von der Deszendenztheorie, 5

Die göttliche Ordnung. Erster Teil. Dritte Ausgabe. S. 1 0 5 .

14 Natürliche

Schöpfungsgeschichte:

Bei Haeckel ( 1 8 9 8 ) heißt es: „Die Körperform des M e n -

schen selbst, der Grad der Fettablagerung z. B., ist ganz verschieden nach der N a h r u n g . " 20 beeinflussen 28 „zwote

können:

Ursache

Vgl. Hesse 1 9 0 4 : 1 4 3 .

... Venusseuche":

Vgl. Süßmilch 1 7 6 5 : 1 0 2 - 1 1 7 , hier: 1 0 2 .

32 Fortes creantur fortibus et bonis: [lat.] svw. Die Starken werden von den Starken und Guten geschaffen.

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oder wenn er davon gehört hatte, so gewiß mit Abscheu. - Auf den wirklichen Boden dieser Theorie werden wir bei Hesse erst zurückgeführt durch den zweiten Teil (seines zweiten Buches), der in zwei großen Abschnitten von der natürlichen Zuchtwahl handelt. Eine Erklärung der menschlichen sozialen Entwicklung nach Lamarcksehen Prinzipien wird nicht versucht, und nur insoweit geprüft, daß der Schluß gezogen wird, eine Vererbung erworbener Eigenschaften könne man jedenfalls nur in so geringem Umfange annehmen, daß den nachteiligen Einwirkungen sozialen Lebens auf die Konstitution nur eine untergeordnete Bedeutung für die Entwicklung des Volkes zuzusprechen sei (S. 156). Aber auch die eingehende Prüfung der Selektionstheorie und ihrer Hilfstheorien führt zu negativen Ergebnissen. Jene vermöge die Entwicklung menschlichen Geistes zu dem vollen Reichtum seiner Fähigkeiten nicht zu erklären (S. 168); der Wert von Weismanns Lehre der Germinalselektion für die Selektionstheorie müsse bezweifelt und damit erst recht ihr irgendwelche Bedeutung für die soziale Entwicklung abgesprochen werden (S. 170). Ebenso wird dann die einfache Übertragung der natürlichen Zuchtwahl auf das soziale Leben als unzulässig bezeichnet: hier wird wieder eingewandt, daß wir Naturgesetze menschlichen Handelns nicht behaupten können; der soziale Wettbewerb sei kein soziales Gesetz, insbesondere gebe es keinen notwendigen Gang der Bevölkerungsvermehrung, der Mensch könne ihn durch sein Eingreifen verändern. Ferner sei der innerpolitische Wettbewerb der Menschen nicht nur durch Instinkte, sondern auch durch äußere Normen eingeschränkt; in Form der „freien Konkurrenz" sei zwar der soziale Wettbewerb dem tierischen Intraspezialkampf am ähnlichsten, aber auch sie setze Rechtssatzungen voraus, Privateigentum usw. Ob sie materiell die Merkmale des Darwinschen Kampfes ums Dasein habe? Dies wird eingehend geprüft an den Voraussetzungen beider, ihren bestimmenden Faktoren und ihren Wirkungen. Das Ergebnis ist (S. 199), daß das Moment der äußeren Regelung auch in dieser Hinsicht das soziale Leben heraushebe; mit anderen Mitteln und um andere Gegenstände werde der Wettbewerb geführt; der freie Wettbewerb führe nicht immer zu einer Auslese des Tüchtigsten, des intellektuell Höchststehenden. (Der subtile Unterschied, den Hesse auch hier macht zwischen der Untersuchung quoad formalia und derjenigen quoad materialia, wird nicht von jedem Leser verstanden

14 Germinalselektion-. Vgl. Weismann 1 8 9 6 . 26 Privateigentum

usw. Vgl. Hesse 1 9 0 4 : 171 f.

33 subtile Unterschied:

Vgl. ebd.: 199.

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werden. Gemeint ist, daß ad 1, schon dem Begriffe nach die freie Konkurrenz nicht die natürliche, also allein natürliche Form des Kampfes ums Dasein wäre, sondern nur eine Form, die bestimmte Rechtssatzungen und Konventionalregeln voraussetze; aber ad 2, wenn sie gleichwohl mit der Konkurrenz zwischen Artgenossen verglichen werde, so sei sie dieser mehr unähnlich als ähnlich. Die Unterscheidung ist logisch nicht unanfechtbar.) Es ist bekannt, und wird auch in der vorliegenden Erörterung vorangestellt, daß Darwin durch Malthus' Betrachtungen über die menschliche Vermehrung und den Spielraum der Nahrungsmittel zu seiner Lehre vom Kampfe ums Dasein angeregt worden ist. Sicherlich war das nicht eben ein glücklicher Zufall. Denn wenn eine allgemeine Erscheinung gegeben ist, so wird man sie nicht am vorteilhaftesten dort studieren, wo sie unter den kompliziertesten, sondern wo sie unter den einfachsten Bedingungen auftritt. Tatsächlich handelt es sich um die allgemeine Erscheinung, daß die organischen Wesen einen unermeßlichen Überfluß von Keimen und Früchten hervorbringen, von denen nur ein sehr kleiner Teil die günstigen Lebensbedingungen findet, die dazu notwendig sind, damit ein vollständiges, und gar ein wiederum sich fortpflanzendes, neues Exemplar derselben Art entstehe. Diese allgemeine Erscheinung war auch vor Darwin bekannt; nach ihm, und unter dem Einfluß seiner Lehre hat man die verschiedenen Weisen der Selektion unterschieden, worüber Hesse nach Plate (der dem Engländer Morgan folgt), Haacke u. a. eine dankenswerte Übersicht gibt. Darwin hat ausschließlich den besonderen Fall der Analogie zur eigentlichen Züchtung im Auge: nämlich solcher, die im Ringen ums Leben nützlich sind. Nun hätte Darwin mehr Gewicht darauf legen sollen, daß gerade die starke Vermehrungsfähigkeit (nebst Dauerfähigkeit der Keime und allem, was ihr zu Hilfe kommt) immer eine außerordentlich wirksame Waffe in diesem Wettkampf gewesen sein, und daß die relative Überlegenheit in dieser Hinsicht immer einen sehr bedeutenden Faktor gerade für die Konkurrenz zwischen nächstverwandten Arten und Varietäten ausmachen muß. Je stärker die Vermehrung, desto größer die Chancen der Erhaltung und ferneren Fortpflanzung, unter sonst gleichen Umständen. Und dieser Faktor wird im allgemeinen immer den unteren, weniger differenzierten Klassen des Tierreichs wie des Pflanzenreichs am meisten zugute gekommen sein; denn im großen und ganzen besteht, worauf Herbert Spencer mit

8 vorangestellt: Vgl. Hesse, ebd.: 157. 22 dankenswerte

Übersicht: Vgl. ebd.: 162.

25 hätte Darwin ... sollen: In A: hätte Darwin nicht verkennen sollen ...

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Recht soviel Gewicht gelegt hat, ein umgekehrtes Verhältnis zwischen Stärke der Vermehrung und Höhegrad der Organisation. Dem unermeßlichen »Nutzen« jener steht immer der ebenso unermeßliche Nutzen dieser gegenüber, die teils in Umfang und Dauerfähigkeit, teils, und bei den Tieren vorzugsweise, in der Ausbildung der Sinne und Intelligenz besteht. Dieser Gegensatz reproduziert sich in einigem, wenn auch stark modifiziertem Maße auch unter den Menschen, in weit überwiegender Weise wird jedoch hier - was aber auch in der gesamten Fauna und Flora vorgebildet erscheint - das Prinzip des Kampfes und der Konkurrenz beschränkt und teilweise aufgehoben durch das Prinzip der Genossenschaft und der Hilfe. Der wechselseitigen Hemmung steht die wechselseitige Förderung gegenüber. Insoweit als dies der Fall ist, sind es nicht Individuen, sondern Gruppen von mannigfacher Art und Größe, die in Kampf und Konkurrenz miteinander treten. Ursprünglich, und teilweise immer, entsprechen diese Gruppen biologischen Varietäten, sie stellen (natürliche) Völker, Stämme, ja Rassen dar. Aber in weitem Umfange macht sich die soziale Agglomeration davon unabhängig, indem sie mehr und mehr psychologisch, anstatt direkt biologisch, bedingt wird. Dennoch bleiben ohne Zweifel alle diese Kämpfe zwischen Nationen den Konkurrenzkämpfen von Varietäten wesentlich gleichartig. Wenn man aber die soziale Konkurrenz innerhalb einer Nation betrachtet, sofern sie dazu führt, daß einige Individuen auf Kosten vieler anderer leben und gedeihen, so bedeutet diese unter allen Umständen einen Kräfteverlust und wird im allgemeinen die Tauglichkeit des Ganzen, dem sie gemeinsam angehören, verringern, mithin auch der Ausbreitung und Vermehrung einer Rasse oder eines Stammes entgegen sein. Wenn die Erfahrung dem widerspricht, so ist dies teils dadurch zu erklären, daß durch Wanderung und Kolonisation immer einzelne Teile (denen „der Raum zu eng wird") sich absplittern, dann aber auch selten ihre Varietätmerkmale rein zu erhalten vermögen - obschon gleichzeitig für die Spezialisierung gerade die Isolierung und Inzucht wesentlicher Faktor i s t - ; teils dadurch, daß eben das Prinzip des inneren Kampfes fortwährend durch sozialen Willen gehemmt und beschränkt wird. Sozialer Wille jeder Art ist immer nur eine besondere und ausgebildete Form dessen, was in irgendwelchem Zusammenwollen und Zusammenwirken irgendwelcher Tiere in die Erscheinung tritt. So ist denn die „äußere Regelung", die jener bewirkt, keineswegs - in der allgemeinen Sphäre des Lebens - etwas wesentlich Neues, so wenig als die Vernunft und die Sprache es ist, wodurch das menschliche soziale Leben und Wollen bedingt ist. Wenn Hesse richtig hervorhebt (S. 174), daß dem »Intra-

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

spezialkampf« im Gebiete der Tierwelt natürliche Grenzen entgegenstehen: er sei aufgehoben innerhalb der Familien und eingeschränkt in den Vereinigungen der Horden und Rudeln; so meint er dann, nur ein Wettbewerb der Menschen, der auch nicht anders als durch natürliche Instinkte eingeschränkt wäre, würde „diesen Verhältnissen der organischen Welt am nächsten kommen", und solchen gebe es nicht. Durch diese Scheidelinie zwischen Instinkt und Vernunft - denn darauf kommt es offensichtlich hinaus - wird den Prinzipien der Deszendenz- und der gesamten Entwicklungstheorie der Abschied gegeben; für diesen Standpunkt ist gerade die Frage, worauf der Verfasser die ganz anders gemeinte Preisfrage reduziert hat, ob die „Prinzipien der Deszendenztheorie" eine Bedeutung für die Erkenntnis des sozialen Lebens haben, a priori und prinzipiell verneint; denn von der Bedeutung dieser Prinzipien als einzelner in diesem Sinne zu reden, ist nur Spielerei, und heißt soviel, als die viel angefochtene Deszendenztheorie in ihr Gegenteil umkehren, in die sonst nie bestrittene, und gerade von ihr in Frage gestellte Lehre, daß Art nicht von Art läßt (das »Prinzip« der Vererbung), und die andere, ihrem Wesen nach ebenso gewisse und von der Deszendenztheorie unabhängige Lehre, daß es innerhalb einer Art Varietäten, innerhalb der engsten Untervarietät noch variierende Individuen gibt, daß die Menschen von Natur verschieden sind („Prinzip der Variation"). - In der Tat stellt Hesse an den meisten Stellen die Sache so dar, als ob unter den Tieren nichts als bellum omnium in omnes herrschte, und nur unter den Menschen so etwas wie Schutz der Schwachen vorkäme, den er nun vor „naturwissenschaftlichen Erwägungen" (S. 205) glaubt rechtfertigen zu sollen. Die Meinung, daß eine fessellose freie Konkurrenz im wirtschaftlichen Leben eigentlich das Normale, weil mit dem Kampfe der Organismen um ihr Dasein gleichartige sei, ist wissenschaftlich keiner Erörterung wert, und wird dadurch nicht emporgehoben, daß Häckel u. a., man möchte sagen, in ihrer Unschuld sie verteidigt haben. Konsequent weitergedacht, muß sie vor allem den Landfrieden bekämpfen und anklagen - der ja den Kampf ums Dasein viel radikaler und wirklicher verneint als irgendein Sozialismus oder ein Trustsystem es durch Aufhebung der freien Konkurrenz vermöchte. Ein solcher Gedanke müßte, Rousseau weit übertrumpfend, der doch am Ende eine Überwindung der Kultur durch Kultur wollte, die gesamte Kultur für eine unbedingte Verirrung erklären, weil sie eben den heilsamen, der natürli-

6 „diesen Verhältnissen ... kommen"-. Vgl. Hesse 1904: 174. 23 bellum omnium in omnes: [lat.] svw. Krieg aller gegen alle.

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chen Zuchtwahl günstigen Prozeß endloser Fehde eindämmt; denn wenn auch die großen Kriege gerade durch Kultur bedingt werden, so begünstigen sie doch die Fortpflanzung der Sieger und die Vernichtung des Besiegten nur in mäßigem Umfange; außerdem werden ja gerade die Kriege angeklagt, weil sie „die Besten verschlingen". Hesse meint (S. 205), wo er „die Gefahr der Degeneration" zum anderen Male (früher als erbliche »Entartung«, S. 1 2 7 - 1 3 5 ) erörtert: weil die Angehörigen der unteren Klasse „nicht schon deshalb, weil sie unten geblieben sind, »ohne weiteres dauernd« minderwertige Elemente" seien, so sei „dem Recht, das den wirtschaftlich Schwachen schützt, der Moral, die seit Jahrtausenden die Milde gegen die Armen predigt", aus naturwissenschaftlichen Erwägungen heraus, ein prinzipieller »Vorwurf« nicht zu machen. „Wenn unter den Individuen, die von Recht und Moral unterstützt werden, sich solche befinden, die organisch, besonders intellektuell minderwertig sind", so könne nur deren Schutz - und nicht der Schutz solcher, deren niedrige wirtschaftliche Stellung durch soziale Faktoren bestimmt sei - „unter dem Gesichtspunkt der Rassenentwicklung bekämpft werden" (S. 205). Ich habe früher (in Besprechung der - auch hier angezogenen - Werke Schallmayers und Woltmanns) die Unklarheit und »Zweischneidigkeit« dieser Züchtungs- und Rasselehren hervorgehoben. Der gegenwärtige Autor nimmt, wie ich, eine kritische und skeptische Haltung diesen Lehren gegenüber ein. Aber er macht ihnen Zugeständnisse, an denen ich nicht teilnehmen kann, so sehr auch mir an der allgemeinen Idee gelegen ist, daß man die Vermehrung der in jeder Hinsicht besten Individuen, insbesondere also die Paarung der besten mit den besten, begünstigen, und die entgegengesetzte Fortpflanzung, soweit es möglich ist, verhindern sollte. »Vorwürfe« gegen Recht und Moral haben auch in der Beschränkung, die ihnen Hesse geben will, keinen Sinn. Daß jeder friedlich-soziale Zustand vorzugsweise der großen Menge zugute kommt, die immer eine nicht geringe Zahl von Schwachen jeder Art in sich birgt, liegt auf der Hand. Daß er aber dadurch die natürliche Zuchtwahl mehr schädige, als er anderseits das Überleben eben dieser doch wenigstens möglicherweise besonders tüchtigen »Rasse« befördert, die durch ihn der gegenseitigen Aufreibung 5 „die Besten verschlingen":

Als Zitat nicht nachgewiesen.

9 »ohne weiteres dauernd«:

In A stehen statt der Anführungszeichen Asteriske, bei Hesse

keine Sonderzeichen. 12 »Vorwurf«-. In A: 'Vorwurf*. 18 Ich habe früher. Vgl. hier weiter oben, S. 2 1 8 ff. und 2 4 6 ff. 33 durch: In A gesperrt gedruckt.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

entgegenwirkt, ist in keiner Weise wahrscheinlich gemacht, geschweige denn bewiesen worden. Die Erfahrung spricht weit mehr zugunsten des Gegenteils. Etwas ganz anderes betreffen die Vorwürfe gegen Hygiene und Medizin, die zum Teil spezifisch moderne Formen des „Schutzes der Schwachen" ausgebildet haben; dabei kommen aber nur die körperlich Schwachen in Frage. Offenbar ist es, daß das Interesse der Steigerung wie der Erhaltung guter physischer Qualitäten eine hohe Sterblichkeit, besonders der Kinder, wünschenswert erscheinen läßt; auch die minder gebärtüchtigen Mütter müßte der große Besen rechtzeitig wegfegen, damit sie gebärtüchtigeren Platz machen. Hesse zieht nun gerade die bekannte Besserung der Sterblichkeitsverhältnisse während des letzten halben oder ganzen Jahrhunderts dafür an, daß die Tatsache einer Degeneration nicht nachgewiesen sei (S. 210 ff.); namentlich muß die sehr fragwürdige Statistik der Todesursachen dazu helfen. Wenn in Preußen beobachtet werde, daß im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gleichzeitig die Sterblichkeit an akuten Infektionskrankheiten und an konstitutionellen Krankheiten erheblich abgenommen habe, so sei der Schluß nicht abzuweisen, daß jene die Infektionskrankheiten - keine auslesende Wirkung haben. In Wahrheit sind aus dieser kurzen und keineswegs eindeutigen Erfahrung überhaupt keine Folgerungen zulässig. Die auslesende Wirkung der akuten Infektionskrankheiten, die vorzugsweise das vorgeschrittene (schulpflichtige) Kindesalter befallen, kann überhaupt nicht in Frage kommen, am wenigsten im Vergleich mit einem gleichzeitigen Verlauf der Sterblichkeit in höheren Lebensaltern. Eine massenhafte Sterblichkeit hat jenes Lebensalter überhaupt nicht; es ist von allen Lebensperioden die sterbefesteste. Eine reelle Bedeutung hätte nur die Frage, ob eine wesentliche Verminderung der Kinder-, also hauptsächlich der Säuglingssterblichkeit das Aufwachsen und die Fortpflanzung einer durchschnittlich, ihrer physischen Beschaffenheit nach, geringeren Generation zur Folge hätte, wie man a priori allerdings Grund hat zu erwarten; diese geringe Beschaffenheit könnte möglicherweise - nämlich wenn nicht andere Einflüsse die üble Wirkung ausgleichen - auch in einer erhöhten Sterblichkeit reiferer Altersperioden zutage treten. Aber dies Ergebnis ließe sich an Individuen, die etwa in diesem Jahre vor dem frühen Hinsterben an verdorbener Flaschennahrung gerettet werden, erst nach 30 bis 40 Jahren beobachten, wenn man die üble Wirkung im Auge hat, daß sie infolge ihrer schlechten Konstitution

18 keine auslesende

Wirkung: Vgl. Hesse 1904: 214.

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jung sterben, nachdem sie trotz ihrer schlechten Konstitution Kinder erzeugt haben. Beobachtungen dieser Art anzustellen sind wir jetzt aus dem einfachen Grunde nicht in der Lage, weil eine Verminderung der Säuglingssterblichkeit überhaupt noch kaum in nennenswertem Umfange stattgefunden hat, und soweit sie stattgefunden hat, von sehr neuem Datum ist 6 ; daß Verbesserungen der Hygiene daran einigen Anteil haben, ist zwar wahrscheinlich, aber groß ist dieser Anteil nicht. In der Hauptsache ist die Säuglingssterblichkeit - wie oft nachgewiesen worden - von der allgemeinen Lebenslage abhängig, und daß diese in der breiten Masse wirklich besser geworden ist, hat immerhin nur in sehr schwachem Maße in verminderter Säuglingssterblichkeit seinen Ausdruck gefunden; zumal wenn man erwägt, wie stark die Zufälle des Wetters darauf wirken, daß m. a. W. Schwankungen im Verhältnis zu den Hochsommertemperaturen notwendig und regelmäßig sind. - Jedenfalls sind für die hier verhandelte Frage die uns zu Gebote stehenden Daten der Sterblichkeit ohne jede Relevanz; auch die Rekrutierungsstatistik ist dafür nicht zu gebrauchen. Im Verlauf von 2 bis 3 Generationen sind merkliche Veränderungen noch nicht zu erwarten. Daß mit der Zunahme städtischer Lebensbedingungen und Lebensweisen die physische Durchschnittsqualität sinkt, halte ich gleichwohl aus vielen Gründen für gewiß; ebenso, daß die bloße Verminderung der Säuglings- und übrigen Kindersterblichkeit, wenn nicht gleichzeitig die Lebensbedingungen und Lebensweisen verbessert werden, zur ferneren Verschlechterung dieser Durchschnittsqualität beitragen wird. Daß es ohne totale Umwandlung der sozialen Verfassung - die selber vielleicht ein unlösbares Problem darstellt - möglich sei, den starken Tendenzen, die in der gegenwärtigen auf eine Degeneration - vielleicht mehr noch auf moralische als physische - hinwirken, so entgegenzuarbeiten, daß man sie aufhebe oder gar in ihr Gegenteil verkehre, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Aber Schranken setzen kann man ihnen, verlangsamen kann man den verhängnisvollen Gang der Entwicklung; und da die ganze soziale Hygiene im wesentlichen diesen Effekt haben wird, so muß man es in den Kauf nehmen, daß sie nebenher auch ungünstige Wirkungen im Sinne einer Hemmung des Naturprozesses der Auslese haben kann. Eine niedrige Sterblichkeit ist heute zur wesentlichen Bedingung der Volksvermehrung 6

Übrigens vorzugsweise dem weiblichen Geschlecht zugute gekommen ist, wie die Verminderung der Sterblichkeit überhaupt.

l trotz-. In A gesperrt gedruckt.

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geworden und wird es bei dem stetigen Sinken der Geburtsrate immer mehr; die Sterblichkeit wird aber wiederum zum Wachstum tendieren, auch wenn alle anderen Bedingungen gleichbleiben, durch die bloße Verschiebung der Altersstufen, eben infolge dieses Sinkens der Geburtenrate, indem der Nachwuchs in den am wenigsten sterblichen mittleren Altersklassen nachläßt, und die sterblicheren höheren sich füllen: der französische Typus.

IV. Auch Ruppin7 will besonderes Gewicht auf die Aufhellung des prinzipiellen Verhältnisses zwischen Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft legen. Auch er stellt die Methode der sozialwissenschaftlichen Forschung im Anschluß an Stammler dar. Nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Methode werde die Sozialwissenschaft als selbständige Wissenschaft konstituiert (S. 9). Ich sage dagegen: zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften steht die Psychologie, die, als auf den Menschen bezogene notwendige Voraussetzung aller den sozialen Menschen betreffenden Erkenntnis ist. Die Untersuchung der Sterblichkeit, also auch der Säuglingssterblichkeit (worauf Ruppin exemplifiziert), ist immer Untersuchung von Tatsachen, die an und für sich pure der Natur angehören, biologischer Vorgänge. Der wesentliche Unterschied der Betrachtung ist nicht der, ob die „nach der Ursache fragende Naturwissenschaft" oder eine unter anderem » Gesichtspunkte« verfahrende Sozialwissenschaft sie anstellt, sondern, ob nur nach den unmittelbaren oder auch nach entfernteren Ursachen gefragt wird. Die unmittelbaren Ursachen des Säuglingssterbens sind vorzugsweise allgemeine Lebensschwäche und Darmkrankheiten, also rein physische Tatsachen. Fragt man nach entfernteren Ursachen? Die Darmerkrankungen führen auf eine Art der Ernährung, die für die Säuglinge von Säugetieren nicht »natürlich« ist; sie ist psychologisch bedingt; der Mensch ist vermöge 7

Darwinismus und Sozialwissenschaft. Jena 1903, Gustav Fischer. 7 der französische Typus: Vgl. für einen weiteren Absatz in A den editorischen Bericht, S. 665. 8 IV: In A: VI. 9 Auch Ruppin will besonderes: In A: Auch Ruppin will, wie schon erwähnt wurde, besonderes. - Die Fußnote fehlt in A.

12 Anschluß an Stammler: Gemeint ist Stammler 1896. 23 »Gesichtspunkte«:\ gl. Ruppin 1903:9, dort nicht hervorgehoben; in A: * Gesichtspunkte*.

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seiner Vernunft imstande, die Milch anderer von ihm gezähmter Tiere zu beschaffen und zu bereiten. Aber Milch, in Gefäßen gesammelt, ist der Verderbnis ausgesetzt, zumal im Hochsommer durch die Wärme - hier kommt die Betrachtung auf eine physikalische Ursache zurück, um alsbald wieder psychologisch zu werden, wenn die Ursache ermittelt werden soll, warum Mütter und Vizemütter, wissend oder unwissend, diese schädliche Nahrung den Säuglingen geben. Die psychologischen Tatsachen beruhen zum großen Teil in sozialen Tatsachen. Soziale Tatsachen sind ihrem Wesen nach bedingt durch soziales Wollen, die Individualpsychologie führt auf Sozialpsychologie zurück. So wenig aber der Mediziner oder Biologe, der sich mit der Kindersterblichkeit beschäftigt, sich in einen Chemiker verwandelt, wenn er das Sauerwerden der Milch erörtert, ebensowenig muß er Sozialpsychologe werden, um die sozialen Mißstände der Armut, der Frauenarbeit usw. zu verstehen. Herr Ruppirt meint, das Wesentliche an der hohen Kindersterblichkeit seien für »die« Sozialwissenschaft Verhältnisse, welche für »die« Naturwissenschaft ganz außerhalb der Betrachtung liegen (S. 8). Eine schöne Naturwissenschaft wäre es, die grundsätzlich von psychischen und sozialen Tatsachen absehen wollte, wenn es sich um Erklärung eines für sie wichtigen Phänomenes handelte. Läßt sich etwa die jetzige Gestalt der Erdoberfläche - die doch wohl ein Objekt für den Naturforscher ist - erklären, ohne daß auf die ganze Kulturgeschichte, auf menschliche Schöpfung und Verwüstung, fortwährend Bezug genommen wird? Hört die Untersuchung des Ackerbodens auf, naturwissenschaftlich zu sein, wenn sie die »zweckmäßige Tätigkeit« der Düngung in ihren Gesichtskreis zieht? oder wird die Klassifikation der Rindvieh- und anderen Haustierrassen zur Sozialwissenschaft, weil man weiß, daß es ohne soziales Leben nicht so etwas wie Haustierrassen geben würde? - Die Sozialwissenschaften haben, als ihr gemeinsames und besonderes Objekt, das (menschliche) soziale Leben, und dies ist ein Stück der Natur, die in ihren organischen Gebilden sich zu intelligenten und endlich zu vernunftbegabten Wesen steigert. Die Sterblichkeit, und insbesondere die der Säuglinge, fällt unter ihre Betrachtung als Erscheinung des sozialen Lebens, daher als Begebenheit bestimmter einzelner zusammenlebender Gruppen (Bevölkerungen), die der sozialwissenschaftlich-statistische Forscher in bezug darauf vergleichen wird. Er kann weitgehende Untersuchungen über Koexistenz und Zusammenhänge dieser mit anderen sozialen Phänomen anstellen, ohne sich mit den unmittelbaren Todesursachen 37 Phänomen:

Richtig: Phänomenen.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

zu beschäftigen; kommt er aber auf diese zu sprechen, so weiß er wohl, daß hier das Sterben zunächst als natürliche Tatsache und nicht mehr als Tatsache des sozialen Lebens betrachtet wird. Herr Ruppin bezeichnet ganz richtig den Unterschied, wenn er (in demselben Zusammenhange) sagt: „Der Naturwissenschaftler sieht z. B. in einer Geburt nur einen physiologischen Vorgang; für den Sozialwissenschaftler ist sie das Eintreten eines neuen Gliedes in den engeren oder weiteren Verband von Menschen." Folgt etwa daraus, daß für das Studium des physiologischen Vorganges (unter Menschen) die Mitwirkung der Geburtshilfe und ärztlichen Kunst grundsätzlich „außerhalb der Betrachtung" bleibt? „Das Zweikindersystem", sagt Ruppin, „läßt sich physiologisch betrachten"; aber die „nach der Ursache fragende" Naturwissenschaft vermöge nur eine einzige und letzte Erklärung zu liefern. Das Zweikinder-»System« ist von vornherein ausschließlich Phänomen des sozialen Lebens; wer es als solches betrachtet, sagt schon, daß er die Ursache im menschlichen Wollen findet; auf welche Zwecke dies Wollen ausgeht, ist dabei zunächst gleichgültig; erst die Erforschung der mittelbaren Ursachen hat es mit den Ursachen des Wollens zu tun. Aber nach Stammler und seinen Schülern soll, wie Ruppin es ausdrückt, „in der Sozialwissenschaft die naturwissenschaftliche Frage nach der Ursache keine Anwendung finden können". Man könne „in das Getriebe des gesellschaftlichen Lebens nur dann mit der Leuchte der Wissenschaft hineinkommen, wenn man die teleologische, d. h. die Erscheinungen unter dem Gesichtspunkte von Mittel und Zweck ordnende Betrachtungsweise zu Hilfe nimmt". Also neben der kausalen Betrachtung? Nein - sondern ausdrücklich wird verkündet, daß in der Sozialwissenschaft „die naturwissenschaftliche Frage nach der Ursache keine Anwendung finden" könne. Wenn diese Ansichten Annahme finden, so kann ich mein Urteil nur dahin abgeben, daß sie den Tod des wissenschaftlichen Denkens bedeuten, sofern diesem die Aufgabe gestellt ist, die Zusammenhänge des sozialen Lebens zu erkennen. Versteht sich, daß an diesen Irrtum sogleich andere sich anschließen.

8 „Der Naturwissenschaftler 20 „in der Sozialwissenschaft

sieht ... Verband

von Menschen."-.

Vgl. Ruppin 1903: 8.

... finden können"-. Wie auch das vorstehende Zitat, vgl. ebd.:

9. Der zitierte Satz Ruppins lautet vollständig: „Mit dieser Tatsache, daß die Sozialwissenschaft die Erscheinungen des menschlichen Zusammenlebens lediglich nach der Seite ihrer .äußerlichen Regelung' betrachtet, hängt es zusammen, daß in ihr die naturwissenschaftliche Frage nach der Ursache keine Anwendung findet.". 24 „in das Getriebe

... Hilfe nimmt":

Vgl. ebd.

X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

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„Neben dem Teil der Sozialwissenschaft, der uns zeigt, was ist, steht nun aber der noch wichtigere Teil, der uns Belehrung gibt, was sein soll, und dieser hat mit der Naturwissenschaft gar keine direkten Berührungspunkte, denn in der Naturwissenschaft hat selbstverständlich der Gesichtspunkt des »Soll« keine Stelle. Die Kenntnis von Naturgesetzen gibt uns also in keiner Weise eine Direktive für unsere soziale Tätigkeit, sie zeigt uns keine Ziele, sondern nur ein Sein, nur Tatsachen. »Im sozialen Leben ist dagegen die Hauptsache gerade die, eine Norm für unser Handeln zu finden«." - U n d also in den Sozial Wissenschaften} Wir haben bisher geglaubt, daß wir im günstigsten Falle aus einer philosophischen Ethik sichere Normen für unser Handeln entnehmen könnten, und wissen wohl, daß es auch damit stark hapert, sobald man über sehr allgemeine Lehren hinaus will, die doch auch mehr einen Tatbestand be- als Regeln forschreiben. Im übrigen wissen wir, daß es neben den theoretischen Wissenschaften »praktische« oder technische gibt, in denen gezeigt wird, wie man gewonnene Erkenntnisse für bestimmte Zwecke anwenden »solle«. Pflegt doch sogar die Lehre, wie man etwas machen solle, in besonderem Sinne »die Theorie« genannt zu werden, im Gegensatze zur Praxis, die sich nur auf Übung, Erfahrung und das unmittelbare Wissen stützt, das darin beruht. Bekanntlich verachten die Praktiker in allen Künsten und Tätigkeiten oft »die Theorie«. Ebenso wie eine Theorie des Ackerbaus an die Agrikulturchemie und andere naturwissenschaftliche Disziplinen angeschlossen wird, so sind wir gewohnt, nach der theoretischen die praktische Nationalökonomie darzustellen, und darin zu lehren, wie in das wirtschaftliche Leben, Staat und Gemeinde, Vereine usw. eingreifen sollen, versteht sich, damit es so sehr als möglich zum Wohle eines Ganzen, vorzüglich also der »Nation«, gestaltet werde. Was in der unklaren Auseinandersetzung Ruppins gemeint ist, können wir nur erraten, weil wir die Lehre Stammlers anderweitig also z. B. auch aus Hesse kennen. Danach hätten wir in den Sozialwissenschaften überhaupt nur mit »zu bewirkenden« Effekten zu tun. Ich habe diese Absicht hinlänglich erörtert und halte sie für erledigt. Bei Ruppin tritt sie im weiteren Verlauf zutage, wenn er sagt »die« Sozialwissenschaft sei »diejenige« Wissenschaft, in welcher die menschliche Wohlfahrt den obersten Richtungspunkt bilde; daraus soll folgen, inwiefern Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft, obwohl sie

9 „Neben dem Teil ... zu finden«.":

Vgl. ebd.: 10. - Der letzte Satz des Zitats bei Ruppin

weder hervorgehoben noch in Anführungszeichen; in A steht er in Asterisken. 31 »zu bewirkenden«

Effekten:

Vgl. hierzu Stammler 1 8 9 6 : 3 5 1 ff.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sonst „keine Gemeinsamkeit miteinander haben", doch »ineinandergreifen«; denn „deshalb stehen die im Dienste der menschlichen Wohlfahrt stehenden Naturwissenschaften also auch im Dienste der Sozialwissenschaft" (S. 11). »Die« Sozialwissenschaft wäre also ausschließlich praktisch-technische Wissenschaft. Ruppin will demgemäß dartun, welches die »Ziele« der menschlichen Gesellschaft „sind und sein sollen", „da nur, wenn das Ziel festgestellt ist, eine Erörterung der Anwendung naturwissenschaftlicher, insbesondere darwinistischer Prinzipien »als Mittel zur Erreichung eines Ziels« möglich ist" (S. 12). Die folgenden drei Kapitel handeln über „Tier und Mensch", „Skizze der bisherigen Kulturentwicklung" (auf 15 bis 16 Seiten!) und „die zweckmäßige Ausgestaltung des sozialen Lebens". Der zweite Abschnitt der den Hauptinhalt des Buches bildet, handelt dann ganz folgerichtig über die „Nutzbarmachung der Prinzipien der Deszendenztheorie auf sozialem Gebiete". Es ist beklagt worden, daß den Deutschen der große theoretische Sinn, durch den sie sich ehemals auszeichneten, verlorengegangen sei. Man hat das unbefangene Erkennen der moralischen und politischen Tatsachen und ihrer notwendigen Zusammenhänge dabei im Sinne gehabt. Durch die Stammlersche Schule wird dieser Verlust eine offene Preisgabe. Nur »teleologisch« soll man sich mit der sozialen Wirklichkeit - auch erkennend!! - befassen. Ruppin drückt in etwas anderer Wendung dasselbe aus wie Hesse. Aber die »einzelnen Prinzipien« der Deszendenztheorie sind bei ihm andere. Zwar die Vererbung stellt auch er an die Spitze; aber sie unterscheide sich von den übrigen, da sie »an sich« kein Ziel einschließe, die Gesellschaft könne durch „Benutzung der »Vererbungslehre« nach ihrem Belieben ganz verschiedene Ziele erreichen" (S. 40). Dagegen seien die übrigen, nämlich „natürliche Auslese, Anpassung und geschlechtliche Zuchtwahl" mit ihrem Ziele „untrennbar verknüpft". Welches ist ihr Ziel? „Die Erhaltung der Spezies in möglichst lebenskräftigem Zustande" (das.). Ganz

6 »Ziele«:

In A:

*Ziele*.

10 „da nur, wenn ... möglich

ist"-. Bei Ruppin ( 1 9 0 3 : 12) heißt es: „ . . . als Mittel zur

Erreichung jenes Ziels möglich ist." - Tönnies' Hervorhebung; sie ist in A durch Asterisken gekennzeichnet. 20 »teleologisch«:

So Stammler 1 8 9 6 : 3 4 9 ff.

26 »Vererbungslehre«: 30 „Die Erhaltung

In A: * Vererbungslehre* - bei Ruppin ohne Sonderzeichen.

... lebenskräftigem

Zustande":

Bei Ruppin (1903: 4 0 ) abweichend: „Sie

[Prinzipien der Deszendenztheorie] sind mit ihrem Ziele, der Erhaltung jeder Spezies in möglichst lebenskräftigem Zustande . . . " .

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offen wird also hier die Deszendenztheorie zu einer Theorie der Erhaltung abgeflacht. Aber sie sollte ja die Veränderung, die Umbildung, die Entstehung neuer Arten erklären! Dieselbe Verflachung tritt nun auch bei den einzelnen »Prinzipien« hervor. „Unter natürlicher Auslese verstehen wir in der organischen Welt die Erscheinung, daß im Kampf ums Dasein die tüchtigeren und besser an die Außenwelt angepaßten Individuen am Leben bleiben, während die weniger tüchtigen und angepaßten zugrundegehen" (S. 114). Wenngleich Darwin sein Prinzip nicht hinlänglich vor solcher Auslegung geschützt hat, so hat er selber es sich doch nicht so einfach gedacht. Vor allem denkt er nicht an das bloße Überleben der Individuen, sondern an die besseren Chancen ihrer Vermehrung und Ausbreitung; obgleich er an den vererbbaren Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe, also der Anpassung, festhält, so schließt er von dem Begriffe der natürlichen Auslese diese aus; das Hineintragen der »Angepaßtheit« in diesen Begriff ist irrig; wenn die Anpassungen sich nicht vererben, so sind sie für die Deszendenztheorie gleichgültig, wenn sie sich vererben, so stellen sie ein anderes »Prinzip« dar, als die natürliche Auslese ist. Darwin dachte bei diesem Prinzip nur an angeborene, daher jedenfalls erbliche Merkmale und nicht an eine allgemeine und absolute Tüchtigkeit, sondern an die speziellen und relativen, wenn auch noch so geringen Vorteile, durch deren allmähliche Häufung einzelne Varietäten zu Arten werden, als solche überlegene Dauer und vergrößerte Ausbreitung gewinnend, während ihre nächstverwandten, bis dahin tüchtig genug und sich stark vermehrend, nunmehr - denn die Lebensbedingungen verändern sich fortwährend - im Wettkampfe ums fernere Dasein den kürzeren ziehen. „Die natürliche Zuchtwahl wirkt »nur« durch Erhaltung und Häufung kleiner vererbter Modifikationen, deren jede dem erhaltenen Wesen von Vorteil ist" (Entstehung der Arten, deutsche Ausg. 6 , S. 118). Darwin hat es meines Wissens nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber es konnte ihm nicht entgehen, daß an und für sich im Überleben der »Tüchtigen« und Untergehen der »Untüchtigen« eine Ursache der Abänderung gar nicht enthalten ist, sondern nur die Erhaltung irgendwelcher Gruppe, also auch der - nach der hergebrachten Meinung unveränderlichen - Art ausgesprochen wird. Darum betont Darwin unablässig die individuelle Abänderung, Verschiedenheit, Variation, die er durchaus wie einen glücklichen Zufall betrachtet; darum exemplifiziert er, um die Wirkungen der natürlichen 28 „Die natürliche Zuchtwahl

... Vorteil ist": Vgl. Darwin 1 8 7 6 : 118. Das Wort „nur" ist

in A zwischen Asterisken, bei Darwin ohne Sonderzeichen. 35 Zufall-. In A gesperrt gedruckt.

312

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

„in einer GeZuchtwahl zu erläutern, auf irgendwelche Veränderung gend", die neue Lebensbedingungen herstelle und dadurch z. B. den schnellsten und schlanksten Wölfen einen Vorsprung verschaffe, wenn etwa ihr schnellstes Beutetier sich stark vermehre und gleichzeitig andere, auf die sie angewiesen waren, sich sehr vermindert haben. Allgemeine Tüchtigkeit sagt also gar nichts: neue Umstände erfordern neue Tüchtigkeiten, und diese werden von der Natur prämiiert, das Leben dieser Varietäten, Arten, Gattungen, begünstigt, solange als die für sie förderlichen Bedingungen dauernl Die Prämie aber besteht immer in der Fortpflanzung und Vermehrung, weshalb auch zur Erhaltung der besonderen neuen Merkmale irgendwelche Garantien gegen ihr Erlöschen durch freie Kreuzung (Panmixie) gegeben sein müssen. - In jenem allgemeinen Sinne ist nun ohne Zweifel auch im Menschentum natürliche Auslese wirksam, und zwar unter allen sozialen Bedingungen, die wir kennen. Ein gewisses M a ß von allgemeiner »Tüchtigkeit« oder normaler Beschaffenheit muß der Mensch haben, um zu leben, ein etwas höheres noch, um sich fortzupflanzen, und ein erheblich höheres, um auch in seinen Nachkommen zu dauern, wenngleich wir nicht wissen, wieweit und wie vollständig die Mängel und Gebrechen durch günstige Kreuzungen ausgeglichen werden können. Eine menschliche Eigenschaft aber, die von der Natur fortwährend im Sinne Darwins ausgezeichnet würde, so daß die menschliche Art sich dadurch veränderte, ist nicht bekannt. Man müßte wenigstens von einem fortwährenden Antagonismus solcher Eigenschaften sprechen, nämlich - wie mehrfach bedeutet - der höheren und der niederen, oder (was sich nicht damit deckt) der edleren und der gemeineren. Anstatt einer Untersuchung darüber bietet uns der Verfasser eine Darlegung der Unterschiede zwischen natürlicher und »sozialer« Auslese, die zwar ganz richtige Gesichtspunkte entwickelt, aber recht wenig zur Sache ist. Wenn nun z. B. gezeigt wird (S. 118 ff.), daß schon das Überleben der Säuglinge in allergrößtem Maße von der Vermögenslage der Eltern abhängig sei, so scheint dies zu involvieren, daß, wenn und insoweit als das nicht der Fall ist, die Säuglingssterblichkeit einer natürlichen Zuchtwahl gleichkomme. Dies ist aber ganz und gar nicht der Fall. Ebensowenig würde eine spartanische Kindesaussetzung, wie Verf. meint (S. 123), eine „Beförderung der natürlichen Auslese" sein. Wenn wir einen Klub gründen, in den die Analphabeten nicht aufgenommen werden, so folgt daraus nicht, daß wir oder unsere Nachkommen um so besser werden lesen oder schreiben können. - Noch unwe-

26 Darlegung

der Unterschiede:

Vgl. Ruppin 1903: 115 ff.

X. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

313

sentlicher sind die Auseinandersetzungen über Anpassung (S. 95 bis 114) und über geschlechtliche Zuchtwahl (S. 1 2 5 - 1 3 2 ) . Jene handeln über Erziehung der Jugend (Kap. 15), über Macht der Tradition (Kap. 16), Rationalismus und Historismus (Kap. 17), zweckmäßige Fortbildung des Rechts und der Sitte (Kap. 1 8 ) - l a u t e r bedeutende Themata, über die manches richtig und verständig ausgeführt wird, aber ohne allen Zusammenhang mit der Deszendenztheorie. Wenn diese als völlig unrichtig und sinnlos erkannt wäre, so würde alles Richtige in jenen Bemerkungen nicht das Geringste an seinem Werte einbüßen. Sehr schwach ist auch der Zusammenhang, wo schließlich die „geschlechtliche Zuchtwahl" herhalten muß. Darwin, der auch diesen Begriff eingeführt und vorzugsweise zur Erklärung sekundärer Geschlechtsmerkmale bei Insekten, Vögeln usw., dann aber besonders zur Erklärung der Rassenunterschiede beim Menschen verwendet hat, versteht darunter die Regel, daß unter mehreren Bewerbern um den Besitz des anderen Geschlechts - dabei ist hauptsächlich der Wettbewerb der Männchen um die Weibchen gemeint - diejenigen, die mit irgendwelchen Vorzügen in bezug auf die Begattung oder für den Kampf mit den Nebenbuhlern oder für das Wohlgefallen des anderen Geschlechts, ausgestattet sind, Aussicht auf vermehrte Nachkommenschaft haben, daher auch die Chancen, solche Vorzüge wenigstens auf das gleiche (also in der Regel das männliche) Geschlecht zu vererben. Es ist dies nur eine besondere Art der natürlichen, im Gegensatz zu der vom Menschen geleiteten »Zuchtwahl«. Nun liegt es ja nahe genug, bei diesem Ausdrucke auch an die »Wahl«, die bei den höheren Tieren das Weibchen zwischen mehreren Männchen zugunsten des siegenden Kämpfers trifft, oder auch an die Gattenwahl unter den Menschen zu denken. Darwin selber hat dies nicht vermieden, aber er hat doch in erster Linie immer an den selektiven Naturprozeß gedacht, und es muß wiederum als eine Verflachung bezeichnet werden, wenn unser Autor unter geschlechtlicher Zuchtwahl nichts anderes als eben diese psychologischen Wahlen, also beim Menschen „die individuelle Geschlechtsliebe" versteht (S. 125 ff.). Er kommt zu dem Schlüsse, daß diese „ein unbewußt auf uns wirkendes Mittel zur Erzielung einer gesunden Nachkommenschaft" sei, und daß man demnach ihre Geltung und möglichst ungehinderte Durchsetzung zu befördern habe (S. 129). Die schon vielfach vorhandene Abneigung gegen Vernunftehen müsse befestigt und durch gesellschaftliche Ächtung ihre völlige Ausmerzung herbeigeführt werden.

37 völlige Ausmerzung-. Vgl. ebd.: 132.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

„Individuelle Geschlechtsliebe heißt Liebe zur Schönheit." Schopenhauers Erklärung für die Bevorzugung der schönen Individuen bei der geschlechtlichen Zuchtwahl (!) sei sehr wahrscheinlich: daß nämlich der echte Typus der menschlichen Gestalt unter der Leitung des Schönheitssinnes, der durchgängig dem Geschlechtstriebe vorstehe, immer wieder hergestellt werde (S. 127). Ich sage dagegen: zunächst ist es unrichtig, die individuelle Geschlechtsliebe mit der Liebe zur Schönheit gleichzusetzen. Offenbar wird hier immer nur an die Wahl gedacht, die der Mann zwischen den ihm bekannt gewordenen Frauen trifft. Sofern er nun dabei durch Liebe bestimmt wird, so ist doch diese Liebe sehr mannigfach bedingt und keineswegs wesentlich an Liebe zur »Schönheit« gebunden. Allerdings ist ein gewisses Minimum angenehmer - besonders die Sinnlichkeit reizender - körperlicher Eigenschaften erforderlich, aber nur als von selbst verständliche Voraussetzung, denn es bedeutet nicht mehr als daß dieser Liebe der Geschlechtstrieb zugrunde liegt: außerdem ist sie von sehr verschiedener Natur nach Art, Heftigkeit und Dauer, und gerade die starke und beständige hat mit dem Schönheitssinn verhältnismäßig wenig zu tun. Sie wächst vor allem durch Gegenliebe, die dem Selbstgefühl wohltut; sie wird durch Gewöhnung und Erinnerungen genährt; sie enthält viele Elemente von dem, was auch Männer mit Männern, Frauen mit Frauen in Freundschaft verbindet. Wenn die große Mehrzahl der Ehen zumal in der breiten Masse des Volkes - auf Grund gegenseitigen Wohlgefallens und geschlechtlicher Verliebtheit geschlossen wird, so folgt daraus nicht, daß eigentliche, tiefere Liebe daran oft beteiligt ist, und noch viel weniger, daß der Schönheitssinn auch nur von einer Seite stark dabei mitwirkt. Freilich haben die hübscheren Mädchen mehr Bewerber; und sie sind in der Lage, den, der ihnen am besten gefällt, sich auszusuchen. Sicherlich erhält dann oft der schönere Mann den Vorzug; aber hundert andere Beweggründe konkurrieren. Und selbst wenn durch die Bewerbung um ein schönes Mädchen und durch die Auswahl, die dieses zugunsten des schönen Mannes trifft, ein Paar zustande kommt, so ist dies Paar darum noch nicht durch das, was wir sonst unter individueller Geschlechtsliebe verstehen, verbunden; die gegenseitige Zuneigung kann von der oberflächlichsten und vergänglichsten Art sein. Je mehr es gereifte, verständige, auch wohlberatene Persönlichkeiten sind, die als Partner in Frage kommen, desto mehr wird ihre Liebe durch andere Motive (außer dem Ge-

i „Individuelle

Geschlechtsliebe

... Schönheit.":

Vgl. ebd.: 126, jedoch leicht abweichend:

„Individuelle Geschlechtsliebe heißt aber Liebe zur Schönheit.".

X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

315

schlechtstrieb, worin sie beruht, und dem Sinn für Schönheit, der mitwirkt) bestimmt werden: die des Mannes zum Weibe besonders durch die Meinung, daß er eine »gute Frau« gewinne, und in etwas gehobenen sozialen Schichten durch das Wohlgefallen an züchtigem Wesen und sittigem Betragen, während Koketterie wohl Verliebtheit und Begierde, aber selten »ernste Neigung« hervorruft. Ferner ist es ganz irrtümlich zu meinen, die individuelle »eigensinnige« (wie Schopenhauer sie oft benennt) Geschlechtsliebe sei ein Instinkt, der auf das Beste der Gattung gerichtet ist; wäre dem so, so würde sie viel häufiger zum Behuf der Ehe die Schranken des Standes und sozialen Kreises überspringen oder wenigstens zu durchbrechen versuchen, als es tatsächlich der Fall ist. Was der Verf. aus Schopenhauer anführt, ist nichts als das vage Gerede, wie dieser Philosoph so oft es zum Besten gibt, wo er auf konkrete Probleme des menschlichen Lebens gerät. Wenn er meint, daß die schönsten Individuen als solche, in denen der Gattungscharakter am reinsten ausgeprägt sei, „heftig begehrt" werden, so wendet Kuppin selber ein, daß erfahrungsmäßig Schönheit und Gesundheit keineswegs immer parallel gehen; ich füge hinzu, daß die schönsten Frauen wie Männer sehr oft aus niedergehenden, von Tuberkulose und anderen Erbübeln stark affizierten Familien hervorgehen. Wenn aber Kuppin dann das Richtige der „Schopenhauerschen Erklärung" darin sieht, daß sie die relative Schönheit zur Geltung bringe, indem Schopenhauer behauptet, daß der Mensch am anderen Individuum besonders die Vollkommenheiten verlange, die ihm selber abgehen, ja sogar die Unvollkommenheiten, welche das Gegenteil seiner eigenen sind, schön finde, „daher suchen z. B. kleine Männer große Frauen, die Blonden lieben die Schwarzen usw." - , so liegt hier eben vor, was auch sonst minder gründliche Beobachter so regelmäßig sich zuschulden kommen lassen: hastige Verallgemeinerung. Daß derartiges (die Vorliebe für gegenteilige Qualitäten) nicht ganz selten begegnet, ist alles, was man zugeben kann; und doch sind es, auf die Gesamtheit der Fälle bezogen, Ausnahmen

7 Schopenhauer:

Vgl. z. B. Schopenhauer 1 8 9 2 , 2: 6 4 5 .

26 „daher suchen ... Schwarzen usw."-. Bei Schopenhauer (ebd.: 6 3 3 f.) heißt es im Zusammenhang: „Demgemäß [gemäß „des Schönheitssinnes, der durchgängig dem Geschlechtstriebe vorsteht"] wird Jeder, erstlich, die schönsten Individuen, d. h. solche, in welchen der Gattungscharakter am reinsten ausgeprägt ist, entschieden vorziehen und heftig begehren; zweitens aber wird er am andern Individuo besonders die Vollkommenheiten verlangen, welche ihm selbst abgehen, ja sogar die Unvollkommenheiten, welche das Gegentheil seiner eigenen sind, schön finden: daher suchen z. B. kleine Männer große Frauen, die Blonden lieben die Schwarzen u. s. w . " .

316

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

von geringer Bedeutung. In der Regel wird der kräftige Mann das kräftige Weib, der gescheite die gescheite, der brave die brave, umgekehrt auch der liederliche die liederliche Frau usw. am besten zu würdigen wissen; und dies wird einerseits ebenso die Erzeugung kräftiger, oder gescheiter usw. Kinder begünstigen, wie es anderseits zur Erzeugung solcher führt, die durch entgegengesetzte Eigenschaften hervorragen. Wir kommen zu dem Schlüsse: was Darwin unter geschlechtlicher Zuchtwahl versteht, findet unter zivilisierten Menschen nur in beschränktem Umfange statt; der einzige »Vorzug«, der wenigstens dem männlichen Geschlecht erhöhte Chancen gibt, seine Eigenschaften zu vererben, ist ein unbändiger Geschlechtstrieb und starkes Zeugungsvermögen, zumal, wenn verbunden mit vollkommener Gewissenlosigkeit und mit sozialen Verhältnissen, die einer starken außerehelichen Propagation günstig sind; aber auch beim Weibe werden erhöhte geschlechtliche Ausstattung, große Konzeptionsfähigkeit und die entsprechenden psychischen Eigenschaften in der Regel durch vermehrten Beitrag zur Fortpflanzung, also auch durch Vererbung dieser »Vorzüge« auf das eigene Geschlecht sich bemerklich machen. Übrigens reduziert sich, um es zu wiederholen, diese Seite des Prinzips Darwin denkt ja weiterhin fast nur an sekundäre Geschlechtsmerkmale, besonders der Männchen - auf einen besonderen, freilich sehr wichtigen Fall dessen, was er sonst als natürliche Auslese unterscheidet; denn offenbar muß alles, was zu stärkerer Vermehrung führt, von ausgesprochenem Nutzen im Kampf ums Dasein sein. Die wesentliche Frage ist jedoch auch hier, ob das »Prinzip« nur konservativ oder auch mutativ (sei es in progressiver oder in regressiver Richtung) wirke und gewirkt habe: ist es so, daß nur die geschlechtlich Minderbegabten allmählich aussterben, während die geschlechtlich Normalbegabten, mit Einschluß und etwa auch besonders hohem Anteil der geschlechtlich Starkbegabten, die Art erhalten, und in ihr eine hinlängliche Vertretung der Normalen, vielleicht eine wachsende Proportion der Hervorragenden, wenn diese Tendenz nicht durch entgegengesetzte Tendenzen aufgehoben wird (was offenbar in hohem Maße der Fall ist)? oder werden nur diese Hervorragenden auf die Dauer sich vermehren und durch ihre Vermehrung allen anderen, also auch den Normalen, die Plätze an der Tafel des Lebens streitig machen, und ist dies etwa gar der oder wenigstens ein Hauptprozeß in der Entwicklung des Menschengeschlechts? Bekanntlich wird in Kulturzuständen je-

23 Nutzen: In A gesperrt gedruckt.

X. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

317

denfalls die Wirkung des hier bezeichneten Faktors sehr stark durch die Institution der Ehe, zumal der monogamischen, und durch das Grassieren der Prostitution vermindert; und gerade hierin kann eine für das soziale Leben wohltätige Wirkung der an und für sich so abscheulichen Prostitution mit Recht gefunden werden; sie sterilisiert die Geilheit, die sonst andere und doch wohl für wertvoller zu haltende menschliche Eigenschaften überwuchern würde; wenn nämlich die mit übermäßigem Geschlechtstrieb ausgestatteten Männer eine entsprechend größere Anzahl von Kindern erzeugen würden, sei es auch, daß nur etwa auf die Hälfte davon solche Eigenschaft erblich überginge. Immerhin dürfte im Laufe unzähliger Generationen diese Potenz allmählich nicht geringe Wirkungen gehabt haben und zum Teil die perennierende Heftigkeit des Triebes beim Menschen8 erklären, die wiederum notwendig gewesen sein mag, um seine Vermehrung zu sichern, gegenüber den vielen Hemmungen, die in Gründen der Vernunft, bei zunehmender Kultur gegen die Aufzucht vieler Kinder sich geltend machen müssen. - Die »Vernunftehen« ... Die Ehe ist ihrem Wesen nach, ob sie gleich den blinden Trieb als ihre Grundlage hat, so sehr Sache der Vernunft, daß schon die Wortbildung, wenn sie etwas Unerwünschtes bezeichnen soll, Wunder nehmen muß, solange als man das wirkliche Verhältnis der Vernunft zum Wollen nicht erkannt hat. Ich habe (wie ich meine zuerst) das Schema dafür gegeben und bin daran nicht irre geworden durch die Tatsache, daß fast niemand es der Beachtung, geschweige der Prüfung für wert gehalten hat. Ich sage also in meinem Sinne: auch in bezug auf die Ehe besteht der einschneidende Unterschied, ob Vernunft innerhalb des »Wesenwillens« - und das heißt hier: innerhalb der Idee der Ehe, die durch sozialen Wesenwillen gesetzt ist - bleibt, oder aber, ob sie sich davon losmacht und etwas anderes durch Kürwillen ins Auge faßt, als den Zweck, zu dem die Ehe bloß als Mittel dienen soll. Und zwar kann die Entfernung vom Wesenwillen verschiedene Grade haben, 8

Man kann mit Grund annehmen, daß nur beim Menschen innerhalb der Art der Geschlechtstrieb stark variiere, infolge seines Zusammenhanges mit dem Vorstellungsleben und der Phantasie.

21 Schema dafür gegeben: Vgl. Tönnies' ,Theorie des Willens', das Zentralstück seiner soziologischen Theorie, niedergelegt im ersten Abschnitt des zweiten Buches von „Gemeinschaft und Gesellschaft": „Die Formen des menschlichen Willens". 27 durch Kürwillen: In A: mit „Willkür". Seit der 3. Aufl. von „Gemeinschaft und Gesellschaft" ersetzte Tönnies den Begriff Willkür, um umgangssprachliche Konnotationen auszuschließen (vgl. Tönnies 1920: III).

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sie ist um so weiter, je mehr der Zweck heterogen ist (je weniger er mit der Ehe zu schaffen hat), oder anderseits, je mehr das Mittel, trotz bestehender Abneigung dagegen, also etwa gar Widerwillens gegen die Person, um des erstrebten Zweckes willen bejaht und gewollt wird. Denn beides zusammen (die Heterogenität des Zweckes und der überwundene Widerwille gegen das Mittel) konstituiert den absoluten Begriff des Kürwillens (in dem von mir bestimmten Sinne). Wenn also Ruppirt schreibt: „die sogenannten Vernunftehen stehen dem Prinzip der individuellen Geschlechtsliebe stracks entgegen", so anerkenne ich dies nicht. „So genannt" wird auch die Ehe, die z. B. ein Witwer schließt, um seinem Hause eine Hausfrau, seinen Kindern eine Mutter wiederzugeben; und daß hierbei „die persönlichen, speziell physischen Eigenschaften", deren richtige Würdigung der Verf. für das Prinzip der individuellen Geschlechtsliebe hält, vorzugsweise geschätzt werden, ist beinahe selbstverständlich, wenn auch eine leidenschaftliche Neigung seltener in Frage kommt. Gerade die blinde Leidenschaft - als Extrem auf der einen Seite - trübt ja die Erkenntnis der gröbsten Mängel und Fehler ebenso, wie auf der anderen Seite das Streben nach dem heterogenen Zwecke (z. B. der Bereicherung) sogar über die erkannten, und gerade über die in bezug auf Fortpflanzung verhängnisvollsten, Mängel und Fehler hinwegsieht. Der Verf. aber versäumt, ebenso die individuelle Geschlechtsliebe wie die Vernunft, die beide sehr komplizierte Phänomene sind, zu analysieren. - In dem Abschnitte über Vererbung erörtert der Verf. auch (Kap. 12) die Frage der „Schädlichkeit der Verwandtenehen für die Nachkommenschaft" mit recht gutem Material, und (Kap. 13) die Ehebeschränkungen für physisch oder psychisch minderwertige Personen. Er verwirft die Ideen einer gesetzlichen Beschränkung und erhofft die heilsameren Erfolge vom guten Willen des einzelnen und vom Einfluß der öffentlichen Meinung, steht also Galton noch näher als Schallmayer diesem steht. Was er in diesem Sinne ausführt, ist der Beachtung wert, obwohl es etwas seltsam anmutet, wenn das Opfer (des Verzichts auf Kindererzeugung) von der Begeisterung für den Staat (der

7 den absoluten

Begriff des Kürwillens

(in ... Sinne): In A stattdessen: den Begriff der

Willkür (wobei andere Bedeutungen des Wortes nicht in Frage kommen). 12 „die persönlichen

... Eigenschaften"-.

Im Zusammenhang heißt die Stelle bei Ruppin

( 1 9 0 3 : 131): „Die sogen. Vernunftehen stehen dem Prinzip der individuellen Geschlechtsliebe stracks entgegen, une es wäre bedenklich, wenn es richtig wäre, daß gerade unsere heutigen sozialen Verhältnisse durch Überschätzung der gesellschaftlichen Stellung und Unterschätzung der persönlichen, speziell physischen Eigenschaften für die Frage der Heirat diese Vernunftehen begünstigen und vermehren."

X . Die Anwendung der Deszendenztheorie. Zweiter Teil

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aber vorher etwas anderes werden müsse als was er jetzt sei) erwartet und diese Begeisterung mit den Worten erklärt wird: „Indem der einzelne sich eins mit dem Staate und der Nation fühlt und sich auch nach seinem Tode durch seine Werke »und seine Kinder« als im Staat fortlebend ansieht." Am Schlüsse des Buches wird über deutsches Parteiwesen und zwar fast ausschließlich über die Sozialdemokratie gesprochen. Kuppin meint, auch hier in Abhängigkeit von Stammler und dessen bekannter Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung, es sei ein grober Fehler der Marxisten, daß sie die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus mit allen Mitteln zu verteidigen suchen, statt die ganze Wissenschaftlichkeit beiseite zu lassen, zumal darunter immer eine nach kausaler Methode verfahrende Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaft und nicht im Sinne einer „mit Zweckmäßigkeitsgründen argumentierenden Wirtschaftswissenschaft" verstanden werde (S. 159). Die allein mögliche Begründung für die Forderung der Vergesellschaftung aller Produktionsmittel sei ein Nachweis der Zweckmäßigkeit dieser Forderung. Es ist gewiß eine gute Sache, eine »Forderung« als »zweckmäßig« nachzuweisen; eine andere Sache ist, ihre Verwirklichung als das höchst wahrscheinliche oder gar sichere Ergebnis einer beobachteten Entwicklung darstellen. Ich erblicke nicht die schwache, sondern die starke Seite des Marxismus darin, daß er historisch und objektiv denken will; seine Vorliebe für plötzliche und gewaltsame Umwälzungen ist ganz subjektiv und hat damit nichts zu tun 9 . Der Denker als solcher erhebt überhaupt keine Forderungen; aber er lehrt ihr Auftauchen, ihre Propagation, ihr Durchdringen zur Anerkennung, begreifen. Ruppin hat von Stammler gelernt, diesen sehr wichtigen Unterschied zu verkennen. Im übrigen sind seine Bemerkungen hier wie in dem ganzen Buche durchweg verständig. Als Anhang teilt er noch eine kurze Geschichte der

9

Immer aber bleibt die Kritik (Stammlers) wichtig genug gegen solche .historische Materialisten', die da wähnen, etwas als notwendig (in kausalem Sinne) nachweisen sei dasselbe, wie es als ,gut' oder als notwendig im teleologischen Sinne nachweisen. So habe ich in einer Anzeige des Stammlerschen

Werkes (Archiv für systematische Philosophie, Bd. IV, S. 1 0 9 -

116) mich ausgesprochen, auf die ich auch sonst hier mich beziehen möchte.

4 „Indem der einzelne ... ansieht."-. Vgl. ebd.: 92. - Durch Tönnies hervorgehoben: „und seine Kinder"; in A markiert mit Asterisken, bei Ruppin ohne Sonderzeichen. 8 Kritik der materialistischen

Geschichtsauffassung:

13 „mit Zweckmäßigkeitsgründen

Vgl. Stammler 1 8 9 6 .

... Wirtschaftswissenschaft":

In A stehen an Stelle der

Anführungszeichen Asterisken. 30 Immer aber bleibt die Kritik ... Sinne nachweisen.: Wörtlich zitiert aus Tönnies 1 8 9 8 : 113.

320

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Deszendenztheorie bis auf Darwin mit, die für sein Thema ebenso ohne Bedeutung ist, wie alle guten Erörterungen der Schrift nur in losem Zusammenhange mit der Deszendenztheorie stehen, wenn sie nämlich an »Prinzipien« anknüpfen, die diese mit ihrem Widerpart gemein hat.

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung Dritter Teil

4 Dritter Teil: Der dritte Teil von Tönnies' Auseinandersetzung mit den Preisschriften zur Deszendenztheorie erschien zuerst unter dem Titel: „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Dritter Abschnitt" im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] 30. 1906, S. 1 2 1 - 1 4 5 (im Folgenden: A) Dieser Teil des Buches SSK ist mit „Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme des sozialen Lebens" überschrieben. Im Inhaltsverzeichnis heißt es jedoch wie auch für die anderen Teile „... auf Probleme der sozialen Entwicklung". Das Versehen wurde entsprechend dem Druckfehlerverzeichnis korrigiert. Eine längere einleitende Passage wurde von Tönnies für die Ausgabe in den „Soziologischen Studien und Kritiken" gestrichen, vergleiche im editorischen Bericht, S. 665; beachte auch die Anmerkung zum ersten Teil oben auf S. 205.

V. Wenn ein Autor1 meint (S. 136), der Satz von der Einheit des Menschengeschlechts beruhe allein darauf, daß der Mensch »als Typus« morphologisch und physiologisch dem planetarischen Weltkörper der Erde angepaßt sei und nicht auf der „vorläufig doch immer nur hypothetischen monophyletischen Abstammung", so ist das schwerlich ganz klar gedacht. Wenn derselbe seine Meinung dann in Sätzen K. E. von Baers wiederfindet, die darin gipfeln, daß die Verschiedenheiten im Menschengeschlecht durch die physischen Verhältnisse seiner Umgebung hervorgebracht zu sein scheinen, so ist damit allerdings ein bedeutender und wie ich denke, richtiger Grundsatz aufgestellt, der als Leitfaden für die Forschung immer wieder zur Geltung kommen muß: bekanntlich haben schon Aristoteles, Theophrast, Bodin, Vico, Montesquieu, Buckle und andere mit gehörigem Nachdruck darauf hingewiesen. Die „Prinzipien der Deszendenztheorie" sind damit wohl vereinbar, aber Neues vermögen sie für den Gegenstand nicht zu lehren. So sind denn auch in dieser Schrift die Fäden sehr dünn, die das Richtige und Beachtenswerte darin mit diesen berufenen Prinzipien verknüpfen. *

*

*

Kein Wunder, daß das interessante Thema der Rassenmischung nicht ohne Beleuchtung bleibt. „Die Mischlinge", sagt Ammon, „von Weißen und Negerinnen (Mulatten) und von Weißen und Indianerinnen (Mestizen) und deren Nachkommen sind in Amerika wegen ihres schlechten Charakters verrufen und dienen hauptsächlich dazu, die Zuchthäuser zu füllen. Sie besitzen die Ansprüche an das Leben, die der Weiße macht, aber nur 1

Curt Michaelis, Prinzipien der natürlichen und sozialen Entwicklungsgeschichte des Menschen. Jena, Gustav Fischer, 1904. 2 Wennn ein Autor meint: In A: Wenn der Verfasser meint. Die Fußnote fehlt in A. 7 Wenn derselbe: In A: Wenn er. 7 K. E. von Baers: Bezug zu Karl Ernst Ritter von Baer nicht ermittelt.

18 Prinzipien verknüpfen: schen Bericht S. 6 6 8 .

Vergleiche für eine ausgelassene Textpassage aus A den editori-

324

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

die Fähigkeiten des Farbigen, um diese Ansprüche zu befriedigen, dazu die Wildheit des Urmenschen durch Rückschlag." Ammon muß es freilich wissen, er weiß sogar noch mehr: „Von den Weißen wie von den Farbigen, als nicht zu ihnen gehörend verstoßen, führen die Mischlinge ein abenteuerndes Leben, bis sie ihrem Schicksal verfallen." (Natürliche Auslese beim Menschen, S. 249.) Auch Booker T. Washington ist ein Mulatte. Zwei Seiten nachher lesen wir bei Ammon folgende Sätze Darwins (aus „Variieren der Tiere und Pflanzen", übers. Carus II, 23): „Daß viele ausgezeichnete und mild gesinnte Mulatten existiert haben, wird niemand bestreiten, und eine mildere und freundlichere Sorte von Menschen könnte man kaum finden als die Einwohner der Insel Chiloe, welche aus Indianern und Spaniern, in verschiedenen Verhältnissen miteinander vermischt, bestehen. Anderseits überraschte mich ... die Tatsache, daß in Südamerika Menschen * verwickelter Abstammung* von Negern, Indianern und Spaniern selten einen guten Ausdruck hatten, was auch die Ursache hiervon sein mag." Er führt dann ein abfälliges Urteil Livingstones über eine Mischlingsrasse am Zambesi an, und zieht die Schlußfolgerung: „Wenn zwei Rassen, * die beide in der Stufenreihe niedrig stehen*, gekreuzt werden, so scheinen die Nachkommen ganz eminent schlecht zu sein." Da die weiße Rasse doch wohl hoch steht, so ist damit also über die Mulatten nichts Ungünstiges ausgesagt. Was nun diese betrifft, so wird, wie es scheint, mit Grund behauptet, daß ihre physischen Qualitäten geringer sind, als die beider elterlicher Rassen, besonders auch, daß sie stark mit Skrofulose und Tuberkulose behaftet sind2. Daß die Neger in Nordame2

Vgl. die bei F. Hoffmann, Race traits and Tendencies of the American Negro, Public, of the Am. Economic Association XI (1896), p. 182 ff. mitgeteilten Daten. Das genannte Buch ist eine fleißige, aber nicht kritische Arbeit, stark zuungunsten des Negers gefärbt.

2 „Die Mischlinge" sagt Ammon ... durch Rückschlag.": In A schließt sich hier diese Klammer an: (S. 125: die beiden Sätze kommen S. 85 schon einmal vor, so wichtig und richtig müssen sie dem Verfasser erschienen sein!). 6 Natürliche Auslese beim Menschen: Vgl. die zwei vorstehenden Zitate in Ammon 1893: 249. 6 Washington: Booker Taliaferro Washington (1856-1915) war Pädagoge in den USA. 14 Menschen *veru>ickelter Abstammung*: Bei Darwin (1878, 2: 23) heißt es: Menschen complizirter Abstammung. 16 Er: D. i. Darwin. 19 „... die Nachkommen ganz eminent schlecht zu sein.": Vgl. Darwin, ebd.; bei Ammon (1893: 251) heißt es abweichend: „... die Nachkommen ganz hervorragend schlecht zu sein." 27 Das genannte Buch: Vgl. Hoffman 1896; in A und in der Vorlage fälschlich: Hoffmann.

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

325

rika weit über das Verhältnis ihrer Anzahl an der Kriminalität beteiligt sind, steht fest; worin es seine Ursache hat, bleibe hier dahingestellt3; dafür, daß gerade die Mulatten besonders viele Verbrecher liefern, finde ich keine Belege, Herr Ammon kann sich solche ersparen, man glaubt ihm, wie Figura Michaelis zeigt, aufs Wort. Übrigens sind bekanntlich die Mulatten fast alle uneheliche Kinder, die auch, wenn sie von reinster Rasse sind, als Gattung nicht eben durch ihre Moralität sich auszeichnen, wenn sie auch ebensowenig wie die Mulatten „hauptsächlich dazu dienen, die Zuchthäuser zu füllen". Und wenn die Bestechungen, Bestechlichkeiten, Unterschleife, deren die Weißen in den Vereinigten Staaten sich schuldig machen, nach den Gesetzen bestraft würden, so würde die weiße Kriminalität erheblich weniger gegen die schwarze abstechen, ganz abgesehen von den Ursachen, die den wirklichen Unterschied erklären. Noch möge von dem staatswissenschaftlichen Urteil des Autors, mit dem wir uns beschäftigt haben, eine Probe gegeben werden: „Auch der moderne Antisemitismus ist nichts als (wohlberechtigter) Rassenhaß, als Folge der oben angedeuteten Kulturmission Europas. Asien und Europa sind Gegner durch die Art ihrer Arbeit: in Asien Sklavenarbeit, in Europa die freie Arbeit. Der jüdische Kapitalismus, gleichviel ob seine Vertreter Juden oder Christen sind, drängt wieder auf jene hin" (S. 73). 3

„Häufig haben die Klagen über die schlechten Eigenschaften der Mischlinge ihre Wurzel nicht sowohl in ihrem Typus als in der Gesellschaftsverfassung," Schmoller, Grundriß I, S. 147. Ebenso sagt Darwin am Schlüsse des von Ammon zitierten Absatzes: „Aus diesen Tatsachen können wir .vielleicht' schließen, daß der herabgekommene Zustand so vieler Mischlingsrassen ,zum Teil' Folge eines Rückschlags auf den primitiven und wilden Zustand ist... selbst wenn derselbe .hauptsächlich eine Folge der ungünstigen moralischen Bedingungen ist, unter denen sie meist leben'." Bei Ammon stehen (ebenfalls in Anführungszeichen zitiert) anstatt „selbst wenn derselbe hauptsächlich" die Worte „ebenso wie". Es wäre zu untersuchen, ob diese Fassung in irgendeiner englischen oder deutschen Ausgabe sich wirklich findet. Ich zitiere nach der dritten deutschen Ausgabe (Stuttgart 1878).

20 (S. 73).: In A schließt sich noch ein Absatz an: Es ist schade, daß das Buch, sonst von Begabung und von fleißigen ethnologischen wie anthropologischen Studien zeugend, als ganzes so wenig ernst genommen werden kann. Die Schreibart, im ganzen gefällig, wird durch viele saloppe Wendungen, besonders durch sehr häufigen Gebrauch des schönen Wortes „diesbezüglich" entstellt. 22 Schmoller: Vgl. Schmoller 1900-1904. 27 „Aus diesen Tatsachen ... sie meist leben'.": Vgl. Darwin 1878: 23 f. In A stehen die durch einfache Anführungszeichen hervorgehobenen Passagen im Zitat zwischen Asterisken. 30 sich wirklich findet: Vgl. Ammon 1893: 251. Bei Darwin (1910, 2: 53) heißt es in der Tat:

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

VI. Der Verfasser des hier noch zu erwähnenden Buches 4 , vor dessen Herausgabe verstorben, war Techniker und Industrieller, zeigt sich aber als Mann von allgemeiner Bildung, von aufmerksamer Beobachtung und scharf gespanntem Interesse für einen Gegenstand, der auch sonst in jüngster Zeit stark erörtert worden ist: für das Verhältnis nämlich zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten, und also für die Entwicklung beider Länder, deren erstem er durch die Geburt, dem anderen durch seine Lebenslaufbahn angehört. Es ist das Buch eines gescheiten, alten Herrn, das wir vor uns haben, Lebenserfahrungen, Lesefrüchte, Reflexionen, liegen darin dicht beieinander. Nach allgemeinen Vorbemerkungen über die Natur und Materie, Beharrung und Anziehung, Vererbung und Anpassung, über klimatische Einflüsse auf den Menschen, folgen in der »Einleitung« eine Reihe von aphoristischen Glossen unter dem Stichwort: „Kräfte und Formen des sozialen Lebens". Das Hauptstück des Buches ist überschrieben: „Der wirtschaftliche Kampf ums Dasein", daran schließt je ein großer Abschnitt über die »Vereinigten Staaten« und über »Deutschland« sich an. Der wirtschaftliche Kampf ums Dasein ist für den Verf. gleichbedeutend mit dem Kampfe um die Oberherrschaft im industriellen Wettbewerbe, und als die hauptsächlichsten Faktoren in diesem Kampfe erörtert er die Gesetze eines jeden Staates über: 1. Verkehrsmittel, 2. Schutzzoll und Freihandel, 3. Kapital, Geld und Geldwährung, 4. Arbeit. Ad I wird die Geschichte der „Standard Oil Co." zum Beweise herangezogen, welchen Einfluß „private Vergünstigungen in Frachten" auf die Geschicke 4

Der Wettkampf der Völker mit besonderer Bezugnahme auf Deutschland und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Von Emil Schalk in New York. Jena 1 9 0 5 , G. Fischer.

„Aus diesen Tatsachen können wir vielleicht schliessen, dass der herabgekommene Zustand so vieler Mischlingsrassen zum Teil Folge eines Rückschlags auf den primitiven und wilden Zustand, der durch den Akt der Kreuzung herbeigeführt wurde, ebenso wie eine Folge der ungünstigen moralischen Bedingungen ist, unter denen sie meist leben.", l VI.: An dieser Stelle wurde von Tönnies ein mehrseitiger Abschnitt aus A gestrichen, in dem er sich mit der Preisschrift Abroteles Eleutheropulos' (1904) auseinandersetzt; siehe im editorischen Bericht, S. 6 6 8 . - D i e Kapitelnummerierungen laufen in A und in der Vorlage entsprechend auseinander. 3 vor dessen Herausgabe

verstorben:

In A lautet der Satz bis hierher: Der Verfasser, vor

Herausgabe des Buches verstorben ... - Die Fußnote ist dort an das Ende des vorherigen, hier ausgelassenen Satzes angehängt. 24 „private Vergünstigungen

in Frachten":

Vgl. Schalk 1 9 0 5 : 60.

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

327

von Menschen und ihren Daseinskampf ausüben können, und dazu in Klammern bemerkt, daß derartige Verträge (mit den Eisenbahnen) gegen das Gesetz seien, woraus zu folgen scheint, daß sie nicht eben, wie das Thema will, „die Gesetze eines jeden Staates" als hauptsächlichsten Faktor in dem Kampfe usw. illustrieren. Ad II starkes Plaidoyer für den Schutzzoll, der mit künstlicher Züchtung, wie Freihandel mit natürlicher »gleichbedeutend« sei; außerdem beschütze Schutzzoll das Entstehen, Freihandel begünstige den Vertilger, den Verzehrer von Reichtum; dieser erscheine daher unter heutigen Existenzbedingungen wie eine milde Anwandlung von Wahnsinn. „Das beste Beispiel für das Gesagte ist das Verhalten zweier Völker zu dieser Frage: der Amerikaner und der Engländer" (S. 63). Die angeblichen Segnungen des Freihandels werden ironisiert. „Die Engländer versuchen es, und die Resultate sind »sehr befriedigend«: nur eine Million »Paupers«, welche von dem Staate mit einem Kostenaufwande von 50 Millionen Dollars jährlich am Leben erhalten werden müssen, außer einer beinahe ähnlich großen Anzahl, welche durch Betteln und private Unterstützungen ihr Leben fristen." So lesen wir S. 65. Amerika hat also wohl keinen oder geringen Pauperismus? So wird der Leser denken und in seiner Begeisterung für Schutzzoll sich gestärkt fühlen. Aber in einem anderen, viel späteren Zusammenhange, wo Herr Schalk auf die Ungleichheit der Existenzbedingungen in den Vereinigten Staaten, die er ausdrücklich als „Folge der industriellen Entwicklung" hinstellt, zu reden kommt, verrät er uns ehrlich, es gebe neben mehr als 5000 Millionären und Multimillionären, „in diesem reichen Lande (nach Professor R. T. Ely und Charles D. Kellog, Secretary der N. Y. Charity Association) nicht weniger wie drei Millionen Arme (Paupers) und dazu eine förmliche Armee von Landstreichern, welche im Herbste die Staaten von Norden nach Süden abbetteln, und im Frühling von dem Süden nach dem Norden". So Seite 195. Wenn die Ziffern über den Pauperismus richtig sind ich will sie nicht prüfen - so wäre mithin das Verhältnis zur Bevölkerung in England (soll heißen: Großbritannien) etwa V42, in den Vereinigten Staaten 3/76, oder auf Tausend dort 23,8, hier 39,4 - und dabei soll der englische Pauperismus den „Wahnsinn des Freihandels" erhärten! - In dem Abschnitte über die industrielle Arbeit ist wiederum von Gesetzen 3 gegen das Gesetz: Vgl. ebd.: 6 1 . 4 „die Gesetze eines jeden Staates": Vgl. ebd.: 53. 25 Kellog: Eigentlich: Charles D[ay] Kellogg. 28 ... und im Frühling

von dem Süden:

Bei Schalk (ebd.: S. 1 4 5 , nicht, wie bei Tönnies

angegeben, S. 195), heißt es: „ . . . und im Frühjahr von dem Süden".

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nicht viel die Rede, wohl aber von den Arbeiterorganisationen, von denen „während der nächsten Jahrzehnte die Zukunft der Arbeit" großenteils abhänge; vieles in der gegenwärtig günstigen Lage der Arbeiter sei ihrer mitunter ausgezeichneten Organisation zuzuschreiben (S. 83). Aber die angewandten Mittel seien „nur zu häufig" Einschüchterung und rohe Gewalt... „alle solche Mittel enthalten die Elemente der Ungerechtigkeit, der »Gesetzlosigkeit« und selbst des Anarchismus" (S. 84). Dagegen findet er es zehn Seiten früher »natürlich«, daß weder Eisenbahnen noch Fabrikgesellschaften „solchen einfältigen und ungerechten Gesetzen (über Preisvereinbarung) Folge leisteten". Wie war doch das Wort Herrn Alexanders? - Übrigens preist der Verf. die Rücksichtslosigkeit des Amerikaners, aus der eine merkwürdige Arbeiterdisziplin folge, und zitiert dabei ein interessantes Urteil aus einer englischen Fachschrift, wonach die englischen Fabrikanten nie fertig bringen werden, den britischen Arbeiter zu zwingen, unter eben solchem Hochdrucke zu arbeiten wie der Amerikaner. „Offen gesagt, muß nach hiesiger (englischer) Anschauung der Amerikaner unter Bedingungen arbeiten, welche einer gewissen Art von Sklaverei sehr ähnlich sehen." Im Anschlüsse daran bemerkt Herr Schalk: „In Amerika gehen infolge der Rücksichtslosigkeit eines jeden Individuums gegen alle anderen viele zugrunde, aber die Gattung wächst an Fähigkeit, den Daseinskampf gegen andere siegreich zu bestehen" (S. 91 ) 5 . Gleichwohl glaubt er, das stetige Näherrücken mehrerer hundert Millionen Asiaten, willens für eine halbe Mark pro Tag zu arbeiten, und dann auf dem Weltmarkte mit den großen industriellen Staaten zu konkurrieren, dürfe gewiß nicht mit ungemischten Gefühlen der Freude begrüßt werden; 5

„Außerdem ist es der reine Hohn für die Lebenden, daß nach Jahrhunderten eine bessere Rasse gezüchtet würde, während sie selbst mit schwerer Arbeit ihr Leben fristen, evtl. darben oder gar verhungern müssen, wie dieses bei unbeschränkter Konkurrenz meistens der Fall ist" - wo steht das? es sind Worte desselben Autors in demselben Buche S. 65, wo er die Freihandelsargumente bekämpft.

7 »Gesetzlosigkeit«:

Das Wort steht in A zwischen Asterisken und ist bei Schalk nicht

hervorgehoben. 10 „solchen einfältigen ... Folge leisteten"-. Vgl. Schalk 1 9 0 5 : 74. n das Wort Herrn Alexanders: n Rücksichtslosigkeit: 18 „Offen

gesagt,

Worauf hier angespielt wird, war nicht zu ermitteln,

Vgl. Schalk 1 9 0 5 : 90.

... Sklaverei sehr ähnlich sehen.":

Vgl. ebd.: 91; Schalk macht keine

Angabe über seine Quelle. 21 „In Amerika ... siegreich zu bestehen": siegreich . . . " .

Bei Schalk heißt es: „... gegen andere Gattungen

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

329

die »gelbe Gefahr« werde im Laufe der Zeit auf dem industriellen Gebiete viel größer sein als auf irgendeinem anderen (S. 80). Die Rücksichtslosigkeit wird also doch nicht allein den Ausschlag geben! Diese und der „absolute unbegrenzte rücksichtslose Egoismus" der Amerikaner, der sich gegen die Mitglieder der eigenen Nation mit derselben Unparteilichkeit wie gegen diejenigen anderer Nationen bewähre, wird auch in dem vorausgehenden Abschnitte über „Geld und Kapital" herausgestrichen, und die Schilderung der Vertrustungsmethoden mündet in den hoffnungsvollen Satz, der vermutlich die Segnungen, die daraus für die »Gattung« sich ergeben, illustrieren soll: „Durch solche Operationen und dadurch bedingte Akkumulation der Kapitalien werden die Reichen reicher und mächtiger und die Armen ärmer und machtloser" (S. 76). Übrigens basiert der Verf. seine Prognosen zugunsten des Schutzzolls und der amerikanischen Größe auf die alte Lehre von Kredit- und Debet-Bilanz; er meint, wenn es so weitergehe, werden die Vereinigten Staaten bald den ganzen Goldvorrat der Welt besitzen (S. 77). - Die Erörterung über Arbeiter und Arbeitervereine führet auf das Thema: „Staatssozialismus und anderer Sozialismus" (S. 94 ff.). Unter »Staatssozialismus« versteht Herr Schalk - wie es scheint - alle öffentliche, wenigstens alle zentralisierte wirtschaftliche Tätigkeit. Als einen amerikanischen Fortschritt in diesem Gebiete rühmt er die Organisation der Konsularberichte und die Mitwirkung der Bundesregierung in offensiver und defensiver Richtung zugunsten jeder einzelnen amerikanischen Industrie, die in fremden Ländern Absatz sucht. Die Aufhebung aller Konkurrenz, heißt es dann in der Kritik des (eigentlichen) Sozialismus, wäre wohl der größte Fehler, den man begehen kann (S. 103). Und nun kommt die Deszendenztheorie oder vielmehr der Darwinismus in bekannter Anwendung (man vergleiche wiederum die oben in der Anmerkung zitierte Stelle!): „Konkurrenz ist der Kampf ums Dasein in jedem gegebenen Geschäftszweige, und der Kampf ums Dasein ist das züchtende Element; er führt zum Survival of the fittest und ist die Grundbedingung allen Fortschrittes." Ehrlicherweise macht der Verf. hier sich selber den Einwand, daß in den großen industriellen Kombinationen Amerikas, wie der Standard Oil Co. oder dem American Steel Trust, alle Konkurrenz eliminiert zu sein scheine, wehrt sich aber dagegen mit der schwachen Hinweisung darauf: es gebe noch eine Anzahl unabhängiger Raffinerien

4 „absolute

unbegrenzte

rücksichtslose

Egoismus":

Konnte als Zitat nicht nachgewiesen

werden . 7 „Geld und Kapital": Korrekt: Kapital, Geld und Geldwährung; vgl. Schalk 1 9 0 5 : 6 7 - 7 7 .

330

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

und auch Eisen- und Stahlwerke, und ihre Anzahl würde sich sofort vergrößern, wenn das Geschäft sehr rentabel wäre; niemand verbiete doch die Konkurrenz, während sie in einem sozialistischen Staate »ausgeschlossen« wäre. In dem später folgenden Hauptstück über Amerika wird von dem Ölfieber in Pennsylvanien erzählt, mit dem Schlußsatze: „Als endlich die ganze Spekulation zum Krache kam, übernahm die Standard Oil Co. das ganze Vermächtnis »und besitzt seitdem die Alleinherrschaft in Petroleum«" (S. 136). Daß durch die Alleinherrschaft die Konkurrenz weniger »ausgeschlossen« wäre als durch ein »Verbot«, hat der redliche Verf. selber nicht geglaubt. Übrigens bekämpft er den Sozialismus wegen der »Gleichheit«, meint aber zum Schlüsse einer Ausführung, wenn nur produzierendes Eigentum gemeinschaftlich sein solle, so sei indirekt alles Privateigentum bedroht, ganz verständig: die Art und Weise, wie die Sozialisierung der Produktion und des Verschleißes reguliert werden solle, entziehe sich jeder Berechnung und jeder Diskussion wegen der enormen Anzahl von Geschäften aller Art mit völlig verschiedenen Lebensbedingungen (S. 104). Merkwürdigerweise kommt an einer viel späteren Stelle des Buches (im Hauptstück über Deutschland, unter: „Die Sozialdemokratie in Deutschland") noch eine ausführliche Erörterung des Sozialismus und seiner Lebensfähigkeit, die u. a. mit dem Satze bestritten wird, jede rein sozialistische oder kooperativ sozialistische Bewegung müsse schließlich zum Staatssozialismus führen. Diesen aber befürwortet der Autor auf das lebhafteste, und zwar besonders für das Deutsche Reich. Mit Amerika erfolgreich zu konkurrieren, sei nur möglich ... „endlich und hauptsäch-

lich durch eine vollständige und durchgreifende Organisation der gesamten kommerziellen und industriellen Interessen des Landes" (S. 211) ... „eine Organisation, mit einem Generalstabe wie bei der Armee, zusammengesetzt aus kompetenten Beamten der Regierung und teilweise aus den besten Fachleuten und Beamten der Nation" (S. 213, ebenso schon S. 92). Es müsse ein nicht leicht nachahmbares System sein, und Staatssozialismus

4 »ausgeschlossen«: 8 »und besitzt...

Vgl. ebd.: 103. Die Passage steht in A zwischen Asterisken, sie ist bei Schalk

Petroleum«:

nicht hervorgehoben. 19 „Die Sozialdemokratie

in Deutschland":

Vgl. ebd.: 1 8 4 - 1 9 3 .

22 Staatssozialismus: Vgl. ebd.: 1 8 9 f. 26 „endlich und hauptsächlich

... Interessen des Landes":

Bei Schalk ist diese Passage nicht

durchgängig hervorgehoben. 28 „... zusammengesetztaus

kompetenten

Beamten ...": Bei Schalk heißt es: „... zusammen-

gesetzt teilweise aus kompetenten Beamten . . . " .

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

331

sei in den Vereinigten Staaten, wegen der englischen Tradition und der Abneigung gegen paternal government, eine verpönte Sache; die früher als neues Element des Staatssozialismus gerühmte Ordnung des Konsulardienstes wird nun eine »reine Geschäftssache« genannt (S. 212). Über die Marxsche Wertlehre hat der Verf. folgende Ansicht: „Der Profit ist die Differenz zwischen dem Selbstkostenpreis und dem Verkaufspreis der Waren. Marx nennt dieses den Mehrwert und behauptet, daß dieser Mehrwert dem Arbeiter zugute kommen sollte; da der Fabrikant ihn aber einsteckt, so »bestiehlt« er infolgedessen den Arbeiter um diesen Betrag und wird »Ausbeuter« genannt. Daraus wird alsdann gefolgert, daß das einzig richtige System für industrielle Staaten das kooperativ sozialistische System sei." - In den Hauptgedanken die krassesten Widersprüche. Nachdem in dem Abschnitt über den „Koeffizienten der Kampfesfähigkeit" (S. 109 ff.) England das »überschätzteste Land« genannt und ungefähr als quantité négligeable behandelt worden ist - dieser auf eine nicht ernst zu nehmende Art berechnete »Koeffizient« wird für die Vereinigten Staaten auf 450, für Deutschland auf 136, für Frankreich auf 73, für England auf 56 gesetzt - , nachdem überhaupt an vielen Fällen Amerika der sichere Sieg prophezeit worden, heißt es am Schlüsse des ganzen Buches, der Kampf um den Handel und die industrielle Oberherrschaft werde in den nächsten Dezennien zwischen Deutschland, England und Amerika ausgefochten werden. Der Endkampf aber - dies der letzte Satz und zugleich der eigentliche Grundgedanke des Buches - werde zwischen Deutschland und Amerika stattfinden, „und Deutschland werde jeden Nerv der ganzen deutschen Nation anstrengen müssen, wenn es in diesem Kampfe nicht unterliegen will" (S. 215). Daneben aber laufen noch ganz andere Betrachtungen. »Mitteleuropa« ist es, was bedroht wird, und nicht nur von Amerika, sondern auch - von Rußland. Rußland wird dann überhaupt als der »andre Riese« neben Amerika hingestellt (so S. 209). „Beide Nationen scheinen bestimmt zu sein, die beiden größten Führernationen der Welt zu werden, wenn sie es nicht schon heute sind" (S. 24; der Gedanke schon bei

12 „... das kooperativ sozialistische System sei.": Bei Schalk (ebd.:, 191) heißt es „... das kooperativ sozialistische System sei.". - In A folgt noch der Satz: Auch ein Beitrag zur „ naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre " ! 14 »überschätzteste Land«: Vgl. Schalk, ebd.: 117. 16 » K o e f f i z i e n t « : Vgl. ebd.: 122. 22 ausgefochten werden: Vgl. ebd., 215. 26 „und Deutschland ... unterliegen will": Bei Schalk heißt es „und Deutschland wird . . . " . Der ganze Satz ist dort hervorgehoben.

332

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Tocqueville - dem der Verf. manches entlehnt hat - , Démocratie en Amérique, Schlußabsätze). Direkt und indirekt wird dann, und zwar bald zur Wehr gegen beide »Kolosse«, bald ausschließlich gegen Amerika der Zusammenschluß der mitteleuropäischen Staaten empfohlen (z. B. S. 200, 210). Hier und sonst gesunde Gedanken, kräftig ausgesprochen. Was über allgemeine Politik gesagt wird, ist durchweg klug, treffend. Dagegen über die Philosophie, die in der Schrift auch nicht fehlt, ist Schweigen das mildeste Urteil. Alles in allem: ein Buch ganz interessanter, leichter Lektüre, entsprungen aus typischem common sense, mit vielen, aber wenig geordneten Gedanken, etwas journalistisch und dilettantisch abgefaßt6, beruhend auf naturwissenschaftlich zulänglicher, sozialwissenschaftlich unzulänglicher Bildung einer sympathischen, energischen, aufrichtigen Persönlichkeit, mit der es nicht gereut, Bekanntschaft gemacht zu haben. In ihrer nüchternen Unklarheit ist die Schrift charakteristisch für unsere Zeitgenossen überhaupt und für die Amerikaner besonders. *

*

*

VII. Bei meinen Studien habe ich die Bedeutung der Deszendenztheorie, deren Geltung mir immer festgestanden hatte, nicht aus den Augen verloren, 6

Im einzelnen lassen sich dem Buche noch manche starke Fehler nachweisen. In der Einleitung wird auf den Wert der Kohlenlager hingewiesen (mit einsichtiger Prognose ihrer „absehbaren" Erschöpfung). Dabei werden Kohlenlager, Kohlenproduktion und Bevölkerung der Ver. Staaten, Englands, Deutschlands, Österreich-Ungarns, Frankreichs verglichen, die beiden letzteren Daten in ihrem Wachstum von 1870 bis 1900. Dann heißt es: „Wie man sieht, steigt die Bevölkerung sehr rasch unter dem Einflüsse der Wärme und Licht gebenden versteinerten Sonnenstrahlen. Wohlstand und Fortschritt folgen einer solchen Entwicklung" (S. 18). Als ob an der geringen Vermehrung in Frankreich die geringe Menge der Kohlenlager und Kohlenförderung Schuld wäre! Aber schlimmer als die Sache selbst ist, daß zur Unterstützung des schlechten Arguments ganz falsche Ziffern eingestellt werden. Österreich-Ungarn hätte demnach 1870 39, 1900 42 Millionen Einwohner gehabt, also (offenbar auch wegen seiner schwachen Kohlenflöze) kaum stärker als Frankreich zugenommen!! Die richtigen Ziffern sind ca. 36 und 45,4, die natürliche Vermehrung ist bekanntlich nicht sehr viel schwächer als die reichsdeutsche.

2 Schlußabsätze: Vgl. Tocqueville 1835: 2, 434 f. 17 VII.: In A: X . - Tönnies hat eine längere einleitende Passage in diesen Abschnitt aus A gestrichen, vgl. den hierzu den editorischen Bericht, S. 674; siehe dort auch den gegenüber hier leicht geänderten Folgesatz.

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

333

sondern sehr oft mir die Frage vorgelegt, ob in den Geschicken der Menschheit, soweit ich sie zu erkennen vermochte, die Ausbildung eines veredelten Typus, der als solcher über die gemeinen Typen hinausrage und sie überlebe, wahrnehmbar sei, und ob aus diesen Wahrnehmungen eine einigermaßen sichere Prognose der zukünftigen Entwicklung dieses Typus sich ableiten lasse. Dies war auch das Problem Herbert Spencers, der mir durch den Ernst seiner Menschenfreundlichkeit und seines energischen Denkens tief sympathisch war, obgleich ich immer der Meinung gewesen bin, daß ihm infolge seiner überwiegend naturwissenschaftlichen Vorbildung und seiner liberal-progressistischen Vorurteile zum intimeren Verständnis der Kulturgeschichte sehr wesentliche Elemente fehlten. Ich hätte mir die Kraft gewünscht, seine ganze Ansicht der sozialen Entwicklung durch eine besser begründete, richtigere zu ersetzen. Er hatte von Jugend auf in der freiheitlichen, freihändlerischen Entwicklung Englands und der Vereinigten Staaten (die ja wenigstens im Innern ein enormes Gebiet freien Verkehres darstellen) den Weg gesehen, auf dem die Menschen auch friedlicher, rechtlicher, sittlicher würden, die Voraussetzung für das Überleben des dem sozialen Leben am besten angepaßten individuellen Charakters. Er hat an seinen Idealen festgehalten, seine Ansicht der Wirklichkeit aber schlug in völlige Verzweiflung um; er sah nicht nur in dem Aufstieg des Imperialismus wie des (Staats-)Sozialismus Rückfälle in niedrigere Gestaltungen des sozialen Lebens, die von unberechenbarer Dauer sein würden, sondern seinem offenen Auge wurde auch der Wert der gesamten inneren und sittlichen Entwicklung der modernen, speziell der englischamerikanischen, Kultur in hohem Grade zweifelhaft, und die Ahnung kam über ihn, daß nicht nur Evolution, sondern auch die von ihm immer aus optimistischer Grundgesinnung vernachlässigte Kehrseite - Dissolution hier am Werke sei. Da dies für mich längst festgestanden hatte, so konnte das Durchschimmern der Wahrheit, wie sie mir erschien, bei einem so redlichen und weitschauenden Denker mich nur mit Genugtuung erfüllen. Für den Denker und Forscher handelt es sich nicht darum, das Erfreuliche, sondern die Wahrheit zu gewinnen. Die Prognose, daß nach etwa 5 0 0 Jahren die gesamte moderne Zivilisation ein Trümmerfeld hinterlassen wird, wie die in ihrer Art nicht minder glänzende antike Zivilisation es etwa im Jahre 600 n. Chr. darbot, gebietet unmittelbar die äußerste Vorsicht in der Anwendung biologischer Entwicklungsbegriffe auf die heutige Menschheit. Sie nötigt keinesfalls dazu, diese völlig aufzugeben; aber sie ist zermalmend für die naive Zuversicht, mit der Naturforscher anzunehmen pflegen, daß der »Kulturmensch« des 20. Säkulums etwa

334

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

zum mittelalterlichen Pfahlbürger und Ritter sich verhalte, wie dieser zum Papua, und wie der Papua zum anthropoiden Affen. Eine Variation dieser unkritischen Annahme ist neuerdings dahin ausgebildet worden - sie ist auch bei Spencer nicht unvertreten - daß, zwar nicht der gewöhnliche Mensch, der Heidebauer, der Proletarier, aber die Elite, der Mensch der oberen sozialen Schichten, der Gebildete, zugleich den menschlicheren Menschen und den Menschen der Zukunft darstelle, der sich durch sozial und politisch bedingte Modifikationen der natürlichen Zuchtwahl spezifisch fortpflanze, auf dem daher die ganze Hoffnung für die menschliche Entwicklung ruhe, so daß die »Moral« von selbst ergebe, den vorhandenen gesellschaftlichen Zustand, der diese höheren Menschen von der großen Menge scharf abscheidet und ihre Inzucht begünstigt, der demokratischen Nivellierung gegenüber zu erhalten und, wenn möglich, noch strenger auszubilden; nebst anderen Folgerungen, die sich leicht daran anschließen. Ich habe die im Jahre 1893 erschienene Schrift von Otto Ammon: „Die natürliche Auslese beim Menschen", mit einigen Erwartungen begrüßt, mußte aber die darin enthaltene Theorie als oberflächlich und verworren, die Methode als sehr mangelhaft charakterisieren; dies geschah sogleich, als mir das Buch bekannt geworden war (1893); auch gegen die Folgerungen desselben Autors in seinem Buche: „Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen", habe ich sogleich Protest erhoben, nicht wegen ihrer Beschaffenheit, sondern wegen ihrer unwissenschaftlichen Begründung. Die Erfolge der Aramonschen Lehre trafen mit den auffallenderen Erfolgen der Nietzsche sehen poetisch-philosophischen Verherrlichung aristokratischer Lebensformen und Denkweisen zusammen; ich habe in meinem Büchlein „Der Nietzsche-Kultus"7 mich darüber ausgesprochen. Ich bin nicht etwa, wie sogar ein sonst scharfsichtiger Kritiker dieses Büchleins meinte, ein grundsätzlicher oder politischer Feind der 7

Leipzig, O. R. Reisland, 1897. Das kleine Buch war bald vergriffen, ist aber nicht wieder aufgelegt worden.

19 Buch bekannt geworden

war: Vgl. Tönnies 1 8 9 3 .

21 „Die Gesellschaftsordnung 21 Protest erhoben:

und ihre natürlichen

Grundlagen"-. Vgl. Ammon 1 9 0 0 .

Vgl. Tönnies 1 9 0 4 .

26 „Der Nietzsche-Kultus":

Vgl. Tönnies 1 8 9 7 , inzwischen neu hrsg. von Günther Rudolph

(Tönnies 1990); siehe auch TG 4. Die Fußnote fehlt in A. 27 ein sonst scharfsichtiger

Kritiker: Gemeint ist Georg Simmel, der in einer Rezension ( 1 8 9 7 :

1 6 5 1 ) geschrieben hatte: „Es scheint, als ob ein Parteistandpunkt ihn [Tönnies] hinderte, nicht nur die rein moralphilosophische Bedeutung Nietzsches, sondern auch die Thatsache anzuerkennen, dass die aristokratische, auf die Bedeutung der Distanz

gerichtete

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

5

335

Aristokratie; aus meinen Theoremen läßt sich eher das Gegenteil ableiten. Ich bin aber ein grundsätzlicher Gegner voreiliger Verallgemeinerungen und unlogischer Beweismittel. Und ich hege sachlich sehr starke Zweifel, ob die heutige Volkswirtschaft und Gesellschaft danach angetan ist, eine lebens- und funktions- (d. h. herrsch-)fähige Aristokratie aus sich hervorzubringen (Anmerkungen in dem besprochenen Buche von Schalk über die amerikanische Plutokratie und Boßwirtschaft und die Zusammenhänge beider sind in dieser Hinsicht beachtenswert!).

Werthungsweise ein ewiges Element des Menschlichen ist, das mit der demokratischen, auf die Nivellirung zustrebenden einen Kampf führt, der im Praktischen nie definitiv, im theoretischen nie objektiv zu entscheiden ist." Am Anfang seines Artikels charakterisiert Simmel Tönnies als einen Autor, dem die Bedeutung Nietzsches nicht zugänglich sei, „weil er an ihn vom Standpunkt eines modernen, sozialistisch gefärbten Evolutionisten herantritt, der die wirkliche Entwicklung mit ihrer technischen Aufgipfelung, ihrer Demokratisirung der Macht, ihren eudämonistischen Zielen ohne Weiteres als das Rechte und Sein-Sollende hinnimmt. Er weist nun ausführlich nach, wie sehr die Nietzscheschen Ideale diesen Werthen inkommensurabel sind; dabei bedenkt er aber nicht, dass ja hier der Werthmaassstab selbst in Frage steht." (ebd.: 1646). 8 (Anmerkungen ... sind in dieser Hinsicht beachtenswert!): Vgl. Schalk 1905: 161. Beachte den Schluss des Textes aus der Erstveröffentlichung A im editorischen Bericht S. 675.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung Vierter Teil 1

Aus der Replik gegen eine Antikritik Schallmayers in Schmollers Jahrbuch.

4 Vierter Teil: Der Text wurde zuerst im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jahrbuch] 31. 1907, S. 487-552 [H 2, S. 49-114] unter dem Titel: „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Vierter Abschnitt. Eine Replik" veröffentlicht (im Folgenden: A). - D i e Fußnote fehlt in A. Die Nummerierung der Abschnitte beginnt in A mit XI. Vgl. für eine hier gestrichene Passage aus A und für das in Schmollers Jahrbuch übliche kurze Inhaltsverzeichnis sowie für eine Fußnote der Schriftleitung der Zeitschrift den editorischer Bericht, S. 681; beachte auch die Anmerkung zum ersten Teil oben auf S. 205.

Vili.

5

10

15

20

Die Vergröberung der Darwinschen Lehre lege ich generell den „Vertretern der soziologischen Erweiterung der Selektionstheorie" zur Last, und sage, daß sie die bessere Chance des Überlebens verwechseln mit dem „Recht des Stärkeren" in der Natur. Ich habe dabei eine Reihe von soziologischen Autoren im Auge gehabt, die meinen Studien im Laufe des letzten Menschenalters begegnet sind und meine Kritik des öfteren veranlaßt haben (z. B. Archiv für system. Philosophie, Bd. VIII [1902], S. 264). Wenn ich hinzufügte: „also mit der Tatsache, daß die großen Fische die kleinen fressen, daß der Raubvogel regelmäßig »Sieger« über den Singvogel usw.", so wollte ich damit (mit dem Wörtchen »also«) sagen, daß dies die gangbare Auslegung des Rechts des Stärkeren in der Natur ist, wobei ich vorzugsweise an einen berühmten Satz des Spinoza dachte, und auf dessen Wortlaut anspielte; und ferner wollte ich sagen, daß mir diese Auslegung, angewandt auf die soziale Entwicklung, mehr als einmal als eine angebliche Folgerung aus der Selektionstheorie oder als deren Bestätigung vorgekommen sei: auch in der Menschenwelt herrsche die Auslese, denn die Stärkeren, z. B. die Kulturvölker überleben, während die Naturvölker von ihnen vertilgt werden, also untergehen. - Mein Gedankengang war folgender: das „Recht des Stärkeren" in dem gewöhnlichen und auch 8 Archiv für system. Philosophie: Vgl. Tönnies 1900a; in seinem umfangreichen „Jahresbericht über Erscheinungen der Soziologie aus den Jahren 1 8 9 7 und 1 8 9 8 " rezensiert Tönnies aus der in- und ausländischen ethnologischen, historischen und statistischen Literatur das ihm soziologisch Merkwürdige; siehe dazu TG 19. Die von Tönnies genannte Band- und Seitenangabe bezieht sich nur auf den Beginn des 1 9 0 2 erschienenen zweiten Artikels (S. 2 6 3 - 2 7 9 ) , der erste erschien bereits 1 9 0 0 . Ii „also mit der Tatsache ... über den Singvogel usw. ": Dieser Satz bezieht sich auf Kap. 9, SSK1 (vgl. oben, S. 218). Ii dem Wörtchen

»also«: In A: dem „Wörtchen also".

13 Satz des Spinoza: „Unter Recht und Gesetz der Natur verstehe ich nichts anderes, als die Regeln der Natur bei jedem einzelnen Individuum, gemäß denen wir jedes naturgemäß bestimmt sehen, auf eine gewisse Weise zu existieren und zu wirken. Die Fische z. B. sind von Natur bestimmt zu schwimmen, die großen die kleineren zu fressen, und darum bemächtigen sich die Fische mit dem höchsten natürlichen Recht des Wassers und fressen die großen die kleineren." (Spinoza 1 9 2 1 : 273). 19 also untergehen.:

Für eine längere Passage aus A, die Tönnies hier gestrichen hat, vgl. den

editorischer Bericht S. 6 8 2 .

340

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

von manchen darwinistischen Soziologen verstandenen Sinne hat mit der Selektionstheorie nichts weiter zu tun, als daß deren Meinung darin vergröbert und entstellt ist. Anders ist es mit dem Recht des Stärkeren, wie Schallmayer es versteht. Aber auch in dieser Erweiterung der Selektionstheorie, wie sie an Schaffte sich anlehnt, sind große Unklarheiten und Schwierigkeiten enthalten. Namentlich ist der Gedanke nicht durchführbar, daß Staaten in derselben Weise, wie nach Darwin Individuen, Varietäten und Arten, von der Natur gezüchtet werden. Sind Volkskörper und Staaten eins und dasselbe? Und selbst, wenn Schallmayer die Analogie zwischen Staaten und Organismen ausdrücklich (explicite) abgelehnt hätte, bliebe sie nicht doch implicite in dem, „was er wirklich von Schäffle hat" (S. 4 4 1 , Anm. 2), enthalten? Aber tatsächlich macht er von dieser Analogie den ausgiebigsten und direktesten Gebrauch, nicht eben in jenem 7. Kapitel, wo immer noch von »Erbwerten« die Rede ist, aber im ganzen achten, das die „Übertragung des Selektionsgedankens auf nicht vererbbare und nur traditionsfähige Errungenschaften" zum Thema hat. Der Satz von der Überlegenheit der »Kulturwerte«, den ich zitiert hatte, läßt es noch zweifelhaft, ob an eine Auslese zwischen diesen Werten oder zwischen menschlichen Gesamtheiten gedacht ist; ich habe deshalb die Frage daran geknüpft: „Nur die Kultur (seil, ist dem Untergange geweiht) oder auch die Menschen und ihre sozialen Körper?", konnte sie aber sogleich dahin beantworten, daß offenbar das letztere gemeint sei. („Diese Auslese findet indirekt statt, durch Auslese unter ihren [der Traditionswerte] Trägern." „Denn das Schicksal der Kulturgüter hängt ab von dem Schicksal der Personen oder Gesellschaften, von denen sie hervorgebracht oder angenommen worden sind.") In diesem Sinne heißt es ferner in dem Buche: „Wenn der intra- und intersozial geführte Daseinskampf von Periode zu Periode stärkere Sieger hinterläßt, so muß »jedes Gemeinwesen, das lebensfähig bleiben soll«, mit jeder Periode eine größere Kollektiv8 Sind Volkskörper:

In A: Sind aber Volkskörper - Vor diesem Satz strich Tönnies eine

längere Passage aus A, vgl. den editorischer Bericht S. 6 8 2 . 9 wenn Schallmayer:

In A: wenn der Verfasser.

12 „was er wirklich von Schäffle hat": „Was ich wirklich von Schäffle habe - und das ist allerdings nicht wenig - ist von mir überall getreulich angegeben." (Schallmayer 1906: 4 4 1 , Anm. 2). 16 „Übertragung

... traditionsfähige

Errungenschaften":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 2 1 2 ff.

16 zum Thema hat.: In A: zum Thema hatte, und den die Antikritik von neuem zitiert. - Dies bezieht sich auf Schallmayer 1 9 0 6 : 4 3 7 f. und auf Tönnies' Ausführungen in diesem Band, S. 2 1 8 f. 17 zitiert hatte: Vgl. hierfür und für die folgenden Zitate in diesem Band S. 2 1 9 .

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

341

macht entfalten." So in dem kurzen Abschnitte (3): „Anwendung der Selektionstheorie auf die äußere Politik", der mit dem Satze schließt: „Denn in der äußeren Politik waltet ja unbestritten das Recht des Stärkeren, und deshalb hat auch die Selektionstheorie hier so offenbar wie kaum auf einem anderen Gebiete Gültigkeit." Wir vernehmen, drei Seiten vorher, daß die natürliche Auslese „kriegerische Tugenden und Sittenbegriffe", daß sie unter Umständen auch „mildere Sitten" züchtet-, wir müssen fragen: Was züchtet die natürliche Auslese denn hier, wo die Selektionstheorie so offenbar wie kaum auf einem anderen Gebiete Gültigkeit hat? Es kann kein Zweifel sein: sie züchtet Staaten, oder wie der Verf. in diesem Abschnitte dafür einsetzt, immer größere »Landfriedenskreise«. Wie kommt die Vergrößerung der Landfriedenskreise zustande? Die Ausführung des genannten Abschnittes ist folgende: ein Gemeinwesen, das lebensfähig bleiben soll, muß mit jeder Periode größere Kollektivmacht entfalten; diese Entfaltung kann auch geschehen durch Anpassung an andere Gemeinschaften, also wenn mehrere sich aneinander anpassen, durch wechselseitig nützliche Anpassung (dies wird unterstrichen). „Am allerraschesten aber vermag eine auch militärische »Verschmelzung« vorher getrennter Staaten, also eine weitere Vergrößerung der Landfriedenskreise, die Macht »eines mit anderen konkurrierenden Gesellschaftskörpers« zu erhöhen." Das Gemeinwesen oder der Gesellschaftskörper bleibt also dadurch »lebensfähig«, daß es oder er mit anderen seinesgleichen »verschmilzt«. Weiter: (wie das Faustrecht der einzelnen Personen durch die Macht des Staates beseitigt wurde) „so wurden im Laufe der Geschichte in analoger Weise zunächst kleinere, dann immer größere Gesellschaftskörper, die vorher selbständig gewesen waren, unter einer Macht vereinigt . . . " ; als Beispiel dienen die deutschen »Bundesstaaten«. Es wird dann in Aussicht gestellt, daß bei dem außerordentlich raschen Anwachsen der Macht der Vereinigten Staaten von Amerika die gegenwärtigen europäischen Landfrie-

l „hierin

der ... größere

Kollektivmacht

entfalten.":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 2 2 2 . Schall-

mayers Sperrungen sind hier von Tönnies getilgt, die Passage in Sonderzeichen ( » . . . « ) steht in A in Asterisken und erscheint bei Schallmayer als einfacher Fließtext. s „Denn

in der äußeren

8 wir müssen fragen:

Politik ... anderen

Gebiete

Gültigkeit.":

Vgl. ebd.: 2 2 3 .

...: In A: fragen (so unangenehm auch dem H e r r n Verfasser das Fragen

sein m ö g e ) : . . . 20 „Am allerraschesten

aber ...zu

erhöhen.":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 2 2 2 . - Die mit Sonder-

zeichen ( » . . . « ) eingeschlossenen Teile erscheinen bei Schallmayer als Fließtext, sie stehen in A zwischen Asterisken. 26 „so wurden

... Macht

vereinigt

...":

Vgl. ebd.: 2 2 2 f.

342

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

denskreise sich nicht mehr groß genug erweisen werden, um jener künftigen Riesenmacht gewachsen zu bleiben. („Denn in der äußeren Politik . . . " , so folgt der schon zitierte Schlußsatz.) Wenn hier nicht die Meinung ist, daß die natürliche Auslese, ganz wie nach Darwin Pflanzen und Tiere, immer größere Staaten und Landfriedenskreise »züchtet«, so fällt der ganze Zusammenhang sinnlos in sich zusammen. Daß aber jenes wirklich die Meinung ist, wird zum Überfluß an anderen Stellen nachdrücklich bestätigt, z. B. Seite 245: „Zwischen den »sozialen Organismen« besteht »genau wie zwischen den Individuen« unablässig ein Daseinskampf, wenn er auch nur zeitweilig die Form des Krieges annimmt." Mit diesen „sozialen Organismen" werden dann die Völker auch hier identifiziert. „Der definitive Sieg im Daseinskampf hängt von ihrer inneren sowohl kulturellen als generativen Entwicklung ab" (auf derselben Seite!). Zwei Seiten nachher dann wieder die Staaten: als eigener Absatz mit gesperrten Lettern gedruckt, „Staaten, deren inner- und äußerpolitische Entwicklung eine andere Richtung einschlägt oder dieselbe Richtung nicht mit derselben Geschwindigkeit wie die am raschesten vorwärts schreitenden Staaten, werden vom auslesenden Daseinskampf zum Verschwinden verurteilt werden". Und doch ist der Antikritiker kühn und zuversichtlich genug, zu schreiben: „Wenn also hier die Tönniessche Kritik Schäfßes zugleich als eine Kritik meiner Anschauung erscheint, so muß ich dies als unzutreffend ablehnen." Allerdings war es Unrecht - gegen Schäffle, ihm die gesamten Anschauungen Schallmayers in diesem Stück gleichsam zur Last zu legen. Denn wenn auch Schäffle kritiklos und in verworrener Weise mit dem Begriffe des »sozialen Körpers« operiert, so kann man ihm doch nicht ein beliebiges Durcheinanderwerfen der Begriffe »Staat« und »Volk«, wie wir es bei Schallmayer antreffen, Schuld geben. Freilich kommt auch bei Schallmayer eine Unterscheidung vor; so in einer Zusammenfassung des 9. Kapitels (S. 250): „Aus alledem ergibt sich, daß vom Standpunkte der Deszendenztheorie das Ziel aller staatlichen Politik, auch der inneren, kein io „Zwischen

den ... Krieges annimmt.":

Bei Schallmayer sind diese Worte nicht hervorge-

hoben; in A stehen an Stelle der Sonderzeichen (»...«) Asterisken. 13 „Der definitive Sieg ... Entwicklung ab": Bei Schallmayer erscheint der Satz leicht abweichend und insgesamt gesperrt: „Der definitive Sieg im Daseinskampf ihrer inneren, sowohl kulturellen als generativen 22 „Wenn also hier ...als

unzutreffend

ablehnen.":

Entwicklung

der Völker hängt von

ab."

Schallmayer (1906, 4 4 1 f.) schrieb leicht

abweichend: „Wenn also hier die Tönniessche Kritik Schäffles zugleich als eine Kritik meiner Anschauungen erscheint, so muß ich das als unzutreffend ablehnen." 28 einer Zusammenfassung:

In A: einem Resümee. - Im folgenden Zitat sind Sperrungen

Schallmayers zum Teil von Tönnies getilgt worden.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

343

anderes sein kann, als das, dem Volke oder den Völkern, die der Staat in sich schließt, die günstigsten Bedingungen zum siegreichen Bestehen des Daseinskampfes zu bereiten." Was man aber unter einem Volke zu verstehen habe, darüber fehlt jede Andeutung, jeder, auch der schwächste Versuch einer Bestimmung dieses Begriffes. Sind auch die unter uns lebenden Juden und Polen ein »Volk«, das der deutsche oder preußische Staat in sich schließt? Vollends die zehn Millionen Neger in der amerikanischen Union? Oder bilden diese ein Volk mit ihren afrikanischen Stammesbrüdern zusammen? Die deutschen Juden ein Volk mit den übrigen Juden, die auf dem ganzen Erdball verstreut sind? Aber auch das deutsche »Volk« ist doch nicht identisch mit den Massen der »Deutschen«, die das Deutsche Reich in sich schließt! Zu denen, wiederum in mehr als einem Sinne, auch die Juden gehören, die unsere Sprache sprechen und an unserer Bildung teilhaben? Soll die staatliche Politik „auch die innere", in Österreich sämtlichen Völkern, die dieser Staat in sich schließt, die günstigsten Bedingungen zum siegreichen Bestehen des Daseinskampfes bereiten? Auch des »Daseinskampfes«, den sie gegeneinander führen? Sollen die Deutschen ihn gegen die Tschechen siegreich führen und die Tschechen gegen die Deutschen? Oder wie ist das gedacht?! - Ich bedauere, wenn meine Fragen dem Antikritiker unbequem sind. Aber noch weniger, als über den Begriff des Volkes, dürfen wir irgendwelche Klarheit, auch nur den allerleisesten Versuch, Klarheit zu gewinnen, darüber erwarten, was denn eigentlich für »Staaten« gemeint sind, die „vom auslesenden Daseinskampf zum Verschwinden verurteilt werden". Soll dies auch gelten von den Staaten, die in einem Bundesstaat oder Reiche miteinander verbunden sind? oder hört zwischen diesen die Konkurrenz und der »Daseinskampf« auf? oder haben eben diese dadurch, daß sie in dem Bundesstaate »aufgehen«, zu existieren aufgehört? sind schon »verschwunden«? Auf die deutschen Einzelstaaten (»Bundesstaaten«, wie sie unrichtigerweise genannt sind) wird, wie gesagt, exemplifiziert (S. 223); sie sind hier als die „kleinen Gesellschaftskörper" gemeint, die „vorher selbständig gewesen", „unter einer Macht vereinigt wurden": es sei „ihnen teils nur staatsrechtlich die Führung von Kriegen gegeneinander verboten worden, teils auch faktisch unmöglich gemacht, indem sie nicht im Besitz selbständiger Heere blieben". In derselben Weise (so wird hier angedeutet und S. 2 9 7 ausgeführt)

u

Österreich: In A fett und gesperrt gedruckt.

35 „ihnen teils nur staatsrechtlich 2 2 2 f.

... selbständiger

Heere blieben":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 :

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

stelle das Selektionsprinzip, das zu immer größeren »sozialen Gebilden« zwinge, in Aussicht, daß das Wachstum der amerikanischen Macht die europäischen Völker »zwingen« werde, sich die erforderliche Machtsteigerung durch Vereinigung einzelner europäischer Staaten zu schaffen; auch hier sei die Bedingung, „daß diese vereinigten Staaten nur ein gemeinsames, den einzelnen Bundesstaaten nicht zur Verfügung stehendes Heer besitzen". Werden sie dann Staaten bleiben, also sich als »lebensfähig« erweisen? oder werden sie verschwinden? Oder ist das gar kein Unterschied?! Aber dann schadet es ja auch nichts, wenn der auslesende Daseinskampf etliche Staaten zum Verschwinden verurteilt! Im Gegenteil: das Verschwinden wäre ja unter diesen Umständen das allein richtige Mittel ihrer Selbstbehauptung. Und „für den einsichtigen Politiker ist der letzte Zweck aller Politik ohne Zweifel die staatliche Selbstbehauptung" Schallmayer S. 246. Aber nein: als die vernünftige Deutung muß doch wohl gelten, daß die Staaten weiter»leben«, wenn sie im Kampf ums Dasein sich behaupten, daß also die Assoziation anstatt des - sei es gewalthaften oder friedlichen - Kampfes (des Krieges oder der Konkurrenz) ein Mittel bedeutet, wodurch schwächere wie stärkere sich in den Stand setzen, ihr Dasein fortzusetzen; oder auch mehrere schwächere gegen einen stärkeren usw. Was hat aber dies mit »natürlicher Auslese«, mit »Züchtung« zu tun?! Natürliche Auslese und Züchtung bedeuten, daß auserlesene Organismen ausschließlich oder vorzugsweise sich fortpflanzen und vermehren; von diesen Vorstellungen getrennt werden jene Begriffe zu leeren Redensarten, die keinen tieferen Sinn haben, als die Redensart hätte, daß von den 130 Tragödien des Sophokles sich sieben durch Zuchtwahl erhalten haben, oder daß infolge einer natürlichen Auslese der Hermes des Praxiteles ins Athenische Museum gekommen sei. Die Wahrheit ist, daß es viele Ursachen der Erhaltung und Dauer von unorganischen Dingen, insbesondere auch von menschlichen Institutionen, sozialen Gebilden usw. usw. gibt; darunter ist freilich eine Ursache, die mit dem Verfahren der Pflanzen- und Tierzüchter einige Ähnlichkeit hat, nämlich menschliches Gefallen und wählendes Urteil; auch ist die Vervielfältigung durch Nachahmung und Nachbildung allerdings der Art und Weise vergleichbar, wie jene Züchter gewisse Varietäten zur Nachzucht wählen. Wenn nun Dari »sozialen Gebilden«: 3 »zwingen«-

In A finden sich Asterisken an Stelle der Anführungszeichen.

steht in A zwischen Asterisken.

9 Oder ist das gar kein Unterschied?.':

Der Satz erscheint in A im Fettdruck.

13 „für den einsichtigen Politiker ist der letzte Zweck ...": Bei Schallmayer (1903: 246): „Für den einsichtigen Politiker aber ist der letzte Zweck . . . " .

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wins genialer Gedanke das »Verfahren« der Natur, wodurch sie neue Arten hervorbringt, ebenfalls mit dem Verfahren der Züchter vergleicht und als wesensgleich setzt, so will er das minder Bekannte durch das Bekanntere, das Dunklere durch das Klarere erläutern. Hingegen wenn Schäffle, Schallmayer und allzu viele außer ihnen, meinen, die bewußten Wahlakte, Bevorzugungen, Hegen und Pflegen, wie sie von Menschen in bezug auf alle möglichen Gegenstände, die ihnen dienen oder sie ergötzen, geübt werden, vollends, wenn sie meinen, deren Ergebnisse als Ergebnisse von natürlicher Auslese unserem Verständnisse näher zu bringen, so wollen sie Bekanntes durch minder Bekanntes, Klareres durch Dunkleres erklären, d. h. sie verdunkeln in Wirklichkeit die Tatbestände. Denn es kann doch nicht die Meinung sein, die Erhaltung und Ausbreitung z. B. einer Religion sei wesentlich Naturprozeß, in dem Sinne, daß das Wollen und Wählen der Menschen, die an diese Religion glauben, keinen Einfluß darauf habe; als ob nur die (gewaltsamen oder friedlichen) Formen des Kampfes ums Dasein zwischen den Völkern jene Prozesse bestimmten?! Gewiß: zwischen menschlichen Gruppen, so wie vielfach zwischen einzelnen Menschen, finden allerhand »Kämpfe« statt; in Gestalt von Kriegen, von Konkurrenzen, von Prozessen usw. Zuweilen sind es Kämpfe um die Existenz; zuweilen, aber lange nicht immer; sondern es sind zumeist Kämpfe um Besitz und Macht, also um irgendwelche Güter, um Land, um Geld, um Weiber usw. Nur zwischen Menschen und zwischen höher organisierten Tieren, auch wohl zwischen Menschen einerseits, Tieren anderseits, kennen wir eigentliche Kämpfe, bei denen es nicht selten um Sein oder Nichtsein sich handelt. Im uneigentlichen Sinne wird von einem Kampf ums Dasein geredet, wo alle sonst vorhandenen Merkmale des Kämpfens fehlen, und nichts vorliegt als der Lebenstrieb, der Nahrung und (unter gewissen Voraussetzungen) Fortpflanzung erstrebt, und sich gegen Vernichtung sträubt. Darwin nannte es ein „Ringen um die Existenz". „Ich will vorausschicken, daß ich diesen Ausdruck in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, unter dem sowohl die Abhängigkeit der Wesen voneinander, als auch, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, sondern auch Erfolg in bezug auf das Hinterlassen von Nachkommenschaft einbegriffen wird" (Entstehung, übers, von Carus, 17 Gewiß: Vgl. für eine vor diesem Satz in A stehende und hier gestrichene Passage den editorischer Bericht, S. 682. 34 „Ich will vorausschicken ... einbegriffen wird": Vgl. Darwin 1876: 84. Der Ausdruck „Ringen um die Existenz" kommt an der angeführten Stelle nicht vor, Darwin spricht durchgehend vom „Kampf um's Dasein".

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S. 84); was nicht eben klar ausgedrückt ist, aber doch zeigt, daß Darwin des metaphorischen Sinnes sich völlig bewußt war. Aber welchen Sinn hat es, wenn aus diesem metaphorischem Sinne wieder das Kämpfen im eigentlichen Sinne, die Kriege und Konkurrenzkämpfe (die wenigstens auch ein bewußtes Sichbehaupten und Sichausbreiten auf Kosten anderer bedeuten) zwischen Menschengruppen, erklärt und hergeleitet werden sollen? Jeder Geschäftsmann spricht (oder schwatzt) heute vom Kampf ums Dasein - wo er in Wirklichkeit seine Bemühungen um Ausdehnung seines Kundenkreises, um Gewinnung von Reichtum und Rang, zuweilen auch ein verzweifeltes Ringen um die »Existenz« seines Geschäftes, und damit um sein Leben und das Leben seiner Familie in gewissen sozialen Formen meint, sehr selten aber um sein oder ihr bloßes nacktes »Dasein« es sich handelt; wie man allerdings (nach Darwin) „sagen kann, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wiese um ihr Dasein gegen die Trockenheit" („obwohl es angemessener wäre", fügt er hinzu, „zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab"). In der Regel meint Darwin, daß das Streben eines Individuums, und so auch einer Varietät, einer Art, sich zu erhalten und zu vermehren, mit dem gleichen Streben anderer kollidiert, daß eins auf Kosten des anderen, es verdrängend und vernichtend, lebt, d. h. eben sich vermehrt. Und daß in derselben Weise auch Menschen und natürliche Gruppen von Menschen, vorzugsweise also die Rassen der Menschen miteinander konkurrieren, ebenso aber auch Völker, Nationen: dies zu sagen und zu begründen wäre ein berechtigter Gebrauch des Darwinschen Grundgedankens, wenn wirklich diese Menschengruppen die allgemeine und gleichartige Tendenz hätten, sich ins Ungemessene zu vermehren; und von einer Verallgemeinerung dieser Malthusschen Annahme ist bekanntlich Darwin ausgegangen. Aber diese Malthussche Annahme ist unrichtig; bei allen Menschengruppen, die wir kennen, ist die Tendenz durch die Bedingungen ihres sozialen Lebens stark modifiziert, und die stärkere Tendenz ist selber nur einer von vielen Faktoren, die das Siegen im Wettstreit dieser Gruppen begünstigen. Aber dies Siegen im sozialen Wettstreit ist keineswegs mit einem biologischen Überleben, also mit einem „Siege im Kampfe ums Dasein" identisch. Es besteht nur teilweise Verdrängung und Vernichtung der anderen Gruppen; die Menschengruppen, insbesondere

16 „sagen kann, ein Pflanze kämpfe ... hänge von der Feuchtigkeit ab")-. Vgl. Darwin (ebd.): „Aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste um ihr Dasein gegen die Trocknis, obwohl es angemessener wäre zu sagen, sie hänge von der Feuchtigkeit ab."

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soweit sie politisch verbunden sind, streben vielmehr danach, andere Gruppen von sich abhängig zu machen, zu beherrschen, als ihnen das Leben unmöglich zu machen und sich auf ihre Kosten zu vermehren; nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil hat jener Erfolg diesen Erfolg zur Wirkung. Die Unterwerfung und Annexion wirkt ebenso wie die Verbundenheit und die Vereinigung - die gegenseitige Hilfe - dem Wesen des Kampfes in einem Maße entgegen, daß von unablässigem Daseinskampf sowohl zwischen menschlichen Individuen als menschlichen Gruppen nur eine oberflächliche Betrachtung reden kann. Und nun gar: „zwischen den sozialen Organismen genau wie zwischen den Individuen"! Ich wiederhole, daß wir niemals erfahren, was unter sozialen Organismen zu verstehen sei? Ob nur Großstaaten, Großmächte, wie nach Seite 2 9 6 f. zu vermuten? oder auch Einzelstaaten eines Reiches? auch kommunale Körperschaften? auch andere Korporationen? Vereine? Kirchen? von denen einige durch eine so starke »Organisation« sich auszeichnen? Von unserem Verf. werden so schwierige Begriffe, wie die von Volk, Rasse, Staat, soziales Gebilde, Landfriedenskreis, Gesellschaftskörper, sozialer Organismus, ohne jede Unterscheidung verwendet, die Wörter werden promiscue gebraucht! Begriffswildnis überall! - Kein Wunder, daß die so auf der „soziologischen Erweiterung der Selektionstheorie" aufgebaute Ansicht der Geschichte in keiner Weise stichhaltig ist. Meine Kritik hat auf diese Mangelhaftigkeit mit einigen Bemerkungen und Fragen hinweisen wollen, von denen der Antikritiker sagt (S. 441), sie seien eine »Dialektik«, die der tatsächlichen Kombination der verursachenden Faktoren sowie auch der Wirkungen nicht gerecht werde; man könne damit die Wirklichkeit nicht begreifen, sondern nur Verwirrung stiften. Voraus geht diesem Satze eine wohlwollende Belehrung über formale Logik, über Ursache und Wirkung, wofür ich dem Antikritiker sehr verio „zwischen den sozialen Organismen genau wie zwischen den Individuen ": Vgl. Schallmayer (1903: 245). „Zwischen den sozialen Organismen besteht genau wie zwischen den Individuen unablässig ein Daseinskampf, wenn er auch nur zeitweilig die Form des Krieges annimmt . . . " . 15 Verf.-, In A: Verfasser und Antikritiker. 23 eine »Dialektik«: 27 Voraus geht...

In A: „eine Dialektik".

eine wohlwollende

Belehrung:

Siehe diese bei Schallmayer ( 1 9 0 6 : 4 4 0 f.):

„Der in der formalen Logik so beliebte Absolutismus in bezug auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung entspricht nur selten (wenn überhaupt jemals), und so auch hier nicht, den tatsächlichen Verhältnissen. In der formalen Logik wird gewöhnlich vorausgesetzt, daß eine Ursache eine Wirkung bedingt, und darauf beruht auch obige dialektische Kritik [Tönnies']. In der Natur aber wird immer eine Wirkung durch das Zusammenwir-

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bunden bin; er muß wohl meinen, über diese Begriffe besser unterrichtet zu sein, als ich es bin. Leider beruht aber die Belehrung auf einem großen Mißverständnis und einem falschen Zitat. „An gleicher Stelle fragt Herr T., ob es der mangelhafte Familiensinn war, der solche Völker, bei denen der Familiensinn nachließ, im Wettbewerb unterliegen ließ ..." Es wird ohne Grund behauptet, daß ich so gefragt habe. Ich habe, nachdem ich den Satz des Verf.s angeführt, daß die natürliche Auslese »stets« solche Völker ausgerottet oder in den Hintergrund gedrängt habe, „bei denen der Familiensinn nachließ", die Frage gestellt: „Soll das heißen, daß der mangelhafte Familiensinn diese Völker im Wettbewerb unterliegen ließ, auch wenn sie im Reichtum ... weit überlegen waren?" Ich stelle diese Frage, weil nur bei dieser Deutung die Behauptung des Verf.s über das »Verfahren« der natürlichen Auslese (gegen »solche Völker«) einen Sinn hat. Der Antikritiker erklärt hier von seinem hohen Pferde herab: „Es ist »selbstverständlich«, daß es für die Erhaltungsfähigkeit eines Volkes oder einer Rasse weder ausschließlich auf Familiensinn, noch ausschließlich auf Kriegstechnik usw. ankommt, sondern auf die Resultante aller der Faktoren, von denen die Stärke in der friedlichen und in der gewalttätigen Völkerkonkurrenz abhängt." Er verneint also die Deutung, die seinem Satze allein, wie ich behaupte, einen vernünftigen Sinn gab. Er verneint damit diesen Satz selber. Wenn es nicht ausschließlich auf den Familiensinn ankommt, warum hat denn die natürliche Auslese stets solche Völker ausgerottet oder in den Hintergrund gedrängt, bei denen der Familiensinn nachließ? Es müßte dann doch möglich sein, daß ein geringerer Familiensinn durch um so größere intellektuelle Kraft oder bessere Waffentechnik jezuweilen kompensiert würde ... daß dies möglich sei, betont nun der Antikritiker ausdrücklich in bezug auf andere Merkmale, deren Besitz „wie jeder andere Faktor, der die Stärke eines Gemeinwesens beeinflußt" -

ken einer Mehrheit von Faktoren oder Bedingungen zustande gebracht. Mit einer Dialektik, die der tatsächlichen Kombination

der verursachenden Faktoren sowie auch der

Wirkungen nicht gerecht wird, kann man die Wirklichkeit nicht begreifen, sondern nur Verwirrung stiften).". 6 „An gleicher Stelle ... unterliegen

ließ ...":

Vgl. Schallmayer, ebd.: 4 4 0 .

8 »stets« - steht in A zwischen Asterisken. 12 „Soll das heißen ... überlegen 20 „Es ist »selbstverständlich«

waren?":

Vgl. in diesem Band S. 2 1 9 .

... Völkerkonkurrenz

abhängt."-. Vgl. Schallmayer (ebd.). Das

Wort „selbstverständlich" ist bei Schallmayer nicht hervorgehoben, in A steht es zwischen Asterisken.

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das sonstige Kräfteverhältnis, einschließlich der Gunst oder Ungunst der Konjunktur „als gleich vorausgesetzt" - der einen Wagschale „zum Übergewicht über die andere verhelfen" könne. Ich hatte gesagt, der mangelhafte Familiensinn müsse allerdings für ein entscheidendes Merkmal (negativer Belastung) gehalten werden, sofern er sich in zu geringer Fortpflanzung äußere, „bei der kein Volk auf die Dauer bestehen kann". Nur eine logische Wahrheit sollte damit ausgesprochen werden, indem ich als »zu gering« eine Fortpflanzung dachte, die Verminderung anstatt Vermehrung zur Folge hätte: stetige Verminderung ist Aussterben. Ich fügte hinzu, wenn der Familiensinn so verstanden würde als Ursache energischer Vermehrung - so wäre das Beispiel (als solches hatte der Verf. hingestellt, daß die Völker bei denen der Familiensinn nachließ, stets von der natürlichen Auslese ausgerottet ... worden seien) mehr als ein Beispiel; es wäre eben der Familiensinn die von der natürlichen Auslese gleichsam prämiierte Eigenschaft. Demgegenüber erteilt mir nun der Antikritiker seine Lektion, daß (es sei selbstverständlich, daß) es nur auf die Resultante aller der Faktoren, von denen die Stärke in der friedlichen und in der gewalttätigen Völkerkonkurrenz abhänge, ankomme. Diese Völkerkonkurrenz, so werden wir drei Seiten vorher belehrt, ist ein Kampf um die Existenzmittel (der Antikritiker unterstreicht diese Worte); dort aber ist nicht von Erhaltung und Selektion eines Volkes oder einer Rasse, sondern von der »ständigen Auslese«, der alle Kulturwerte ausgesetzt seien, die Rede. Den Fall, daß Erhaltung und Vermehrung der Kulturwerte einerseits, Erhaltung und Vermehrung der Menschen, die er selber ihre Träger nennt, anderseits, auseinandergehen, faßt er gar nicht als einen möglichen Fall ins Auge, obgleich gerade dieser Fall für die Kulturgeschichte eine so stark in die Augen fallende Bedeutung hat. Dar3 Wenn es nicht .. auf den Familiensinn ankommt .... zum Übergewicht über die andere verhelfen" könne: Vgl. ebd.; Hervorhebungen in dieser Passage von Tönnies. In A stehen die beiden letzten Zitatsplitter zwischen Asterisken. 7 „bei der kein Volk ... bestehen kann"-. Selbstzitat Tönnies', vgl. in diesem Band S. 219. 20 Kampf um die Existenzmittel: Selbstzitat Schallmayers aus der Preisschrift (1903: 214), hier: Schallmayer 1906: 437. 22 »ständigen Auslese«: Vgl. Schallmayer (1903:214): „Sind sie [durch Tradition überlieferte Kulturwerte] geeignet, den Personen oder den Gesellschaftskörpern, in deren Besitz sie sich befinden, direkt oder indirekt Überlegenheit über andere Personen oder Gesellschaftskörper im Kampf um die Existenzmittel zu verleihen, so werden sie sich erhalten und ausbreiten auf Kosten der unvollkommener an die Daseinsbedingungen angepaßten Kulturwerte anderer Personen und Gesellschaftskörper, deren mangelhafte Kultur hiedurch dem Untergang geweiht ist."

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auf haben ihn die kritischen »Fragen« aufmerksam machen wollen, von denen er behauptet, daß sie sich durch den Begriff des Selektionswertes »erledigen«. Der Verf. der „Vererbung und Auslese" spricht, wo er von den Traditionswerten zu handeln beginnt, zunächst nur davon, daß diese (ebenso wie erbliche Eigenschaften) „einer unablässigen Selektion unterliegen" (S. 213); auch unter ihnen überdauere das Stärkere, der auslesende Daseinskampf »bevorzuge« „die lebensmächtigern, d. h. an ihre Lebensbedingungen besser angepaßten Gebilde". „Aber" - so fährt dann ein neuer Absatz fort - „diese Auslese findet indirekt statt, durch Auslese unter ihren Trägern. Denn das Schicksal der Kulturgüter hängt ab von dem Schicksal der Personen oder Gesellschaften, von denen sie hervorgebracht oder angenommen worden sind, wie auch umgekehrt das Schicksal der Personen oder Gesellschaften von den Kulturerrungenschaften abhängt, über die sie verfügen." Ihre Erhaltung und Dauer - die der Personen und die der Traditionswerte - bedingen also einander wechselseitig. Daß aber die letztere, Erhaltung und Dauer der Traditionswerte oder der „gesellschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen", den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung ausmacht, geht aus dem ganzen Inhalt der vorausgehenden Absätze unverkennbar hervor, worin mit Emphase betont wird, daß wir heute auch die Staats- und Gesellschaftsordnung, alle unsere Anschauungen über gut und böse usw. als Produkte einer Entwicklung betrachten, „und zwar in dem Sinn, den der Entwicklungsgedanke erst durch Darwin erhalten hat": also die Ordnungen, die Anschauungen, die lebensmächtiger sind, dauern. Sie dauern aber durch die Dauer ihrer Träger; und die Träger - dauern durch ihre Dauer. Ob und wie diese gegenseitige Bedingtheit zu denken sei, lasse ich dahingestellt; ich habe dagegen geltend gemacht, daß tatsächlich die Kulturwerte ihre Träger überdauern, wie der Verf. selber schon dadurch anerkannt hatte, daß er „hervorgebracht oder angenommen" gleichsetzt; denn damit ist zugegeben, daß der Besitz von Kulturwerten keineswegs das Überleben garantiert, was sonst auch ein Hauptstück der Theorie des Verf.s und übrigens selbstverständlich ist. Für diese Frage ist es aber ganz gleichgültig, ob einzelne Kulturwerte sonst als entscheidenden Wert besitzend gedacht

l kritischen »Fragen«: In A: „kritischen Fragen". lj „diese Auslese findet indirekt statt... über die sie verfügen.": Vgl. Schallmayer 1903: 213; dort mit Sperrdruck. 24 „und zwar in dem Sinn ... erhalten hat": Vgl. ebd.

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werden, oder nur die Resultante mehrerer Faktoren, wie nun der Antikritiker es betont. Wie stimmt es aber damit, daß gerade in bezug auf die Kulturerrungenschaften, also die einzelnen Faktoren, das Walten der natürlichen Auslese behauptet wird, die indirekt stattfinde, durch Auslese unter ihren Trägern? Wenn die Stärke der einzelnen Faktoren nicht entscheidend ist, so müssen auch Träger, die in bezug auf sie schwächer sind, dauern wenn eben die Resultante die stärkere ist - , mithin auch die schwächeren Faktoren selber, eben durch ihre Träger. Welche sind denn nach unserem Verf. die Faktoren? Er spricht schlechthin von allen Kulturerrungenschaften, allen Kulturgütern, Kulturwerten, Traditionswerten, von allen gesellschaftlichen Einrichtungen, von Höhe und Ausbreitung der sittlichen und der wissenschaftlichen Bildung - zwischen allen diesen Werten wirke die Auslese, indem sie die mit ihnen (soll also heißen mit der Resultante aus allen) versehenen „Völker und Rassen" überlegen mache und ihnen Dauer verleihe 2 . Ich hatte durch einige Hinweise auf bekannte Fakta diese sehr allgemeine Behauptung widerlegen wollen. Aber der Verf. widerlegt sich selber durch den Grundgedanken seines Buches, der ja in der Kontrastierung von kultureller und generativer Ausrüstung besteht und in der Ansicht, daß „auf die Dauer der Grad der kulturellen Entwicklung und im Zusammenhang damit die politische Machtstellung, von den generativen Anlagen" abhänge. Der „Grad der kulturellen Entwicklung" heißt es hier; und Kulturvölker werden von „sogenannten jüngeren Völkern" verdrängt-, gewisse die Auslese störende soziale Einrichtungen üben einen „entartenden Einfluß" auf jene; diesem Einfluß sind die sogenannten jüngeren Völker nicht ausgesetzt gewesen, und „haben trotzdem deren wichtigste Kulturerrungenschaften sich bereits angeeignet". Nur an dieser Stelle des Zusammenhangs (Teil II, S. 2 5 3 )

Mithin haben auch diejenigen sozialen Einrichtungen, welche die Auslese stören, sich durch Auslese entwickelt; auch sie (sind zwar nicht einzeln entscheidend gewesen für den Sieg ihrer Träger im Daseinskampf, aber) besitzen „Selektionswert" - auch sie machen die mit ihnen versehenen Völker überlegen und verleihen ihnen Dauer. Auf die „Dauer" freilich dann wieder nicht. 22 „auf die Dauer ... generativen

Anlagen"-. Vgl. ebd. ( 2 5 2 f.): „Auf die Dauer aber, sofern

dabei die wechselnde Gunst oder Ungunst geschichtlicher Konjunkturen als ausgeschaltet gedacht werden darf, hängt der Grad der kulturellen Entwicklung, hang damit die politische Machtstellung,

von den generativen

und im

Zusammen-

Anlagen ab, insbesondere

von den sozialen, unter denen wieder die ethischen die wichtigste Rolle spielen.".

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ist eine Andeutung von größerer Wichtigkeit einiger Kulturerrungenschaften, es fehlt aber auch hier die Andeutung, welcher? Im ersten Teile des Werkes, wo die „ungünstigen Wirkungen unserer Kultur auf die generative Entwicklung" behandelt werden, heißt es von den Germanen: „Nachdem sie als römische Hilfstruppen oder als Söldlinge den Römern ihre Kriegskunst einigermaßen abgelernt hatten und in den Besitz besserer Waffen gelangt waren ..., war es um die frühere Überlegenheit der Römer geschehen." Soll heißen: sie erlitten Niederlagen im Felde. Der Verf. spricht von Überlegenheit immer, als ob diese etwas Eindeutiges wäre, eben dasjenige, was die natürliche Auslese »bevorzuge«. In Wirklichkeit ist aber (und viele Stellen seines Buches implizieren diese Wahrheit) die kriegerische Überlegenheit eine Überlegenheit, die mit der Überlegenheit in bezug auf die große Masse der Kulturgüter keineswegs sich deckt. Und weder jene noch irgendeine Kultur-Überlegenheit bedeutet notwendigerweise, oder auch nur wahrscheinlicherweise, eine Verdrängung der in der einen oder der anderen Hinsicht Unterlegenen aus dem Dasein; sogar bedeutet die Vernichtung des politischen Daseins eines Volkes (wenn es als Volk ein solches hatte) durchaus nicht die Vernichtung seines biologischen Daseins, auf das es, nach den Gesichtspunkten des Verf.s, auch für die Kulturwerte, deren »Träger« ein Volk ist, allein ankommt.

VIII. Nur ein flüchtiger Schein war dafür vorhanden, daß ich hätte leugnen wollen, auch für den Darwinismus und andre Deszendenztheorien habe das, was ich konservative Auslese nenne, Bedeutung. Von selbst versteht l eine Andeutung: Vgl. ebd. (253): „Wenn also Kulturvölker sich nicht durch eine entsprechende Auslese ihre generative Ausrüstung für die Erfordernisse des Kulturlebens bewahren und steigern, so können sie auf Dauer nicht dem Schicksal entgehen, von sogenannten jüngeren Völkern verdrängt zu werden, d. h. von solchen, die noch nicht so lang dem entartenden Einfluß gewisser die Auslese störender sozialer Einrichtungen ausgesetzt gewesen sind wie die .gealterten' Völker, trotzdem aber deren wichtigste Kulturerrungenschaften sich bereits angeeignet haben.". 4 „ungünstigen Wirkungen ... auf die generative Entwicklung": Vgl. ebd.: Kap. 6.1., 111 ff. 8 „Nachdem sie als römische Hilfstruppen ... Römer geschehen.": Vgl. ebd.: 114. 20 allein ankommt.-. In A schließen sich weitere Absätze an, vgl. den editorischer Bericht, S. 683. 21 VIII.: A: XII. - In der Nummerierung der Abschnitte ist Tönnies hier ein Versehen unterlaufen; die Ziffer VIII steht schon am Anfang des Textes (S. 339).

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sich vielmehr, daß diese Theorie an einer so wichtigen Tatsache nicht vorbeigehen konnte. Gesagt hatte ich, die konservative Auslese sei keine Zuchtwahl, habe also mit dem Darwinismus „nichts zu tun", sei kein Element dieser Lehre. Die Meinung ist: auch insofern als eine Art konstant (unveränderlich) ist, kann sie nur leben mit den Eigenschaften, die für ihr Leben wesentlich sind; es müssen also auch unter dieser (alten prädarwinistischen) Voraussetzung abnorme, pathologische Varietäten und Individuen untergehen; diese Abstoßung involviert keineswegs, daß die Art selber sich verändert, sie erhält sich eben. Anderseits schließt diese Erhaltung die Ausbildung lebensfähiger Varietäten nicht aus, sondern ein; m. a. W. wenn Eigenschaften verlorengehen oder abgeschwächt werden, deren Dasein oder Stärke für das Leben der Art (das ja nur in der Fortpflanzung von Individuen sich unmittelbar manifestiert) nicht wesentlich sind, so ist das keine Entartung im Sinne des Aussterbens; es ist aber ebensowenig eine natürliche Züchtung durch Auslese. Daß diese geschehe und zur Bildung nicht nur von Varietäten, sondern, durch deren fortgesetzte Steigerung, von neuen Arten führe, ist ja eben die paradoxe und gegen die alte Artlehre heterodoxe These des Darwinismus.

IX. Der Antikritiker kommt auf die, wie er sagt, wichtige Frage zurück, welches die erblich wertvolleren Individuen sind. Es sei unrichtig, daß es ihm nur um die intellektuelle Begabung zu tun sei; obgleich dies von mir sehr oft wiederholt und sogar für »offenbar« ausgegeben werde. Es ist nicht der Fall, daß ich für offenbar ausgegeben habe, es sei Herrn Sch. nur um die intellektuelle Begabung zu tun. Es heißt an der von mir angeführten Stelle, daß es Herrn Sch. offenbar nur um die im Sinne einer alten Kultur wertvollste Intelligenz zu tun sei (das Wort »wertvollste« ist auch dort unterstrichen), und ich habe sogleich zu verstehen gegeben, daß ich die künstlerische, philosophische Intelligenz meinte (technische, wissenschaftliche hatte ich in Gedanken eingeschlossen). Es sollte damit zugleich 2 Gesagt hatte ich: Vgl. in diesem Band S. 244. 18 These des Darwinismus.: Vgl. für eine hier gestrichene Passage aus A den editorischer Bericht, S. 685. 19 IX.: In A: XIII. 20 Der Antikritiker kommt: In A: Unter „4" kommt der Antikritiker. 26 angeführten Stelle: In A: Stelle (S. 59). - Vgl. in diesem Band S. 232.

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bedeutet werden, daß es Arten von Intelligenz gebe, die im Sinne einer alten und hohen Kultur keineswegs wertvoll sind, und ich dachte dabei an die smartness, an die Schlauheit, Gerissenheit und Geriebenheit, die so oft mit gaunerischer Gewissenlosigkeit und Niedertracht, zum mindestens mit rücksichtslosem Egoismus verbunden ist - Eigenschaften, durch die eine moderne und kapitalistische Kultur treibhausmäßig gefördert, aber auch im Kerne verdorben wird. Daß solche Arten von Gescheitheit sich auch mit derber Gesundheit und Leibeskraft gut vertragen, hatte ich keineswegs in Zweifel gezogen. Die wertvolle Intelligenz dagegen, sagte ich, sei in sehr weitem Umfange an physische Eigenschaften gebunden, oder doch mit solchen verbunden, die keineswegs »generativ wertvoll« seien; „denn der verfeinerte und tiefere Sinn wächst, in ich weiß nicht wie vielen, aber ich wage zu behaupten, in der Mehrzahl der Fälle, auf einem schwachen, wenn nicht gebrechlichen und kranken Leibe"; worüber dann einige nähere Ausführungen folgen. Auf Grund dieser Ausführungen nennt Herr Sch. „den angeblichen Antagonismus zwischen sanitärer und psychischer (speziell intellektueller) Erbbegabung" mein Hauptargument, das mir („damals wenigstens") festgestanden habe wie ein Dogma. Anderswo (S. 453) heißt es, ich habe mein Verdikt ohne weiteres aus der Annahme eines so gut wie regelmäßigen Antagonismus zwischen sanitärer und geistiger Begabung abgeleitet. Alles was ich in dieser Hinsicht bemerkt hatte, bezog sich auf die These des Verf.s, daß unsere Kultur rascher noch als eine Zunahme der Krankheitsanlagen ein Abnehmen der Begabung gerade für die Aufgaben dieser Kultur bewirken »müsse« (S. 159 des Buches). „Denn ... in bezug auf jene Anlagen herrscht eine direkt umgekehrte Auslese, wenn es richtig ist, daß die begabteren Individuen sich durchschnittlich weniger vermehren als die geringer begabten, und auf diese Weise die besten Elemente immer aufgebraucht werden und dem Aussterben anheimfallen." Daß dies

14 „denn der ... kranken Leibe":

Selbstzitat Tönnies', vgl. in diesem Band S. 2 3 3 .

18 wie ein Dogma: Vgl. Schallmayer 1906: 4 5 1 : „Das Hauptargument des Herrn Kritikers, das für ihn - damals wenigstens - feststand wie ein Dogma, so daß er kein Bedenken trug, daraus weitgehende Deduktionen abzuleiten, auf die sich sein bankerotterklärendes Gesamturteil hauptsächlich stützte, ist der angebliche Antagonismus zwischen sanitärer und psychischer (speziell intellektueller) Erbbegabung.". 29 „Denn

... Aussterben

anheimfallen.":

Bei Schallmayer heißt es leicht abweichend (ebd.:

159): „Denn in bezug auf Krankheitsanlagen herrscht nur eine ungenügend strenge Auslese, hingegen in bezug auf jene Anlagen [Begabung] eine direkt umgekehrte, wenn es richtig ist . . . " .

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richtig ist, ergebe sich als sehr wahrscheinlich (und wird weiterhin als feststehend bezeichnet) aus der Statistik, obgleich „allgemein bekannt" sei, „daß in den höheren Gesellschaftsklassen nicht nur die Fruchtbarkeit, sondern auch die Kindersterblichkeit kleiner" sei „als in den unteren". Dieser Unterschied wird mit Nachweisen in bezug auf „besser situierte Kreise", „wohlhabende Klassen" einerseits, die „unteren Klassen" anderseits, belegt. Indessen heißt es S. 166, dürfte der feststellbare Unterschied (der Kindersterblichkeit) schwerlich ausreichen, um die geringere eheliche Fruchtbarkeit und die häufigere Ehelosigkeit der oberen Klassen auszugleichen. Dann, nach einem Satze über die „generativ Wertvolleren innerhalb der Klasse der Wohlhabenden": „Es scheint, daß sich die unteren Gesellschaftsklassen in bezug auf Fruchtbarkeit, Kindersterblichkeit und Geburtenüberschüsse ganz analog zu den oberen Gesellschaftsklassen verhalten, wie z. B. die slawische Bevölkerung zur germanischen" usw. Um bei meinem »Hauptargument« zu verweilen, übergehe ich zunächst, was ich über und gegen die in diesem ganzen Abschnitte vorgetragene Identifizierung der oberen Gesellschaftsklassen oder der »Wohlhabenden« mit den begabteren Individuen zu erinnern gehabt habe und noch habe. Ich nehme diese Identität einstweilen als zugestanden an und halte mich an den Gedankengang, wie er vorlag. Ich will in seinem Sinne gelten lassen, daß alle diese Begabungen auch in dem von mir betonten Sinne einer „alten Kultur" von erlesenem Werte seien. Es werde sogar des Arguments wegen eingeräumt, daß die „wohlhabenden Klassen", deren stärkere Fortpflanzung Herr Sch. für so außerordentlich wünschenswert hält, nicht nur intellektuell, sondern auch ethisch besser begabt sind. Ich habe einen Antagonismus zwischen sanitärer und psychischer Erbbegabung als allgemeine Tatsache, geschweige denn als »Dogma«, mit keiner Silbe angedeutet. Ich habe gesagt „in sehr weitem Umfange" sei die wertvollste Intelligenz an physische Eigenschaften gebunden, oder doch mit solchen verbunden, die keineswegs „generativ wertvoll" sind; und auf ein häufiges Vorkommen dieser Verbindung zielen meine daran angeschlossenen Betrachtungen, wenn ich auch im Vorbeigehen „zu behaupten wage", der verfeinerte und tiefere Geist wachse in der Mehrzahl der Fälle auf einem schwachen, wenn nicht gebrechlichen und kranken Leibe, eine Behaup-

15 »Hauptargument«: 25 ethisch:

In A: „Hauptargument", wie der Antikritiker es nennt,.

In A gesperrt gedruckt.

28 angedeutet:

In A: angedeutet; die dahin zielende Behauptung des Antikritikers ist wieder-

um unrichtig.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

tung, deren Prüfung, wie sich versteht, auch durch Bestimmung der Begriffe sowohl eines verfeinerten und tieferen Geistes als eines schwachen Leibes bedingt, also um so schwieriger wäre. Für das Argument ist sie unwesentlich. Ich habe nicht einen regelmäßigen Antagonismus ererbter Anlagen behauptet, sondern einen regelwidrigen Antagonismus der Gedanken des Herrn Schallmayer. Seine These ist: die Begabteren pflanzen sich schwächer fort als die Minderbegabten; dies führt unvermeidlich zu einem allmählichen Verschwinden der höchsten generativen Werte. Mein Einwand ist: in allen Fällen, wo mit der besseren Begabung Krankheitsanlagen verbunden sind, ist für die Gesunderhaltung des Volkes die schwächere Fortpflanzung der Begabten günstig-, selbst wenn für die Vererbung der Begabung derselbe Grad der Wahrscheinlichkeit angenommen wird, wie für die Vererbung der Krankheitsanlagen, so bedeutet diese doch jedenfalls ein Wuchern der Degeneration, die unmöglich als „generative Tüchtigkeit" beschrieben werden kann. Ich wies darauf hin, daß Herr Sch. schon eine gleich starke Fortpflanzung der Begabten und der Unbegabten als unheilvoll für den generativen Durchschnittswert hinstellt: er postuliert also, daß unter allen Umständen die Begabteren sich stärker vermehren sollen. Die Möglichkeit, daß dadurch die Rasse physisch verschlechtert werde, faßt er gar nicht ins Auge; von der Erkenntnis, daß das Interesse für hohe Begabung und das Interesse für gute, gesundheitliche Anlage kollidieren können, ist in dem Buche keine Spur vorhanden. Ich habe ihn auf diese Möglichkeit erst aufmerksam machen müssen. Der Antikritiker dankt es mir freilich übel. „So lange nicht etwas anderes bewiesen oder doch wahrscheinlich gemacht ist", so faßt er jetzt eine Erörterung der Frage zusammen (S. 455), „scheint es mir das Richtigste zu sein und überhaupt nichts anderes übrig zu bleiben, als die * Voraussetzung* zu machen, daß gute und schlechte sanitäre Anlagen bei der * Bevölkerung*, die mit wertvolleren psychischen Anlagen geboren ist, ungefähr ebenso oft vorkommen wie bei der anderen * Hälfte*. Zu einem Aufgeben dieses neutralen Standpunktes zugunsten der von Herrn T. vertretenen Meinung .., liegt wahrlich nicht die geringste Veranlassung vor." Infolge meiner Kritik ist aber dieser »neutrale« Standpunkt überhaupt erst eingenommen worden. 19 dadurch: In A fett gedruckt. 32 „scheint es mir ... Veranlassung vor.": Bei Schallmayer (1906: 455) leicht abweichend: als die Voraussetzung zu machen, daß gute und schlechte sanitäre Anlagen bei der Bevölkerungshälfte, die mit wertvolleren psychischen Anlagen geboren ist, ungefähr ebenso oft vorkommen wie bei der anderen Hälfte. . . . " .

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Und gerade hier fassen wir den Antikritiker, wie den Verf. des Buches, an dessen schwächster Stelle. Auch in diesem Buche selber ist an mehreren Stellen von der wertvolleren »Hälfte« die Rede. Und der Antikritiker hebt schon Seite 4 5 0 hervor, es handle sich bei ihm fast durchweg um die Erörterung des Falles, daß die an Erbqualitäten wertvollere 3 Hälfte einer Bevölkerung sich schwächer reproduziere als die andere * Hälfte*. In dem Buche selber heißt es Seite 159 (um die Frage exakt entscheiden zu können): „müßte man in der Lage sein, die Bevölkerung in zwei Hälften teilen zu können, von denen die eine über, die andere unter der »mittleren generativen Tüchtigkeit« wäre, und müßte, durch einen längeren Zeitraum hindurch, für jede Hälfte gesondert, das Verhältnis der Geburtenziffer zur Sterblichkeitsziffer verfolgen und die ... Ergebnisse vergleichen können." Dagegen habe ich nichts einzuwenden, als daß diese Halbierung nicht nur nicht vorliegt, sondern auch völlig unmöglich ist; auch aus dem Grunde unmöglich, weil die wertvollsten Erbqualitäten teilweise einander widerstreben. Er fährt aber fort: „Auf Grund der bisher schon dargelegten Verhältnisse (dies geht auf die Darstellung S. 1 1 1 - 1 1 5 ) ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Ergebnis zugunsten der unteren Hälfte ausfallen würde, a priori viel größer als für das sonst in der Natur herrschende entgegengesetzte Verhalten." Dann macht er sich selber den Einwand, die Statistik der Kindersterblichkeit lasse die Annahme zunächst als zweifelhaft erscheinen - S. 1 5 9 - 1 6 6 . Endlich folgt das schon wiederholte, hinlänglich bekannte Ergebnis, das mithin als durch jene Statistik nicht erschüttert gelten soll. Wir werden also auf die Hauptbegründung zurückverwiesen, nämlich auf die „Ungünstigen Wirkungen unserer Kultur auf die generative Entwicklung", die unter zwei Abschnitten: A. „Hemmungen und Verschlechterungen der Auslese", B. „Direkte Verderbung der Keime" ihre Behandlung erfahren hat. Unter A. wird a) „Die Auslese durch Kriege 3

Durch einen lapsus calami hat freilich der Antikritiker hier das Gegenteil geschrieben: „weniger wertvolle Hälfte!"

13 „müßte man ... vergleichen

können."-. Bei Schallmayer ( 1 9 0 3 : 159) lautet der Satz leicht

abweichend: „... in zwei Hälften teilen zu können, von denen die eine über, die andere unter der mittleren generativen Tüchtigkeit stände . . . " - Der Ausdruck mit Sonderzeichen (»...«) steht in A zwischen Asterisken. 20 „Auf Grund

... entgegengesetzte

Verhalten.":

Vgl. ebd.: 159. Die Seitenzahlen in der

Klammer heißen richtig: S. 1 1 1 - 1 5 6 . 28 ihre Behandlung

erfahren hat-. Dies bezieht sich auf ebd.: Kap. 6.1., 111 ff.

29 lapsus calami: [lat.] svw. Schreibfehler.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

und die Wehrorganisation" betrachtet und als überwiegend negative Auslese charakterisiert, „selbst wenn es nicht zu einem Kriege kommt". Die zum Militärdienst Untauglichen seien in der Regel leichter und früher in der Lage, sich einen eigenen Herd zu gründen. Hier wird denn auch als »kleines Beispiel« die Begünstigung der Schlechtsehenden erwähnt. Auf die „Züchtung der Gebrechlichkeit" werde überhaupt unbewußt hingearbeitet, es finde „ein Raubbau in bezug auf die generativen Schätze der Bevölkerung statt". Von selbst versteht sich, daß die „generativen Schätze" hier so gut wie ausschließlich die physisch tüchtige Beschaffenheit bedeuten. Die so naheliegende Frage, ob die (angebliche) negative Auslese in dieser Hinsicht etwa, wenigstens teilweise eine günstige Auslese in anderer Hinsicht sein möge, hat der Verf. gar nicht aufgeworfen. Der Antikritiker findet sich durch meinen Einwand in bezug auf Kurzsichtigkeit „in der Erkenntnis der Sache gefördert", hat aber noch nicht verstanden, daß dieser Einwand viel weiter reicht und ihn überhaupt darauf aufmerksam machen sollte, daß nicht nur in diesem Falle tatsächlich eine üble physische Eigenschaft in den gelehrten Berufsarten viel häufiger ist, sondern daß überhaupt mit physischen Gebrechen gute psychische Eigenschaften, deren Züchtung ihm nachher durchaus die Hauptsache ist, verbunden sein können, daß es also unlogisch ist, von einer negativen Auslese schlechthin zu reden, es sei denn, daß es ihm auf physische Tüchtigkeit ausschließlich oder doch in erster Linie ankomme, wie es ja hier wirklich den Anschein hat, während er doch sonst gerade eine Auslese zugunsten der psychischen Begabung will und dann unter den generativ wertvollen Anlagen der »oberen Klassen«, der »Wohlhabenden« nichts anderes versteht, als eben diese. Überdies ist nun aber die Begründung für diese angebliche negative Auslese der physischen Tüchtigkeit ungemein schwach; sie besteht in einer völlig ungenügenden Deduktion, soweit sie die Wirkung einer zwei- oder dreijährigen Dienstzeit und späteren Einberufungen betrifft. In dem Buche selber wird sie wenigstens durch die Bemerkung qualifiziert, daß „statisti2 „selbst wenn ... Kriege kommt"-. Vgl. ebd.: 115. 6 „Züchtung der Gebrechlichkeit": Als Zitat nicht nachgewiesen. Bei Schallmayer (ebd.: 117) findet sich die Formulierung: „Bei einer solchen Art von Auslese wird die Gebrechlichkeit gewissermaßen zum Vorzug, auf dessen Züchtung unbewußt hingearbeitet wird.". 8 „ein Raubbau ... der Bevölkerung statt"-. Vgl. ebd.: 118. 9 hier-. In A fett gedruckt. 14 „in der Erkenntnis der Sache gefördert": Schallmayer (1906:444) bezieht sich auf Tönnies' Ausführungen in diesem Band, S. 236 f.

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sehe Feststellungen darüber, ob und wieviel die tauglich Befundenen durchschnittlich später heiraten als die Nichtdienenden ..., und wie sie sich in bezug auf eheliche Fruchtbarkeit und Sterblichkeit ihrer Kinder verhalten, bisher nicht existieren, und daß nur auf diese Weise sich die Frage exakt entscheiden lasse", so heißt es in der Anmerkung Seite 119. Der Antikritiker behauptet geradeswegs als Tatsache, was im Buche doch nur als eine Folgerung sich geltend macht, Befreiung vom Militärdienst habe „bei den Handarbeitern" (nicht bei den Kopfarbeitern, deshalb sei meine Bemerkung über die Kurzsichtigen nur von geringer Bedeutung) im allgemeinen die Wirkung, einen Vorsprung bezüglich des Heiratsalters vor den Militärtauglichen zu geben! (Dies wird im Druck hervorgehoben.) Woher ist dies auf einmal bekannt? Wenn es wirklich der Fall wäre, so wäre noch sehr die Frage, ob es in bezug auf die wirkliche Fortpflanzung auch nur eine minimale Bedeutung hätte (die Tabelle S. 132 beweist dafür nichts). Jedenfalls steht dagegen, und hat in der Masse des Volkes eine große Tragweite, daß der Militärdienst bekanntlich für den Erfolg der Männer beim weiblichen Geschlechte geradezu eine Prämie bedeutet: - Ares ist der Gatte der Aphrodite; die Darwinisten mögen es mit Recht einen direkten Einfluß auf die geschlechtliche Zuchtwahl nennen, wenn die Uniform ähnlich wirkt wie bei den Vögeln ein buntes Gefieder. Die Anwesenheit einer Garnison wirkt ebenso, wie Manöver wirken, sehr stark auf außereheliche Propagation (rohe Scherze darüber sind sogar in Offizierskreisen alltäglich). Da aber der Soldat regelmäßig seinen Schatz hat, und damit die Heiratsgedanken wenigstens recht nahegelegt werden, da überdies auch der Urlauber und Dienstentlassene, zumal auf dem Lande, ein erhöhtes Ansehen bei den Mädchen genießt, so ist es viel wahrscheinlicher, daß der Dienst auf Verfrühung als auf Verspätung des Heiratsalters hinwirkt, das ja nach unseren Sitten und sozialen Lebensbedingungen nur in etwa 13 % der Fälle für die Männer mit den regulären Jahren der Militärdienstzeit zusammenfällt (unter 4 7 7 822 heiratenden Männern 1904 waren 63 4 0 0 unter 24 Jahren). Wie dem aber auch sei, jedenfalls ist die Meinung des 5 „statistische Feststellungen

... entscheiden

lasse": Bei Schallmayer ( 1 9 0 3 : 119, Anm.):

heißt es leicht abweichend: „... verhalten, existieren leider bisher nicht, und nur auf diese Weise ließe sich die Frage exakt entscheiden.". 6 Der Antikritiker

behauptet:

Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 4 4 .

14 Tabelle: Schallmayer korreliert das Heiratsalter des Mannes mit der durchschnittlichen Anzahl der Kinder. 31 unter 24 Jahren: Das Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich (27. 1 9 0 6 : 16 f.) weist in der Tabelle „Die Eheschließenden nach dem Alter im Jahre 1 9 0 4 " die Zahl der heiratenden Männer unter 2 4 Jahren mit 83 4 0 6 aus.

360

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Verf.s, daß die nicht dienende »Hälfte« sich stärker fortpflanze als die dienende, sehr schlecht, nämlich gar nicht begründet; sie ist aber auch sehr unwahrscheinlich. Auch wenn die Dienstpflicht einen kleinen nachteiligen Einfluß hätte (was ich für sehr fragwürdig halte), so wären doch die anderen Ursachen, die in entgegengesetzter Richtung wirken, um sehr vieles mächtiger. Denn in der nicht dienenden »Hälfte« ist zunächst der größte Teil jener untersten Schicht enthalten, die man wohl die Hefe der Bevölkerung, auch Lumpenproletariat und fünften Stand zu nennen pflegt, und die Meinung, daß dieser Teil der Armen sich stark vermehre, ist ein grober Irrtum4. Dazu kommen ferner in sehr erheblicher Zahl die leiblich oder geistig, zumal die leiblich und geistig Gebrechlichen und die Chronisch-Kranken, auch wenn die Krankheit etwa wesentlich in Hypochondrie und Sonderlingtum besteht: in der breiten Masse des bürgerlichen und bäuerlichen Volkes ist schwache Gesundheit der Männer eine Ursache, die teils für sich allein, teils kopuliert mit der anderen Hauptursache - deren Wirken wieder in sehr beträchtlicher Ausdehnung von jener ersten abhängt-, nämlich mangelhaften Nahrungsaussichten, am häufigsten zur Hinausschiebung und - sei es durch vorzeitigen Tod oder durch immer erneute Hinausschiebung - endlich dazu führt, daß die Begründung des eigenen Herdes ganz unterbleibt. Wie stark diese Ursache ist, geht am deutlichsten aus der bekannten Tatsache hervor, daß die Sterblichkeit verheirateter Personen um ein bedeutendes geringer ist als diejenige lediger, verwitweter und geschiedener Personen; denn diese Differenz auch nur hauptsächlich auf die „lebenverlängernde Wirkung der Ehe" zu schrei4

Unter 1 1 8 4 männl. Korrigenden, die 1 9 0 1 / 0 2 in das städtische Arbeitshaus zu Rummelsburg eingeliefert wurden, waren 1 0 7 9 über 2 5 Jahre alt, und doch waren von sämtlichen 1 1 8 4 nur 3 4 6 verheiratet, verwitwet oder geschieden, und diese 3 4 6 hatten zusammen 571 Kinder. Entsprechende Zahlen in 1 9 0 2 / 0 3 und 1 9 0 3 / 0 4 (in Klammern): 1 5 2 4 (1791), davon 1 3 4 6 (1614) über 2 5 Jahre alt; 4 5 5 (544) verheiratet, verwitwet oder geschieden; diese hatten zusammen 6 9 0 (447) Kinder. Auf die über 2 5 jährigen bezogen waren also jedesmal rund 1h Junggesellen, von der über 2 5 Jahre alten männlichen Bevölkerung im Deutschen Reiche (1900), die 12,7 Mill. betrug, waren nicht ganz 2 , 3 Mill., d. i. 1 8 , 1 % „ledig", d. h. weder verheiratet noch verwitwet oder geschieden.

24 „lebenverlängernde 25 Arbeitshaus

Wirkung der Ehe": Als Zitat nicht nachgewiesen.

zu Rummelsburg-. Die Zahlen wurden von Tönnies teils übernommen, teils

aus der Tabelle „IX.8. Das städtische Arbeitshaus in Rummelsburg. a. Die neu eingelieferten Korrigenden" errechnet (Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 2 8 . 1 9 0 4 : 3 8 2 f.). 32 männlichen

Bevölkerung

im Deutschen

Reiche: Vgl. im Statistischen Jahrbuch für das

Deutsche Reich (25. 1904: 6) die Tabelle „Alter und Familienstand der Bevölkerung am 1. Dezember 1 9 0 0 " .

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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ben, ist ein Unterfangen, das methodisch auf ungenügender Basis beruht und mit allgemeiner Erfahrung nicht im Einklang steht. Freilich meint selbst Mayr, der sonst so umsichtig und scharfsinnig Urteilende, die ausschließliche »Selektionstheorie« (d. h. hier die Ansicht, daß die Gruppe der Verheirateten eine in gesundheitlicher Beziehung besser ausgelesene Gesellschaft als die der Ledigen darstelle, in welcher die körperlichen und geistigen Krüppel aller Art in verhältnismäßig größerer Zahl zurückbleiben) habe (insbesondere) durch den Nachweis der hohen Sterblichkeit der Verwitweten, die ja doch auch zu der ausgelesenen Masse gehören, einen entscheidenden Stoß erhalten (Statistik und Gesellschaftslehre II, S. 294). Erinnert sich denn der verehrte Statistiker nicht, daß von den Witwern eine relativ viel größere Zahl heiratet als von Ledigen gleicher Altersklassen? Daß z. B., wie er selber mitteilt (Mayr, a. a. O., S. 395), aus den Untersuchungen des jüngeren Bertillon (Cours elem. de statistique, Paris 1895) sich ganz übereinstimmend - in fünf verschiedenen Ländern - eine sehr viel stärkere Intensität des Heiratens der Witwer gegenüber den ledigen Männern auf allen Altersstufen ergeben hat? Es folgt doch daraus, daß unter den nachbleibenden Witwern der »Ausschuß« (in bezug auf Gesundheit und die davon abhängende Lebenslust) um so stärker vertreten sein muß; zumal da die zweite Ehe, noch mehr als die erste, Sache vernünftiger Überlegung, schon wegen des inzwischen fortgeschrittenen Lebensalters ist, und da mancher kränkliche Mann Bedenken tragen wird, von neuem sich an die Kinderzeugung zu begeben; noch mehr aber wird es wirken, daß er größere Mühe haben wird, eine Frau, wenigstens eine solche, die er mag, zu finden-, denn wenn die Neigung, einen Witwer zu heiraten, ohnehin minder groß ist, so diejenige, etwa eines schwindsüchtigen Mannes zweite Gattin und seiner (vielleicht) skrofulösen Kinder Stiefmutter zu werden, sicherlich um so geringer.

X. Die gesamte Erfahrung in diesem Gebiete bestätigt meine Ansicht, daß „Auslese, die freilich keine Zuchtwahl bedeutet, also mit dem Darwinismus nichts zu tun hat, fortwährend in konservativem Sinne ... gewirkt hat 9 10 14 29

ausgelesene: In A: auserlesene. Statistik und Gesellschaftslebre: Vgl. Mayr 1897. Cours elem. de statistique: Vgl. Bertillon 1895: 471. X.: In A: XIV.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

und wirkt"; wobei, wie sich von selbst versteht, nur physische Tüchtigkeit, einschließlich normalen Nervensystems, in Frage kommt. Daß ich gleichwohl alle ernsten Bestrebungen billige und unterstütze, die darauf zielen, der Erzeugung kranker, gebrechlicher, entarteter Kinder vorzubeugen, habe ich oft gesagt und hervorgehoben. Aber ich betone auch, daß uns nur sehr wenige ethisch und politisch zulässige Mittel dafür zur Verfügung stehen, zumal so lange wir - wofür sonst so starke Gründe sprechen - die Institution der Ehe in ihrer heutigen Bedeutung, insbesondere also die Monogamie festhalten, auch nicht etwa die Scheidung sehr erleichtern. Bestände die Ehe nicht als eine Standesangelegenheit, als eine Einrichtung, die mit allen Ideen von Ansehen und Glanz einer Familie in den oberen, von bürgerlicher Ehrbarkeit in den mittleren Schichten, zusammenhängt, wäre nicht die Furcht und Abneigung der Menschen, ihre ehelichen Kinder in eine, wenn auch nur wenig niedrigere Schicht herabsinken zu sehen, sehr viel größer als die Besorgnis, ungesunde Kinder entstehen zu lassen, so hätte vermutlich die geschlechtliche Zuchtwahl freieren Spielraum; wenn es nur freie Liebesverhältnisse gäbe, so würde zwar auch Gleich und Gleich sich am häufigsten gesellen; es würden auch dann pekuniäre Interessen bei den Verbindungen stark mitwirken; aber es kämen doch für die Erzeugung von Kindern (es gäbe ja dann nur uneheliche) die natürlichen körperlichen Vorzüge stärker zur Geltung, namentlich für die Männer der höheren Schichten bei Auswahl der Mütter; und viele kraftvolle Männer, zumal wenn sie auch wohlhabend wären, würden sicherlich polygamisch leben, wie es tatsächlich auch jetzt trotz der Ehe oft der Fall ist. Die Erzeugung von Kindern aus diesen „Verhältnissen" würde weniger vermieden werden, da niemand sich scheuen würde, „natürliche" Kinder zu haben (es gäbe ja keine anderen), und da die Last davon ziemlich sicher auf eine größere Zahl von Frauen verteilt würde. Freilich hätte der ganze Zustand (gesetzt, er wäre sozial überhaupt möglich) auch in bezug auf »Rassefolgen« gar sehr seine zwei Seiten. Es würden eben auch die Kränkelnden, die jetzt oft die Lasten des Ehestandes scheuen, vermehrte Gelegenheit und weniger Hemmnisse finden, sich an der Kinderzeugung zu beteiligen. Ich wiederhole: es ist überwiegender Grund vorhanden, anzunehmen, daß die nichtdienende »Hälfte« sich erheblich schwächer fortpflanzt, und zwar zum größten Teil darum, weil sie ein größeres Kontingent zu den Junggesellen stellt. Der Antikritiker macht mir ein „Zusammenwerfen und l „Auslese, die ... gewirkt hat und wirkt": Selbstzitat Tönnies', vgl. in diesem Band S. 244.

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beliebiges Vertauschen von geringer Muskelkraft mit schwacher sanitärer Begabung" (S. 451) zum Vorwurf. Er verweist dabei auf die Stelle, wo ich (S. 67) das »soziale Interesse« sprechen lasse; „ich brauche Menschen, die ... für gewisse sehr spezielle Verrichtungen tüchtig sind; diese Arten der Tüchtigkeit sind aber zum guten Teile bedingt durch geringe Muskelstärke, sind jedenfalls mit Defekten aller Art durchaus verträglich; »für den Kriegsdienst taugen nicht alle«; aber wie viele solcher Untauglichen taugen weit besser als der gute Soldat fürs Bureau, fürs Kontor, für die Fabrik, fürs Katheder usw. usw." Wie der einsichtige Leser nicht umhin kann zu bemerken, dient mir Muskelstärke hier als Typus derjenigen sanitären Eigenschaften, die zum Kriegsdienst qualifizieren; wenn ich von »Tüchtigkeiten« rede, die sogar bedingt seien durch geringe Muskelstärke, so ist damit vielleicht auf zu starke Weise eben das ausgedrückt, was der Antikritiker sich herausnimmt, mir entgegenzuhalten (daselbst), daß nämlich Muskelstärke »nicht identisch« sei „mit dem, was man unter dem allgemeinen Begriff angeborener sanitärer Tüchtigkeit versteht". Denn wenn ich sage, daß viele für den Kriegsdienst Untaugliche taugen fürs Bureau usw., so heißt das doch wohl, daß sie das dafür erforderliche Maß von Gesundheit haben, wenn auch nicht dasjenige M a ß von „Gesundheit und Stärke", auf das es, wie ich das soziale Interesse sagen lasse, mittelbar und in weiter Aussicht allein ankommen »mag« (die »generativ« wertvollen Anlagen); daß eine „möglichst widerstandsfähige sanitäre Konstitution bei keiner Berufsart, auch nicht bei den Kopfarbeitern, als entbehrlich oder geringwertig gelten kann", versteht sich, aber diese Konstitution deckt sich keineswegs mit den Qualitäten, die zum Soldatenberuf unerläßlich sind; sie ist eben auch mit allerhand Defekten, z. B. mit hohen Graden der Myopie vollkommen verträglich, so wenig erwünscht, ja gefährlich die erbliche Übertragung und Vermehrung dieser Defekte auch sein möge. Der Antikritiker behauptet, um meine angebliche Ansicht von einem absoluten Antagonismus zwischen geistiger und sanitärer Begabung zu widerlegen, es handle sich bei dem schwächer entwickelten Muskel- und Knochensystem der Kopfarbeiter nicht um germogene und vererbte, sondern um funktionell erworbene Zustände und Eigenschaften; bei seinen »diesbezüglichen« Erörterungen seien aber nur Keimanlagen gemeint. (Ich soll

9 „ich brauche Menschen

... usw. usw."-. Selbstzitat Tönnies', vgl. in diesem Band S. 2 4 1 .

Die Passage zwischen Sonderzeichen (»...«) steht in A zwischen Asterisken. 16 „mit dem ... Tüchtigkeit

versteht": Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 1 .

24 „möglichst widerstandsfähige

... gelten kann"-. Vgl. ebd.

364

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

diese Unterscheidung nicht im Auge behalten haben.) Der Gedanke aber, daß eine gute „sanitäre Begabung", verstanden als „widerstandsfähige sanitäre Konstitution", auch mit angeborenen und erblichen Defekten verschiedener Art einhergehen kann, liegt wieder außerhalb seiner Erwägung. Wenn es nur darauf ankommt, daß jene vererbt werde, so müssen wir eben die Vererbung von Fehlern, wie Kurzsichtigkeit, Plattfüßigkeit u. dgl. in den Kauf nehmen; dann würde aber insoweit wenigstens auch die stärkere Fortpflanzung der nichtdienenden »Hälfte«, wenn sie wirklich statthätte, nicht schaden; während sonst doch gerade die Vererbung von Defekten, auch wenn sie nicht irgendwie begünstigt ist, mit Recht für bedenklich, ja oft für ein direktes schweres Übel gehalten werden muß, von dem Verfasser selber auch so dargestellt wird. Daß der geehrte Herr sich nicht die geringste Mühe gegeben hat, meine Gedanken, die ihm begreiflicherweise, aus mehr als einer Ursache, unbedeutend erschienen, zu verstehen, halte ich ihm gern zugute. Aber ich halte ihm nicht zugute, daß er fortwährend seinen eigenen Faden verliert, und daß er von der mangelnden Klarheit seiner eigenen Ideen sich nicht einmal eine Ahnung beibringen läßt. „Auch hat Muskelkraft heutzutage für die meisten Berufsklassen nur noch geringen Wert", sagt er in der Antikritik; das habe ich aber betonen wollen, und glaubte nicht, explicite noch die übrigen körperlichen Eigenschaften aufzählen zu müssen, die ebenfalls für die meisten Berufsarten nur noch geringen Wert, aber großen und zum Teil entscheidenden Wert für den Soldatenberuf haben. Hier sagt er „angeborene sanitäre Tüchtigkeit" - woher weiß er denn, daß unter den Militärisch-Untauglichen nicht eine große Zahl von Individuen sich befindet, deren angeborene sanitäre Tüchtigkeit - soweit sie eben „für die meisten Berufsarten" wertvoll ist - mit denjenigen der Militär-Tauglichen jeden Vergleich aushält, ja deren Durchschnitt weit überlegen ist? Nun sagt der Antikritiker ganz ausdrücklich, daß es sich bei ihm um die »sanitäre Begabung« handle, daß dagegen „auf Körpergröße und Muskelstärke (und »so weit es sich nicht

i im Auge behalten haben: Vgl. ebd.: 4 5 2 . 19 „Auch

hat Muskelkraft

... geringen

Wert": Der Satz Schallmayers lautet vollständig:

„Auch hat Muskelkraft heutzutage für die meisten Berufsarten nur noch geringen Wert, während doch eine möglichst widerstandsfähige sanitäre Konstitution bei keiner Berufsart, auch nicht bei den Kopfarbeitern, als entbehrlich oder geringwertig gelten kann." (ebd.: 451). 24 „angeborene

sanitäre Tüchtigkeit":

Vgl. ebd.: „Natürlich ist Muskelstärke ... nicht iden-

tisch mit dem, was man unter dem allgemeinen Begriff angeborener sanitärer Tüchtigkeit versteht."

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um militärische Tüchtigkeit handelt«, selbst auf Sehschärfe) unter den gegenwärtigen Daseinsbedingungen kein großes Gewicht zu legen" sei! Das war es ja, was ich dem „sozialen Interesse" in den Mund gelegt habe; nur daß ich dabei allgemein an Eigenschaften dachte, auf die - soweit es sich nicht um militärische Tüchtigkeit handle - kein großes Gewicht zu legen sei; dieser Sinn ist aus den drei Schlußzeilen des Absatzes vollkommen ersichtlich. Allerdings kontrastierte ich mit solchen Eigenschaften „Gesundheit und Stärke", insofern als es „mittelbar und in weiter Aussicht, also für die Zukunft der Rasse, darauf allein ankommen möge"; ich dachte also dabei an eine Konstitution und „sanitäre Begabung", die eine dauerhafte Nachkommenschaft verbürge; denn damit ist keineswegs diejenige gleichwertig, die unter den gegenwärtigen Daseinsbedingungen für sehr viele Berufsarten ausreicht, ja sogar vorzugsweise angepaßt sein mag; ich nannte dann Menschen, die sich durch „Gesundheit und Stärke" auszeichnen, „schlechthin tüchtig" und setzte sie mit den zum Kriegsdienst Tauglichen gleich - das ist keineswegs genau richtig, aber es deckt sich ja ganz und gar gerade mit den Annahmen, die in dem Buche „Vererbung und Auslese" zugrunde gelegt sind! Die ersten Worte des folgenden Absatzes (bei mir S. 67) zeigen deutlich, daß ich ihm darin begegnen wollte, indem ich sage: „Dies ist nun durchaus und in einem Sinne gedacht, den unser Autor kennt und in seinen Grenzen gelten läßt!!" Man vergleiche, was er gerade in dieser Richtung S. 117 f. ausführt, daß „bei der heutigen Arbeitsteilung" (so heißt es da statt „unter den heutigen Daseinsbedingungen") der Schlechtsehende in den verschiedensten Erwerbszweigen sein gutes Fortkommen finden könne, und auch dem weiblichen Geschlecht gegenüber wegen dieses Mangels nicht im geringsten in Nachteil gerate 5 ; 5

Das letztere „nicht im geringsten" ist übrigens falsch, denn daß der hochgradig Kurzsichtige oft durch ein schüchternes, weniger männliches Auftreten den Frauen mißfällt und 2 „auf Körpergröße

... Gewicht zu legen": Vgl. Schallmayer (ebd.: 454): „Übrigens ist auf

Körpergröße und Muskelstärke (und soweit es sich nicht um militärische Tauglichkeit handelt, selbst auf Sehschärfe) unter den gegebenen Daseinsbedingungen kein großes Gewicht zu legen, und sie sind nicht identisch mit der sanitären Begabung,

um die es sich

bei mir handelt.". - In A stehen in der Klammer doppelte Asterisken statt der Anführungszeichen. 9 „mittelbar und in weiter Aussicht...

ankommen

möge": Selbstzitat Tönnies' mit geringen

textlichen Abweichungen, vgl. in diesem Band S. 2 4 1 . Ii „schlechthin

tüchtig": Selbstzitat Tönnies', vgl. oben S. 2 4 1 .

21 „Dies ist nun durchaus

... Grenzen gelten läßt!!": Selbstzitat Tönnies', vgl. ebd., die

Ausrufezeichen sind hier hinzugefügt. 22 S. 117 f.: Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 .

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woraus er allerdings, und zwar ohne irgendwie die angebliche militärische Kontraselektion zu Hilfe zu nehmen, die Gefahr ableiten könnte, daß mangelhafte Sehschärfe als Rasseeigenschaft sich ausbreiten werde. Er hätte auch dort sagen können: „Sehschärfe ist nicht identisch mit der sanitären Begabung, um die es sich bei mir handelt." Dort hätte er aber sagen müssen: um so schlimmer! Wenn der Schlechtsehende normaler Gesundheit sich erfreut, so ist die Gefahr um so größer, daß er eine gesunde Nachkommenschaft mit schlechterem Gesicht erzeugt, daß also dies Gebrechen ein Merkmal der Rasse werde! Ganz dasselbe läßt sich mit gutem Rechte in bezug auf Körpergröße und Muskelstärke ableiten: gewiß sind sie nicht „identisch mit der sanitären Begabung", um die es sich bei Herrn Schallmayer handelt; und wenn auch Kleinheit und schwache muskulöse Anlage keine Gebrechen sind, so muß doch, soweit die physische Tüchtigkeit eines Volkes in Frage steht, die Abnahme der mittleren Körperhöhe und die Abnahme der mittleren Muskelanlage gerechte Bedenken erregen, besonders die letztere; denn obschon Muskelstärke als solche auch für den heutigen Soldaten wenig Nutzen mehr hat, wie sie im allgemeinen durch die Maschinenarbeit überflüssig gemacht wird, so dürfte sie doch für die durchschnittliche Fähigkeit, Strapazen zu ertragen, charakteristisch und also indirekt von hohem militärischen Werte sein. Ich komme nun aber zurück auf die uns vorgeführten »Hälften«. Die männliche Bevölkerung etwa des Deutschen Reiches in eine dienende resp. gedienthabende und eine dienstfreie »Hälfte« einzuteilen, hat einen Sinn, da die beiden Quoten nicht allzusehr voneinander sich unterscheiden. Man hat auch Grund genug, den Durchschnitt der physischen Tüchtigkeit gemessen an anatomischen und funktionellen Fehlern, schwereren Krankheitsanlagen und den Folgen schwerer Krankheiten und Unfälle usw. - der nicht so leicht eine Frau ,findet' nach seinem Gefallen, wie ein schneidiger Leutnant, wird jeder Beobachter wenigstens in der höheren sozialen Schicht leicht erfahren. Daß ich das, was bei Schallmayer folgt: „aber er wird nicht Soldat und kommt infolgedessen leichter dazu, seine schlechten Augen zu vererben als der Scharfsehende seine guten Augen vererben kann" für eine unbegründete wilde Deduktion halte, weiß der Leser. Es ist aber auch für das eigene Argument des Verfassers Ballast. Daß der Schlechtsehende ebensogut leben und sich fortpflanzen kann, wie der Gutsehende, genügt ja gerade im Sinne des NeoDarwinismus, worauf der Verf. sich fortwährend beruft, durchaus: es tritt Panmixie ein, und damit muß die erbliche Sehschärfe zurückgehen. Vorausgesetzt immer - worauf aber der Autor bei diesen Erörterungen niemals als auf die wesentliche Voraussetzung aller seiner Deduktionen hinweist - daß das schlechte Gesicht nicht bloß erworben ist; in diesem Falle sind alle seine Folgerungen hinfällig, in seinem Sinne, worauf ich auch im Texte sogleich zurückkomme.

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einen Hälfte für wesentlich höher als den der anderen zu halten. Für die Annahme, daß die schlechtere »Hälfte« sich stärker fortpflanzt, besteht, wie gesagt, kein stichhaltiger Grund. Selbst wenn es tatsächlich feststünde, so wäre noch sehr fraglich, ob in nennenswerter Weise die Dienstfreiheit dieser schlechteren Hälfte an der Verursachung Anteil hätte. Und ferner: selbst wenn es tatsächlich feststünde, so wäre die Wirkung gerade nach der vom Verfasser zugrunde gelegten Ansicht von der Vererbung und Auslese keineswegs so eindeutig, wie sie in dem Buche dargestellt wird, daß nämlich (unbewußt) auf Züchtung der Gebrechlichkeit hingearbeitet werde. Dabei sehe ich wiederum ab von denen, die dienstfrei bleiben, weil sie eine hohe Nummer gezogen haben. Es müßten aber - jener Ansicht gemäß auch alle Fälle in Abzug gebracht werden, wo der Grund der Dienstuntauglichkeit in einem erworbenen Mangel liegt; denn in diesen Fällen wären ja die Mängel nicht erblich. Dazu würden z. B. die Mängel gehören, die Unfällen und Körperverletzungen zu verdanken sind, und solche sind gerade unter den gesundesten und kräftigsten Landbewohnern ziemlich häufig. Ebenso müßten bei der (angeblich benachteiligten) besseren Hälfte alle die Fälle (ich halte sie für sehr zahlreich) in Abzug gebracht werden, wo schlechte Erbqualitäten durch günstige Lebensumstände, besonders durch gute Ernährung verhüllt, oder aus allgemeinen Ursachen noch nicht manifest geworden sind. So kann es keinem Zweifel unterliegen - um nur auf eine Massenerscheinung hinzuweisen daß eine große Menge von Individuen zum Militärdienst tauglich befunden werden, die eine Disposition zur Erkrankung der Atmungsorgane „geerbt haben, und wenn auch beständig kränklich, insbesondere phthisisch gewordene entlassen werden" - wie Herr Schallmayer selber bemerkt, S. 166 des Buches - , so bleiben doch viele, die ihrer Militärpflicht genügen, sich ferner bis etwa ans Ende ihres dritten Lebensjahrzehnts gesund erhalten, zum Teil auch eine Familie gründen und erst zwischen 30 und 4 0 Jahren zusammenbrechen. Daß diese, die mit 2 0 Jahren oft nicht nur körperlich ohne Fehl, sondern wohl gar durch schönen Wuchs und scheinbar unverwüstliche Gesundheit sich auszeichnen, den generativen Durchschnittswert der Militärtauglichen erheblich drücken, liegt auf der Hand. Ferner wäre noch 26 „geerbt

haben

...

entlassen

werden":

Bei Schallmayer ( 1 9 0 3 : 1 1 6 ) heißt es: „Die

Erkrankungsziffern sind überall noch auffallend groß, und wenn die Sterblichkeitsziffern im Vergleich damit sehr viel günstiger erscheinen, so liegt das zum Teil daran, daß beständig kränklich, insbesondere phthisisch gewordene entlassen werden, wodurch die Sterblichkeit im Heer verringert und in der Zivilbevölkerung entsprechend vermehrt erscheint.". - Für die folgende Seitenzahl lies: 116.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

des Atavismus zu gedenken, der Leute, die von morbidem Stamme sind, mitunter persönlich gesund erscheinen läßt. Endlich ist zu erwägen, „daß die Grade der Fehler, von denen die Befreiung vom Militärdienst abhängt, nur in einem kleinen Teil der Fälle meßbar sind, und infolgedessen das Urteil über die Militärdiensttauglichkeit in ziemlich weitem Umfange auf der subjektiven Auffassung der Untersuchenden beruht und deren Ermessen anheimgestellt bleiben muß". - Wo steht dies zu lesen? bei Herrn Schallmayer, a. a. O., S. 120, der aber nicht zu bemerken scheint, wie sehr er sein eigenes Argument, auch wenn dessen Voraussetzung richtig wäre (daß die Untauglichen sich stärker fortpflanzen) dadurch beeinträchtigt. Freilich gegenüber der Grundlosigkeit dieser Voraussetzung von geringem Momente. Die Grundthese des Herrn Sch. ist ja, daß die generativ weniger wertvolle Hälfte unserer Bevölkerung sich stärker reproduziere als die generativ wertvollere Hälfte. Dieser Behauptung dienen seine Ausführungen 1. über die angeblichen Folgen der Dienstpflicht, 2. über die ungünstigen Wirkungen des Besitztums auf die Auslese sub A b, 3. über „die Auslesestörungen durch Ehelosigkeit, spätes Heiraten und künstliche Kleinhaltung der Kinderzahl seitens der am besten Angepaßten" (S. 127 ff.). Die am besten Angepaßten heißen sogleich die »Begabteren«: innerhalb aller Kulturvölker seien es die sozial höher stehenden Klassen - bei denen man durchschnittlich eine größere Begabung als die Gesamtbevölkerung durchschnittlich habe, für die an unsere Kultur gestellten Aufgaben voraussetzen dürfe - , die von der unnatürlichen Enthaltsamkeit (im Kinderzeugen) den größten Gebrauch machen. Sind denn diese nun auch eine generativ wertvollere »Hälfte«? Offenbar hat das Beweisstück nur dann seinen Sinn, wenn es dahin gestaltet wird: die begabtere Hälfte pflanzt sich schwächer fort - oft genug wendet ja auch der Verfasser die Ausdrücke »generativ wertvoller« und »begabter« promiscue an - z. B. S. 159. Aber die sozial höher stehenden Klassen sind doch keine Hälfte? oder ist gemeint: je höher eine Schicht auf der sozialen Stufenleiter, desto schwächer pflanzt sie sich fort? Ist denn aber der leiseste Schatten eines Beweises für diese Behauptung vorhanden? ist es überhaupt möglich, diese soziale Stufenleiter und die Höhen auf ihr zu bestimmen? soll das Vermögen oder das Einkommen dafür maßgebend sein? Wenn auf die sozial höher stehenden Klassen, die „gebildeten und besitzenden Stände" in den „wohlhabenden Klassen" 5 Militärdiensttauglichkeit:

Bei Schallmayer: Militärdiensttüchtigkeit.

27 Hälfte: In A gesperrt gedruckt.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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(beides S. 134), die „höheren Gesellschaftsklassen" (S. 159), die oberen Gesellschaftsklassen (S. 166) fortwährend exemplifiziert wird, weil in ihnen eine durchschnittlich größere »Begabung« angenommen wird, wenn diese sich wirklich schwächer vermehren - folgt daraus auch nur im geringsten als wahrscheinlich, daß innerhalb des Volkes überhaupt die Fortpflanzung im umgekehrten Verhältnis zur »Begabung« steht? Selbst, wenn angenommen werden dürfte: je wohlhabender eine Schicht, desto größer die durchschnittliche Begabung (was mit den eigenen gelegentlichen Bemerkungen des Verfassers über Gelehrte, Künstler usw. in starkem Widerspruch stünde) - , besteht dann in irgendwelcher Allgemeinheit auch nur die Regel als gültig: je wohlhabender, desto weniger fruchtbar? zumal wenn dabei nicht nur die Säuglingssterblichkeit (wie von Herrn Sch. geschieht), sondern auch das Erwachsen und die fernere Fortpflanzung in Rechnung gezogen wird? Wenn in einer Schicht das Paar durchschnittlich 4 Kinder über das erste Lebensjahr hinausbringt, in einer anderen nur 3,5, so ist durchaus möglich, daß von den 4 nur 2 = 1 Paar, von den 3,5 aber 2,5 = lx/4 Paar wieder zur Fortpflanzung gelangen, so daß, wenn das Verhältnis sich wiederholt, in der nächsten Generation auf der einen Seite wieder nur 4,0, auf der anderen aber 4,375 das erste Lebensjahr vollenden werden - m. a. W. die erste Schicht würde sich quantitativ gleichbleiben, die andere sukzessive Inkremente ansetzen. Wie es sich damit verhält, lasse ich dahingestellt; es genüge darauf hinzuweisen, daß die Argumentation des Verfassers auch hier sehr dürftig ist. Weil die oberen Klassen sich schwächer fortpflanzen, so sollen wir glauben, daß durchgehends die Begabteren sich schwächer fortpflanzen! Und gesetzt, das wäre glaubhaft gemacht - was sollen wir dann von der generativen Tüchtigkeit halten? Deckt sich die begabtere Hälfte mit der körperlich tüchtigeren? Ich habe ein häufiges Vorkommen der entgegengesetzten Verbindung (guter Begabung mit geringen oder schlechten physischen Qualitäten) nur darum betont, um diese Deckung zu bestreiten, die der Gedankengang des Verfassers postuliert. Jetzt sagt aber der Antikritiker (S. 454), es sei bei ihm nichts weiter vorausgesetzt, als daß diese Anlagegruppen in einem Individuum ebensogut vereint wie nicht vereint sein können - als ob ich das 33 vereint sein können: Vgl. Schallmayer (1906: 454): „ . . . ich habe eine gesetzmäßige und regelmäßige oder auch nur besonders häufige Vereinigung von guten sanitären Anlagen mit guten intellektuellen und ethischen nirgends behauptet oder vorausgesetzt. Bei mir ist nichts weiter vorausgesetzt, als daß diese Anlagengruppen in einem Individuum ebensogut vereint wie nicht vereint sein können, und niemand wird leugnen, daß diese Annahme der Wirklichkeit entspricht.".

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

bestritten hätte! Gleich darauf (S. 455) will er aber die Voraussetzung machen (es scheint ihm das Richtigste zu sein und überhaupt nichts anderes übrig zu bleiben), daß gute und schlechte sanitäre Anlagen bei der Bevölkerungshälfte, die mit wertvolleren psychischen Anlagen geboren ist, tatsächlich ebensooft vorkommen wie bei der anderen Hälfte. Gesetzt, diese Voraussetzung wäre zutreffend, und die andere auch: so folgt, daß die Hälfte, die sich schwächer fortpflanzt, im Durchschnitt ebenso gute physische Erbqualitäten hat, wie die Hälfte, die sich stärker fortpflanzt. Und doch hat der Verfasser wie der Antikritiker fortwährend argumentiert, die Hälfte mit schlechteren physischen Erbqualitäten pflanze sich stärker fort! Zu so platten Widersprüchen führt diese lockere Art des Denkens.

XI. Da ich zu einer neuen und schärferen Prüfung des Buches durch die wenig artigen Angriffe des Antikritikers genötigt wurde, so komme ich noch auf folgenden Punkt. In dem Abschnitt über Auslesestörungen heißt es: „Bis vor kurzem waren auch die hygienisch ungünstigen besonderen Zustände in den Städten in hohem Maße mitschuldig an einem Sinken des generativen Durchschnittsniveaus der Gesamtbevölkerung. Wenn die städtische Bevölkerung infolgedessen eine höhere Sterblichkeits- und außerdem infolge ihrer besonderen sozialen Verhältnisse eine niedrigere Geburtsziffer hatte als die ländliche, so mußte sie bei der besonders rasch vor sich gehenden Verschiebung des Prozentverhältnisses zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung zugunsten der letzteren nicht wenig zu einer Schädigung des Volkskörpers beitragen, und zwar hauptsächlich zu einer qualitativen, da es durchschnittlich die bessern Köpfe sind, die sich in den Städten ansammeln."

In der Ausführung heißt es nach einer Bemerkung über die Abnahme der Sterblichkeit in den Städten (die keineswegs stichhaltig ist6): da der Zuzug 6

Die relative Abnahme der städtischen Sterblichkeit (im Vergleiche zur ländlichen) ist zum großen Teile Funktion der Tatsache, daß die Städte an den sterbewahrscheinlichsten Elementen: Säuglingen und Greisen, immer ärmer werden.

12 Art des Denkens.: In A steht hier eine Fußnote: Ich behalte mir vor, in einem Exkurs die Frage des Zusammenhanges oder Widerstreites von körperlicher Tüchtigkeit und geistiger Begabung, in einem der nächsten Hefte etwas eingehender zu untersuchen. 13 XL: In A: XV. 26 „Bis vor kurzem ... Städten ansammeln.": Vgl. Schallmayer 1903: 1 3 5 . - D a s Wort „Städten" ist in A wie auch bei Schallmayer fett gesetzt.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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nach den Städten in allen Kulturländern noch im Wachsen begriffen sei, so falle der hieraus entspringende Beitrag zur durchschnittlichen Verschlechterung des generativen Wertes der Gesamtbevölkerung immerhin noch erheblich ins Gewicht (S. 139). Dann folgt ein Absatz, der anhebt: „Und wie die eingeborene Bevölkerung größerer Städte ein relatives Defizit an Nachwuchs aufweist, so auch die gebildeten und wohlhabenden Stände wohl überhaupt..." Und nach einigen weiteren Absätzen lautet der vorletzte des ganzen Abschnittes: „Da also bei allen europäischen Kulturvölkern die begabteren Elemente stets dem Aussterben anheimfallen, so erhält der Rückstand einen immer geringeren generativen Durchschnittswert. "

Dies wird also namentlich auch aus dem „relativen städtischen Fortpflanzungsdefizit" gefolgert, von dem es auf der vorhergehenden Seite heißt, es sei wenig Aussicht, daß es gänzlich schwinden werde. - Entsprechen nun diese begabteren Städter, diese besten Köpfe, der »Voraussetzung«, die der Antikritiker macht, daß gute und schlechte sanitäre Anlagen bei der Bevölkerungshälfte, die mit wertvolleren psychischen Anlagen geboren ist, ungefähr ebensooft vorkommen wie bei der anderen Hälfte? In dem Abschnitte „Entartungssymptome bei den westlichen Kulturvölkern der Gegenwart" wird angeführt: „Nach Engel kamen in Sachsen auf je 100 Gestellte 26,58 Diensttaugliche auf dem Lande, 19,73 in den Städten." Folgt eine Notiz über die Fabrikbezirke Böhmens. Dann aber: „Nach den Ermittlungen von Vacher waren von je 100 geborenen Parisern im 20. Lebensjahr nur noch 39,2 Gestellungspflichtige übrig gegen 64 % im übrigen Frankreich. Von diesen 39,2 % gingen noch 29,5 % ab wegen »infirmités de toute la nature«, 8,9 % wegen zu kleinen Wuchses, trotz Herabsetzung des Körpermaßes, so daß von 100 geborenen Parisern kaum einer wirklich tauglich war." [Wann? Das Ganze klingt nicht eben wahrscheinlich.] Hinzugefügt wird dann, unter Berufung auf Brentano, daß sich „seitdem sehr vieles zugunsten der Städte und der in ihr vorwiegend vertretenen industriellen Bevölkerung geändert habe". „Das kann nicht schlagender gezeigt werden als durch folgende Zahlen": nämlich die ii „Da also ... Durchschnittswert.": 28 „Nach Engel...

Vgl. ebd.: 139.

tauglich war. ": Beide Zitate in ebd.: 191. - Schallmayer zitiert G. Vacher

de Lapouge nach (Dettingen 1 8 8 2 : 3 8 5 und 283, Fn. 31 daß ich „seitdem sehr vieles ... geändert habe": Vgl. Schallmayer (ebd.): „Seitdem hat sich ... sehr Vieles zu gunsten der Städte und der in ihr vorwiegend vertretenen industriellen Bevölkerung geändert.".

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Tauglichkeitsprozente der Militärpflichtigen nach Berufsgruppen in Bayern 1895. „Doch gibt auch Brentano zu, daß die Aushebungsergebnisse in den Städten noch immer beträchtlich ungünstiger sind als auf dem Lande." - Die kritische Sorgfalt, womit unser Autor diese wichtige Frage behandelt, steht auf dem gleichen Niveau mit der kritischen Sorgfalt, die wir sonst in seinem Denken antreffen. Indessen soviel ist doch ersichtlich: er anerkennt, „daß in den großen Städten Entartungsfaktoren wirkten" (dies, heißt es auf der gleichen Seite 191, beweist die Differenz zwischen den Tauglichkeitsziffern für Stadt und Land mindestens). Ob er diese Tatsache übrigens ausschließlich durch das Versagen der natürlichen Auslese erklären wolle, darüber vernehmen wir nichts; es muß wohl so verstanden werden, da der Verf. von Vererbung erworbener Eigenschaften nichts wissen will (wenn auch die negative Entscheidung durch die Annahme von syphilitischen und alkoholischen Keiminfektionen stark modifiziert wird). Jedenfalls sind alle von ihm angeführten »Entartungssymptome« - was ja seit lange ohnehin bekannt ist - ganz vorwiegend städtischer und insbesondere großstädtischer Natur und Herkunft. Dies gilt 1. von der Zunahme der Geisteskranken (S. 187), obgleich der Verf. nur mit 12 Zeilen bei diesem »Symptom« verweilt und sich skeptisch dagegen verhält, 2. von den Selbstmorden und ihrer Zunahme (S. 188 f.), 3. speziell von den Kinderselbstmorden und deren Zunahme (S. 189 f.); 4. von der Militäruntüchtigkeit (S. 190/1) war schon die Rede. Wenn schließlich die (in England, nach Haycrafts Rechnungen) abnehmenden Lebenschancen der über 35 jährigen Männer, vorzeitiges Lebensende überhaupt und chronische Kränklichkeit ins Gefecht kommen, so hätte er leicht nachweisen können, daß es auch hier um überwiegend großstädtische und industriestädtische Phänomene sich handelt. Kurz: der Verf. weiß und muß wissen, daß alle Entartungserscheinungen vorzugsweise in Städten zutage treten, und daß die typische heutige Stadt die Großstadt ist, die gerade in dieser Hinsicht mit Recht den übelsten Ruf genießt. Am Schlüsse jenes Abschnittes lesen wir noch den Absatz (S. 193): „Als unzweifelhafte Entartungserscheinungen sind anzusehen die Abnahme der leichten Gebärfähigkeit und des Stillungsvermögens der Frauen ... ferner die Überhandnähme der Kurzsichtigkeit sowie die zunehmende Verschlechterung des Gebisses. ... Dennoch fallen alle derartigen Entartungserscheinungen nur 4 „Doch

gibt auch Brentano

zu, ... als auf dem Lande.":

Vgl. Schallmayer (ebd.) und

Brentano/Kuczynski 1900: 9. 23 Haycrafts Rechnungen:

Vgl. Schallmayer (ebd.: 191 f.) mit Bezug auf Haycraft 1 8 9 5 .

XI. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Dritter Teil

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wenig ins G e w i c h t gegenüber d e m wahrscheinlichen R ü c k g a n g der geistigen Anlagen einschließlich der sittlichen u n d W i l l e n s k r a f t . "

„ Unzweifelhafte Entartungserscheinungen - wahrscheinlicher Rückgang", durch diese Differenzierung kritisiert der Verf. seine eigene Diagnose, ohne daß er über den Grad der Wahrscheinlichkeit - der in der Tat sehr niedrig ist - seiner zweiten Annahme etwas zu lehren wüßte. Überhaupt aber ist dies - wenn ich nicht irre - die einzige Stelle, wo in dem Buche ein Unterschied zwischen »derartigen«, nämlich anatomischen und physiologischen, Entartungserscheinungen und jenem angeblich wahrscheinlichen Rückgang geistiger Begabung erwähnt und beachtet wird, und woraus man schließen könnte, die Steigerung dieser Begabung, oder die Hemmung ihres Rückschritts, sei ihm so sehr die Hauptsache, daß ihm auch eine damit etwa verbundene Vermehrung und Verschlimmerung »derartiger« Entartungserscheinungen wenig ins Gewicht zu fallen schiene. Aber diese Möglichkeit hat er ja überhaupt nicht ins Auge gefaßt, und auch als Antikritiker hat er meine darauf gerichteten Bemerkungen noch nicht soweit verstanden, um anders als mit wesenlosen Gegenbemerkungen darauf zu antworten. In diesem Zusammenhange muß ich nochmals darauf zurückkommen und diese sehr zuversichtlich (wie alle übrigen) vorgetragenen Gegenbemerkungen von einer anderen Seite aufs neue beleuchten. Ich hatte, ganz nebenher - indem ich »mir versagen« wollte, auf die Beziehungen zwischen Genie und Wahnsinn einzugehen einer Äußerung Galtons Erwähnung getan, die von diesem ein Zugeständnis bedeutet und zugleich anzeigt, da er ausdrücklich von seinen »späteren« Beobachtungen spricht, daß er früher diesen Erscheinungen keine Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Der Antikritiker meint, daß ich mich gegen ihn auf Galton habe »berufen« wollen, um den angeblich von mir behaupteten Antagonismus zu stützen. Ich wußte sehr genau, daß Galton an jener Stelle zwischen »Genie im technischen Sinne«, worauf er jenes Zugeständnis durchaus einschränkt, und der natürlichen Begabung, von der sein Buch handle, streng unterscheiden will, diese sei nichts weiter als was ein moderner Europäer in viel größerem Durchschnittsquantum besitze als Menschen der niederen Rassen. Im Gegensatze zu der Ansicht, die hier zugrunde liegt, und die von Herrn Schallmayer geteilt wird, hatte ich zu behaupten gewagt, daß jene (von Galton eingeräumten) Beziehungen nur den beson22 Beziehungen

zwischen Genie und Wahnsinn: Dies und die folgende Passage bezieht sich

auf die Ausführungen S. 2 3 3 f. in diesem Band. 26 Der Antikritiker meint: Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 2 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ders ausgeprägten Fall einer allgemeinen Erscheinung darstellen. Ich hätte besonders darauf aufmerksam machen können (aber ich mußte mich kurz fassen), daß dies keineswegs Galtons Ansicht ist; der Antikritiker irrt aber, wenn er meint, daß ich mich gegen ihn auf Galton habe »berufen« wollen, wenn ich sagte, es „sei vielleicht nicht ohne Wert, die Ausdrücke anzuführen . . . " Meine Meinung war: sogar Galton hat auf Grund späterer Beobachtungen - soviel einräumen müssen. Mir lag in der Tat vielmehr an der allgemeinen sehr viel weniger bemerkten Erscheinung, als an jenen - kaum mehr in Zweifel stehenden - Beziehungen (zwischen Genie und Wahnsinn). Der Antikritiker beruft sich nun, um mich zu widerlegen, in Wirklichkeit auf Galton, nämlich darauf, daß dieser „schon in seiner Schrift von 1 8 7 4 " „Tatkraft, Gesundheit, Ausdauer in der Verfolgung eines Zieles", und noch einige andere Eigenschaften „in der Regel" bei Gelehrten vereinigt gefunden habe. Das stimme nicht zu meiner (eben wiederholten) Behauptung. „Die Kombination eines starken und gesunden Geistes mit einem gesunden Körper (mens sana in corpore sano) wäre *demnach* (jener meiner Behauptung nach) eine Anomalie!" Um Vergebung! das folgt nicht. Ein starker und gesunder »Geist« (wobei der Nachdruck auf dem zweiten Epitheton liegt) besteht sehr wohl mit durchschnittlicher Begabung, also auch mit normaler Körperbeschaffenheit zusammen; er ist sogar bei einem im allgemeinen gutbegabten Volke Ausdruck eines normalen Nervensystems und Gehirns; er entspricht im ganzen dem, was die Engländer common sense, was wir eben den „gesunden Menschenverstand" nennen. Er bewährt sich in »gesundem« Urteil und normalem praktischen Geschick; er eignet Frauen in ihrer Sphäre, und für ihre Aufgaben, so gut wie Männern; er verträgt sich ganz wohl mit Kränklichkeit und Gebrechlichkeit, aber besser mit einem allgemeingesunden Körper; was keineswegs ausschließt, daß dieser oft mit Beschränktheit, ja mit geistiger Minderwertigkeit sich zusammenfindet. Etwas ganz anderes ist die in irgendwelche besondere Richtung gehende, mit der Passion für bestimmte Betätigungen, mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und Erregbarkeit der Nerven regelmäßig verbundene geistige Begabung, die in höheren Fällen das Talent, in höchsten das Genie „im technischen Sinne" darstellt. 13 „Tatkraft,

Gesundheit,

Ausdauer

in der Verfolgung

eines Zieles: Schallmayer (1906:

4 5 2 f.) zitiert Galton 1 8 7 4 : 2 3 0 : „We have seen that energy, health, steady pursuit of purpose, business habits, independence of views, and a strong innate taste for science are generally combined in the character of a successful scientific man.". - Nach „Zieles" fehlte im Text ein Abführungszeichen. 17 „Die Kombination

... eine Anomalie!":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 3 .

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

375

Der starke und gesunde Geist ist in allen sozialen Schichten, am meisten wahrscheinlich in den mittleren, anzutreffen; jene besonderen Begabungen sind es, die viel eher in Familien vorkommen, die schon, zum Teil dank solcher Begabung, in höhere Schichten emporgekommen, schon „alt in der Kultur" sind. Und da wage ich eben zu behaupten, daß in auffallender Häufigkeit solche Begabungen, sowohl in künstlerischer als in wissenschaftlicher Intention, weit öfter aber in jener „dicht neben pathologischen Anlagen der Physis", besonders solchen des Nervensystems, zum guten Teil in denselben Individuen, wenigstens aber in derselben blutsverwandten Familie (sei es auf Vaters oder auf der Mutter Seite oder auf beiden) gelegen sind. Von vornherein und nach den Regeln der Analogie muß es für den, der die Tatsachen in betreff eigentlicher Genies erkannt hat und (wie Galton) anerkennt, gegeben und fast geboten erscheinen, daß ein viel allgemeineres Phänomen zugrunde liege; denn das Genie ist keine Wundererscheinung, sondern besitzt eine Begabung in vorzüglich hohem Grade, die dem starken und gesunden Geiste in der Regel nicht angehört, und immer etwas Exzeptionelles (relativ betrachtet), zugleich aber doch in minderen Graden von großer absoluter Häufigkeit ist - man denke etwa an poetische, musikalische, malerische, aber auch an philosophische und wissenschaftliche Talente. Ich sprach nicht von einem starken und gesunden, sondern von dem verfeinerten und tieferen Geist, von der im Sinne einer alten Kultur wertvollsten Intelligenz, von künstlerischer, philosophischer; auf Dichter, Musiker, Maler, Philosophen und andere Denker wies ich besonders hin, ich unterschied aber von dieser Menge »die Hervorragenden«. Hätte ich auf eine Autorität mich berufen wollen, so wäre es in dieser Sache sicherlich nicht Galton gewesen, dessen offenbare Schwäche das Vorbeisehen an dem unermeßlichen Gebiet der nervenpathologischen Tatsachen ist, sondern ich hätte mich (bei meiner geringen Kenntnis der Literatur) am liebsten etwa an Moreau (von Tours) gehalten, dessen „Psychologie morbide" ich nicht seit gestern, sondern vom Jahre 1891 her kenne, und - ohne ihm in jeder Hinsicht Recht zu geben - in der Hauptsache für festbegründet halte. Dies Buch ist von der Auffassung durchzogen, daß die Beziehungen zwischen Genie und Wahnsinn „nur den besonders ausgeprägten Fall einer allgemeinen Erscheinung darstellen". Er unterscheidet durchaus die Hervorragenden von den Begabten; er stützt

8 „dicht neben ... der Physis"-. Vgl. Tönnies' Darstellung oben, S. 2 3 4 . 30 „Psychologie

morbide":

Vgl. Moreau 1 8 5 9 .

34 „nur den besonders ausgeprägten

Fall ... darstellen":

Als Zitat nicht nachgewiesen.

376

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

sich auf die alltäglichen Beobachtungen, die man an diesen machen könne, um seine These in bezug auf jene plausibler zu machen. „Seit einer Reihe von Jahren schon, nachdem meine Aufmerksamkeit sich auf den Gegenstand gerichtet hatte, ist es außerordentlich selten, wenn ich genügende Nachweisungen habe erhalten können, daß ich nicht unter den Aszendenten in den Familien von Leuten, die ihre geistigen Eigenschaften aus der Menge emporgebracht hatten, entweder Gehirnaffektionen, oder nervöse Störungen oder Anomalien der Verstandestätigkeit gefunden habe. Ich habe, fast beständig, in den genealogischen Reihen, sich folgen sehen: zuweilen hervorragende Fähigkeiten, immer eine gewisse Trefflichkeit des Verstandes und - irgendwelche Affektionen des zentralen oder peripherischen Nervensystems. Wir müssen aber auf dieselbe Linie mit eigentlichen nervösen Störungen gewisse ungewöhnliche Neigungen des Willens stellen, wovon man in den hier in Rede stehenden Familien zahlreiche Beispiele findet. Die Verwandten, bei denen wir unsere Erkundigungen einziehen, erklären uns oft, dies oder jenes Mitglied der Familie habe ein »ruheloses Leben« geführt (ont eu ce qu'on appelle une existence orageuse); daß sie sich bemerklich machten durch ihr exzentrisches Wesen, durch den fast völligen Mangel an Besonnenheit (de sens commun) - womit oft intellektuelle und moralische Eigenschaften von nicht geringem Werte verbunden gewesen seien (lebhafte Phantasie, wundervolles Gedächtnis, Gewandtheit der Rede, ein gutes Herz usw.) - , durch Handlungsweisen und Arten des Betragens, die kein Mensch habe verstehen können, in unablässigem Widerspruch gegen den gesellschaftlichen Brauch, die Sitten, sogar gegen die Gesetze ... und zwar, das alles, trotz der besten Familientraditionen, einer ausgezeichneten Erziehung, ihres Ranges, ihrer Stellung in der Welt, mit einem Worte, obschon es 1000 Gründe gab, die sie auf einem würdigeren und ihren wirklichen Interessen angemessenen Wege hätten halten müssen". Man begreife, meint der berühmte Psychiater, daß

19 „Seit einer Reihe von Jahren schon, ... wege hätten halten müssen": Vgl. Moreau ( 1 8 5 9 : 5 0 9 f.): „Or, depuis un certain nombre d'années déjà, que mon attention est fixée sur ce sujet, il est extrêmement rare, lorsque j'ai pu obtenir des renseignements suffisants, que je n'aie rencontré parmi les ascendants, dans la famille d'individus que leurs qualités morales avaient tirés de la foule, soit des affections cérébrales, soit des désordres nerveux, soit des anomalies des fonctions intellectuelles. J'ai vu se succéder presque constamment, dans les séries généalogiques, l'éminence des facultés quelquefois, toujours une certaine distinction intellectuelle, et des affections quelconques du système nerveux central ou périphérique. Sur la même ligne que les troubles nerveux proprement dits, nous plaçons certaines dispositions morales exceptionnelles dont on trouve de nombreux exemples dans les

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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er diese Tatsachen nicht aufzählen könne. „Möge man seine eigenen Erinnerungen zu Rate ziehen, blicke man um sich, richte man von diesem Augenblicke an seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand: die Erfahrung wird einem jeden so wie mir den Beweis für meine Behauptung liefern unter Fremden, oder unter seinen Bekannten und Freunden, vielleicht in der engeren Familie, wird man Gelegenheit finden, der Verwandtschaft, der hereditären Verkettung sich zu versichern, welche die besonderen geistigen Begabungen der einen mit den nervösen Erkrankungen verbindet, wovon andere Mitglieder derselben Familie betroffen wurden". Von meinen eigenen Beobachtungen, die ich seit mehr als 20 Jahren, wenn auch nicht als Arzt, zu machen beflissen bin, kann ich nur sagen, daß sie diese Ansicht in vollem Maße bestätigen. Das Horarische Mens sana in corpore sano wird gewöhnlich als Postulat verstanden und darf als solches immer auf lebhafte Zustimmung rechnen; aber auch wenn es assertorisch gemeint wird, so anerkenne ich das Urteil als auf eine normale Erfahrung gegründet; nur daß mir die mens sana keine besondere und irgendwie hervorstechende Begabung bedeutet; ich gehe also nicht so weit wie Moreau, der einem eigenen Paragraphen seines Buches die Überschrift gibt: „Falschheit des Axioms: mens sana etc." (La psychologie morbide. T. II. Ch. IV. section II. § 4); seine Ausführungen beziehen sich hier wesentlich auf das familles dont nous parlons. Les parents auprès desquels nous prenons des informations nous font souvent cette déclaration, que tels membres de la famille ont eu ce qu'on appelle une existence orageuse-, qu'ils se faisaient remarquer par leurs excentricités, par un m a n q u e presque absolu de sens c o m m u n , auquel s'alliaient souvent des qualités intellectuelles et morales peu ordinaires (une imagination vive, une mémoire prodigieuse, une élocution facile, un cœur bon et généreux, etc.); par des manières d'agir, une conduite inexplicable pour tout le monde, en contradiction perpétuelle avec les usages, les mœurs, les lois même de la société ... Et cela, en dépit des meilleures traditions de famille, d'une excellente éducation, de leur rang, de leur position dans le monde, en un mot des mille et une raison qui devaient les maintenir dans une voie plus digne et plus conforme à leurs véritables intérêts.". 9 „Möge man seine eigenen Erinnerungen zu Rate ziehen, ... Familie betroffen wurden"-. Vgl. ebd. (510 f.): „Mais on comprendra que ces faits, nous ne saurions les énumérer ici. Que chacun fasse appel à ses souvenirs, regarde autour de soi, qu'il tienne désormais son attention éveillée sur le sujet que nous lui indiquons; comme à nous-même, l'expérience lui fournira la preuve de ce que nous avançons; parmi les étrangers, dans la famille de ses connaissances, de ses amis, dans la sienne propre, peut-être, il trouvera l'occasion de s'assurer de la filiation, de l'enchaînement héréditaire qui rattache les dispositions intellectuelles particulières de certains membres aux maladies nerveuses qui ont frappé les autres.". 20 § 4: Vgl. ebd.: 4 6 7 ff. 20 auf: Satzfehler „aus" korrigiert; richtig auch in A.

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Genie und verkennen seinen eigenen Standpunkt, daß diesem eben im psychischen Sinne etwas Pathologisches anzuhaften pflegt. Die Gesundheit des »Geistes« besteht viel mehr in einem Gleichgewicht der Hirnfunktionen als in jener leidenschaftlichen Beweglichkeit, die nicht nur dem Genie, sondern jeder starken Begabung eigen ist. Ich bin allerdings der Meinung, daß immer noch, damit eine Begabung etwas leiste, ein nicht geringes Maß von geistiger Gesundheit, daher auch von gesundem Menschenverstand, zugrunde liegen muß; und daß dieses Maß auch durch eine gewisse allgemeine körperliche Gesundheit bedingt wird; viele Schwächen werden aber auch durch eine ungewöhnliche Quantität mentaler Energie kompensiert, die keineswegs durch höhere intellektuelle Fähigkeiten gewährleistet wird, aber doch leicht sich mit ihnen verbindet7. Alle diese Art von Gesundheit, mit Einschluß solcher Energie, die oft alte Erbteile aus ganz normalen wahrhaft gesunden Familien darstellen, finden sich aber auch sehr häufig mit den mannigfachsten Gebrechen und besonders mit einem „sehr gefährlichen Nervensystem" (diese Worte hatte ich unterstrichen) zusammen. Aus einer Familie von Schwächlingen werden begabte Männer und Frauen (geschweige Genies) nicht hervorgehen; wohl aber aus einer ursprünglich starken und gesunden Familie, die einen »Stich« oder wie man in Berlin sagt, einen »Knax« bekommen hat, was wohl am häufigsten durch blutsverwandte Heiraten, durch Inzucht und Ahnenverlust erfolgen dürfte, Einflüsse, die aber unter Umständen gerade auch die Begabungen zu steigern geeignet sind. Es macht mich daher - und schon wegen des schwankenden unbestimmten Sinnes, den das Wort Gesundheit immer hat - nicht im mindesten irre, daß Galton „bei Gelehrten kräftige Gesundheit besonders häufig" gefunden haben will; abgesehen davon, daß Gelehrte nicht immer besonders begabte Leute sind. Ebensowenig macht es auf mich Eindruck, daß ]. B. Steinmetz „bei seinen statistischen Erhebungen ... fand, daß die führenden Geister Hollands fast

7

Darum sagt Carlyle: „Genius is the capacity of taking pains."

17 (diese Worte hatte ich unterstrichen): 26 „bei Gelehrten

Vgl. in diesem Band S. 2 3 3 .

... häufig"-. Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 7 , dort gesperrt gedruckt.

28 / . B. Steinmetz: Gemeint ist Sebald Rudolf Steinmetz. 30 „Genius is the capacity of taking pains.": Carlyle (1858: 4 0 7 ) schrieb über die Verwaltungsreform des preußischen Königs Friedrich Wilhelm: „The good plan itself, this comes not of its own accord; it is the fruit of ,genius' (which means transcendent capacity of taking trouble, first of all): given a huge stack of tumbled thrums, it is not in your sleep that you will find the vital centre of it, or get the first thrum by the end!".

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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alle aus hervorragend gesunden Familien hervorgegangen zu sein scheinen"; das »scheinen« will ich gar nicht betonen, die Sache mag ihre Richtigkeit haben, ich bezweifle nur sehr, ob wirklich ausreichende Materialien für dies Ergebnis vorgelegen haben. Der Antikritiker schreibt ferner: „Anderseits hatten die statistischen Erhebungen, die Othmar Spann . . . i n Frankfurt a. M. gepflogen hat, das Ergebnis, daß die Gruppe der Kinder ,mit günstigen Schulauskünften' (hinsichtlich „intellektueller Anlagen, Fortschritte in den Schulleistungen, Fleiß und Aufmerksamkeit, moralischer Qualifikation" usw.) bedeutend mehr gute sanitäre Konstitutionen enthält als die mit mittelmäßigen Schulauskünften und diese wieder wesentlich mehr als die mit ungünstigen Schulauskünften" (S. 457). Nach einem Referat der Beilage zur „Allgem. Zeitung" heißt es dazu: Ich habe das Buch Spanns, das manche schätzbare Ergebnisse enthält, vor mir, und finde, daß darin (S. 140) die Ergebnisse von 8 Fragen, die sich außer auf die von Herrn Scb. angegebenen Gegenstände auch auf „den Schulbesuch, die Wiederholung einer Klasse und die etwanige Erwägung der Frage der Fürsorgeerziehung beziehen", „unter dem Namen Schulauskünfte zusammengefaßt"' und in die 3 Gruppen eingeteilt worden sind. Schon die »Zusammenfassung« macht den Wert dieser übrigens nur uneheliche Kinder betreffenden Schulauskünfte ziemlich fragwürdig; nach welchen Gesichtspunkten und von wem die Güte der »Konstitution« geprüft worden ist, ersehen wir außerdem nicht. Ebenso bleibt verborgen, auf welche Weise jene Antworten »zusammengefaßt« worden sind. Die beantwortenden Lehrer konnten jedenfalls über Punkte wie »Schulbesuch«, »Aufmerksamkeit« sicherer urteilen, als über angeborene Begabungen. Ob überhaupt ein einziges Kind, dessen Begabung über den Durchschnitt der mit einem »gesunden Geiste« verbundenen Begabung hinausging, unter den 556 unehelichen Kindern sich befunden habe, muß zweifelhaft erscheinen. Im günstigsten Falle beweisen die Schulauskünfte, was ich dahin ausgedrückt habe, daß „normale Körperbeschaffenheit im allgemeinen einen

2 „bei seinen ...zu sein scheinen"-. Vgl. ebd. Die Sperrung ist von Tönnies getilgt; Schallmayer bezieht sich auf Steinmetz 1 9 0 4 . n

„Anderseits

hatten ... ungünstigen

Schulauskünften":

Die Sperrung Schallmayers von

Tönnies getilgt. 12 „Allgem.

Zeitung"-. In seiner Auseinandersetzung mit Spann bezieht sich Schallmayer

nicht auf Spanns Arbeit selbst, sondern auf einen Bericht der Allgemeinen Zeitung vom 11. 10. 1 9 0 5 (vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 7 , Fn.). 13 das Buch Spanns - aus dem Jahre 1 9 0 5 . 28 muß zweifelhaft erscheinen:

Vgl. Spann 1 9 0 5 : 1 4 0 f.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Durchschnittsverstand garantiere" (von Herrn Sch. aus meinem Art. »Eugenik« zitiert). Aber selbst, wenn ich die guten Schulauskünfte als Beweis vorzüglicher Begabung (begabte Kinder sind bekanntlich oft unaufmerksam, träumerisch und fügen sich der Schuldressur schlecht) gelten lasse, so ist in der Tat, wenn auf die sog. guten und auf die sog. mittleren »Konstitutionen« die guten Schulauskünfte verteilt werden, der Unterschied folgender (diese wichtigere Einteilung macht O. Spann nicht): gute Konstitutionen mittlere „

319 157

gute Schulauskünfte „ „

128 = 55 =

40,1 % , 35,0 % ,

- auf die kleinen Zahlen ein geringer Unterschied. Die kleine Gruppe (70) der durch »schlechte« Konstitutionen charakterisierten Kinder hebt sich aber viel stärker davon ab (gute Schulauskünfte nur in 8 = 11,3 % Fällen); es wird dadurch bestätigt, daß kränkliche Kinder, zumal solche aus ärmlichen Verhältnissen und schlecht ernährt, in der Schule selten etwas leisten; außerdem sind bekanntlich geringere und höhere Grade von Schwachsinn oft mit körperlichen Gebrechen verbunden. Für meine These, daß der verfeinerte und tiefere Geist in (vielleicht) der Mehrzahl der Fälle „auf einem schwachen Leibe" wachse, hat diese Feststellung ebensowenig Bedeutung, wie die andere, worauf der Antikritiker sich zweimal bezieht, daß Kinder mit schlechten Zähnen schlechtere Zensuren hatten. Was ich gemeint habe, ist - ich kann es nicht genug hervorheben - von dem Antikritiker unverstanden geblieben und entstellt wiedergegeben. Er meint (S. 458), es könne zur Förderung unserer Erkenntnis jedenfalls nicht dienen, wenn man eine jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Behauptung nicht etwa nur als gleichwertig der abweichenden vorsichtigen 2 »Eugenik«:

Vgl. den Artikel in diesem Band S. 4 5 5 ff.: „Normale körperliche Beschaffen-

heit garantiert im allgemeinen einen Durchschnittsverstand, aber auch nicht mehr." Die bei Schallmayer ( 1 9 0 6 : 4 5 3 f.) zitierte Stelle (unten, S. 4 7 5 ) ist hier nicht ganz wortgetreu wiedergegeben. 7 macht O. Spann nicht: Die folgenden Berechnungen stellt Tönnies auf der Basis von Ausführungen Spanns (1905: 1 4 0 f.) an. 19 sich zweimal bezieht: Vgl. Schallmayer 1906: 4 3 2 und 4 5 7 . 22 Er meint: Siehe Schallmayer (ebd.: 458): „Zur Förderung unserer Erkenntnis kann es jedenfalls nicht dienen, wenn man eine jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Behauptung nicht etwa nur als gleichwertig der abweichenden vorsichtigen des kritisierten Autors entgegensetzt, sondern erstere wie ein höheres, keinem Zweifel unterliegendes Urteil, ja ungefähr wie einen feststehenden Lehrsatz aufführt und als Hebel zur kritischen Vernichtung des wissenschaftlichen Kalküls des anderen verwertet . . . " .

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Annahme des kritisierten Autors entgegensetze, sondern usw. Hier und an anderen Stellen will der geehrte Herr den Schein erwecken, als wäre irgendeine Annahme über das Verhältnis zwischen physischer und psychischer Begabung in seinem Buche enthalten. Eine solche Annahme ist in seinem Buche nicht enthalten, es ist nicht einmal eine Spur davon anzutreffen, daß er an dies Verhältnis überhaupt gedacht hat. Was ich habe sagen wollen, was ich dem Autor als in hohem Grade unkritisch zum Vorwurf machen wollte, und jetzt erneut zum Vorwurfe mache, ist eben dies: auf der einen Seite redet er vom »generativen Wert«, dessen Erhaltung gefährdet sei, als bestünde dieser ausschließlich in physischer Tüchtigkeit; auf der anderen Seite redet er ebenso vom generativen Wert, als bestünde der ausschließlich in psychischer Begabung - deshalb mußte ich darauf aufmerksam machen, daß psychische Begabung, und zwar gerade diejenige, die im Sinne unserer Kultur am wertvollsten sei, sehr oft mit mangelhafter physischer Tüchtigkeit, z. B. (in welchem Falle es besonders evident ist und von dem Antikritiker zugegeben wird) mit Myopie verbunden ist, aber auch mit schlimmeren Anlagen, z. B. zu Herzkrankheiten und Tuberkulose; und daß diese mangelhafte physische Tüchtigkeit, ebenso wie die oft damit verbundenen Geistesgaben, in der Regel angeboren, also »ererbt« sei, wollte ich mit dem Hinweise darauf belegen, daß gerade unter Kindern es überhaupt die zarten, und allzu oft geradezu kränklichen seien, die sich durch schöne Geistesgaben ... auszeichnen. Gewiß habe ich dies nicht bewiesen, ich verlange aber auch gar nicht, daß es anerkannt werde; es genügt vollkommen, wenn eingeräumt wird, daß sich oft diese Kombination findet; denn dies genügt, nicht um irgendeine nicht vorhandene »Annahme« meines Autors zu vernichten, sondern um die Unlogik seines Gedankenganges bloßzustellen, die an diesem für seine Deduktionen so wesentlichen Problem einfach vorbeigeht. Auch der Antikritiker bleibt noch - eben jene Einräumung in betreff der Myopie beweist es - taubstumm gegenüber diesem Problem, und antwortet, wie ein Taubstummer mit Gebärden! Diese Gebärden sollen mich als einen Mann erscheinen lassen, der „ungeheuerliche Behauptungen" aufgestellt habe. Das wesentliche, was ich gesagt habe, wird gar nicht erwähnt; Unwesentliches wird entstellt wiedergegeben. Ich soll gesagt haben, daß man bei Männern und Frauen, die mit dem tuberkulösem Übel einer verkrümmten Wirbelsäule behaftet sind, »sowie auch« bei den zur Lungenschwindsucht Disponier14 sehr: In A kursiviviert. 35 tuberkulösem:

Besser: tuberkulösen.

36 »sowie auch«: In A zwischen Asterisken stehend. Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 5 8 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

ten fast regelmäßig ungewöhnliche Geistesgaben bemerke. Das ist wieder einmal ganz und gar unrichtig! Mein Satz lautete: „Dagegen bemerkt man z. B. fast regelmäßig außergewöhnliche Geistesgaben bei Männern und Frauen, die ... behaftet sind, »und auch sonst« bei solchen, die durch jene traurige Disposition zur tödlichen Erkrankung der Atmungsorgane auf ein kontemplatives Leben sich gedrängt sehen." Für den, der mit Verstand liest, muß es sich hier von selbst verstehen, daß das »fast regelmäßig« nur auf den ersten Teil des Satzes sich bezieht, und daß der andere Teil durch die Worte »und auch sonst« deutlich davon abgehoben wird; obschon ich gern zugestehe, daß es noch deutlicher gewesen wäre, wenn das subintelligierte »(auch sonst) wohl« oder »(auch sonst) nicht selten« ausdrücklich eingeschaltet worden wäre. Es bleiben freilich immer Leute, für die man niemals deutlich genug ist.

XII. Bisher habe ich immer „des Arguments wegen" gelten lassen, daß die begabteren Individuen, deren stärkere Fortpflanzung Herr Schallmayer für so außerordentlich wünschenswert hält, nicht nur intellektuell, sondern auch ethisch besser begabt sind. Der Antikritiker ergeht sich weitläufig darüber (S. 442 ff.), daß er „speziell auch den ethischen Anlagen großen Wert beilege", es könne keinem Zweifel unterliegen, wenn er von Abnahme der Begabung gerade für die Aufgaben unserer Kultur rede, daß die größere Begabung, die man bei den sozial höher stehenden Klassen ... voraussetzen dürfe, auch die ethischen Anlagen in sich schließen müsse. Er beschwert sich, es sei von mir außer Betracht gelassen worden, was er geradezu für selbstverständlich hielt, daß „auch ethische Qualitäten von großem Einfluß auf den Erfolg bei der Beamten- und Gelehrtenlaufbahn sind"'. Tatsächlich seien zu derartigen Erfolgen und zu kulturellen Leistungen außer der entsprechenden intellektuellen Begabung auch „gewisse moralische Qualitäten und folglich auch die Anlagen zu ihnen erforder6 „Dagegen bemerkt ... gedrängt sehen.": Vgl. oben S. 234. - »und auch sonst« steht in A zwischen Asterisken. 14 XII.: In A: XVI. 15 gelten lassen: In A: gelten lassen (s. oben S. 67). - Vgl. hier S. 355. 20 „speziell auch ... Wert beilege": Vgl. Schallmayer 1906: 442. 27 „auch ethische Qualitäten ... Gelehrtenlaufbahn sind": Vgl. ebd.: 443 - Hervorhebung durch Tönnies, in A zwischen Asterisken.

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lieh, wie Ehrgeiz, Fleiß, Energie und Ausdauer, Selbstbeherrschung und alle jene Gemütseigenschaften, die uns eine Person ... sympathisch zu machen vermögen". Es sei unrichtigerweise von mir behauptet, daß seine Folgerungen auf der Voraussetzung beruhen, der generative Wert falle mit der intellektuellen Fähigkeit zusammen oder sei ganz und gar dadurch bedingt; diese Voraussetzung halte er allerdings für völlig unzulässig. Sittliche Anlagen sind etwas Mannigfaches und Verwickeltes, es ist schwer, darüber Gültiges auszusagen. Gewiß ist, daß Eigenschaften wie Ehrgeiz, Energie, Selbstbeherrschung - ich setze aber für Ehrgeiz »Ehrgefühl« ein - wenn sie auch moralisch sehr wertvoll, ja wesentliche Elemente eines sittlichen Willens sind, für sich allein diesen Willen nicht charakterisieren, weshalb sie auch nicht moralische Qualitäten, oder wenn man lieber will, nicht „ethische" Qualitäten zu heißen verdienen. Sie sind in der Tat - besonders wenn für Ehrgefühl wieder mit dem Antikritiker JLhigeiz eingesetzt wird - bei den größten Halunken, bei geborenen Meuchelmördern, oft in außergewöhnlichem, meinetwegen bewunderungswürdigem Maße anzutreffen. Nicht viel anders steht es mit „Fleiß und Ausdauer", die gleichzeitig genannt werden; auch diese guten Eigenschaften sind nicht selten bei abgefeimten Schurken, vollends bei ordinären Strebern, ausgeprägt vorhanden. Auch jene Gemütseigenschaften, die uns eine Person unabhängig von ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Intelligenz, »sympathisch« zu machen vermögen, haben mit der Güte des Charakters wenig zu tun. „Den besten Charakter besitzen jene Menschen, die gar nicht anders als gut handeln können, weil es ihnen nach ihrer Anlage, und auch zufolge ihrer Erziehung gar nicht in den Sinn kommt, anders zu handeln. Aber diese haben nach der bei uns herrschenden Auffassung geringeres sittliches Verdienst als jene, die sich versucht fühlen, schlecht zu handeln, aber dieser Versuchung widerstehen. Und doch würde jeder Mensch im praktischen Leben die erstem vorziehen, sei es für seinen Umgang, sei es für ein Vertrauensamt; denn nur sie bieten die notwendige Zuverlässigkeit. Für die soziale Bewertung kommt es nicht auf das fragwürdige sittliche Verdienst an ... sondern ausschließlich auf die soziale Tauglichkeit, und die beruht in erster Linie auf angeborenen Anlagen, zu einem andern Teil auf Erziehungseinflüssen und sonstigen Einwirkungen des Lebens. ..." So (in der Hauptsache vortrefflich) - Schallmayer, „Vererbung und Auslese", S. 87. Hier wird völlig übersehen, daß auch Energie, Selbstbeherrschung, 3 „gewisse moralische 35 „Vererbung

Qualitäten ...zu

machen vermögen"-. Vgl. ebd.

und Auslese"-. Vgl. Schallmayer 1903: 86 f.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Fleiß und Ausdauer moralisch wertvolle Qualitäten sind, wenn sie mit guten Willensrichtungen sich verbinden, daß sie schwächere Anlagen dieser Art zu entwickeln und gegen Willensrichtungen entgegengesetzter Art zu stärken vermögen; es wird auch übersehen, daß sie selber in angeborenen Anlagen beruhen, die freilich, wie alle Anlagen, geübt und ausgebildet werden müssen. Aber in der Hauptsache hat der Autor recht, er denkt hier an jene Echtheit und Lauterkeit der Gemütsart, die nach bestem Gewissen den erkannten sittlichen Maximen folgt und ebenso den ehrlichen treuen, wie den aufopferungsfähigen, von sittlichem Idealismus angetriebenen Menschen charakterisiert. Reine Typen dieser Art, mit reinen Motiven, sind in der Wirklichkeit sicherlich ungemein selten; ebenso gewiß ist aber, daß die Anlagen zu einem normalen sittlichen Fühlen und Denken sehr verschieden sind und in einem gewissen Zusammenhange mit der allgemeinen intellektuellen Begabung stehen, teils in Beziehungen gegenseitiger Förderung, teils in solchen gegenseitiger Hemmung: mit der Intelligenz wächst das Verständnis sittlicher Gebote, mit der Intelligenz wächst aber auch das Verständnis des eigenen Interesses in seinen vielfachen Gegensätzen gegen die Interessen anderer, wächst die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Neigungen, auch die sympathischen und moralischen, zu unterdrücken. Die intellektuellen Fähigkeiten sind zwiespältig in bezug auf die moralischen Anlagen: bejahend und verneinend. Darum sind die moralischen Anlagen bei den Frauen in einem Sinne stärker (als sympathische), im andern schwächer als bei den Männern (als Fähigkeit nach Grundsätzen überhaupt, also auch nach moralischen »Maximen« zu handeln). Ganz analog dem des weiblichen und des männlichen Geschlechts ist das Verhältnis zwischen Volk und Gebildeten; in vieler Hinsicht berührt sich mit diesem wieder dasjenige zwischen Landleuten und Stadtleuten. In der Literatur der letzten Jahrhunderte spielt bekanntlich die Ansicht eine große Rolle, die auch von je die Ansicht der Schwarmgeister und der „Stillen im Lande" gewesen ist: daß „die Tugend nur in den niederen Ständen, alle Verworfenheit unter den Vornehmen zu suchen sei". Wieviel an dieser Meinung Gerechtes und Wahres ist, möchte ich hier nicht entscheiden. Die Entscheidung würde sagen müssen, welche Tugenden am höchsten zu schätzen, welche Verworfenheiten am meisten hassenswürdig seien. Die Frage ist verwickelt. Mit Zuversicht aber erkläre ich die Meinung, die jener vielverbreiteten entgegengesetzt ist, für unzulässig und falsch, auch wenn sie in der Form 31 „die Tugend nur in den niederen Ständen ...zu suchen sei": Als Zitat nicht nachgewiesen.

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auftritt, wenn auch nicht das wirkliche Verhalten, so seien doch die sittlichen Anlagen durchschnittlich besser unter den Wohlhabenden und Gebildeten, als in der allgemeinen Masse des Volkes. Abgeschmackt nannte Niebuhr jene revolutionäre Ansicht; sie ist aber nur die Umkehrung der viel älteren und gemeineren aristokratischen Ansicht, die von allzu evidenter Erfahrung immer verleugnet worden ist; so sehr sie den Einbildungen der »Edlen« schmeichelt, so wird sie doch heute von keinem ehrlichen und einsichtigen Manne, der durch Geburt diesen Schichten angehört, geteilt. Da ich nicht ohne ausreichende Beglaubigung Herrn Dr. Schallmayer diese abgeschmackte Ansicht zutrauen wollte, so hatte ich geschrieben: daß in den oberen Schichten eine Elite der besten Begabungen sich darstelle, könne höchstens in intellektueller Hinsicht überhaupt gemeint sein, und hatte gesagt, „Abnahme der Begabung" heiße „nach dem Zusammenhange" immer: Abnahme der intellektuellen Fähigkeiten. Dagegen protestiert nun der Antikritiker mit seiner gewöhnlichen Lebhaftigkeit. „Herr T. läßt ganz außer Betracht, was ich geradezu für selbstverständlich hielt, daß auch ethische Qualitäten von großem Einfluß auf den Erfolg bei der Beamten- und Gelehrtenlaufbahn sind." - Diese Naivität gegenüber dem bedeuteten schwierigen Problem der moralischen Anlagen kann mich wohl zum Lächeln, aber nicht zu einer Diskussion veranlassen. Ich erkenne aber, daß ich mit meiner Annahme, der Verfasser werde, zumal ohne einen Schatten von Beweisversuch, eine so „abgeschmackte" Voraussetzung nicht gemacht haben, im Irrtum gewesen bin. In der Anmerkung S. 442 erklärt der Antikritiker freilich, er habe von der Gruppierung nach Wohlhabenheitsklassen gelegentlich Gebrauch gemacht, weil die wohlhabenden Klassen die Gebildeten großenteils in sich schließen usw., erklärt aber am Schlüsse ausdrücklich: „Meine Voraussetzung ist nur (!!), daß selbst unter unsern gegenwärtigen sozialen Zuständen der Mechanismus der sozialen Auslese, des sozialen Auf- und Niedersteigens, bei aller Unvollkommenheit doch nicht so schlecht funktioniert, *daß man nicht annehmen dürfte*, daß den besitzenden Klassen im Durchschnitt ein wenigstens etwas höheres Maß angeborener Befähigung für die Aufgaben unserer Kultur eigen sei als den Besitzlosen." Und dies heißt (der Antikritiker nimmt mir sehr übel, daß ich das nicht verstanden habe): die besitzenden Klassen und ihre Kinder sind nicht nur im Durchschnitt ge-

4 Niebuhr: Quelle nicht ermittelt. 10 hatte ich geschrieben: Vgl. hier S. 234. 18 „Herr T. läßt ganz außer Acht... Gelehrtenlaußahn

sind.": Vgl. Schallmayer 1906: 443.

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scheiter, sondern auch im Durchschnitt moralisch besser als die Besitzlosen und ihre Kinder. Ob dies »besser« heißen soll: gutherziger, liebevoller, aufopferungsfähiger - oder wahrheitsliebender, ehrlicher, treuer - darüber schweigt der Antikritiker wie der Verfasser. Oder soll es heißen: ehrgeiziger, fleißiger, energischer, ausdauernder usw. (wie oben)??! - Und dabei beklagt sich der Antikritiker (S. 461) über eine meiner Bemerkungen, die erkennen lasse, daß ich bei ihm etwa Awwowsche Anschauungen »voraussetze«, was nur als Folge eines Vorurteils erklärlich sei. Diese Voraussetzung sei „extrem unzutreffend". Verschiedene andere Rezensenten haben meine „Auslese für sozialistisch oder gar sozialdemokratisch angehaucht erklärt". Ei freilich! sie ist eben von Winden aller Art, daher auch von solchen, die gegeneinander anblasen, »angehaucht«. Jene Voraussetzung, die er »nur« gemacht haben will, ist eben nichts als die etwas gemilderte Ammonsche Doktrin, bis herab auf den Ausdruck „Mechanismus der sozialen Auslese", der dieser direkt entlehnt ist. In der zuletzt angezogenen Stelle ist aus der „generativ wertvolleren Hälfte", deren Bedeutung sonst immer wieder eingeschärft wird (z. B. S. 448), direkt das Gros der „besitzenden Klassen" geworden. Mit so einfachen »Voraussetzungen« lassen sich allerdings schöne Systeme fabrizieren. Ich wiederhole, was ich geschrieben hatte (S. 58), weil es bestehen bleibt, wenn gleich der Antikritiker sich unfähig erweist, die Frage auch nur zu verstehen: „Wenn die oberen sozialen Schichten wirklich eine intellektuelle Elite darstellen, so ... ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, daß die moralisch wertvolleren Eigenschaften in der sich stärker vermehrenden »Hälfte« besser vertreten sind." Ich war damals daran vorbeigegangen, daß es durchaus unerlaubt ist, die Tatsache der schwächeren Vermehrung eines Teils der besitzenden Klassen (denn z. B. die Rittergutsbesitzer pflegen ziemlich große Familien zu haben) und eines Teils der Gebildeten 8 - denn die protestantischen Geistlichen und Volksschullehrer 8

Der Antikritiker meint S. 4 4 2 , daß die wohlhabenden Klassen die Gebildeten größtenteils in sich schließen, wünscht aber in seinem Buche, es solle dahin gewirkt werden, daß die höheren Beamten einschließlich der Offiziere „und der Lehrer"

n

„Auslese für ... angehaucht

erklärt": Vgl. ebd.: 4 6 7 ; dort auch die angeführte Stelle zu

Ammon. u dieser direkt entlehnt: Vgl. z. B. Ammon 1 9 0 0 , 3 5 ff., 41 ff. 20 was ich geschrieben

möglichst selten ehelos

hatte: Vgl. hier S. 2 3 1 .

30 S. 442 - in der Anmerkung. 31 in seinem Buche: Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 3 3 8 f.

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haben bekanntlich regelmäßig starke Nachkommenschaften - diese TeilTatsachen willkürlich zu der »Voraussetzung«, vielmehr der Blindlingsvermutung zu erweitern, daß es eine sich schwächer vermehrende Hälfte mit besserer intellektueller Begabung gebe! Vollends aber wird diese Blindlingsannahme zu einer vollkommenen Fabelei, wenn ohne einen Schimmer von Grund gelehrt wird, diese angeblich sich schwächer vermehrende, intellektuell besser begabte »Hälfte« sei schlechthin die „generativ wertvollere" Hälfte, also - nach des Verfassers eigenen Unterscheidungen - auch in ethischer und außerdem auch in körperlicher Vortrefflichkeit die bessere!! - der Antikritiker protestiert (S. 2 2 Anm.), daß er als die „generativ wertvolleren Personen" z. B. S. 338 seiner Schrift, nur die „in bezug auf soziale Leistungen höher stehenden Personen, insbesondere die höher Gebildeten" gemeint habe; daß er betont habe, innerhalb der Klasse der Wohlhabenden seien es gerade die generativ Wertvolleren, wie Gelehrte, Künstler, höhere Beamte, Offiziere, katholische Geistliche, die sich „sehr wahrscheinlich wiederum schwächer fortpflanzen als die, welche in der Hauptsache nur die Früchte der sozialen Leistungen anderer genießen". Aber selbst wenn diese kleinen Gruppen, selbst wenn schlechthin die Wohlhabenden und zwar gerade, insoweit sie sich schwächer fortpflanzen, in jedem Sinne, also gleichzeitig physisch, moralisch und intellektuell „generativ wertvoll" wären, so bliebe es doch eine lose und sehr ungenaue Rede, von einer sich schwächer vermehrenden, generativ wertvolleren »Hälfte« zu reden! Und nun beurteile man den Ton, worin der Antikritiker schreibt (S. 446): „Wer das Seltener- und Schwächerwerden der wertvolleren generativen Anlagen infolge relativ zu geringer Fortpflanzung bleiben und möglichst früh heiraten; der Ausdruck kann doch nicht bloß Oberlehrer meinen? obschon die Volksschullehrer nicht eben den höheren Beamten beigezählt zu werden pflegen und noch weniger in den wohlhabenden Klassen „eingeschlossen" sind. Tatsächlich gehört nun dieser zahlreichste Teil der Lehrer zu den am frühesten und frequentesten heiratenden und zu den kinderreichsten Schichten, in Preußen und in anderen Staaten. Diese nach dieser Richtung noch zu ermutigen, ist zum mindesten unnötig und beinahe komisch. Übrigens ist es doch auch in bezug auf Oberlehrer sehr fragwürdig, sie als in den wohlhabenden Klassen eingeschlossen hinzustellen. 4 Begabungen: In A fett gedruckt. 18 „sehr wahrscheinlich ... Leistungen anderer genießen"-. Selbstzitat Schallmayers: vgl. 1903: 166 und 1906: 442, Fn. Tönnies gibt die Passage nicht ganz korrekt wieder: „Dazu kommt noch, daß sehr wahrscheinlich innerhalb der Klasse der Wohlhabenden gerade die generativ Wertvolleren, wie Gelehrte ..., sich wiederum schwächer fortpflanzen ...".

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ihrer Inhaber leugnet und sich damit tröstet, daß deren schwächere Fortpflanzung durch Produktion ähnlicher Individuen seitens (!) der übrigen Bevölkerung andauernd ersetzt werde, ohne daß dadurch die generative Durchschnittsqualität der Bevölkerung allmählich minderwertig werde, macht sich entweder eine mystische und mit feststehenden naturwissenschaftlichen Tatsachen unvereinbare Vorstellung vom Wesen der Vererbung oder verstößt gegen arithmetische Grundsätze." Ich könnte einen artigen Satz zur Charakteristik des wissenschaftlichen Verfahrens entgegenstellen, dessen Herr Dr. Schallmayer schuldig zu befinden ist; aber ich überlasse dem Leser, seine Folgerungen zu ziehen. Zur Sache bemerke ich noch folgendes: der Antikritiker versteht hier (gemäß dem vorausgehenden Absätze auf derselben Seite) unter den Inhabern der wertvollem generativen Anlagen „die Personen, bei denen eine überdurchschnittliche intellektuelle »und ethische« Begabung zur Entfaltung gekommen ist"; die körperliche überdurchschnittliche Tüchtigkeit wird hier (und sonst sehr oft, wie es eben dem Autor in den Kram paßt) zu den wertvolleren generativen Anlagen nicht mitgerechnet, sie wird, weil es gerade bequem ist, totgeschwiegen. Wenn der geehrte Herr aber von „feststehenden naturwissenschaftlichen Tatsachen" in diesem Zusammenhange redet, so meint er die Unmöglichkeit der Vererbung erworbener (»somatogener«) Eigenschaften. In seinem Buche nennt der Autor, nach einer langen Erörterung hierüber, die Frage, „nicht in jeder Hinsicht völlig geklärt", man könne eben eine solche Vererbung »heute« weder für erwiesen noch für wahrscheinlich halten (S. 75). Aber sogar in seiner Antikritik, wenige Seiten vorher, spricht unser Gegner nur von einer „gewissen Wahrscheinlichkeit", mit der sich das Ergebnis der Paarung zweier bestimmter Individuen voraussehen lasse (S. 424), er betont dort, daß die Vererbungswissenschaft noch sehr viele dunkle Punkte aufweist, er läßt jene umstrittene Vererbung durch die Weismannsche Lehre nur in äußerst hohem Grade (was freilich schon anders klingt als in dem Buche) „unwahrscheinlich" gemacht werden, „und rechnet demgemäß" nirgends mit diesem Faktor. Anders hier, wo es ihm gilt, mich von seinem gut eingerittenen hohen Pferde aus - ich weiß kein besseres Wort als: anzuhauchen. „Macht sich entweder eine 14 »und ethische«: Bei Schallmayer (1906: 446) nicht hervorgehoben, in A zwischen Asterisken. 22 „nicht in jeder Hinsicht völlig geklärt": Vgl. Schallmayer (1903, 75): „Ist auch die Frage der Vererbung somatogener Veränderungen nicht in jeder Hinsicht schon völlig geklärt, so ist sie es doch insoweit, daß man heute eine Vererbung funktionell erworbener Veränderungen des Körpers weder für erwiesen noch für wahrscheinlich halten kann.".

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mystische und mit feststehenden naturwissenschaftlichen Tatsachen unvereinbare Vorstellung vom Wesen der Vererbung. . . . " Wenn ich einmal genötigt wäre, in dieser Frage einer Autorität zu folgen, so stünde mir die Autorität Häckels doch um einige Grade höher als die Autorität Schallmayers. „Ich teile die Überzeugung von Herbert Spencer, daß die »progressive Vererbung« ein unentbehrlicher Faktor der monistischen Entwicklungslehre ist und eins ihrer wichtigsten Elemente. Wenn man dieselbe mit Weismann leugnet, so flüchtet man zum Mystizismus, und dann ist es besser, die mysteriöse »Schöpfung der einzelnen Arten« anzunehmen." So E. Häckel „Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprünge des Menschen", Bonn 1899, S. 30. Wenn dagegen die Autorität Weismanns, der Schallmayer folgt, recht hat - ich lasse es dahingestellt - so kann man die von diesem mit so starker Zuversicht aufgestellten Sätze hypothetisch gelten lassen (obgleich auch dann noch andern Möglichkeiten Raum offen bliebe). Aber wie wir wissen, handelt es sich ihm nicht um eine begriffliche und bloß hypothetische Folgerung, sondern um die angebliche Tatsache, daß die »Inhaber« der generativ wertvolleren Anlagen (intellektueller und ethischer, anderswo auch physischer) sich schwächer fortpflanzen. Und wir wissen auch genugsam, daß dies, wenn es nicht eitel blauer Dunst ist, so doch auf nebelhaften Verallgemeinerungen beruht. Der Antikritiker knüpft seine Doktrin hier an eine Ausführung über Geschlechtskrankheiten. Ich soll »behauptet« haben, daß z. B. die von Syphilis herrührenden Keimschädigungen den Rasseprozeß gar nicht beeinträchtigen, da die den geschädigten Keimen entsprossenen Individuen samt ihren Nachkommen sehr bald durch die natürliche Auslese ausgemerzt würden. Das ist wiederum unrichtig; nichts dergleichen habe ich behauptet. Die Beweisführung habe ich angefochten; ich habe gesagt, sofern das verallgemeinert werden dürfe, was in dem Buche über Beobachtungen in Chicago mitgeteilt wird, so lasse sich viel eher aus diesen Daten wahrscheinlich machen, daß der (nach Blaschko, dem sich Schallmayer anschließt, »wesentliche«) Anteil, den die ungeheuere Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter der großstädtischen Bevölkerung an deren zunehmender Entartung habe, nicht erheblich sein könne. Ob es der Fall sei (daß sie einen wesentlichen Anteil habe), lasse ich ausdrücklich dahingestellt. Aus dieser rein logischen Erwägung fabriziert der Antikritiker meine »Behauptung«. Aber dies im Vorbeigehen. Er kommt sogleich zurück auf seine Ansicht (die ich dann

ii Bonn 1899: Unverändert in Haeckel 1 9 0 5 : 30. 35 meine »Behauptung«:

Vgl. oben, S. 2 2 9 .

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ausführlich besprochen hatte), daß die Verschlechterung des Durchschnitts um so bedeutender werde, wenn die Keimschädigungen, wie die syphilitische, sogar vorwiegend wertvollere Keime betreffen, die nur infolge der erlittenen Keimschädigung der Ausmerzung verfallen. „Ich denke dabei besonders an die unverhältnismäßig starke, ungeheuerlich zu nennende Beteiligung der *Studenten* an den sexuellen Infektionskrankheiten." Und hieran anknüpfend beginnt der folgende Absatz: „Wenn nun die Personen, bei denen eine überdurchschnittliche intellektuelle *und ethische* Begabung zur Entfaltung gekommen ist, sich aus mancherlei Gründen nur unter dem Durchschnittsmaße, und zu einem großen Teil überhaupt nicht fortpflanzen. ..." Zunächst leugne ich, daß die Erfahrungen, die Blaschko an einer über 600 Mitglieder zählenden studentischen Krankenkasse Berlins gemacht hat, und die unser Autor für München bestätigt (S. 142 f. seines Buches), verallgemeinert werden dürfen; aber ich gebe ihm völlig recht, wenn er meint, es wäre noch schlimm genug, wenn nur die Hälfte oder ein Drittel der Wirklichkeit entspräche. Ferner gebe ich völlig zu, daß auch gutgeartete Jünglinge der Versuchung erliegen, und daß die geschehene Infektion keineswegs immer einen besonders lasterhaften Lebenswandel beweist. Dagegen behaupte ich allerdings, daß nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit die Häufigkeit, womit ein Individuum der Gefahr sich aussetzt, die Gefahr erhöht, und daß folglich die Infizierten durchschnittlich die Folgen ihrer gewohnheitsmäßigen Liederlichkeit büßen. Auf jeden Fall ist es eine starke Zumutung, gerade die syphilitischen Studenten für Personen zu halten, bei denen eine überdurchschnittliche „ethische Begabung" zur Entfaltung gekommen sei. Die Studierenden stehen, mit geringer Ausnahme, in einem Lebensalter, dem, trotz der Stärke des Triebes, gerade aus den naheliegendsten ethischen Gründen, die Enthaltung angemessener ist als die Befriedigung; und wenngleich es auch hier der erste Schritt ist, der am meisten kostet, nämlich Überwindung der stärksten Hemmungsvorstellungen und Gefühle, so bin ich doch völlig gewiß, daß es eine sehr große Zahl von Studenten gibt, die sich für den regelmäßigen Umgang mit Prostituierten zu gut halten. Die in so jungen Jahren sich Infizierenden können, wenngleich eine nicht geringe Quote darunter sein mag von solchen, die als „Opfer der Verhältnisse" betrachtet werden dürfen, als Masse getrost mit dem Stigma „überdurchschnittlich

6 „Ich denke ... sexuellen

Infektionskrankheiten.":

Vgl. für dieses und das nachfolgende

Zitat Schallmayer 1 9 0 6 : 4 4 6 . 12 Blaschko: Vgl. Blaschko 1 9 0 0 : 32; vgl. bei Schallmayer 1 9 0 3 : 142.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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lasterhaft" versehen werden. Insoweit als diese Infektionen Ursache werden, daß sie als Männer entweder keine Ehe eingehen oder nur geringe Nachkommenschaft erzielen, so mag man aus anderen Ursachen dies bedauern; daß durch die Nichtvererbung ihrer Qualitäten die sittliche Durchschnittsqualität Schaden leiden werde, ist selbst, wenn man übrigens alle Voraussetzungen des Dr. Schallmayer akzeptiert, keineswegs zu vermuten; viel eher das Gegenteil. - Der Antikritiker meint, ich „scheine der vielverbreiteten Vorstellung zu huldigen, daß die generative Entartung eines jeden Volkes, oder doch der Kulturvölker, und im Zusammenhang damit auch ihr kultureller und politischer Niedergang als ein entwicklungsnotwendiger Verlauf zu betrachten sei, analog dem Altern der Individuen". Denn ich habe von den „leidigen Phänomenen des Alterns gesprochen, die im sozialen und im individuellen Leben unerbittlich zunehmen" und analog von Jugend eines Volkes gesprochen. „Diese, durch falsches Analogisieren aufgekommene Anschauung ist aber, wie *ich* an anderer Stelle ausgeführt habe, zweifellos irrig, sie ist durch gar nichts begründet und erweist sich unter jedem Gesichtspunkt als unhaltbar" (S. 447). Zweifellos irrig - durch gar nichts begründet - unhaltbar! Starke Worte für schwache Gedanken! Die Ausführung, worauf der Antikritiker sich beruft, steht in seinem Buche S. 174 ff. Der Kern dort vorgetragener Argumentation besteht in folgenden bündigen Sätzen: „Der Volkskörper besteht aus Individuen, er selbst aber ist kein Individuum. Nur in politischem, nicht auch in physiologischem oder generativem Sinne gibt es völkische Individuen. Die politische Abgrenzung und Scheidung der Völker ist leicht, die generative unmöglich. Denn auf die Dauer hat sich kein Volk je der Aufnahme fremden »Blutes« entzogen. Nachbarvölker, die im Konnubium zueinander stehen, kann man in physiologischem Sinne nicht als Individuen ansehen, eine physiologische Grenze zwischen ihnen läßt sich nicht ziehen. Und ebenso dürfte bei solchen Völkern, die zusammenhängende fremde Elemente in ihren politischen Körper aufgenommen haben ... stets auch eine generative Vermengung stattgefunden haben, so daß die physiologische Abgrenzung des Volkskörpers auch im Innern des 12 „scheine der vielverbreiteten Vorstellung zu huldigen ... Altern der Individuen": Bei Schallmayer ( 1 9 0 6 : 4 4 7 ) leicht abweichend: „Nun ist es zwar eine weitverbreitete Vorstellung, daß die generative Entartung ... als ein entwicklungsnotweniger Verlauf zu betrachten sei, analog dem Altern der Individuen, und auch Herr T. scheint ihr zu huldigen.". 13 „leidigen Phänomenen ... unerbittlich zunehmen": Vgl. oben S. 2 4 0 ; von der Jugend eines Volkes spricht Tönnies oben, S. 2 3 2 . 22 „...er selbst aber ist kein Individuum . . . " : Bei Schallmayer ( 1 9 0 3 : 175) heißt es: „... er selbst ist aber kein Individuum. . . . " .

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politischen Körpers unmöglich ist." Ehe ich diese Stelle jetzt nachgeschlagen habe (sie war mir nicht im Gedächtnis), hatte ich die Absicht, eine ganz gleichartige Erörterung - dem Antikritiker entgegenzusetzen. Ich wollte nämlich daraus folgern, daß in dem Sinne, worin diese Betrachtung richtig ist, allerdings nicht von dem Tode eines Volkes die Rede sein kann, aber auch nicht von seinem Lebenl Nicht von natürlichem Tode aus inneren, aber ebensowenig von akzidentellem Tode durch äußere Ursachen! Die Begriffe des Lebens und Sterbens sind dann auf das »Ding«, das wir mit dem Namen »Volk« bezeichnen, unanwendbar! Unser Autor folgert aber nur daraus, es brauche kein Volk zufolge innerer Gesetze unterzugehen. Das Aussterben einer Art oder eines Volkes sei niemals ein Alterstod. Das Aussterben eines Volkes oder einer Menschenrasse sei, ebenso wie das Aussterben einer organischen Art, an äußere Bedingungen geknüpft. Die moderne Wissenschaft ist in dezidierter Weise nominalistisch. Es ist oft als ein Vorzug der Abstammungslehre gerühmt worden, daß sie mit dem Artbegriff, d. h. mit der Doktrin von konstanten Arten die letzte feste Burg des alten »Realismus« - den neuere Autoren zuweilen als Begriffsrealismus unterscheiden - zerstört habe. Ich muß mir hier versagen, die Ansicht zu verteidigen, daß in einem bestimmt zu umschreibenden Sinne den Gattungen organischer Wesen dennoch und allerdings Realität beigemessen werden darf und muß, und zwar jeder Gruppe in dem Maße und so lange, als sie sich aus sich selber fortpflanzt und eben durch die Fortpflanzung sich selber erhält. Daß dies Dasein gewisse Merkmale mit individuellem Leben gemein hat (andere nicht), ist offenbar; ob es Leben zu nennen sei, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit und äußerer Festsetzung. Ebenso müssen wir uns darüber einigen, was Tod und Sterben zu nennen sei. Unter den Biologen ist während der letzten 25 Jahre nicht ganz wenig darüber gestritten worden. Weismann hatte gelehrt, daß die Protozoen (die einzelligen Organismen) unsterblich seien, und daß die Sterblichkeit der Metazoen eine Anpassungserscheinung sei, die sich im Ausleseprozeß bewährt habe; denn die Protozoen teilen sich und leben in immer neuen Hälften fort; wenn sie stürben, so müßten Leichen vorhanden sein, was nicht der Fall ist. Mit Geist hat Alexander Götte dagegen gestritten; nach ihm ist der Tod eine notwendige Wirkung der Fortpflanzung, und ursprünglich, wie es noch bei gewissen Insekten der Fall, ihre unmittelbare 29 Weismann hatte gelehrt: Vgl. Weismann 1 8 8 2 : 33 f. 34 Götte-, Vgl. Götte 1 8 8 3 : 4 9 .

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

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Folge; die Anwesenheit einer Leiche (und der »postmortale Zellentod«) sei nicht notwendiges und wesentliches Moment für den Begriff des Todes. Verworn, der in seiner Darstellung der Frage Gottes keine Erwähnung tut, spricht von andern Einwänden gegen Weismann, die bei Fixierung des Todesbegriffs den Ton mehr auf das Aufhören des individuellen Lebens legen; man habe gesagt: wenn der einzellige Organismus sich in zwei Hälften teilt, dann ist damit seine individuelle Existenz beendigt wo aber die individuelle Existenz aufhört, da kann von einer Unsterblichkeit nicht die Rede sein, da ist in Wirklichkeit das Individuum gestorben, Tod und Fortpflanzung fallen hier nur zusammen9. - Von den »inneren Todesursachen« sagt Verworn (S. 352), sie seien noch immer in tiefes Dunkel gehüllt. „Ja, viele Forscher glauben, daß es gar keine inneren Todesursachen gebe, die in den Eigenschaften der lebendigen Substanz selbst begründet sind, und erklären den Eintritt des Todes im Greisenalter bei Leuten, die niemals krank gewesen sind, durch die allmähliche Anhäufung unmerklich kleiner Störungen während des ganzen Lebens." Der Begriff des Todes ist mithin keineswegs so selbstverständlich, wie er bei Herrn Schallmayer erscheint, der mit so schneidigen - Reden anstatt Gründen über die Anschauungen anderer zu disponieren weiß; der so strenge unterscheidet zwischen dem Alterstod und dem Tode durch äußere Ursachen; der einem Volke, einer Art und Rasse, getrost ein Leben und Sterben zuschreibt, aber ihr individuelles Dasein leugnet, ohne auch nur den leisesten Versuch zu machen, uns zu demonstrieren, was die Völker denn sind, wenn es „in generativem Sinn keine völkischen Individuen gibt"; oder wenn wir hierauf uns antworten lassen, daß es „nur in politischem Sinn" (a. a. O., S. 175) völkische Individuen gibt, wie er dennoch ihr »Aussterben« mit dem Aussterben einer Rasse oder einer Art auf gleiche Linie setzen kann, die doch ja wohl nicht „in politischem Sinne" Individuen sind??! Wenn der geehrte Herr den Ansprüchen, die ich an begriffliches Denken zu stellen gewohnt bin, besser gerecht würde, so wollte ich ihm auch verraten, was ich über „Leben und Sterben" der Völker urteile. Aber ich muß mich hier beschränken. Ich lehne es auch ab, mich über Spekulationen und Teleologie von einem Autor belehren zu lassen, der noch keinen gültigen Beweis 9

Weismann, Über die Dauer des Lebens. Jena 1882. - Götte, Über den Ursprung des Todes. Hamburg und Leipzig 1 8 8 3 . - Verworn, Allgemeine Physiologie. 3. Aufl. Jena 1 9 0 1 .

10 wo aber die individuelle Existenz aufhört,

... fallen hier nur zusammen-. Vgl. Verworn

1901: 3 5 7 f.. 16 „Ja, viele Forscher

... ganzen Lebens.":

Vgl. ebd.: 3 5 2 f.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

dafür erbracht hat, daß sein Scharfsinn für solche Fragen die unerläßliche Ausrüstung besitze; wenn er gewisse Erwägungen, die ich der Kürze halber und mit wiederholtem sehr bestimmtem Hinweise als »anthropomorphisch ausgedrückt« eingeführt hatte, als „gründlich anthropomorpb und teleologisch gedacht"' zu bezeichnen sich erlaubt. Der selber, ohne jede Warnung, auf mehreren Seiten seines Buches die natürliche Auslese »zwingen« läßt, der vom auslesenden Daseinskampf sagt, er »bevorzuge« die lebensmächtigeren Gebilde, »verurteile« Staaten zum Verschwinden, »treibe« und »lenke« eine Entwicklung usw. usw.

XIII. Ich muß aber auf die »gesetzlichen Ehehindernisse« noch zu sprechen kommen 10 . Es sei unzutreffend, sagt der Antikritiker (S. 459), daß diese sein 10

Die Forderung von Ärzten, Ehen aus hygienischen Gründen zu verbieten, ist ziemlich früh erhoben und diskutiert worden. Sie paßte in das System des alten Polizeistaates auf der engen territorialen Basis innerhalb des heiligen römischen Reiches ebenso hinein, wie sie zum Wesen der unentwickelten amerikanischen Republiken paßt. Die moderne Anknüpfung an Deszendenztheorie und Darwinismus ist, wie sich von selbst versteht, rein zufällig. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts erörterten „spekulative" Ärzte in England, Frankreich, Deutschland und der Schweiz, die zweckmäßigste Gestaltung der Ehen unter populationistischen Gesichtspunkten, d. h. aus der damals so verbreiteten Besorgnis vor Depopulation, die regelmäßig den Lastern der Städte, zuweilen auch tiefer liegenden sozialen Ursachen als unvermeidliche Folge zugeschrieben wurde. Gegen Ende des Jahrhunderts zweigte von der alten Medicina forensis die „medizinische Polizei" als besondere Disziplin sich ab. Einer ihrer ersten und einflußreichsten Vertreter war der Wiener Hofrat Johann Peter Frank, von dessen System einer vollständigen medizinischen Polizei der 1. Band zuerst 1778, in 2. Aufl. 1804 erschien. Das Buch ist reich an vortrefflichen und wichtigen Betrachtungen in Absicht auf „Eugenik"; ein besonderer Abschnitt der zweiten „Abteilung" handelt von „ungesunden Ehen". Auch er klagt - und zwar, bei den damaligen langen Dienstzeiten, sicherlich mit

s „gründlich anthropomorph und teleologisch gedacht": Vgl. Schallmayer 1906: 449; Hervorhebung von Tönnies. 10 XIII.: In A: XVII. 23 Medicina forensis: [lat.] svw. öffentliche Heilkunde. 25 System einer vollständigen medizinischen Polizei: Die von Tönnies verwandten Ausgaben konnten nicht eingesehen werden. Bei der Ausgabe von 1804 handelt es sich um eine „neue Auflage" in drei Bänden (Mannheim: Schwan & Götz). Die 2. Auflage erschien 1 7 9 1 1794 in 13 Bänden (Frankenthal: Verlag der Gegelischen Buchdruckerey und Buchhandlung). Für Nachweise wurde hier der erste Band der 3. Auflage (o. O.: Johann Thomas Edler von Trattnern, 1786) genutzt. 28 „ungesunden

Ehen": Vgl. Frank 1786: 271 ff. (Zwote Abteilung, dritter Abschnitt).

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eigentliches Programm bilden. „Eine mindestens nicht geringere Rolle spielen verschiedene zur öffentlichen Hygiene gehörige Forderungen", heißt es im Texte, und in der Anmerkung, es sei ihm tatsächlich, wie auch Galton, in gutem Grunde - den Soldatenstand an, der einen anhaltenden unersetzlichen Verlust der schönsten männlichen Jugend verursache, infolgedessen das Werk der Zeugung auf dem Lande nur einer kleinen und übelgebauten Rasse von Menschen überlassen werde; er nennt die Armee einen für die eheliche Fortpflanzung unseres Geschlechtes abgestorbenen Haufen (I, S. 327); es sei eine wichtige Sache um ein Gesetz, welches allen krüppelhaften, verstümmelten, sehr verwachsenen, zwerghaften Menschen das Heiraten auf immer untersage; das Zeugungwerk einer gesünderen Klasse von Bürgern überlasse; und die Anzahl derjenigen hauptsächlich in jedem gemeinen Wesen zu schonen und zu erhalten suche, welche eine vorzügliche gute Bildung von der Natur erhalten haben; und es sei sehr zu wünschen, daß man hierin ein Mittel treffen möge, daß von dieser die Vorzüge ihrer Leibesbeschaffenheit nicht mutwillig verschwendet und in einem zweideutigen Hagestolzenleben, zum Nachteil unserer Nachwelt, zugesetzt werden (S. 330). Und, nach Besprechung aller für die Ehe gefährlichen Krankheiten meint er (S. 348), bei allen diesen sei demnach das Heiraten eine Unbilde, die man der Menschheit antue, ein Angriff auf das eigene Leben und auf jenes einer Nachwelt. „Man kann daher keine glücklichere Vergleichung machen, als wenn man Menschen, die bei allem dem doch Kinder zeugen wollen, mit Unzer, den Spinnen vergleicht, welche ihre Jungen selbst wieder auffressen. Ich glaube ganz sicher, daß kein Mittel so kräftig sein würde, unserem Geschlechte an Stärke und Gesundheit wieder aufzuhelfen, daß folglich durch nichts ein Staat blühender gemacht werden könnte, als daß man das Zeugungswerk, durch Ausmusterung aller solcher, welche nur schlechten Samen in den Acker des gemeinen Wesens aussäen, auf einen besseren Fuß setzte; und daß man der Klasse von siechenden und elenden Menschen die Gewalt entzöge, ihren unbesonnenen Trieben eine halbe Nachwelt aufzuopfern." Er verlangt Erklärungen an Eidesstatt vor der Behörde von den Ehelustigen, daß sie mit keiner schweren, ansteckenden oder erblichen Krankheit... behaftet seien, und wenn sie es gewesen, daß ihr ehemaliges Übel von sich selbst, oder durch gute Mittel, bereits vor mehreren Jahren verschwunden oder gehoben worden sei usw. Zeitgenossen und Nachfolger Franks sprechen sich regelmäßig in ähnlichem Sinne aus. Zu nennen ist als ziemlich einflußreich E. B. G. Hebenstreit, „Lehrsätze der medizinischen Polizeywissenschaft", Leip3 wie auch Galton: Schallmayer bezieht sich auf Galton 1904 und 1905. 7 abgestorbenen Haufen: Vgl. ebd.: 319 (§ 13): „Kaum sieht man einen etwas wohlgebauten Knaben, unter seinen niedergedrükten Gesellen, durch schöneren Wuchs sich auszeichnen; so wird ihm schon im sechszehnten Jahre eine bunte Masche auf den Hut gebunden, und Befehl gegeben, nach der nächsten Besatzung zu eilen, wo er der Zahl eines für die eheliche Fortpflanzung unseres Geschlechtes abgestorbenen Haufens, eingeschrieben wird: als wenn eben nur jene, die gemacht sind, im gemeinen Wesen, dem Zeugungswerke abzuwarten, allein verdienten, der Wuth eines Feindes angestellet zu werden, und als ob der Bauernsohn von fünfthalben Schuh nicht eben sowohl seine Flinte losschösse.". 15 welches allen krüppelhaften ... Menschen ... zugesetzt werden: Fast wörtlich bei Frank (ebd.: 322). aufzuopfern.": 26 „Man kann daher keine glücklichere Vergleichung machen ... Nachwelt Vgl. ebd.: 339 f. (§ 17 im selben Abschnitt). 26 Erklärungen an Eidesstatt: Vgl. ebd.: 340 f.

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erster Linie d a r u m zu t u n , eine B e w e g u n g der öffentlichen M e i n u n g z u g u n sten d e r E u g e n i k einzuleiten. A n sich ist m i r diese A u s l e g u n g n u r w i l l k o m m e n , u n d ich w i e d e r h o l e , d a ß ich in d e n A n r e g u n g e n , die d a s B u c h n a c h dieser R i c h t u n g gibt, sein w i r k l i c h e s u n d s t a r k e s V e r d i e n s t e r b l i c k e 1 1 . D e r A n t i k r i t i k e r b e t o n t a b e r f e r n e r , w a s die gesetzlichen E h e h i n d e r n i s s e betreffe, s o g e h e sein V o r s c h l a g d a h i n , E h e n g e m e i n s c h ä d l i c h e r A r t , insb e s o n d e r e die E h e n G e s c h l e c h t s k r a n k e r , a n s t a t t sie m i t S t r a f e n zu b e d r o h e n , w i e es n e u e r d i n g s in einigen S t a a t e n d e r n o r d a m e r i k a n i s c h e n U n i o n g e s c h e h e , „lieber g a r n i c h t erst z u s t a n d e k o m m e n zu lassen, i n d e m e b e n die e r f o r d e r l i c h e s t a a t l i c h e E h e b e w i l l i g u n g n i c h t erteilt w i r d " . - D i e s be-

11

zig 1791. Er unterscheidet Krankheiten, welche deutlich am Tage liegen (in Ansehung dieser „sollte die Verehelichung selbst durch ausdrückliche Gesetze verboten werden, welches vielleicht hart erscheinen mag, aber nichtsdestoweniger des gemeinen Wohles wegen höchst notwendig ist, wenn nicht usw.") und solche, die nicht in die Augen fallen und leicht verhehlt werden können: in Beziehung auf diese meint er, würden freilich Eheverbote entweder meistenteils unwirksam sein, oder wenn sie in Kraft und Ansehen erhalten werden sollten, besondere Gesundheitsuntersuchungen bei allen Kandidaten des Ehestandes notwendig machen, welche ebenso zwangvoll und unerträglich als der Schonung, die man insbesondere der weiblichen Schamhaftigkeit schuldig ist, zuwider sein würden. Wohl aber könne die Obrigkeit Beglaubigungsscheine über die Gesundheit der angehenden Eheleute verlangen (S. 99). Er warnt davor, eine unverhältnismäßig große Anzahl junger Leute für die gelehrten Stände zu erziehen: „Gelehrte sind in der Regel nicht die gesündesten und stärksten Menschen, und ein Land hat von ihnen weder die zahlreichste noch die gesundeste Nachkommenschaft zu erwarten", S. 132. - Warum sind wohl jene Vorschläge von Eheverboten ganz ohne Wirkungen gewesen? Es folgt daraus nicht, daß auch die gegenwärtigen Bestrebungen dieser Art ohne alle Wirkung sein werden. Aber ich hege allerdings die Meinung, wenn die medizinische Polizei von damals, anstatt aussichtslose Forderungen zu vertreten, alle ihre Energie darauf zusammengezogen hätte, gesetzliche Verbote der Ehen blutsverwandter Personen durchzusetzen (von Geschwisterkindern usw.), daß sie dann der „generativen Tüchtigkeit" der Kulturvölker einen wesentlichen Dienst geleistet hätte; vielen schädlichen Ehen wäre dadurch vorgebeugt worden, denn diese Ehen waren vor 100 Jahren weit häufiger, und zwar gerade in den höheren gesellschaftlichen Schichten, als sie es heute sind, obgleich in dieser Hinsicht sogar regierende fürstliche Familien immer noch und immer wieder mit üblem Beispiel vorangehen. Mir persönlich ist dieser Gedanke von lange her geläufig. Als ich im Jahre 1892 an der Gründung der Gesellschaft für ethische Kultur teilnahm, habe ich noch am Vorabende in einem engeren Kreise junger Männer auf die an mich gerichtete Frage, was ich eigentlich für den „Zweck" der Ethik halte, geantwortet: „die Verbesserung der Rasse". Ebenso schrieb ich 1896 in der Schrift „Der Nietzschekultus", daß ich die soziale Ethik, die in diese Richtung gehe, „energisch begünstige".

10 „lieber gar nicht ... erteilt wird": Vgl. Schallmayer 1906: 460. 14 „sollte die Verehelichung ... nicht usw.": Vgl. Hebenstreit, 1791: 98 f. 40 „energisch begünstige": Vgl. Tönnies 1896: 109 f., Fn.

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stätigt scharf meinen Eindruck, daß er sich die Verwirklichung seiner Reform recht leicht gedacht hat. Die Angehörigen der höheren Klassen, die sich der Ehebewilligung nicht sicher fühlen, werden sich, wenn sie zu heiraten Lust haben, ins Ausland begeben, wenn nicht den dort geschlossenen Ehen die Gültigkeit versagt oder sogar Strafen angedroht werden; vollends wird das in Amerika von einem Unionsstaat nach dem andern hin geschehen. Ein Fabrikarbeiter oder Bauernknecht wird sich freilich dessen entbrechen müssen. Die Sache wird als eine arge Klassengesetzgebung wirken - das will Herr Schallmayer sicherlich nicht; er wird »fordern«, daß in allen Staaten der modernen Zivilisation dieselben Gesetze gegeben werden. Seine »Forderungen« kann man eben beliebig ins Ungemessene ausdehnen. Mit Strafen will er die schädlichen Ehen nicht bedrohen? Aber (ich zitiere den Satz S. 54) „der Ehekandidat soll *bei Vermeidung strenger Strafe* verpflichtet sein, die Fragen bezüglich Anzeigen früherer pathologischer Erlebnisse, die bei der amtsärztlichen Untersuchung an ihn gerichtet würden, nach bestem Wissen wahrheitsgemäß zu beantworten"! Und mit welchen strengen Strafen müßte nicht der Arzt bedroht werden, der über den Empfang einiger blauer Scheine durch »Diskretion« quittieren würde, oder der Standesbeamte, der über das Fehlen eines Papiers hinwegzusehen sich bewegen ließe? - So sehr Herr Schallmayer sich sträuben möge, ohne eine Menge von neuen Strafgesetzparagraphen ist die Sache undenkbar - das ist ganz selbstverständlich. - Ich lasse, meint der Antikritiker ferner, eine ausdrückliche Voraussetzung seiner Eheverbote außer acht, nämlich die, daß sie von der öffentlichen Meinung gebilligt sein müßten, woraus folge, daß Personen, die ein solches Eheverbot durch Konkubinat zu umgehen wagten, der öffentlichen Verachtung verfallen würden (S. 460). Gleich darauf: „Reif für eine nähere Zukunft schienen und scheinen mir nur solche rasse- und keimdienstliche Maßregeln, die zugleich im Namen von anerkannten sozialdienstlichen und individualistischen Interessen sich empfehlen, nämlich die Versagung der vom Staat zu erteilenden Ehebewilligung erstens an Verbrechernaturen, zweitens an Personen, die mit einer noch infektiösen Geschlechtskrankheit behaftet sind." Drei Seiten nachher heißt es anstatt Verbrechernaturen »Gewohnheitsverbrecher«, wozu die Anmerkung gemacht wird, da die Maßregel in diesen Fällen Strafcharakter hätte, so wäre es nicht empfehlenswert, im 13 ich zitiere den Satz-. Vgl. hier S. 227 f. 33 „Keif für eine nähere Zukunft... Geschlechtskrankheit 1906: 461 f. 34 Anmerkung gemacht: Vgl. ebd.: 465.

behaftet sind.": Vgl. Schallmayer

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Einzelfall entscheiden zu wollen, ob wirklich eine Verbrechermziwr vorliegt oder nicht. Sollen auch die Konkubinate der Gewohnheitsverbrecher durch öffentliche Verachtung verhindert werden? Oder wodurch sonst? Offenbar müssen hier die »Gründe« ins Feld rücken, aus denen er „besondere Maßregeln gegen die uneheliche Fortpflanzung der eheuntauglichen Personen für entbehrlich" hält (S. 464) und von denen einer (in der Tat der einzige ernst zu nehmende) nun ergänzt werden soll nach den „Erhebungen von Othmar Spann", die angeblich dargetan haben, daß von 1000 lebendgeborenen ehelichen Knaben 660,5 in das 20. Lebensjahr träten, während von 1000 außerehelich geborenen nur 181,5 dieses Alter »als uneheliche« erreichten; wenn auch zu berücksichtigen sei, daß ein Teil der unehelichen legitimiert oder adoptiert wird, so werde man doch mit Spann annehmen dürfen, daß etwa 3 mal weniger von den unehelichen zur Fortpflanzung kommen als von den ehelichen. - Die Arbeit Spanns, im ganzen verdienstlich und sehr fleißig, ist, wie schon bemerkt ward, mit methodischen Fehlern behaftet. Er spricht aber selbst von der mangelhaften Exaktheit gerade dieser Zahlen (S. 35); er rechnet von insgesamt 632 (in Frankfurt a. M . 1870/81 unehelich geborenen und daselbst in der Musterungsrolle geführten) Männern 145 = 2 2 , 9 % , die als verschollen, ausgewandert usw. bezeichnet sind, einfach als Verstorbene ab, und rechtfertigt dies (außer durch eine andere, ganz nebensächliche Erwägung) durch den Satz: „Dies kann um so weniger ein wesentlicher Fehler sein, als wir bei den ehelich Geborenen, die wir zum Vergleich heranziehen müssen, das gleiche Verfahren anwenden werden." Aber bei den ehelich Geborenen sind nur die 3 Geburtsjahrgänge 1 8 7 9 - 1 8 8 1 verglichen, und hier beträgt jene Gruppe (Verschollene usw.) nur 311 von 4 9 7 1 = 6,4 % . Nach dem auch sonst unklaren Abschnitt I, der „die Beschaffenheit des Materials" darstellt, bildet die Gruppe der 632 (s. o.) „eine naturgemäße ... Masse, da sie alle von den Geborenen übriggebliebenen, »sofern diese nicht Ausländer, ausgewandert oder verschollen sind«, enthält" - demnach wären also die ausgewanderten oder verschollenen jungen Männer nicht darin enthalten; dagegen seien die „abgewanderten Frankfurter" ii »als uneheliche«:

In A zwischen Asterisken.

13 mit Spann annehmen:

Vgl. Schallmayer 1906: 4 6 4 f. und Spann 1 9 0 5 : 34.

24 „Dies kann um so weniger ein wesentlicher Faktor sein ... Verfahren anwenden

werden.":

Vgl. Spann 1 9 0 5 : 3 3 und für den folgenden Satz ebd. 30 „eine naturgemäße

... Masse, ... enthält": Vgl. ebd.: 18. - Der Teil zwischen Sonderzei-

chen (»...«) steht in A zwischen Asterisken, bei Spann ist er nicht hervorgehoben. 32 „abgewanderten

Frankfurter":

Vgl. ebd.

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darin enthalten; ob vollzählig? das muß für sehr zweifelhaft gehalten werden; aber die Vollständigkeit war jedenfalls für die 3 jüngsten Jahrgänge - und nur für diese hat Herr Spann die Ehelichen verglichen - viel leichter erreichbar, als für sämtliche 12 Jahrgänge der Unehelichen; wenn wir ja wohl verstehen sollen, daß wenigstens ein Teil der Ausgewanderten und Verschollenen (wie auch nach den Zählkarten S. 16, 17 anzunehmen) in »Abgang« gekommen ist, so kann darunter (wir hören ja nicht wie viele es sind) eine erhebliche Zahl solcher sein, die anderswo zur Stellung gelangen, die als Unsichere aufgegriffen wurden, oder sich dauernd der Kontrolle entziehen; übrigens fühlen sich Frankfurter stark nach dem Auslande, besonders nach Frankreich hingezogen, und Unehelichgeborene sicherlich vor andern. Über die Schwierigkeit, daß auch durch Legitimationen die Vergleichbarkeit der als »Uneheliche« in der Musterrolle Geführten mit denen, die als solche in dem Geburtsregister erscheinen, gehemmt wird, setzt sich Herr Spann mit dem Urteil hinweg, dies »dürfte« das angegebene Zahlenverhältnis nicht »wesentlich« verschieben, da die Anzahl der Legitimierten im ersten Lebensjahre, wo sie am größten sei, ungefähr bloß 10 % betrage und später ganz gering werde. Irgendein Beleg wird für diese Angaben nicht gebracht; ob sie auf Frankfurter Erfahrungen beruhen, weiß ich nicht. In Berlin verhält sich alljährlich die Anzahl der Legitimierten zur Zahl der im gleichen Jahre unehelich Geborenen ungefähr wie 23:100, es sind aber von den überhaupt legitimierten Knaben kaum der 4. Teil im gleichen Jahre geboren, dagegen mehr als die Hälfte in den drei vorhergehenden Jahren; da nun immer nur überlebende legitimiert werden, so schätzt Böckh gewiß mit Recht, daß im Vergleiche mit den gleichzeitig lebenden bis zum vollendeten 5. Lebensjahr fast zwei Fünftel der unehelichen Kinder legitimiert werden (vgl. Neumann H. W. Suppl., S. 750) 1 2 . Jedenfalls darf auch für Frankfurt der Prozentsatz als sehr erheblich angenommen werden, und wenn wirklich diese ganze Menge, soweit sie noch lebt, unter den Ehelichgeborenen in der Musterrolle erscheint (dagegen unter den Unehelichen in den Geburtsregistern), so ist offenbar die von Herrn Schallmayer mit gläubigem Gemüte aufgenommene Angabe völlig wertlos (Herr Spann setzt dies als sicher voraus; ich meinerseits stehe dem Material zu ferne, bezweifle aber stark, ob die 12

Ich versage mir, auf die recht komplizierte Frage hier näher einzugehen.

17 Anzahl der Legitimierten: 27 Neumann:

Vgl. ebd.: 3 4 .

Neumann verweist auf Arbeiten des Berliner Statistikers Richard Böckh (vgl.

Neumann 1 8 9 5 : 750), diese konnten nicht ermittelt werden.

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Stammrolle in bezug auf diesen Punkt irgendwelche Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen kann). Indessen verweile ich bei dem Gegenstande nur, weil mir jede Gelegenheit willkommen ist, auf die wilde, unkritische, ja unsinnige Art, wie mit sog. Statistik von Leuten, die keine Ahnung von Statistik haben, operiert wird, mit aller Schärfe hinzuweisen. Dieser Vorwurf soll nicht Herrn Spann treffen; und für das Argument des Herrn Schallmayer ist der Fall insofern von geringer Bedeutung, als die Hauptsache, auf die es ihm ankommt, richtig bleibt, daß nämlich von unehelich Geborenen ein viel geringerer Teil als von ehelich Geborenen in das Lebensalter der Fortpflanzung gelangt. Das Arge liegt aber nicht sowohl darin, daß Herr Schallmayer die Spannsche Rechnung unbesehen aufnimmt, sondern sie sogar verallgemeinert („daß etwa dreimal weniger von den unehelichen zur Fortpflanzung kommen als von den ehelichen")! In Wirklichkeit ist die Differenz zwischen Sterblichkeit der einen und der anderen Gattung außerordentlich verschieden; überall ist sie bei weitem am größten im ersten Lebensjahr, in späteren als im fünften überhaupt ungewiß. Und jene Differenz der Säuglingssterblichkeit ist gerade in Frankfurt ganz besonders hoch (z. B. 1893 32,2 gegen 13,8 = 2 3 3 : 1 0 0 nach der Tabelle bei Neumann a. a. O.), dagegen z. B. in München verschwindend (dort 32,2 gegen 30,2 = 106:100; im Jahre 1900 sogar nur 30,5 gegen 30,2, also so gut wie gleich: Stat. Jb. f. d. Kgr. Bayern VI, S. 248) ebenso in ganz Oberbayern und Niederbayern, wo der Anteil der Unehelichgeborenen sehr hoch ist, gering (1901: 38,6 und 38,8 gegen 32,1 und 33,2 f. c.); in Preußen, wo der Unterschied vorzugsweise in den Ostprovinzen sehr groß, ist er nach Mayr, der einer Untersuchung, die Fircks angestellt hat, folgt, »sehr niedrig« in 10 Regierungsbezirken, die zumeist dem Westen angehören (Statistik und Gesellschaftslehre, II, 282). Wie will man auf diese Daten ein allgemeines Urteil gründen, das spezieller wäre als das oben von mir ausgesprochene? - Dazu kommt aber endlich dies: um den Faktor der unehelichen Geburt rein zu erfassen, müßte man diese

13 („daß etwa dreimal weniger ... als von den ehelichen"):

Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 6 5 .

19 Neumann-. Vgl. Neumann 1 8 9 5 : 7 5 1 . 21 Stat. Jb. f. d. Kgr. Bayern: Tönnies entnimmt diese und die nachstehenden Angaben aus der Tabelle „XI.3. Kindersterblichkeit, a. Nach Geschlecht und Ehelichkeit" im Statistisches Jahrbuch für das Königreich Bayern. 6. 1 9 0 1 : 2 4 8 . 24 (1901:38,6

und 38,8 gegen 32,1 und 33,2 f. c.): Richtig: ( 1 9 0 0 : 3 8 , 6 und 38,8 gegen 3 2 , 7

und 33,2 1. c.). 27 Statistik und Gesellschaftslehre: Fircks gibt.

Vgl. Mayr 1897, der jedoch keine Quellenangabe zu

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

401

Kinder nicht mit der Masse der Ehelichgeborenen, sondern mit derjenigen Partie dieser Masse, die mit ihnen, den Unehelichen, auf dem gleichen Niveau der Wohlstands- und Ernährungsverhältnisse sich befindet, vergleichen; also z. B. mit den Kindern verheirateter Fabrikarbeiterinnen. Was dann von dem Unterschiede nachbleiben würde, kann man leicht divinieren: ein Minimum, das zum guten Teil krimineller Natur sein wird. Für unkritische Statistiker, wie Herr Schallmayer, scheint die Unehelichkeit eine okkulte Qualität zu sein, wodurch die Sterblichkeit fabelhaft erhöht wird. Wenn der geehrte Herr sich besinnt, wird er nicht glauben, daß die Lebenswahrscheinlichkeit des Kindes, das aus dem Konkubinat eines alten Gauners (»Gewohnheitsverbrechers«) mit einer Gassenhure entspringt, größer wäre, wenn dies edle Paar »im Kasten« gehängt oder sogar ein Geistlicher ihm den Segen der kirchlichen Trauung gegeben hätte. In Wirklichkeit gibt es sowohl Ehen, als Konkubinate dieser Art. In Wirklichkeit ist es aber auch mit der Nachkommenschaft der Gewohnheitsverbrecher, wenigstens der eigentlichen Gauner, trotz »Familie« Zero und anderer gräßlicher Kasus (ich kenne selber solche) nicht weit her-, sie sind viel zu sehr der Prostitution ergeben und mit dieser sozusagen »verheiratet«; die Prostitution ist aber, bekanntlich und glücklicherweise, beinahe steril. - Gleichwohl halte auch ich es für eine wichtige Aufgabe, die Erzeugung von Verbrecherkindern, überhaupt von Menschen, die aller Wahrscheinlichkeit nach Verbrecher werden, nach Möglichkeit zu hemmen, und ich habe mich des öfteren, auch literarisch, dahin ausgesprochen, daß es, schon um dieses Zweckes willen, geboten sei, die Freiheitsstrafen zu verlängern und in reziproker Weise zu mildern; wie denn der Begriff der Strafe überall nur im Gesetze, d. h. in der Androhung, seinen guten Sinn behält. Übrigens aber ist die moderne Gesellschaft und alle entwickelte Zivilisation so stark mit Verbrecherstoff, d. h. mit rücksichtslosem Egoismus, mit Laster, Genußsucht und Zynismus, ferner auch mit 16 »Familie«

Zero:

In A: „Familie Zero". - Dies bezieht sich auf einen von Schallmayer

herangezogenen Artikel (Jörger 1905, vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 6 5 , Fn.), der einen - in Schallmayers Worten - „Verbrecherstammbaum" untersucht. 24 Ich habe mich ... dahin ausgesprochen:

Z. B. im Aufsatz „Die Verhütung des Verbre-

chens" (1891: 2 3 4 ) schlug Tönnies vor, Strafe in Form von Zwangsarbeit in der als solche nicht rentablen landwirtschaftlichen Melioration zu organisieren: „Und bei solcher Form könnten die Gerichte ohne allen Schaden die durchschnittliche Dauer der geringeren Strafzeiten (etwa bis 5 Jahre) um 3 0 - 5 0 % erhöhen, wodurch die öffentliche Sicherheit gewinnen würde. (Ein bedeutender Nebenerfolg der temporären Unschädlichmachung des Verbrechens [sie!] besteht wenigstens darin, daß er während dieser Zeit verhindert ist, sich fortzupflanzen.)".

402

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Verrücktheiten aller Art angefüllt, daß die Tendenz auf Ausrottung gerade der kleinen Horde von Individuen, die durch ihre Art von Selbstbehauptung dem Strafgesetze verfallen, vom ethischen Standpunkt gesehen, immer einen Anstrich von Scheinheiligkeit und Tugenddünkel hat. Aber utilitarisch und politisch angesehen ist es etwas anderes. Gerade durch Verbote von Ehen hier wirken zu wollen, muß jedem, der das Leben der Gewohnheitsverbrecher kennt, fast komisch erscheinen. Ihre »Ehen« sind zu einem guten Teil von der Art, die in der Tabelle der Eheschließenden nach dem Alter (vgl. z. B. Stat. Jb. f. d. D. R. 1906, S. 16-17) in den 3 4 letzten Vertikalrubriken verzeichnet sind, nämlich mit Frauen über 50 resp. 45 Jahren. Sollen diese Ehen auch aus »keimdienstlichen« Gründen verboten werden? Eine ganz andere Sache ist das wenigstens provisorische Eheverbot gegen „Personen, die mit einer noch infektiösen Geschlechtskrankheit behaftet sind". Diese Forderung hat die wahrhaft ungeheuerliche Voraussetzung, daß schlechthin jede Person, männlich oder weiblich, die in den Stand der Ehe treten will, vorher sich einer staatsärztlichen Untersuchung nicht nur, sondern auch einem inquisitorischen Verhör in bezug auf ihre Vergangenheit unterwerfe; der Antikritiker versichert freilich, er habe in einer Abhandlung, die ich nicht kenne, auseinandergesetzt, warum ihm eine Ausdehnung der »Maßregel« auf weibliche Ehekandidaten entbehrlich erscheine - ich bin überzeugt, daß dafür nur sehr schlechte Gründe beigebracht werden können, aber sei es darum: auch in Beschränkung auf Männer bleibt die Sache für mich nicht nur »unausdenkbar«, sondern würde sich, so fürchte ich, als eine Quelle unendlicher neuer Korruption erweisen. Aber hier mag die Schwäche meines Glaubens oder die Stärke meiner Skepsis allein schuldig sein, und es liegt mir gar nichts an dem sicherlich aussichtslosen Versuche, Herrn Schallmayer und denen, die ihm zustimmen, ihren Glauben zu nehmen. Positiv unrichtig ist aber wieder, daß ich »gemeint« habe, es würden bei diesem Vorschlag liederliche und gewissenlose Männer vorausgesetzt (S. 4 6 2 Anm.). Ausdrücklich war dies von mir bezogen auf den Paragraphen in dem legislatorischen Entwürfe, daß „zwischen der Untersuchung und der Eheschließung nur einige Wo9 Tabelle der Eheschließenden

nach dem Alter: Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche

Reich, 2 7 . 1 9 0 6 : 16 f.: „Die Eheschließenden nach dem Alter im Jahre 1 9 0 4 " . 15 „Personen,

die mit...

20 Abhandlung:

Geschlechtskrankheit

behaftet sind"-. Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 6 5 f.

Vgl. ebd.: 4 6 2 ; Schallmayer bezieht sich auf seine Arbeit „Über die drohende

körperliche Entartung der Culturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes" (1891).

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

403

chen liegen dürften". Ich sage (S. 55): offenbar damit die Wahrscheinlichkeit so gering als möglich gemacht werde, daß der Ehekandidat sich doch noch infiziere, und knüpfe daran die Frage: „Wenn aber einmal ... vorausgesetzt werden, wer schützt dann die Frauen und die Früchte ihres Leibes in der Ehe?" - Männer, die sich 14 Tage vor ihrer Hochzeit infizieren und dann doch die Ehe schließen, darf ich ja wohl liederlich und gewissenlos nennen? - Der Antikritiker entgegnet, in der großen Mehrzahl der Fälle (jener Paragraph soll sich aber doch auf alle Fälle beziehen!) würden von ihm nur Durchschnittsmenschen vorausgesetzt, zum Teil auch sehr gewissenhafte Männer. Was darüber in dem Buche steht, S. 3 5 0 ff., war mir natürlicherweise nicht entgangen. Gerade in bezug darauf hatte ich darauf hingewiesen, daß in der großen Menge des Volks (ich hätte genauer gesagt: in der Klasse, die man Proletariat nennt, ländliches und städtisches) der Entschluß zur Ehe regelmäßig die Folge der Erzeugung eines Kindes ist. . . . E s bildet ein sehr wesentliches Element der Volksmoral, daß die Legitimierung des Kindes, wenn möglich vor dessen Geburt, für Pflicht gehalten wird. Ich hätte freilich wissen können, daß dem Verfasser die Allgemeinheit dieser Erscheinung unbekannt ist, da er schreibt (S. 361): „In Gegenden, wo außereheliche Geburten häufig sind, wie in Südbayern, wird der uneheliche Vater in der Regel nachträglich geheiratet" und alles was er daran anknüpft, zeigt, daß er den wichtigen und großen Unterschied zwischen außerehelicher Zeugung und außerehelicher Geburt wirklich nicht kennt-, und was schlimmer ist, auch jetzt hat er noch nicht einmal gemerkt, daß es dieser Unterschied war, worauf ich ihn hinweisen wollte, und meint mit gewohnter Zuversicht, meine ironische Bemerkung, die sich darauf bezieht, sei »gegenstandslos« (S. 465). Für ein saloppes Denken sind allerdings die wichtigsten Unterscheidungen »gegenstandslos«. Aber der Antikritiker macht ja seinerseits Mißverständnisse mir zum Vorwurf. Seine Erörterungen bezwecken, sagt er (S. 466), außer sofern sie die Eheverbote gegen Verbrecher und Syphilitiker verlangen, „hauptsächlich die Begründung der Forderung offizieller Anlegung von Familienerbtafeln", diese Einrichtung könne aber natürlich erst nach Generationen brauchbare Ergebnisse liefern. Bis dahin werde sich, vorausgesetzt, daß die darauf gerichteten Bestrebungen nicht erfolglos bleiben, die öffentliche i „zwischen der Untersuchung... liegen dürften"-. Vgl. Schallmayer (1903: 352): „Zwischen dieser Untersuchung und der Eheschließung dürften nur einige Wochen liegen.". l Ich sage: Vgl. hier S. 228. 7 Der Antikritiker entgegnet-. Vgl. Schallmayer 1906: 462, Fn. 12 hatte ich darauf hingewiesen: Vgl. hier S. 227.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Meinung u. a. auch hinsichtlich der gegenwärtig übertriebenen Hochschätzung der individualistischen Interessen wohl soweit geändert haben, „daß es nicht dasselbe ist, ob sich mein Vorschlag auf unsere Tage oder auf jene noch ziemlich ferne Zukunft bezieht". * „Herr T. hat das nicht auseinandergehalten. Seine Einwände, die auch sonst so mancherlei (in Frageform gekleidete) Mißverständnisse enthalten, beruhen durchwegs auf der unzutreffenden Voraussetzung, daß es sich auch da um Vorschläge für unsere Tage handle, wo letzteren nur eine Vorbereitung zugedacht ist; ohne diese Voraussetzung werden sie gegenstandslos."* Ich habe also die Forderung der Anlegung von Familienerbtafeln angefochten? oder welchen Vorschlag, der sich auf eine noch ziemlich ferne Zukunft bezieht? Offenbar meint er „eine Gesetzgebung, die sich auf .erbliche Anlagen berufen soll", die also mit Eheverboten über jene unmittelbaren Forderungen hinausgeht. Ich hätte also auseinanderhalten sollen eine gegenwärtige Gesetzgebung auf Grund ungenügender Erblichkeitsstatistik, und eine Zukunftsgesetzgebung auf Grund besserer Erblichkeitsstatistik und vermehrten Wissens über die Erblichkeit der Krankheiten und Krankheitsanlagen. Gewiß, ich hätte die Frage noch viel eingehender behandeln können; und ich räume ein, daß die Eheverbote unter dieser irrealen Bedingung etwas bessere Rechtfertigung und etwas bessere Chancen des Gelingens hätten. Ich habe, nicht ohne an diesen Unterschied zu denken, ausdrücklich „die »ganze Idee«", durch Eheverbote die generative Auslese zu verbessern, für durch und durch verfehlt und utopisch erklärt; d. h. ich habe sie unbedingt verworfen. Alles, was ich im Anschlüsse daran ausführe (S. 53, 54), und was von dem Antikritiker gar nicht angerührt, geschweige erschüttert worden ist, gilt unverändert auch für die Zukunftsgesetzgebung, es steht völlig außerhalb jenes Unterschiedes in Art und Umfang unseres Wissens. Gerade hier hatte ich nicht sowohl den Fall, daß ein ehemaliger Luetiker das von ihm geschwängerte Mädchen heiraten wollte — hier ließe sich das Eheverbot noch allenfalls rechtfertigen, wenn es auch in bezug auf den späteren geschlechtlichen Verkehr schwerlich eine Wirkung hätte - im Auge, sondern ich dachte an weitere Fälle, wo die »Stammbäume« den Grund der Eheverbote angeben sollen. Gerade in bezug darauf betone ich die Tatsache der vorehelichen Konzeptionen und 13 „eine Gesetzgebung, die sich ... berufen soll": Vgl. Schallmayer 1903: 357; diese Passage wurde von Tönnies bereits zitiert (vgl. oben, S. 225). 22 „die »ganze Idee«": Vgl. oben, S. 226; in A stehen Asterisken anstelle der Sonderzeichen. 24 unbedingt: In A fett gedruckt. 25 ausführe: Vgl. oben, S. 226 ff.

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

405

des Entschlusses zur Ehe als der Folge davon. Der Antikritiker weiß kein Wort darauf zu erwidern. Es müßte ihm aber ein leichtes sein, seine irrealen Bedingungen zu kumulieren. Niemand kann ihn hindern »vorauszusetzen«, daß »bis dahin« nicht bloß außereheliche Geburten, sondern auch die so sehr viel häufigeren außerehelichen Konzeptionen auf ein Minimum zusammengeschmolzen, weil „der öffentlichen Verachtung verfallen", sein werden. Die Häufung irrealer und unwahrscheinlicher Bedingungen charakterisiert eben den Utopisten, auch den sympathischen, der Zwecke erstrebt, die „an und für sich erstrebenswert scheinen", was ich früher anerkannt habe und aufs neue anerkenne. Ich hatte freilich damit gerechnet, daß jene außerehelichen Konzeptionen, die den Entschluß zur Ehe als Folge nach sich ziehen, nicht verschwinden, sondern mindestens in gleicher Ausdehnung bleiben werden, und auf diesen Fall besonders sollte auch das von mir, wie der Antikritiker sich ausdrückt, »gemalte Bild« sich beziehen, daß das Eheverbot sich „gegen rechtschaffene Leute wende" usw. Daß die sittlichen Grundsätze sich in dem Sinne »umwandeln« werden, daß es für ehrenhaft gälte, ein Mädchen mit dem Kinde sitzen zu lassen, weil inzwischen die Erbtafel konsultiert wurde, oder gar gefunden wurde, daß eine Ehe mit diesem Mädchen so ungesetzlich wäre, wie heutzutage die Ehe mit einer schon verheirateten Frau - daß also auch eine Gewissensehe mit einem solchen Mädchen Schande brächte: das überlasse ich Herrn Schallmayer zu hoffen, der ein Gewissen dieser Art dem Gewissen der Diebe gleichschätzt. Meine Zustimmung zu dem Verlangen nach vertieftem Studium der Erblichkeit von Krankheitsanlagen usw. notiert der Antikritiker mit dem Zusätze, sie werde unter dem Vorbehalt gegeben - dann folgt unter Anführungszeichen: „daß diese überaus wichtige Forschung nicht in den Dienst der Gesetzgebung, ebensowenig in den Dienst vorgefaßter Theorien gestellt werde, sondern »um ihrer selbst willen, aus schlechthin unbefangenem wissenschaftlichen Interesse« geschehe." Er polemisiert dann dagegen und setzt die Worte „nur um ihrer selbst willen" nochmals unter Anführungszeichen. Die Polemik gibt mir keine Ursache zur Antwort; aber die Zitate! Ich hatte das Wort »Dienst« das erstemal unterstrichen, das Wort »wissenschaftlicher« doppelt unterstrichen; daß der Zitierende bei15 „gegen rechtschaffene

Leute wende":

30 „daß diese über wichtige Forschung

Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 6 1 und oben, S. 2 2 7 . ... geschehe.":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 6 : 4 6 8 f. Die

Passage in Sonderzeichen steht in A zwischen Asterisken, sie ist bei Schallmayer nicht hervorgehoben. 34 doppelt unterstrichen:

Vgl. hier S. 2 2 5 .

406

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

des ignoriert, will ich ihm nicht anrechnen. Er nimmt sich aber ferner die Freiheit, das Wörtchen »wie«, das bei mir vor den Worten „um ihrer selbst willen" steht, einfach zu streichen! Zweimal mit Anführungszeichen zu zitieren und zweimal dieses für den Sinn ganz wesentliche Wort zu unterschlagen; das zweitemal das Wort »nur«, das den Sinn beinahe umkehrt, an die Stelle zu setzen!! Den vielen unrichtigen Angaben, die der Antikritiker, wie ich annehme, in gutem Glauben, über den Inhalt meiner Kritik ausgesprochen hat, setzt dies die Krone auf. Ich nehme zu seiner Ehre an, daß er auch dies Zitat nicht mit Absicht geändert hat, aber der groben Fahrlässigkeit muß ich ihn allerdings bezichtigen. Gleich darauf folgt: „Doch Herr T. spricht auch von einer vorgefaßten Theorie, in deren Dienst nach meinem Sinn die Erblichkeitsforschung gestellt werden solle." Wiederum - zum wievielten Male? - eine durchaus unrichtige Angabe über den Inhalt meiner Kritik. Es bezieht sich auf die zitierte Stelle; steht darin, daß nach Herrn Schallmayers Sinn die Erblichkeitsforschung in den Dienst einer vorgefaßten Theorie gefaßt werden sollte? Nicht die leiseste Andeutung davon! Mein Vorbehalt ist schlechthin allgemein gehalten, bedeutet ein ganz abstraktes und theoretisches Postulat, das ganz und gar auf meiner Erfahrung beruht, daß nur allzu viele »Statistik« dem Dienste der Gesetzgebung und vorgefaßter Theorien unterworfen und dadurch verdorben wird. Ich dachte auch nicht entfernt dabei an die Theorien Schallmayers (die in der Tat dazu keine Veranlassung geben), sondern an die Rassenschwärmereien u. dgl., denen gegenüber das unbefangene wissenschaftliche Interesse alle Ursache hat, sich zur Wehr zu setzen. Und auf Grund dessen sieht sich der treu zitierende Antikritiker „gezwungen, auch hier an eine irrig vorgefaßte Meinung des Herrn Ref. zu glauben".

Nachträgliche Anmerkungen Z u S. 3 6 0 . Auf die erstheiratenden M ä n n e r b e z o g e n (im D e u t s c h e n Reiche ca. 9 0 % v o n allen) ergibt sich ein e t w a s höherer Anteil. Übrigens sind in jener Gesamtzahl der unter 2 4 jährigen mehr als 8 2 v. H . , nämlich 6 8 5 9 6 über 2 2 Jahre 13 „Doch Herr T. spricht... werden solle.": Vgl. Schallmayer 1906: 469. 27 „gezwungen, auch hier ...zu glauben".: Vgl. ebd. Es schließt sich in A ein längerer Absatz an, vgl. den editorischer Bericht, S. 686. 30 Zu S. 360: Zahlen nach der Tabelle „Die Eheschließenden nach dem Alter im Jahre 1904" im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich (27. 1906: 16 f.).

XII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Vierter Teil

407

alt, und unter diesen, darf man vermuten, hat ein sehr großer Teil, vielleicht die Mehrheit, der Dienstpflicht bei der Fahne genügt; und sehr viele Ehen werden dadurch unmittelbar veranlaßt werden. Zu S. 368. Ich hätte bemerken sollen, daß „Vererbung und Auslese" S. 125 eine Tabelle (nach Talquist) mitgeteilt wird, aus der „unzweideutig hervorgehen" soll, daß die auf eine Ehe treffende Geburtenzahl um so kleiner ist, je wohlhabender die Familie. So einfach ist aber die Sache selbst nach dieser Tabelle nicht. Die französischen Departements sind darin nach Steuerbeträgen in 10 Gruppen eingeteilt, von unten nach oben, und die entsprechende Reihenfolge der Geburtenfrequenz ist: 1, 2, 3, 5, 8, 6, 7, 4, 9, 10; nur für die beiden Enden trifft also die negative Übereinstimmung zu. In Preußen stehen mit dem Anteil der Bevölkerung, der zur Einkommensteuer herangezogen wird, die Regierungsbezirke Arnsberg und Düsseldorf nächst dem Stadtkreis Berlin am höchsten, und in beiden ist auch die Geburtenfrequenz hoch über dem Durchschnitt. Es gibt eben Instanzen und Gegeninstanzen, und die Kausalität ist nicht eine so einfache Sache, wie sie allzu oft genommen und hingestellt wird.

s Talquist: Eigentlich: Tallqvist; nach den Angaben dort ( 1 8 8 6 : 88) ist die Reihenfolge der Geburtenziffern bei den ehelichen Geburten: 1 , 2 , 3, 8 , 4 , 6 , 5 , 7, 9 , 1 0 ; bei allen Geburten: 1, 2, 3, 8, 4, 6, 7, 5, 9, 10. n

Einkommensteuer:

Vgl. die Tabelle „Verteilung der physischen Einkommensteuer-Zensiten

auf die Bevölkerung in den Jahren 1 8 9 2 bis 1 9 0 6 " im Statistischen Jahrbuch für den Preussischen Staat (4. 1 9 0 6 : 223). Tönnies' Angaben beziehen sich auf das Jahr 1 9 0 6 . 14 Geburtenfrequenz:

Vgl. die Tabelle „Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle in den

Regierungsbezirken 1 9 0 5 " (ebd.: 19).

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung Fünfter Teil

4 Fünfter Teil: Der fünfte Teil von Tönnies' Auseinandersetzung mit den Preisschriften zur Deszendenztheorie erschien unter dem Titel: „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. (Nachträge.)" im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] 33. 1909, S. 8 7 9 - 8 9 4 (H 3, 17-32; im Folgenden: A). Das für Veröffentlichungen in Schmollers Jahrbuch übliche Inhaltsverzeichnis ist im editorischer Bericht abgedruckt (S. 688). Beachte auch die Anmerkung zum ersten Teil oben auf S. 205. - Die Kapitelzählung in A beginnt mit XVIII.

XIV. Das Buch des Dr. Methner1 will in ausgesprochener Weise eine bloße naturwissenschaftliche Abhandlung darstellen. Nach einer langen Einleitung über Naturzüchtung kommt es auf die „Biologischen Stufen des Gesellschaftslebens" und behandelt dann in drei Abschnitten 1. die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, 2. die Kulturzüchtung und die Rassen, 3. die biologischen Grundlagen der Kulturstaaten. Als Ergebnis der Untersuchungen wird der Satz aufgestellt, daß die Entwicklung der Menschheit sich in vollständiger Wechselwirkung zwischen dem Individuo und dem Gemeinwesen vollziehe; und diese Wechselwirkung erreiche die höchste Vollendung im Gesellschaftsorganismus der modernen Kulturstaaten. Sofern die Kulturzüchtung die Naturzüchtung abzuändern vermöge, bestehe die Abänderung nur darin, daß der Mensch vermöge seines Bewußtseins und seines Willens die sich darbietenden Entwicklungsmöglichkeiten bis zu einem bestimmten Grade zu variieren imstande sei. Aber nur wenn die menschliche Tätigkeit treffe, was zweckmäßig ist, dürfe man erwarten, daß ihre Werke bestehen. Darüber entscheide nun die Natur durch den Kampf ums Dasein und die Auslese. Der Naturverlauf spiele sich ganz unabhängig von der menschlichen Auffassung und dem menschlichen Willen ab, aber der Mensch habe das größte Interesse daran, den Naturverlauf zu verstehen, um seine Tätigkeit so sehr als möglich in Übereinstimmung mit ihm zu setzen. „Die Bemühungen des Menschen, den Naturverlauf und den Zusammenhang der Dinge kennenzulernen, haben wir in Gestalt von Religion und Wissenschaft vor uns, und das Ziel beider ist die Schaffung einer Weltanschauung." Eine moderne, auf die Deszendenztheorie begründete wissenschaftliche Weltanschauung schließe 1

Alfred Methner,

Dr. med. in Breslau: Organismen und Staaten. Eine Untersuchung über

die biologischen Grundlagen des Gesellschaftslebens und Kulturlebens. Jena 1 9 0 6 , Gustav Fischer, X u . 172 S. 3 eine bloße naturwissenschaftliche

Abhandlung:

Vgl. Methner 1 9 0 6 : VI f. - In A: eine pure

naturwissenschaftliche Abhandlung. 15 Grade zu variieren imstande sei: Vgl. ebd.: 165. 25 „Die Bemühungen

des Menschen

... ist die Schaffung einer Weltanschauung.":

166. - M e t h n e r s Sperrungen sind getilgt.

Vgl. ebd.:

412

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

eine auf Gottes- und Nächstenliebe begründete Religion nicht aus, wohl aber vermöge sie uns ein weitgehendes Verständnis der Erscheinungswelt in ihrem ursächlichen Zusammenhange zu erschließen. Sie lehre unter anderem mit immer größerer Deutlichkeit, daß die menschlichen Gemeinwesen in höherem Grade als wir gemeinhin glauben, den Wert einer biologischen realen Einheit besitzen. Mit einem längeren Zitat aus Gierkes Rede über das Wesen der menschlichen Verbände, die auf die ethische Bedeutung dieses Gedankens hinweise, wird das Buch beschlossen. Sehen wir uns die Begründung dieser Lehre an, so wird zunächst über den Unterschied von Einzelwesen und Gemeinwesen, dann über die sozialen Instinkte und die tierischen Gesellschaften, endlich über die Staaten der Menschen gesprochen. Der bewußte Kampf ums Dasein der Individuen spiele sich in den Kulturstaaten in zivilisierten Formen ab, nämlich als Konkurrenz; die gewaltsamen Formen suche der Staat mit allen Mitteln zu unterdrücken. Der Kampf ums Dasein der Kulturstaaten untereinander weise prinzipiell die gleichen Formen auf, wie diejenigen der Individuen innerhalb der Staaten; er zeige sich entweder als internationale Konkurrenz oder als Krieg. Den Krieg abstellen wollen, heiße in den natürlichen Verlauf der Dinge eingreifen wollen. Der Mensch könne aber den Gang der Dinge nur in enger räumlicher und zeitlicher Begrenzung übersehen, und er müsse es dem Naturverlauf überlassen zu entscheiden, ob das, was er nach bestem Wissen und Gewissen für das sachlich Richtige halte, auch tatsächlich das Passendste und Zweckentsprechendste sei, worüber aber nur Kampf ums Dasein und Auslese entscheide. - Es folgt „die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft" (auf 17 Seiten) und zwar zuerst „die geistige Entwicklung des Menschen": Folgerung, der ontogenetische Prozeß, der sich im Auftreten des Selbstbewußtseins und in Erkenntnis der grundlegenden Beziehung Subjekt - Objekt abschließe, stelle sich phylogenetisch als Entwicklung des Urmenschen zum Kulturmenschen dar. „Geistige Entwicklung und Gemeinschaftsleben": ohne dieses sei jene nicht möglich. Den Typus der menschlichen Vorläufer in dieser Beziehung stellen wahrscheinlich die Paviane, nicht die Anthropoiden dar. „Die Differenzierung in der menschlichen Urgesellschaft" - Arbeitsteilung zieht psychische Verschiedenheit der Individuen nach sich. Die erste Differenzierung einer Horde wird sich im Sinne der Bildung einer engeren Lebens7 Gierkes Rede über das Wesen der menschlichen 18 als internationale

Konkurrenz

25 „die Entwicklung

der menschlichen

Verbände:

Vgl. Gierke 1 9 0 2 .

oder als Krieg: Vgl. Methner 1 9 0 6 : 5 9 f. Gesellschaft":

Vgl. ebd.: 61 ff. - Die folgenden Zitate

geben Überschriften aus diesem und den folgenden Kapiteln wieder.

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

413

und Kampfgenossenschaft vollzogen haben: diese sind offenbar in genetischer Beziehung zur Familie (in ihrem älteren Sinne) „geistige und moralische Faktoren in der menschlichen Urgesellschaft". Der Übergang zum Urmenschen wird mit dem von Laut-Gebärdensprache zur Wort-Gebärdensprache gegeben, und mit dem Beginn bewußter Herstellung von Werkzeugen und Waffen. Schon in der fester verbundenen Horde mußte sich ein Rechts- und bald auch Pflichtbewußtsein entwickeln; und zwar im Zusammenhang mit der Entwicklung des gesamten Bewußtseinsinhalts: die primitive Weltanschauung ist Animismus; sie konnte schon einheitliche Orientierung herbeiführen und die Leitung des Lebens übernehmen. Die Kultur bedeutet für das Leben der Gesellschaft nicht weniger als das Selbstbewußtsein für das Individuum. Die Gesellschaft betrachtet nur das Individuum als vollwertig, das Ursache und Wirkung soweit erkennt, daß es die Folgen seiner Handlungen zu übersehen vermag (als zurechnungsfähig oder verantwortlich). Der Prozeß, der mit der Sonderung des Urmenschen vom Tiere beginnt, kommt erst innerhalb der menschlichen Art zum Abschluß. Urmensch und Wilder sind identisch; durch die Kultur geschehen auch Abänderungen der Individuen, daraus entstehen die Rassen daher ist Rassenmensch und Kulturmensch wiederum eins. Drei Faktoren bestimmen die Scheidewand zwischen dem Vollmenschen und dem Halbtier: Selbstbewußtsein, Kultur, Rasse. „Die Kulturzüchtung und die Rassen" heißt der nächste große Abschnitt. Die »Kulturwelt« stellt eine eigene Biosphäre dar, welche durchaus besondere Existenzbedingungen schafft und demgemäß auch eine nur ihr zukommende Auslese aufweist. Die Kulturzüchtung bewirkt, daß beim Haustier wie beim Menschen - unter dem Einfluß des Schutzes der Kulturwelt - die Aufmerksamkeit aus dem für die Sicherung der Existenz notwendigen Zustand des labilen Gleichgewichts in den des stabilen, d. h. der Konzentration übergeführt worden ist. Die Aufmerksamkeit des Menschen wird auf Zwecke des Gemeinschaftslebens eingestellt, Kraft dafür wird durch die Sicherung der Existenz frei. „Kultur und Gesundheit": der Unterschied zwischen natürlicher und kultureller Auslese. In der Kulturwelt wird an »außerordentlicher Arbeitsleistung« (»wesentlich« ist nach Rosenbach die zur Erhaltung des Lebens in Gesundheit notwendige Arbeitsleistung) gespart; diese aber wird in anderer Beziehung stärker und oft in einer gesundheitsschädlichen Weise in Anspruch genommen. Ebenso bei domestizierten Tieren. Die kulturelle Auslese ist zum Teil sehr widernatürlich. Das bewußt willkürliche Han33 nach Rosenbach: Vgl. ebd.: 84; Methner weist keine Quelle nach.

414

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

dein tritt zu sehr in den Vordergrund (gegenüber der instinktiv-reflektorischen Tätigkeit); inmitten der städtischen Zivilisation geht die Gesundheit einer Familie meist schon in wenigen Generationen zugrunde. Tuberkulöse Dispositionen, wie beim Rinde und andere, sind Folge der Kultur und ihrer unnatürlichen Auslese (Degeneration). - „Evolution und Involution der Rassen. Veredelung und Rückbildung." Mit der Kulturentwicklung des Menschen geht die Veredelung der Haustiere und Nutzpflanzen parallel. Durch fortgesetzte Inzucht, das einzige Mittel zur Erzielung einer konstanten Vererbung bestimmter Eigenschaften, werden die Tiere immer ähnlicher; es müssen Rassen entstehen, die kaum mehr differenzierungsfähig sind: Endrassen; mit ihrer Bildung beginnen schon die Erscheinungen der Involution, woran sich Degeneration unmittelbar anschließt (kleinere und zartere Figur bis Zwergwuchs, verfeinerter Bau, Senilität). Der Verfasser kommt dann ausführlich auf die Rassenbildung beim Menschen und auf die ethnologische Grundlage der europäischen Zivilisation zu sprechen. Er unterscheidet neben den drei Arten von Rassen, nach Fritsch, nämlich protomorphen, archimorphen und metamorphen, noch neomorphe Rassen als solche Mischrassen, die den historischen Beweis ihrer konstanten Eigenart erbracht haben. „Grundverschieden gegenüber der Tierwelt ist die Form des Kampfes der Rassen beim Menschen" durch die besondere Form, den Krieg, der ein Kampf ums Dasein mit eigens zu dem Zwecke geschaffenen Einrichtungen und Mitteln ist - die schroffste Form des Existenzkampfes, die den Typus des Europäers rasch herausgebildet und zur Herrschaft über die anderen Rassen gebracht hat. Dieser Typus hat sich von 1100 v. Chr. bis 1500 n. Chr. entwickelt; die neue Blutauffrischung der arisch gemischten Bevölkerung Europas durch die reinen Germanen seit der Völkerwanderung ist die letzte Ursache des ethnischen Prozesses, dessen Korrelat der ungeheuere geistige Aufschwung beim Übergang des Mittelalters zur Neuzeit. Die kriegerische Tüchtigkeit pflegt in einer besonderen Beziehung zur kulturellen Leistungsfähigkeit eines Volkes zu stehen und scheint eine für die Fortentwicklung der Menschheit notwendige Bedingung zu sein. So ist denn der Krieg eine naturgesetzliche Notwendigkeit und ohne ihn gibt es weder Rassenbildung noch Rassenentwicklung. - Wir kommen zu dem dritten Hauptabschnitt: da wird zuerst der „Zwang des Gemeinschaftslebens" dargestellt, dann „die Vor16 Arten von Kassen, nach Fritsch: Vgl. ebd.: 1 0 1 ; Methner belegt die Übernahme von Gustav Fritsch nicht. 20 „Grundverschieden

gegenüber

... beim Menschen":

„Grundverschieden aber gegenüber . . . " .

Vgl. ebd.: 106. Bei Methner heißt es:

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

415

stufen der Kultur", die „Steinzeiten", „die Arbeitsteilung und die Zivilisation", der „zivilisierte Staat und die soziale Auslese", „Kultur und Zivilisation". An Unterscheidung dieser beiden Begriffe ist dem Verfasser viel gelegen. Kultur nennt er den Zustand, worin sich die Entwicklung der geistigen und sittlichen Interessen einer Gesellschaft kundgibt; sie diene der Entwicklung des Individuums. Zivilisation hingegen sei der Zustand gemeinschaftlichen Wirkens eines Volkes, wie er durch Maßnahmen und Einrichtungen geregelt sei. Es bestehe aber zwischen Kultur und Zivilisation vollständige Wechselwirkung. Charakteristisch für Zivilisation sei, daß sie zur Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft führe. Die großen Epochen der Menschheitsgeschichte bestehen aus zwei Phasen, von denen die erste Kultur und Individuum, die andere Zivilisation und Gemeinwesen fördere. Solche Epochen gibt es bisher drei: die jüngste ist die Metallzeit. - Die soziale Auslese nehme in zivilisierten Staaten drei ganz besondere Formen an: 1. die der Prüfungen, 2. die der Empfehlung und Belohnung, 3. die der Bestrafungen. Die Zivilisation sei dadurch im Sinne der Rassenverbesserung wirksam. - Im letzten Abschnitt wird die Stammesgeschichte der neomorphen Rassen dargestellt: 1. die Urzeit, 2. die Zivilisation der aktiven und passiven Rassen, 3. Ursprung und Bedeutung des aktiven Rassentypus, 4. der aktive und passive Typus als soziale Sonderung. Anlehnung an Gobineau bezeichnet diese Kapitel. Die Gleichartigkeit der Beanlagung der Japaner und Indoeuropäer rühre daher, daß sie beide aktive Rassen seien. Die Frage wird aufgeworfen, ob der aktive Typus lediglich Produkt der Naturzüchtung oder ob er unter Mitwirkung der Kulturzüchtung entstanden sei. Im Gegensatz zu Gobineau, dem noch die Konstanz der Arten feststand, wird geltend gemacht, daß der aktive Charakter der neomorphen Rassen vornehmlich unter dem Einflüsse der Kulturzüchtung fortentwickelt werde. Engere und weitere Zeugungskreise treten in den Kulturstaaten als berufliche Kategorien, als Stände und Klassen, sowie in Gestalt der städtischen und ländlichen Bevölkerung auf. Die Gesellschaft baut sich in Schichten pyramidenartig auf und die einzelnen Schichten schließen sich, je höher hinauf desto mehr, gegeneinander ab, bis sie schließlich in einer echten Kaste (dem hohen Adel) enden. Diese Organisation der modernen Gesellschaftsordnung ist zweckmäßig, weil sowohl Inzucht als Vermischung dadurch gleich gut gewahrt sind. - Die passiven Rassen haben, vermöge ihrer größeren Soziabilität, ihrer weit stärkeren angeborenen kollektivistischen Triebe, es zwar sehr viel zeitiger zu hochentwickelten Zivilisationen gebracht als die aktiven Rassen, aber die im Wesen der aktiven Rassen gegebene Dissoziabilität, nämlich ihre

416

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

stärkere Freiheitsliebe, ihre ausgeprägt individualistischen Triebe, ihr kriegerischer Sinn, haben sich für die Entwicklung der Zivilisation über eine bestimmte Form des Gemeinschaftslebens hinaus als sehr vorteilhaft bewährt. Unter den Rasseschriften, die mir bekannt geworden sind, auch denen dieser Sammlung, zeichnet die vorliegende durch achtungswerte Eigenschaften sich aus. Unter den mitgeteilten Gedanken sind manche von echtem Gehalt, so der über die Biosphären und die Kulturwelt als Biosphäre, über die neomorphen Rassen und den Typus des Europäers. Ich habe in meiner Kritik von Ammons Gesellschaftstheorie (Archiv für Sozialwissenschaft X I X , 1, S. 111) anerkannt, daß in jeder seiner Lehren Elemente von Wahrheit enthalten sind. Von diesen Elementen scheinen hier einige zur Geltung zu kommen. Die Konzeptionen sind klarer und reiner. Daß die biologische Seite des Kulturprozesses von fundamentaler Bedeutung ist, läßt sich mit Händen greifen. Der Verfasser scheint nun aber zu ausschließlich bei der Frage von Kreuzung und Inzucht zu verweilen und das große, ja entscheidende Moment außer acht zu lassen: die Stärke der Propagation und Vermehrung. Auch verkennt er, wie mich dünkt, die Relativität, ohne deren Hereinziehung man einen zweckmäßigen Begriff der Rasse schwerlich bilden kann. Darum ist alles, was über Aktivität und Passivität, über Soziabilität und Dissoziabilität ausgesagt wird, mit viel zu absolutem, dogmatisch-assertorischem Charakter behaftet. Das poetischphantastische Naturell Gobineaus hat zu stark auf das Denken des Verfassers gewirkt. Aber auch Ammon hat ihn mit sich fortgerissen. So in dem Kapitel, wo er den Prüfungen, Belohnungen und Bestrafungen eine selektorische Bedeutung beimißt. Jede Bestrafung wirke zunächst durch den Makel, den sie „unter allen Umständen" anhefte, und dieser Makel sei 1. schon an sich eine schwere Beeinträchtigung für den Kampf ums Dasein, 2. ergebe sich auch eine Auslese insofern, als der Makel den bestraften Individuen das Heiraten erschwere, und zwar insbesondere in den besseren Gesellschaftsschichten, wodurch bewirkt werde, daß in ihnen eine mangelhafte soziale Beanlagung nicht ebenso leicht zur Vererbung komme wie eine gut gerichtete Anlage. Die Geldstrafen sollen noch eine weitere Erschwerung im Kampf ums Dasein bedeuten, weil sie dem Makel noch wirtschaftliche Nachteile hinzufügen. Ernsthafter Erörterung kann ich diese Ansichten nicht mehr für wert halten. - Hingegen läßt sich streiten io meiner Kritik von Ammons 34 Erschwerung

Gesellschaftstheorie:

Vgl. Tönnies 1 9 0 4 .

im Kampf ums Dasein: Vgl. Methner 1 9 0 6 : 135.

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

417

darüber, ob wirklich der Krieg allgemein die ihm hier zugeschriebene Bedeutung der schroffsten Form des Kampfes ums Dasein habe. Der Verfasser stellt diesen Satz so hin, als ob er durch sich selber evident wäre. Es scheint mehr hastige Deduktion und unklare Verallgemeinerung als wirkliche Beobachtung zugrunde zu liegen. Daß in frühen Zuständen Fehden oft auf Vernichtung ausgehen, daß auch in Kulturzeiten Vernichtungskriege vorkommen, ist offenbar. Die barbarischen Methoden, durch die noch heute europäische Völker die Stämme wilder Ureinwohner in ihren Kolonien ausrotten, fallen nicht unter den Begriff des Krieges, wie Verfasser selber diesen Begriff darstellt. Die Kriege zwischen zivilisierten Nationen haben aber in der Regel einen solchen Charakter nicht gehabt. Wir wollen aber den Verfasser nicht widerlegen. Ihm liegt die Beweislast ob. Es fehlen die Beweise. Wenn er ganz richtig sagt (S. 115): „Die ältesten Kulturvölker der mittelländischen wie gelben Rasse, welche selbständige in sich abgeschlossene Zivilisationen hervorgebracht haben, die Babylonier, Ägypter, Inder und die Chinesen, zeigen nicht annähernd den kriegerischen offensiven Charakter, wie die jüngsten ihrer Nachfolger, die zur Bildung der modernen Großmächte schritten;" wenn er von „jenen so überaus langlebigen Reichen" spricht, „deren Anfänge sich in prähistorische Zeiten verlieren", so ist die folgende Gedankenentwicklung keineswegs klar und überzeugend, die in Verherrlichung der kriegerischen Tüchtigkeit als einer für die Fortentwicklung der Menschheit notwendigen Bedingung ausläuft. Fortwährend wird mit der Kriegstüchtigkeit und Fortschrittsfähigkeit der Japaner operiert, obgleich es sich da um ein Experiment handelt, das gerade 4 0 Jahre alt ist, und von dem in 2 0 0 Jahren vielleicht soviel übriggeblieben sein wird, wie ebensolange nachher von den ihrer Zeit an Kriegstüchtigkeit hoch hervorragenden Türken, Spaniern, Schweden und (zur See) den Holländern die Rede gewesen ist. Bei aller Anerkennung des Verstandes und Fleißes, der hier angewandt worden ist, wird man immer wieder zu dem Ergebnisse kommen, daß alle diese Züchtungserwägungen das wirkliche Verständnis der menschlichen Entwicklung so gut wie gar nicht fördern. Wenn wirklich die historische Erscheinung wäre, daß eine Nation die andere regelmäßig oder auch nur dann und wann „tot machte", sei es durch Konkurrenz oder durch Krieg, so wäre ja die Sache ziemlich einfach. Aber das ist nicht der Fall. Vielleicht ist die Geburtenrate die eigentlich entscheidende Waffe im Kampfe ums Dasein, den die Völker führen, die auf die Dauer wirksamste, so sehr auch zeitweilig andere Momente sozialen und politischen Charakters ihre Erfolge hemmen mögen.

418

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

XV. Auch die Schrift des Dr. Walter Haecker1 ist eine ernsthafte und mit Sinn durchdachte Arbeit. Sie zerfällt in vier große Abschnitte, die überschrieben sind: I. Darstellung der Abstammungslehre, II. Der Weg sozialwissenschaftlicher Untersuchungen, III. Diagnose, IV. Politische Technik. Aus I. werde nur erwähnt, daß der Verf. nach eingehender Betrachtung zu dem Schlüsse kommt, von den Versuchen, die Zweckmäßigkeit der Lebensformen rein naturforschend, mechanistisch zu erklären, scheine ihm der Weismannsche Versuch am meisten innere Geschlossenheit und Einheitlichkeit aufzuweisen. Das ist denn freilich nicht gerade eine objektive Begründung. Vom zweiten Abschnitt, für den in erster Linie auf Stammler (Wirtschaft und Recht) und auf Rickert (Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft) verwiesen wird, kann ich nur mit entschiedenen Vorbehalten reden. Zwar scheint mir, was hier vorgetragen wird, von dem Sinne Stammlers und auch von demjenigen (wenigstens dem ursprünglichen) Rickerts ziemlich verschieden zu sein; aber davon werde abgesehen. Der fundamentale Unterschied von »Ursachenforschung« und »Wertforschung« soll behauptet werden. Ich leugne diesen fundamentalen Unterschied. Das Pendant zur Ursachenforschung ist nicht Wertforschung, sondern Erforschung von Wirkungen. Aber in Erforschung von Ursachen und von Wirkungen erschöpft sich nicht die Wissenschaft. Sie hat es zunächst mit der Bildung und Darstellung von Begriffen zu tun und kann auch, vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend, aus begrifflichen Prämissen gewisse Wirkungen, d. h. Tendenzen zur Wirklichkeit, erschließen - deduzieren. Das Wesentliche bei der Wertforschung soll darin liegen (S. 53), daß sie von einem feststehenden Wert ausgehe, „d. h. von dem feststehenden Urteil, das gegeben und nicht weiter zu beweisen ist, daß der und der Zustand wünschenswert sei". Dies wird dann des näheren ausgeführt und durch allerhand Beispiele erläutert. Dem Technologen seien nicht alle 2

Natur und Staat. Beiträge usw. Neunter Teil: Die ererbten Anlagen und die Bemessung ihres Wertes für das politische Leben. Von Dr. phil. Walter Haecker,

Professor am

Lehrerseminar in Nagold (früher Pfarrer in Wildenstedt). Jena 1 9 0 7 . XII u. 3 0 0 S.

l XV.: In A: X I X . 12 Wirtschaft und Recht: Vgl. Stammler 1 8 9 6 . 13 Kulturwissenschaft

und Naturwissenschaft:

18 Unterschied von »Ursachenforschung«

Vgl. Rickert 1 8 9 9 .

und »Wertforschung«:

32 Pfarrer in Wildenstedt: Richtig: Pfarrer in Weilderstadt.

Vgl. Haecker 1 9 0 7 : 46 ff.

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

419

chemischen und physikalischen Vorgänge gleich interessant, wie dies im Prinzip bei seinen naturforschenden Kollegen der Fall sei; ebenso verhalte sich die Hygiene zum Physiologen. Ich bemerke dazu folgendes: Es kann allerdings in wissenschaftlichen Formen dargestellt werden, was der Mensch tun muß, um gewisse Wirkungen zu erzielen. Solche Lehren sind den eigentlichen Wissenschaften nicht beizuordnen, sondern unterzuordnen. Sie sind nicht eigentliche Wissenschaften, sondern Kunstlehren Technologien. Niemand nennt ein Kochbuch ein wissenschaftliches Werk, so wenig wie etwa eine Schrift über die Reitkunst; eher ein Lehrbuch des Maschinenbaues, weil und sofern darin wissenschaftliche Begriffe und Erkenntnisse angewandt werden. Solche Lehren sind aber nur dadurch wissenschaftlich, daß sie sich nach Wissenschaften richten, wie die mechanische Technologie nach der Mechanik, die chemische nach der Chemie. Für den wissenschaftlichen Gesichtspunkt ganz unwesentlich, ja störend ist die Betrachtung, ob der Zweck »erwünscht« ist; den Praktiker geht dies an; er will den Zweck erreichen und wünscht daher zu wissen, wenn möglich mit wissenschaftlicher Gewißheit zu wissen, durch welche Mittel er den Zweck erreichen kann. Als Forscher hat auch er es nur mit Ursachen und Wirkungen zu tun. Der wissenschaftliche Mensch will nichts als erkennen. Der praktische Mensch will wirken. Auch der Arzt will als wissenschaftlicher Mensch nichts als erkennen, und insofern als er in das Wesen und die Ursachen einer Erscheinung, z. B. der enormen Sterblichkeit unehelicher Säuglinge eindringen will, ist es ihm völlig gleichgültig, ob diese hohe Sterblichkeit für ein Übel zu erachten sei oder nicht. Auch der praktische Arzt kann sie im allgemeinen für »gut« oder doch für ersprießlich halten (sei es, weil er den Wert der Auslese oder den Unwert eines familienlosen jungen Menschenlebens im Auge hat) und wird doch, wenn er seiner Aufgabe, seiner Pflicht gerecht zu werden beflissen ist, in jedem einzelnen Falle, der ihm vorkommt, alles tun, und anraten, was er für zweckmäßig hält, um das Sterben zu verhüten. Für den Praktiker sind Leben und Gesundheit unbedingte Werte. Natürlich kann ich meine Erkenntnis auf Zwecke beziehen, die mir erwünscht sind (worin d. Verf. das Charakteristische der Wertforschung sieht); ich kann sie aber ebensowohl auf Wirkungen beziehen, die mir unerwünscht oder auf solche, die mir gleichgültig sind. Ich kann mir die wissenschaftliche Aufgabe stellen, zu erforschen, ob und durch welche Mittel sich eine Großindustrie in der Türkei ins Leben rufen und befördern lasse - ob mir oder anderen Leuten dieser Zweck erwünscht, unerwünscht oder gleichgültig sei, macht für das Wesen meiner Forschung nicht den geringsten Unterschied. Unser Autor

420

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

verkennt nicht, daß bei der tatsächlichen Verschiedenheit der Ideale die »Wertforschung« einen schweren Stand habe, da ein solcher Forscher, wenn er den subjektiven Charakter seiner Grundbegriffe unumwunden zugebe, keinen Anspruch auf allgemeine Anerkennung seiner Ergebnisse machen könne. Er tröstet sich damit, daß im Verlauf geschichtlicher Entwicklung nur eine beschränkte Zahl von Weltauffassungen sich in Wirksamkeit habe erhalten können. Es herrsche eine weitgehende Übereinstimmung über das christlich-humane Ideal des geregelten Zusammenlebens freier Persönlichkeiten. Durch die Preisaufgabe sieht aber der Autor sich an den Wert „Leben und Gesundheit des Vaterlandes" gebunden. Er vergleicht in der Tat sein Vorhaben mit der Obliegenheit des Arztes: die Diagnose soll auf die Begriffe Vererbung und Auslese sich beziehen; die Prognose auf Grund dieser den mutmaßlichen geschichtlichen Verlauf bezeichnen, für den Fall, daß dieser sich selbst überlassen bliebe; indem aber die Wertforschung einen Willen vertritt, so kann er eine Technik vorzeichnen, als Anleitung, den vorgestellten Wert zu verwirklichen. - Das scheint klar gedacht. Aber schon die Begriffe Diagnose und Prognose weisen auf die Behandlung eines gegebenen einzelnen Falles, auf die Praxis: die Medizin als Wissenschaft will zwar die Prinzipien lehren, nach denen solche Erkenntnisse sich richten sollen, sie gibt auch Regeln, die für viele Fälle allgemein gelten, aber ihr Gegenstand ist in erster Linie die Pathologie, die Lehre von den Krankheiten, woran sich die Therapie als die Lehre von den Methoden der Behandlung anschließt. Auch ist es nicht richtig, daß die Prognose des Arztes nur die weiteren Wirkungen erschließt, die eintreten müssen, „falls der Kausalverlauf sich selbst überlassen bleibt". Sie hat vielmehr den allgemeinen Inhalt, den mutmaßlichen Verlauf vorher erkennen zu wollen, und zwar, der Regel nach, unter den günstigsten vorgestellten Bedingungen; z. B. deutet sie bei Karzinom auf sicheren letalen Ausgang, trotz Operationen (wo sie möglich sind) und angewandter Heilmittel. - Mit dem Arzte kann allenfalls der Politiker sich vergleichen, aber nicht der politische Theoretiker. Allerdings kann auch der Arzt einen gegebenen einzelnen Fall theoretisch darstellen wie in einem Gutachten; und solche höchst spezielle Analogie hat unser Autor offenbar vor Augen, wenn er „diese Grundsätze" auf die gestellte Aufgabe anwenden will. „Leben und Gesundheit des Vaterlandes" soll heißen „unseres Vaterlandes". In Wahrheit sind aber alle Ausführungen über die Bedeu-

10 „Leben

und Gesundheit

26 „falls der Kausalverlauf...

des Vaterlandes":

Vgl. Haecker 1 9 0 7 : 62.

bleibt": Vgl. ebd. Tönnies hat Haeckers Sperrungen getilgt.

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

421

tung von Vererbung für das politische Leben (S. 6 9 - 1 3 4 ) und über Auslese im politischen Leben (S. 1 3 5 - 2 5 1 ) nur darum allgemein gehalten, weil sie, außer für unsere Nation, auch für die übrigen, die an unserer „westlichen Kultur" teilhaben, gelten sollen. Diese Erörterungen kommen nun zu dem Schlüsse: die »Kultur« verfahre, als ob sie keine von den drei Veranlagungen - weder die körperliche noch die intellektuelle noch die moralische notwendig brauche; wenn sie auch mit der Moralfähigkeit schonender umgehe, als mit den beiden anderen (S. 252). Nicht ganz im Einklänge mit dem obigen Programm wird dann die »Prognose« dahin gestellt, solange nur ein gewisses Maß von Moralfähigkeit vorhanden sei, könne der Gemeinsinn („den die Kultur nicht entbehren kann") das Kapital an überlieferten Kulturgütern zusammenhalten, auch noch dann, wenn das Kapital an Veranlagung, mit dessen Hilfe diese Kulturgüter erschaffen und erworben wurden, schon erheblich zusammengeschmolzen sei. Die »Prognose« wollte ja nicht auf mögliche Gegenwirkungen hinweisen, sondern den Verlauf der Entwicklung vorhersagen, wie er sich gestalten werde bei sich selbst überlassenem Gange! Dies wird nun an anderen Stellen schon durch die Überschriften angedeutet, z. B. „Körperstärke als durchgängiges Merkmal verliert sich in der Kultur" (S. 218). „Die Kultur erschwert die Fruchtbarkeit der Gescheiten" (S. 227); auch in Frageform: „Erleichtert die Kultur die Fruchtbarkeit der Minderbegabten?" - Was Diagnose genannt wird, ist ganz darauf gerichtet, geht also unmittelbar in die Prognose über. Vorher ist aber noch auf ca. 100 Seiten die „zweckbewußte oder beabsichtigte Auslese" abgehandelt. Damit kehre der Begriff der Auslese, der in der Naturforschung nur ein Gleichnis sei, gleichsam in seine Heimat zurück - (S. 143). Aber ist denn Auslese und Zuchtwahl einerlei? Oder soll die Wahl wahllos behandelt werden? Mit Vorliebe wird doch die Analogie mit dem Verfahren des Züchters herangezogen; so wird die Dressur diesem zur Seite gestellt und als Beseitigung von unerwünschtem Keimgut auch hier „alle Kriminaljustiz" geltend gemacht. Es gehöre zur Wirkung unzähliger Todesurteile, wenn „ein für das politische Leben brauchbarer Durchschnitt von Veranlagung erzielt worden ist, wenn die Anlagekörper,

Ii „den die Kultur nicht entbehren ist der Gemeinsinn 21 „Erleichtert

kann": „Was sie [die Kultur] aber nicht entbehren kann,

. . . " , heißt es ebd.: 2 5 2 .

die Kultur die Fruchtbarkeit

der Minderbegabten?":

23 Prognose: In A teilweise hervorgehoben: Prognose. 24 „zweckbewußte

oder beabsichtigte

30 „alle Kriminaljustiz":

Auslese": Vgl. ebd.: 143 ff.

Vgl. ebd.: 147.

Vgl. ebd.: 2 3 0 .

422

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

die in jenen schwer zu zähmenden Individuen vorherrschten, jetzt nur noch hier und da in vereinzelten Verbrechern zur Auswirkung kommen". Ein Gran von Wahrheit ist hierin, was die alte »hochnotpeinliche« betrifft, enthalten. Aber auch nur ein Gran. Denn um von den vielen Exekutionen alter Männer und Frauen wegen Ketzerei und Hexerei zu schweigen, so waren auch die Gauner, wenn sie nach dem alten strengen Beweisverfahren überführt waren, wohl oft zu den Jahren gekommen, wo sie für Nachkommenschaft reichlich gesorgt haben konnten. Auch waren es nur zu einem Teile schwer zähmbare Elemente; die Juden z. B., die in den alten Räuberbanden so stark vertreten waren, zumeist wohl nicht; es waren weit überwiegend soziale Ursachen, die sie zu Gewaltverbrechern machten; während sie ihrem Naturell nach wohl lieber mit den Listen einer zahmen Gesittung operiert hätten. Die zweckbewußte Auslese wird dann die arbeitteilende genannt, wo sie die verschieden Gewerteten zwar alle zur Fortpflanzung kommen lassen will, ihr nun aber verschiedene Aufgaben zuweist. In diesem Sinne wird nach Anleitung von Ammon die Ständebildung erörtert. Auslese durch die politischen Machthaber und solche durch die Angehörigen der Aristokratie mit ihrer Exklusivität, wird unterschieden. Dann kommt wieder „unbeabsichtigte Auslese"; lange wird bei der Auslese politischer Gedanken verweilt; allmählich wird doch das Bereich von „Bildern und Gleichnissen", wie Verf. selbst es nennt (S. 200), vorherrschend. Dann aber kommt die Naturwissenschaft wieder zur Geltung: „Die Entstehung neuer Menschenrassen und die Züchtung politisch wertvoller Typen." Von Entartung und den Wirkungen der Inzucht ist ausführlich die Rede. Hier setzen nun die schon bedeuteten Sätze über die Schäden der Kultur ein. Die Kultur bevorzugt die Schwachen, sie gefährdet das »Keimgut« der Starken. Zwar werden auch die günstigeren Wirkungen der Kultur erwogen. Aber das Ergebnis ist überwiegend negativ. Ebenso erschwere Kultur die Fruchtbarkeit der Gescheiten; das Keimgut versiege in den höheren Ständen. Daß diese durchschnittlich die gescheiteren Bevölkerungselemente enthalten, sei „nach den gründlichen Untersuchungen (!) Ammons" zu bejahen; im ganzen decke sich (!) die Skala der 2 „ein für das politische Leben ... Auswirkung 19 „unbeabsichtigte

Auslese": Vgl. ebd., 161 ff.

24 „Die Entstehung

neuer Menschenrassen

kommen":

Vgl. ebd.: 148.

und die Züchtung

politisch wertvoller

Typen.":

Vgl. ebd. (201): „So ergeben sich die beiden Abschnitte: a) Die Entstehung neuer Menschenrassen, neuer Stämme, ß) die Züchtung politisch wertvoller Typen.". 32 „nach den gründlichen

Untersuchungen

(!) Ammons":

nach den gründlichen Untersuchungen O. Ammons

Vgl. ebd. (227): „Diese Frage ist

zu bejahen.".

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

423

Steuerleistung mit der Skala der Intelligenz. Und des weiteren treten hier alle die bekannten Deduktionen, die ein größeres oder geringeres M a ß von Wahrscheinlichkeit haben, je nachdem sie starke oder schwache Tendenzen anzeigen, wieder auf. In demselben Sinne wird endlich - die Unterscheidung der Merkmale ist anerkennenswert - die Moralfähigkeit betrachtet; ihre Züchtung in der Vorgeschichte und in älterer Kultur; ihr Schicksal im modernen Staate. Auch hier gelte: durch Humanität werden die Minderwertigen geschützt. Die Ständebildung gefährde das Keimgut der Zuverlässigen nicht mit derselben Regelmäßigkeit wie das der Gescheiten; denn sie sei nicht Korrelatvariation zu praktischer Begabung. Dagegen bringe die Ergänzung der veranlagten Moralfähigkeit durch Erziehung Gefahr für den Keimgutbestand mit sich. - Über den vierten Abschnitt „Politische Technik" werde nur in Kürze berichtet. Er enthält zwar sehr anfechtbare, aber durchweg gesunde und gut begründete Gedanken. So wird die Meinung, daß Schwächlinge von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden sollten, schon deshalb verworfen, weil die Grenze äußerst schwer zu ziehen wäre. Auch sei körperliche Minderwertigkeit ein sehr dehnbarer Begriff, es komme auf die Art der verlangten Leistungen an; überdies sei es möglich, daß physische Minderwertigkeit mit hoher geistiger Begabung zusammentreffe. Dagegen will er die moralisch Minderwertigen an der Zeugung verhindern. Sofern das durch Unterbringung in Anstalten und Asylen geschehen kann, ist dagegen nichts einzuwenden; der Gesichtspunkt sollte in bezug auf Irre wie Verbrecher mehr zur Geltung kommen. Er gilt aber ebenfalls, wie Verfasser bemerkt, für Blinde, Taube und andere Gebrechliche. - Zur Kritik möchte ich mir nur noch eine allgemeine Bemerkung erlauben. Die Schlüsse des Verfassers beruhen - wie die fast aller übrigen Autoren in diesem Sammelwerke - auf den Weismannschen Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen sind unbewiesen. Ich halte sie auch für unrichtig, muß mich freilich bescheiden, sie nicht widerlegen zu können. Aber nach dem Stande der Naturforschung darf man alle Schlußfolgerungen, die daraus gewonnen sind, allerdings in Frage stellen. Gleichwohl müssen wir, um mit dem Verfasser auf gleichem Boden zu bleiben, seine Voraussetzungen eine Weile festhalten. Auch dann sind die Deduktionen (hier in geschickter Weise durchgeführt) doch keineswegs ohne Lücken und Mängel. Nehmen wir ein Beispiel: den Verschleiß der »Gescheiten«. Es wird nicht deutlich ausgesprochen, ist aber doch in der ganzen Darstellung enthalten, daß die Stadtbewohner durchweg als Aus-

l Skala der Intelligenz: Vgl. ebd.: 228.

424

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

lese der Gescheiteren, d. h. der mit gescheiterem Keimgut Ausgestatteten aufzufassen seien; denn aus ihnen bilden sich ja vorzugsweise die besitzenden Schichten und diese haben »durchschnittlich«, je mehr direkte Steuern ihnen obliegen, um so mehr Verstand. Die Annahme ist auch sonst geläufig, daß vom Lande die Klugen in die Stadt gehen, die Einfältigen dort zurückbleiben. Auch ist einige Wahrheit darin enthalten. Aber die Zusammenhänge sind auch hier um vieles mannigfacher und verwickelter. Für den Zuzug in eine Stadt wirkt zunächst deren Gedeihen, und dies ist außer durch ihre Lage durch viele äußere Umstände bedingt; sodann, was die Zuziehenden betrifft, die örtliche Nähe. Daß aber in den näher gelegenen Dörfern intellektuell besseres »Keimgut« angesammelt sei, als in den entfernten, ist gerade, wenn die Wirkung des Erworbenen ausgeschlossen wird, um so weniger wahrscheinlich. Ferner wirkt darauf das ländliche Erbrecht: wo der Älteste die Bauerstelle erbt, wird er in der Regel an der Scholle kleben, die jüngeren Brüder lernen eher ein Handwerk; anders in Gegenden des Minorates. Die ländlichen Besitzverhältnisse werden durchweg ein wesentlich bestimmender Faktor sein. Am ehesten wird der auch von Haus aus besitzlose Tagelöhner oder besitzarme Kätner den Heimatboden verlassen; nach den Grundsätzen des Verfassers also die mindestbegabten. Daß aber für das Emporsteigen die Städte sehr viel bessere Chancen darbieten, liegt auf der Hand; eben darum aber und soweit als dies gilt, ist die erste Bedingung das Dasein in der Stadt; richtig ist, daß bei der Auswahl unter denen, die in der Stadt vorhanden sind, gewisse intellektuelle Eigenschaften stark zum Emporkommen mitwirken müssen; andere Faktoren spielen aber doch auch eine Rolle, namentlich mitgebrachtes Kapital, das wiederum bei denen, die vom Lande stammen, durch die Fruchtbarkeit des heimischen Bodens und dessen Kulturstand bedingt sein wird, aber auch durch geringe Geschwisterzahl u. dgl. Ob aber auch der Besitz fruchtbareren Bodens schon als Zeichen höherer Gescheitheit gelten darf, ist wiederum sehr fragwürdig, wenngleich Herr Ammon und seine Anhänger es mit gewohnter Sorglosigkeit behaupten werden. Vielmehr spielen auch da offenbar die Erbsitten entscheidend mit. So lange noch freies Land kolonisiert wird, werden jüngere Söhne auf entlegenerem, in der Regel minder fruchtbarem sich ansiedeln müssen usw. - Also müssen alle diese Lehren mit großer Vorsicht aufgenommen werden. Das Beste an solchen Gedankengebilden ist wohl, daß sie in sich die Aufforderung enthalten, die Gegenstände, über die sie mit so reichlicher Gewißheit zu entscheiden meinen, der Beobachtung und dem eigentlich wissenschaftlichem Studium zu unterwerfen. Dazu gehört auch die Vererbung erworbe-

XIII. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Fünfter Teil

425

ner Eigenschaften, über die sich unter Menschen vielleicht am ehesten nach streng induktiver Methode etwas ausmachen ließe. Am Schlüsse des Buches hebt der Verfasser noch ausdrücklich hervor, für die Frage, wie der Wert der ererbten Anlagen für das politische Leben bemessen werden könne, habe er aus der Abstammungslehre keine Aufschlüsse erwarten dürfen; hier seien es die Ethik, die Pädagogik und andere „wertforschende Zweige" am Baum des menschlichen Wissens, die man heranziehen müsse. Damit ist nun freilich der Kruppfrage (die Urheberschaft ist ja bekannt) ausgewichen. Diese wollte offenbar die Antwort sollizitieren, daß man aus der Abstammungslehre die Richtschnur für eine richtige Politik entlehnen könne und solle; im Sinne einer »Paarung« - wie sie unter diesem Titel so bald aktuell geworden ist - konservativer Prinzipien mit liberalen Prinzipien; weil jene die »Vererbung«, diese die »Anpassung« repräsentieren, so sei ihr Zusammenwirken notwendig, wie es in der organischen Natur überall beobachtet und als Ursache der Entwicklung erkannt werde. An Auslese war dabei nur in der Amwowschen Richtung gedacht, daß die (wenn auch noch so weit getriebene) Scheidung der Vermögens- und Einkommensstufen als Bedingung der Inzucht höher begabter Menschen naturwissenschaftlich gerechtfertigt, weil das Ergebnis eines beständig sich erneuernden Ausleseprozesses sei. Und die meisten Bearbeiter scheinen daran hängengeblieben zu sein. Einige von diesen Bearbeitern, die sich als solche bekannt, aber ihre Schriften selbständig herausgegeben haben, mögen hier am Schlüsse noch erwähnt werden: Kuhlenbeck3 ist ein Vertreter des extremen Rasse-Standpunktes; neben Gobineau und Ammon ist der konfuse, redegewandte Lapouge für ihn Autorität. Das Buch, dessen zweiter Hauptteil sich „Anwendung der biologischen Grundgesetze auf Staat und Gesellschaft" nennt, charakterisiert sich hinlänglich durch die Sätze wie: „Der »freisinnige« (!) Brachykephale ist begeistert für Staats-Omnipotenz." Gleichwohl enthält 3

Natürliche Grundlagen des Rechts und der Politik. Ein Beitrag zur rechtsphilosophischen und kritischen Würdigung der sog. Deszendenztheorie. Eisenach und Leipzig. S. a. Thüringische Verlagsanstalt. VI u. 2 4 4 S. 7 „wertforschende 8 Kruppfrage:

Zweige"

am Baum des menschlichen

Wissens: Vgl. ebd.: 2 9 3 .

Zur anfänglichen Anonymität von Friedrich Alfred Krupp als dem Initiator

der Preisaufgabe und Stifter der Preisgelder vgl. die Dokumente bei Thomann/Kümmel 1 9 9 5 : 2 2 4 ff. 29 „Der »freisinnige« 119, Fn.

(!) Brachykephale

... Staats-Omnipotenz.":

Vgl. Kuhlenbeck 1 9 0 4 :

426

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

es interessante Erörterungen, aus Gesichtspunkten, die niemals ganz unfruchtbar sind. - Aus anderem Geiste ist das Werk von Rawitz4 entsprungen. Der eine Gedanke, der hindurchgeht, ist: Harmonie von »Koenonismus« und Personalismus, als wovon Verfasser alles Heil erwartet; die „politischen Lehren der Naturwissenschaft" (Buch IV) kommen ihm alle darauf hinaus. Den Hauptinhalt des Werkes bildet die „Kritik der gegenwärtigen politischen Zustände Deutschlands" (Buch III) und zwar in zwei Abteilungen: 1. Die Koenonia, 2. Die Personalitäten. Aus dem Ringen dieser »Prinzipien« will er das Wesen unserer Zeit begreifen. - Innerlich und äußerlich anspruchsloser tritt die Schrift von Speck5 auf, man darf von ihr rühmen, daß sie philosophische Tiefe hat. Der Entwicklung ihrer Gedanken ist offenbar die Schablone der Aufgabe hinderlich gewesen. Sie ist platonistisch-pantheistisch; der Vitalismus spielt eine Rolle darin. Die Entwicklung der individuellen Seele fällt mit derjenigen des Systems der Wissenschaften zusammen. Begriffe werden als Organe betrachtet, „Begriffsbildung ist Zeugung"; alle Begriffe entspringen aus Einheit und müssen in sie zurückkehren. Man bemerkt auch hier, wie die Identitätsphilosophie und Hegel wieder aufleben. Das Büchlein behandelt in sechs Abschnitten: das menschliche Individuum, die Wirtschaftsgemeinschaft, die militärische Gemeinschaft, die geistigen Gemeinschaften, die Reproduktion der Gesellschaft, Staat und Recht. Die Fassung ist knapp und gedrungen, für die meisten Leser ohne Zweifel zu sehr. -

Urgeschichte, Geschichte und Politik. Populär-naturwissenschaftliche Betrachtungen. Berlin 1 9 0 3 , L. Simion. VI u. 3 6 2 S. Gesetz und Individuum. Ein Beitrag zur individuellen und sozialen Entwicklungsgeschichte des Menschen. Hanau 1 9 0 4 , Clauß & Feddersen. IV u. 143 S.

8 Die Koenonia: Bei Rawitz (1903) heißt es durchgehend „Coenonie". Er versteht darunter neben Individualismus und Personalismus „das dritte die Menschheit beherrschende Prinzip", das darin bestehe, „daß der Mensch als solcher nur innerhalb der Gemeinschaft anderer Menschen existieren kann." Coenonismus „ist das jeder sogenannten Vereinigung

zu Grunde liegende Prinzip." (ebd.: 70).

16 „Begriffsbildung

ist Zeugung"-. Vgl. Speck 1904: 19.

staatlichen

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie auf Probleme der sozialen Entwicklung Sechster Teil

4 Sechster Teil-. Der sechste Teil von Tönnies' Auseinandersetzung mit den Preisschriften zur Deszendenztheorie erschien unter dem Titel: „Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Zweite Nachlese" im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb] 35. 1911, S. 3 7 5 - 3 9 6 (im Folgenden: A). - Einige Passagen des Textes, in dem sich Tönnies mit der zweiten Auflage von Schallmayers Preisschrift (1910) auseinandersetzt, wurden vom Verfasser für die Ausgabe in den „Soziologischen Studien und Kritiken" gestrichen, diese sind ebenso wie das in Schmollers Jahrbuch übliche Inhaltsverzeichnis und eine Fußnote der Schriftleitung der Zeitschrift im editorischen Bericht (S. 688) dokumentiert. Beachte auch die Anmerkung zum ersten Teil oben auf S. 205.

XVI. Schallmayers Argument war: Die oberen sozialen Schichten, in denen die besten Anlagen, die höchsten generativen Werte stärker vertreten sind, pflanzen sich zu schwach fort, es herrscht also in unserer deshalb »revisionsbedürftigen« Kultur eine direkt umgekehrte Auslese, ebenso wie in bezug auf Krankheitsanlagen eine ungenügend strenge Auslese herrscht. Ich habe geltend gemacht (Jahrbuch XXIX, 1 [1905], S. 59), die im Sinne einer alten Kultur wertvollste Intelligenz, von der auch ich annehme, daß sie bei der schwachen Vermehrung alter Nationen - und, um die Parallele zuzulassen, der höheren Stände - „Gefahr laufe, einstweilen unterzugehen" (einer ungünstigen Auslese erliege), sei in sehr weitem Umfange an physische Eigenschaften gebunden, oder doch mit solchen ferbunden, die keineswegs „generativ wertvoll" seien; und ich hatte versucht, diese Behauptung durch mehrere Erwägungen zu begründen. Im Verlaufe dieser Erörterung komme ich zu dem Satze: „Unsere Züchtungssoziologen ermangeln jeder Klarheit darüber, was sie eigentlich züchten wollen: die Kraft und Gesundheit des Volkes (die vorzugsweise auf dem Lande und wiederum in minder kultivierten Gegenden am meisten zu Hause ist) oder die Intelligenz und Angepaßtheit an Handel und Wissenschaft und Künste (die vorzugsweise in den Städten und allgemein in entwickelteren Volksteilen ihren Sitz hat)." „Die entgegengesetzte Doktrin" - nämlich der von Schallmayer angenommenen Gtf/iorcschen entgegengesetzt - wäre, daß ein wesentlicher und regelmäßiger Gegensatz zwischen körperlicher Tüchtigkeit und intellektueller Begabung bestehe - diese »Doktrin« soll ich mit dem Ton der Unfehlbarkeit vorgebracht haben. Nichts lag mir ferner, als meine eigenen »Doktrinen« zu predigen. Mein Gedanke war ausschließlich kritisch gegen die oberflächlich gedachten, oberflächlich begründeten Doktrinen und Postulate des Herrn Schallmayer. In seiner ersten Auflage hatte er ohne alle Unterscheidungen von dem „generativen Wert" gesprochen, der bei den höheren Klassen (besonders den „gebildeten Ständen") im allgemeinen beträchtlich über der i XVI.: In A: X X . - In A schließt sich eine längere, von Tönnies gestrichene Passage an, vgl. im editorischen Bericht S. 689. 10 „Gefahr laufe, einstweilen unterzugehen": Vgl. in diesem Band S. 232. 20 „Unsere Züchtungssoziologen ... ihren Sitz hat).": Selbstzitat Tönnies', leicht verkürzt; vgl. oben S. 237.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

generativen Durchschnittsqualität der Gesamtbevölkerung stehe; er erläuterte diesen Begriff, indem er im gleichen Zusammenhange den sozial höher stehenden Klassen durchschnittlich eine größere Begabung für die von unserer Kultur gestellten Aufgaben zuschrieb. Die Frage, ob nicht zum Teil mit dieser größeren »Begabung« sanitäre Minderwertigkeit verbunden sei, so daß in dieser Beziehung, innerhalb dadurch gezogener Grenzen, die geringere Fortpflanzung der höheren Klassen »selektorisch« wirke, war für ihn gar nicht vorhanden. Und doch führte er - diesen Punkt habe ich nicht einmal hervorgehoben - unter den Ursachen der geringeren ehelichen Fruchtbarkeit dieser Klassen „die größere Verbreitung physischer Minderwertigkeit unter den Frauen dieser Klassen" an (S. 127): „Daß aber physische Minderwertigkeit bei den Frauen der höheren Stände mehr verbreitet ist als bei denen der unteren, scheint aus Th. Sörensens Untersuchung der Sterblichkeitsverhältnisse in Kopenhagen hervorzugehen, die v. Fircks anführt", hieß es dann S. 133. Hier wurde allerdings physische und geistige Wertigkeit unterschieden, denn vier Seiten vorher stand der Satz, man „werde annehmen dürfen", daß „diese zur Ehelosigkeit Verurteilten" (die Mädchen aus den gebildeten Ständen, denen die zu einer standesgemäßen Heirat erforderliche Mitgift fehlt) im allgemeinen über der Durchschnittsqualität der gesamten weiblichen Bevölkerung stehen. Soll also natürlich heißen: in geistiger Hinsicht; denn unmöglich konnte gemeint sein: physische Minderwertigkeit ist bei den Frauen der höheren Stände mehr verbreitet, außer bei denen, die wegen Mitgiftlosigkeit ehelos bleiben. Dann müßte sie bei dem heiratenden Teil noch ärger verbreitet sein, und wenn dann Ehen kinderarm bleiben, so wäre es um so mehr ein wahrer Segen für die Rassenhygiene! Das Hauptargument des Verfassers war aber gerade dies, daß die Kinderarmut der höheren Klassen (promiscue heißt es dafür auch: der gebildeten Stände) das Unheil sei. - In dem neuen Buche 1 ist nun freilich von 1

Dr. Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung. Zweite durchwegs umgearbeitete und vermehrte Auflage. Verlag von Gustav Fischer in Jena 1 9 1 0 .

15 „Daß aber physische Minderwertigkeit...

die v. Fircks anführt"-. Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 :

133; den Einschub „ . . . in Kopenhagen in dem Jahrzehnt 1 8 6 5 / 7 4 hervorzugehen . . . " hat Tönnies ausgelassen. Die Bezugsstelle bei Fircks ( 1 8 9 8 : 1 7 8 ) lautet: „Bei männlichen Personen sinkt die Sterblichkeit mit der Zunahme des Wohlstandes und der damit zusammenhängenden besseren Lebenshaltung, dagegen ist sie bei weiblichen Personen der wohlhabenden Klassen schon vom 2 5 . Jahre ab höher als bei den weiblichen Personen des Mittelstandes.". 20 Seiten vorher der Satz ... weiblichen Bevölkerung 30 Zweite durchwegs

umgearbeitete

stehen: Vgl. Schallmayer, ebd.: 129.

und vermehrte Auflage: Fußnote fehlt in A.

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

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jener physischen Minderwertigkeit nicht mehr die Rede, sondern nur noch von einem „schwächlichen Gesundheitszustand", der bei den Frauen der oberen Gesellschaftsschichten mehr verbreitet sei, und dieser sei zum Teil wohl die Folge unhygienischer Lebensweise (die Lebensweise der Fabrikarbeiterin ist natürlich hygienischer!), „vielleicht aber auch" daraus zu erklären, daß sie, „besonders in den ersten Kinderjähren, einer minder scharfen Lebensauslese unterworfen waren". Vielleicht trage auch dieser Umstand etwas zu der Unfruchtbarkeit jener Klasse bei. Obgleich das ganze Kapitel (jetzt VIII) durchweg etwas vorsichtiger abgefaßt und, wenigstens dem Umfange nach, etwas besser begründet ist, so wäre das Wort »Vielleicht« doch noch erheblich öfter am Platze gewesen; denn es wimmelt noch von unkritischer »Statistik«. Ich wollte aber nur darauf aufmerksam machen, wie der Verfasser sich mir gegenüber verhält, und gab davon ein Beispiel. Es ist einfach unwahr, daß ich in jener Beziehung eine Doktrin vorgebracht habe, die der Galtonschen »Annahme« entgegengesetzt wäre. Ich habe die Schwäche und Konfusion der Schallmayerschen Doktrin bloßgelegt (seine fleißigen Kompilationen in Ehren!). Allerdings vertrete ich die Ansicht, daß »durchschnittlich« und »im allgemeinen« - so limitiert er ja selber fortwährend seine Voraussetzungen - die städtische, insbesondere großstädtische Einwohnerschaft, physisch schlechtere, intellektuell bessere »Erbanlagen« in sich trägt und fortpflanzt, als die große Menge der Landbevölkerung, daß also ihre schwache Vermehrung in bezug auf die physischen Rassequalitäten dem Naturprozeß einer konservativen Auslese allerdings entspricht (die freilich mit der Abstammungslehre nichts zu tun hat). Gedankenlos hatte der Verfasser der Preisschrift über den Unterschied physischer, intellektueller und moralischer Anlagen hinweggesehen; jetzt (in dieser zweiten Auflage) unterscheidet er wenigstens überall zwischen »psychischen« und »sanitären« Anlagen (was terminologisch sehr schlecht ist; denn die sanitäre Beschaffenheit bezieht sich ebensowohl auf psychische wie auf physische Anlagen!). Er meint (S. 2 2 0 ) , man gehe schwerlich fehl, wenn man bei der städtischen Bevölkerung ... ein höheres Durchschnitts-

7 „besonders in ersten Kinderjahren

... unterworfen waren": Die Stelle lautet bei Schallmayer

(1910: 2 3 5 ) im Zusammenhang: „Bei den Frauen der oberen Gesellschaftsschichten ist — zum Teil wohl infolge unhygienischer Lebensweise, vielleicht aber auch, weil sie, besonders in den ersten Kinderjahren, einer minder scharfen Lebensauslese unterworfen waren ein schwächlicher Gesundheitszustand mehr verbreitet als bei den Frauen der unteren Schichten, wie auch die Sterblichkeit der ersteren größer ist.".

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

niveau der »psychischen« Erbbegabung annehme, als bei der Landbevölkerung. Und der vorhergehende Satz lautet: „Wenigstens bis vor kurzem waren auch die hygienisch ungünstigen Zustände in den Städten, darunter besonders die Wohnungsverhältnisse, in hohem Maße mitschuldig an einem Sinken des Durchschnittsniveaus »von wertvollen psychischen Erbanlagen« der Gesamtbevölkerung." In der ersten Auflage dagegen (S. 135): „Bis vor kurzem waren auch die hygienisch ungünstigen besonderen Zustände in den Städten in hohem Maße mitschuldig an einem Sinken »des generativen Durchschnittsniveaus« der Gesamtbevölkerung." Bei hoher Sterblichkeit, niedriger Geburtenziffer, heißt es dann weiter, mußte die Verschiebung des Verhältnisses zugunsten der städtischen Bevölkerung „nicht wenig zu einer Schädigung des Volkskörpers beitragen, und zwar hauptsächlich zu einer qualitativen, da es durchschnittlich die besseren Köpfe sind, die sich in den Städten ansammeln". Weiter wurde dann aus der Verringerung des Unterschiedes städtischer und ländlicher Sterblichkeit gefolgert: „In diesem Punkte hat also unsere Kultur die Fähigkeit bewiesen, ein fressendes Geschwür am Volkskörper, das sie bewirkt hat, auch wieder zur Heilung zu bringen!!" (S. 137.) In der neuen Ausgabe folgt auf die erwähnten Sätze: „Soweit nach den Ergebnissen der Rekrutenaushebung und nach der Sterblichkeitsstatistik sanitäre Minderwertigkeit der städtischen Bevölkerung im Vergleich mit der ländlichen »überhaupt noch« besteht, ist dies »wahrscheinlich« mehr durch ungesundere Lebensweise und mannigfach hygienisch ungünstigere Lebensbedingungen der Städte, als durch schwächere sanitäre Erbanlagen verursacht. Mit zunehmender Sanierung der Großstädte ist der sanitäre Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung immer kleiner geworden und zum Teil hat er sich sogar schon zugunsten der ersteren gewendet. Wir sehen »also nicht viel Grund«, die sanitären Erbanlagen der städtischen Bevölkerung für »nennenswert« schwächer zu halten, als die der ländlichen" (S. 221,

i »psychischen«:

Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 2 2 0 f. In A steht das Wort zwischen Asterisken.

Dasselbe gilt für die beiden Passagen zwischen den Sonderzeichen ( » . . . « ) in den folgenden Zitaten. 14 „nicht wenig zu einer Schädigung

... ansammeln":

Vgl. Schallmayer 1 9 0 3 : 135.

18 „In diesem Punkte ... Heilung zu bringen!!"-. Vgl. ebd.: 137. Die Ausrufezeichen sind von Tönnies hinzugefügt. 29 „Soweit nach den Ergebnissen

... der ländlichen":

Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 2 2 1 . Die

Passagen zwischen den Sonderzeichen im Zitat sind in A durch Asterisken und bei Schallmayer nicht hervorgehoben.

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und dazu gehört dann die Anmerkung, worin die Galtonsche »Annahme« verarbeitet und ich beschuldigt werde, für die entgegengesetzte Doktrin ... keine Spur von Beweis erbracht zu haben). Man merkt aus den hervorgehobenen Ausdrücken deutlich, wie neu und unbequem ihm der ganze Gesichtspunkt gewesen ist. Natürlich muß er sich bemühen, ihn als unerheblich darzustellen. Dazu müssen dann die Beobachtungen an Schulkindern herhalten, von denen besonders diejenige von Reitz unterstrichen wird, daß im »allgemeinen« (bei 2 0 400 Schülern von 9 - 2 0 Jahren an verschiedenen Mittelschulen) die körperlich bestveranlagten Schüler zugleich die am weitesten in der Schule vorgeschrittenen und die minder befähigten auch die körperlich zurückgebliebenen sind. Für die Frage der relativen körperlichen und relativen geistigen Beschaffenheit der geborenen Großstädter (unter denen wieder die Nachkommen geborener Großstädter zu unterscheiden wären) bedeuten diese Enqueten nichts. Ich halte die erheblich größere Häufigkeit angeborener Defekte (besonders skrofulöser und rachitischer Art) unter großstädtischen Kindern - und zwar, obgleich so viele Kinder aus diesen Ursachen frühzeitig zugrunde gehen - , verglichen mit solchen ländlichen und kleinstädtischen Bezirken, in denen nicht besondere Ursachen, wie Fabrik- und Heimarbeit oder Dürftigkeit des Bodens oder konsanguine Ehen durch Generationen deteriorierend gewirkt haben, für eine völlig gewisse Tatsache, welche Ursachen sie immer haben möge, und diese sind ohne Zweifel mannigfach; auch die Leugner der Vererbung erworbener Schäden müssen das häufige Vorkommen von Keim-Infektionen zugeben. Daß an den so viel ungünstigeren Ergebnissen der Aushebung die »sanitären Erbanlagen« keinen »nennenswerten« Anteil haben, mag dem Herrn Schallmayer noch so »wahrscheinlich« sein, in sich ist es sehr unwahrscheinlich. Die Weismannsche Dogmatik, die Herr l dazu gehört dann die Anmerkung:

Vgl. Schallmayer (ebd.: 2 2 1 f., Fn.) mit einem Verweis

auf Galton 1 9 0 4 : „Tönnies vermochte für seine entgegengesetzte Doktrin [zu der Galtons, „daß günstige psychische Begabungen verhältnismäßig besonders oft mit günstigen sanitären Erbanlagen vereinigt vorkommen", ebd.], die er als Kritiker mit dem Ton der Unfehlbarkeit vorgebracht hat, keine Spur von Beweis zu erbringen, auch nicht in seiner langatmigen und sehr gehässigen Antwort auf meine höfliche Antikritik ... Die Gehässigkeit war dadurch verursacht, daß ich ihn zwang, sein Inkognito als Konkurrent

um den

Preis, der meiner Arbeit zuerkannt wurde, preiszugeben. In dieser Arbeit hatte ich übrigens nichts weiteres vorausgesetzt, als daß tüchtige sanitäre und tüchtige geistige Anlagen ebensowohl miteinander vereint wie nicht vereint vorkommen. Aber kritischer Übereifer trübte sein Auffassungsvermögen.". 7 Reitz: Richtig: Rietz; vgl. Schallmayer (ebd.), der sich nicht auf Rietz selbst bezieht, sondern als seine Quelle ein Referat des Artikels von Rietz angibt (vgl. Hovorka 1906).

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Schallmayer uns aufnötigt, stellt freilich die Zumutung zu glauben, daß ein Mann und eine Frau, die beide ursprünglich mit normalen Atmungsorganen ausgestattet, beide durch Infektion tuberkulös werden, auch dann noch dieselben Chancen haben, gesunde Kinder zu erzeugen, wie ein ebenso gesund geborenes und auch gesund gebliebenes Paar - wers glauben will, der glaube es! Ich wage aber vorauszusagen, daß keine zehn Jahre vergehen werden, da wird niemand mehr zu denen gehören wollen, die sich zu solcher „reinen Lehre" der Neo-Darwinisten bekannt haben. Aber dies nebenbei! Herr Schallmayer spricht auch mehrfach von den Aushebungsergebnissen. S. 186 sind diese „im allgemeinen auch jetzt noch (in den Städten) erheblich ungünstiger als auf dem Lande"; es wird zugegeben, daß ein Teil der äußeren Einflüsse, welche die Unterschiede verursachen, wirklich degenerativer Art sei, z. B. die in der städtischen Bevölkerung erheblich häufigere Syphilis. „Soweit jedoch die Unterschiede durch ... Milieuverhältnisse verursacht sind, werden ... die Erbsubstanzen der Individuen und somit die Rassequalität davon schwerlich berührt." S. 221 heißt es, wie wir schon sahen: „Soweit nach den Ergebnissen der Rekrutenaushebung und nach der Sterblichkeitsstatistik sanitäre Minderwertigkeit der städtischen Bevölkerung ... »überhaupt noch« besteht" - sie wird also, während sie eben noch erheblich war, flugs auf ein Minimum herabgedrückt, leider nur in der Vorstellung des Herrn Schallmayer. Man merke aber wohl! Das Argument ist hier: die überdurchschnittliche Sterblichkeit der Städtebewohner (neben ihrer niedrigen Geburtenziffer) bedeute eine nicht geringe Schädigung der Erbkonstitution eines Volkskörpers - das wird freilich nunmehr, sehr in Abweichung von der ersten Ausgabe, auf die guten psychischen Erbanlagen beschränkt, „einschließlich der Anlagen zu guten Charaktereigenschaften, wie Willenskraft, Fleiß usw."; die Häufigkeit dieser Anlagen sei für eine Nation ganz besonders wertvoll. (Auf Gesundheit und körperliche Tüchtigkeit kommt es nun also weniger an!) Es folgen dann aber (wie in der ersten Auflage) drei Seiten voll von Notizen über die Besserung der Sterblichkeit der Städte, besonders der Großstädte, in neuerer Zeit, und daraus wird dann die alte Folgerung gewonnen: „Die Städte hören also allmählich auf, fressende Geschwüre am Volkskörper zu sein." (Das wäre unter allen Umständen, auf »die 16 „Soweit jedoch die 19 »überhaupt noch«: gehoben. 27 „einschließlich der 34 „Die Städte hören

Unterschiede ... schwerlich berührt.": Vgl. Schallmayer 1910: 186. In A zwischen Asterisken; bei Schallmayer (1910: 221) nicht hervor Anlagen ... Fleiß usw.": Vgl. ebd.: 222. ... Volkskörper zu sein.": Vgl. ebd.: 224.

XTV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

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Städte« oder auch nur die »Großstädte« allgemein bezogen, ein übermäßiger Ausdruck!) Diese große, eminente Besserung und Heilung wird also woraus erschlossen? Aus der Abnahme der allgemeinen Sterblichkeitsziffer der Großstädte! Nur ein völlig Unkundiger kann diese Schlußfolgerung sich gestatten2! Keine Ahnung hat er davon, daß die allgemeine Sterblichkeit in hohem Grade bedingt ist durch Altersklassenverteilung (den »Altersaufbau«) einer Bevölkerung, und daß die Minderung der städtischen Sterblichkeiten zu einem guten Teile einfach die Folge davon ist, daß die Altersklasse 0/5 relativ minder zahlreich geworden ist, und je größer die Stadt, um so größer die Minderung; in Berlin war diese Altersklasse 1880 2

Die Vergleichung der allgemeinen Sterbeziffer in Stadt und Land gibt geradezu ein Schulbeispiel für das Unheil der Statistik, wenn sie ohne Kritik und Kenntnis angewandt wird, wie es alle Tage geschieht; und freilich - obgleich überall, auch in Staatsschriften und Parlamenten, Statistik mit vollen Händen ausgestreut wird, so geschieht, weder von Staats wegen noch sonst, irgend etwas zu ihrer Pflege und Förderung, für systematischen Unterricht, für wissenschaftliche Ausbildung von Statistikern; man könnte meinen, daß diese mehr gefürchtet als gewünscht werde. Was jene Vergleichung betrifft, der die preußische Statistik vorzugsweise dient, um den angeblichen Ausgleich, städtischer und ländlicher Sterblichkeit darzutun, so fällt zunächst ins Gewicht, daß die amtliche preußische Statistik den verwaltungsrechtlichen Begriff der Stadt zugrunde legt, und daß es 1905 in Preußen 1106 Landgemeinden und Gutsbezirke mit je über 2000, zusammen mit 5 447 751 Einwohnern gab, dagegen 295 Städte mit je unter 2000, zusammen mit 406 214 Einwohnern; in der deutschen Reichsstatistik würden jene fast 5Vi Millionen als Stadtbewohner, diese 406 Tausend als Landbewohner gerechnet. Übrigens kommt außer dem Altersaufbau den Städten auch als für die Sterblichkeit günstiges Moment der Umstand zugute, daß sich immer mehr der Reichtum und Wohlstand in ihnen versammelt, und daß die kommerzielle Klasse, wie die freien Berufe (Beamte, auch Privatbeamte) stärker als das industrielle Proletariat in ihnen wächst, während dieses immer massenhafter in Fabrikdörfern aufgehäuft wird. Diese - zumal solche mit polnischer Bevölkerung - ragen auch noch durch Fruchtbarkeit hervor, und die Sterblichkeit ihrer Kinder erhöht natürlich die allgemeine Sterblichkeit.

2 ein übermäßiger Ausdruck: In A: ein stark outrierter Ausdruck. 10 in Berlin war diese Altersklasse: Die Zahl von 12,5 % für 1880 kann nach Angaben in der Tabelle „Ortsanwesende Bevölkerung nach Alter und Familienstand" (Königliches statistisches Bureau in Berlin, 1883: 78 ff.) errechnet werden. Die Zahl für 1905 lässt sich errechnen aus der Tabelle „Die ortsanwesende Bevölkerung nach Alter, Geschlecht und Familienstand" (Königlich statistisches Landesamt in Berlin, 1908: 1, 202 f.). 19 die amtliche preußische Statistik: Vgl. für die folgenden Zahlen: Statistisches Jahrbuch für den Preussischen Staat 4.1906: 5: „Die ortsanwesende Bevölkerung am 1. Dezember 1905 nach ihrer Verteilung auf die Städte und das Land.". - Die dort ausgewiesene Zahl für die Städte ist 406.215 Einwohner. 23 deutschen Reichsstatistik: Vgl. hier die Definition des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich in der Tabelle „Die Bevölkerung in Stadt und Land am 1. Dezember 1900" (27. 1906: 4).

436

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

noch ca. 12, 1905 nur noch 8,7 von hundert Einwohnern stark; und die Sterbefälle, die auf diese Altersklasse entfallen, machten im Deutschen Reiche 1901 46%, 1908 noch 40,7 von hundert Sterbefällen überhaupt aus (die Quote, in Großstädten geringer, vermindert sich auch in der Gesamtheit, je mehr diese großstadtähnlich wird). Ohnehin muß die Säuglingssterblichkeit die Tendenz zur Abnahme dadurch prästieren, daß die Kinderzahl kleiner wird, denn sie ist bei späteren Kindern regelmäßig höher als bei früheren (außer daß die Erstgeborenen etwas hinfälliger sind als die zweiten), aus leicht erkennbaren Ursachen 3 . Gewiß ist, daß auch sonst eine Verminderung der Sterblichkeit, besonders in den größeren Städten, stattgefunden hat, und daß an dieser Wirkung die Hygiene, vor allem aber die verbesserten Lebens- und Wohnzustände eines großen Teiles der Arbeiterklasse erheblichen Anteil haben. Herr Schallmayer, der nur von der allgemeinen (unkorrigierten) Sterbeziffer weiß 4 , leitet daraus die »gute Aussicht« ab, daß die städtische Sterblichkeit der ländlichen gleichkommen und vielleicht unter sie herabgehen werde. Diese gute Aussicht kann ihn aber „doch nicht recht befriedigen, angesichts der rapid sinkenden Fruchtbarkeit der städtischen und insbesondere der großstädtischen Bevölkerung" (S. 225). „Fruchtbarkeitsauslese einst und jetzt", »Ehelosigkeit«, »Heiratsalter«, „absichtliche Kleinhaltung der Geburtenzahl" - diese Abschnitte sollen dann die „Umkehrung der natürlichen Fruchtbarkeitsauslese" dartun. „Auch die unterdurchschnittliche Fruchtbarkeit der städtischen Bevölkerung gehört hierher, wenn man ... ihr ein etwas überdurchschnittliches Niveau psychischer Erbanlagen und ein nicht 3

Die »Alterspyramide« weist in größeren Städten immer mehr die Zwiebelform auf, d. h. die »sterbefestesten« (Mayr) Lebensalter sind in ihnen übermäßig stark vertreten.

4

Eine richtige Ansicht zu gewinnen, hätte er nur nötig gehabt, das treffliche Buch von Prinzing,

„Medizinische Statistik" (das im gleichen Verlage mit seinem Werke 1 9 0 6

erschienen ist und sogar dreimal in dessen neuer Auflage zitiert wird) aufzuschlagen, wo er S. 4 5 3 ff. das Material für ein richtigeres Urteil gefunden hätte. 3 im Deutschen

Reiche: Vgl. für 1901 die Tabelle „Die Gestorbenen (ohne die Totgebore-

nen) des Jahres 1 9 0 1 nach dem Alter" (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 2 4 . 1 9 0 3 : 2 4 ; für 1908: „Die Gestorbenen (ohne die Totgeborenen) des Jahres 1 9 0 8 nach dem Alter" (ebd.: 3 1 . 1 9 1 0 : 23). 19 „ . . . und insbesondere

der großstädtischen

Bevölkerung":

Bei Schallmayer ( 1 9 1 0 : 2 2 5 )

leicht abweichend: „... und besonders der großstädtischen Bevölkerung". 25 Zwiebelform:

zum „zwiebelartigen Altersaufbau" in den Städten vgl. Mayr ( 1 8 9 7 : 7 7 u.

81). Der Ausdruck „sterbefeste" Jahrgänge ist dort nicht nachgewiesen. 28 „Medizinische

Statistik": Vgl. das Kapitel „Sterblichkeit in Stadt und Land" in Prinzing

( 1 9 0 6 : 4 5 2 ff.).

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

437

nennenswert schlechteres in bezug auf die sanitären Erbkonstitutionen zuschreiben darf." Ich mache wiederum darauf aufmerksam, daß Herr Schallmayer die Unterscheidung verschiedener Erbanlagen offenbar von mir entlehnt hat, nachdem er in der ersten Auflage ausschließlich mit dem vagen Begriff des generativen Durchschnittswertes operiert hatte. Das Niveau der Großstädter ist also „nicht nennenswert schlechter" in bezug auf die sanitären Erbanlagen - also doch ein ganz klein wenig schlechter? Etwas vorsichtiger noch hatte er früher gemeint, wir hätten „nicht viel Grund", die sanitären Erbanlagen der städtischen Bevölkerung für nennenswert schwächer zu halten - also doch einigen Grund, sie sogar für »nennenswert« schwächer zu halten?! Und wenn sie auch nicht nennenswert, nur ein ganz klein wenig schlechter sind, so weiß doch Herr Schallmayer sehr wohl, daß gerade die ganz kleinen Abweichungen für die Zuchtwahl entscheidend wirken, weil die Verbindung zweier solcher Individuen sie alsbald steigern muß, wie denn auch sonst aus den „nicht nennenswert" großen Differenzen durch Kumulierung die allergrößten Unterschiede werden. Darwin hat seine ganze Lehre darauf aufgebaut, und betont fortwährend, daß durch natürliche wie künstliche Zuchtwahl unmerklich kleine Variationen gehäuft werden; worin, wie sich versteht, jene unvergleichlich mehr leistet. „Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist" (Darwin, Entstehung, Kap. 4, S. 105, Carus 1876). Danach stände die Kulturerscheinung, daß die Städter sich schwach fortpflanzen, entgegen der Sckallmayersehen Hauptthese, durchaus im Einklänge mit den Regeln der natürlichen Auslese; sie bedeutete, daß diese die, wenn auch noch so geringe Abweichung der Städter in bezug auf „sanitäre Erbkonstitution" für schlecht halte und sie verwerfe - und dies dürfte in einigem Maße den Tatsachen entsprechen, nur daß die physische Minderwertigkeit der Großstädter und im allgemeinen der industriellen Arbeiter keineswegs gering, sondern recht bedeutend ist; „nicht nennenswert" hat sie nur das Vorurteil Schallmayers gemacht, der den Boden unter seinen Argumentationsfüßen wanken fühlte und einen Unterschied, den er nicht verschweigen kann, ebenso verkleinert, wie das arme, geängstigte Mädchen ihr neugeborenes 2 „Auch die unterdurchschnittliche

... Erbkonstitutionen

8 Etwas vorsichtiger noch hatte er früher gemeint:

zuschreiben

darf.": Vgl. ebd.: 2 4 2 .

Tönnies bezieht sich auf Schallmayer

( 1 9 1 0 : 221). 23 „Man kann figürlich ... sie gut ist": Vgl. Darwin 1 8 7 6 : 1 0 5 ; Hervorhebung von Tönnies.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Kind gegenüber dem Pfarrer. Denn er muß ja seine Behauptung zu retten versuchen, die ursprünglich sogar eine naive Voraussetzung war, daß »psychische« und »sanitäre« Erbanlagen - gemeint sind intellektuelle und physische - immer parallel laufen, daß also der Begriff der »wertvollen« Anlagen schlechthin eindeutig sei. Auf die Frage, die ich ihm ferner unter die Augen gerückt habe, wie es denn mit dem Verhältnisse der moralischen zu den intellektuellen und physischen Anlagen bestellt sei, ist er nicht weiter eingegangen, als daß er in den psychischen Erbanlagen, deren Träger sich vorzugsweise in den Städten versammeln, die „Anlagen zu guten Charaktereigenschaften, wie Willenskraft, Fleiß usw." eingeschlossen sein läßt; daß mit diesen Charaktereigenschaften der härteste Egoismus, die roheste Lüsternheit, die niederträchtigste Treulosigkeit, kurz Eigenschaften, die den geborenen Gauner und moralischen Lumpen bezeichnen, nicht nur verbunden sein können, sondern gar sehr oft verbunden sind, weiß offenbar Herr Schallmayer nicht, oder hält es seiner Überlegung nicht für würdig. - Aber die Erörterung über Auslesewirkungen der Kriege und der Wehrpflicht kehrt wieder, wenn auch in modifizierter Gestalt. Ich habe in meiner Replik (S. 509) es für „sehr fragwürdig" erklärt, ob die Dienstpflicht einen kleinen nachteiligen Einfluß in dieser Hinsicht habe (gemeint ist, wie auch bei meinem Gegner: unter heutigen Verhältnissen, wie im Deutschen Reich). Ich führe an, als ein Moment, das „jedenfalls dagegen stehe", daß „der Militärdienst »bekanntlich« für den Erfolg der Männer beim weiblichen Geschlechte geradezu eine Prämie" bedeute; und füge noch hinzu, daß die Anwesenheit einer Garnison, ebenso wie Manöver, sehr stark auf außereheliche Propagation wirke. Was macht daraus Herr Schallmayer? Er zitiert zu seiner Bestätigung einen Ausspruch des Russen / . Novicow (der freilich etwas mehr Grund hat, wenn er an die vierjährige, teils fünfjährige Dienstzeit der Russen denkt). Dann folgt: „Aber nach F. Tönnies z. B. hätten die Soldaten nicht nur dieselbe, sondern sogar noch viel größere Leichtigkeit der Fortpflanzung 10 „Anlagen

zu guten Charaktereigenschaften,

wie Willenskraft,

Fleiß usw.": Vgl. Schall-

mayer 1 9 1 0 : 2 2 2 . 18 meiner Replik: Vgl. Tönnies 1 9 0 7 a und in diesem Band S. 3 6 0 . 23 „jedenfalls dagegen ... geradezu eine Prämie": Vgl. oben, S. 3 5 9 . Tönnies zitiert sich selbst nicht ganz wörtlich. In A steht das Wort »bekanntlich« zwischen Asterisken. 27 Ausspruch

des Russen ]. Novicow:

„Man wird sicher nicht behaupten wollen, daß der

unter der Fahne stehende Soldat mit derselben Leichtigkeit Kinder zeugen kann, wie der im bürgerlichen Leben gebliebene Zivilist" (Novicow: Der Krieg und seine angeblichen Wohltaten, Leipzig 1 8 9 6 , S. 32; zitiert nach Schallmayer 1 9 1 0 : 2 6 3 , Fn. Der zitierte Band konnte nicht eingesehen werden).

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

439

als Zivilisten. Freilich geschah diese Behauptung im Kritiker-»Amt«, und zwar in einem Falle, wo es ihm an persönlicher Unbefangenheit gebrach. Er bringt für sie keinen anderen Beweis, als das viel mißbrauchte, bequeme Wörtchen »bekanntlich« (S. 263 Anm.)." Die Schwäche seines Intellektes, die unfähig ist zu verstehen, was ein Moment in einer Argumentation bedeutet, kann ich Herrn Schallmayer hier nicht zugute halten 5 . Ich komme allerdings, aus Gründen, zu der Folgerung, es sei viel wahrscheinlicher, daß der Dienst auf Verfrühung als auf Verspätung des Heiratsalters hinwirke, „das ja nach unseren Sitten und sozialen Lebensbedingungen nur in etwa 13 % der Fälle für die Männer mit den regulären Jahren der Militärdienstzeit zusammenfällt". Von größerer Leichtigkeit der Soldaten als der Zivilisten, sich fortzupflanzen, habe ich mit keiner Silbe gesprochen; ich muß wiederum Herrn Schallmayer zur Ordnung und Wahrheit rufen. Ich hatte um so weniger Ursache, davon zu sprechen, da Herr Schallmayer selber nicht von Soldaten oder Zivilisten, sondern von der dienenden Hälfte und der nichtdienenden Hälfte gesprochen hatte. Ich habe dagegen, außer dem, was schon angeführt wurde, geltend gemacht, es sei wahrscheinlicher, daß der Dienst auf Verfrühung als auf Verspätung des Heiratsalters hinwirke (weil der Soldat regelmäßig seinen Schatz habe usw.), und fahre dann fort (S. 509): „Wie dem aber auch sei, jedenfalls ist die Meinung des Verfassers, daß die nicht dienende »Hälfte« sich stärker fortpflanze als die dienende, sehr schlecht, nämlich gar nicht begründet; sie ist aber auch sehr unwahrscheinlich. Auch wenn die Dienstpflicht einen kleinen nachteiligen Einfluß hätte (was ich für sehr fragwürdig halte), so wären doch die anderen Ursachen, die in entgegengesetzter Richtung wirken, um sehr vieles mächtiger." Dies wird dann näher begründet. Ich habe also den nachteiligen Einfluß gar nicht schlechthin geleugnet (sondern nur für unwahrscheinlich erklärt), geschweige denn den entgegenge5

„Wenn einem Unwahrheiten andichten, und diesen angedichteten Unwahrheiten die allertrivialsten Dinge entgegensetzen, einen widerlegen heißt, so versteht sich in der Welt niemand besser auf das Widerlegen als Herr - Klotz." Lessing, Antiquarische Briefe, 5. Brief.

4 „Aber nach F. Tönnies z. B. ... Wörteben

»bekanntlich«

(S. 263 Anm.)."-. Tönnies über-

nimmt einen Verweis Schallmayers in Klammern auf sich selbst ( 1 9 1 0 : 2 3 , Fn. auf ders., 1 9 0 8 ) nicht: „ . . . an persönlicher Unbefangenheit gebrach (siehe meinen Aufsatz ,Der Krieg als Züchter', S. 3 9 0 unten und 392). . . . " . 11 „das ja nach unseren Sitten ... Militärdienstzeit zusammenfällt"-. Selbstzitat Tönnies', vgl. hier S. 3 5 9 . 26 „Wie dem aber auch sei ... vieles mächtiger.": 31 Lessing, Antiquarische

Vgl. hier S. 3 5 9 f.

Briefe-, Vgl. Lessing 1878: 13/2, 15.

440

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

setzten Einfluß behauptet!! Aber das ist für die Fähigkeit logischer Unterscheidung, die Herr Schallmayer besitzt, schon zu fein. Ebenso ist es zu fein gewesen, was ich S. 515 dafür angedeutet habe, daß, selbst wenn die stärkere Fortpflanzung der „schlechteren Hälfte" tatsächlich feststünde, die Wirkung „gerade nach der vom Verfasser zugrunde gelegten Ansicht von der Vererbung und Auslese keineswegs so eindeutig wäre, wie sie in dem Buche dargestellt wird". Indessen, während er noch in der Antikritik (Jahrb. X X X , 2, S. 445) sich rühmte, seine schon 1891 aufgestellte These, daß bezüglich der sanitären und militärdienstlichen Tüchtigkeit der Bevölkerung unsere Wehrorganisation und die modernen Kriege eine der natürlichen Auslese gerade entgegengesetzte Auslesewirkung üben, habe überhaupt keinen Einwand, geschweige eine Widerlegung erfahren, so ist er in der neuen Auflage des Buches gerade mit dieser unwiderlegten These erheblich stiller geworden. Daß die Wirkung der Kriege nicht so einfach ist, hat er von einem ihm günstigen Kritiker (Steinmetz) gelernt, und in bezug auf die Wehrorganisation läßt er (in der Anmerkung S. 262) wenigstens als möglich zu, daß die Fortpflanzungsquote der Militärtauglichen in Wirklichkeit höher sei, als die der Militäruntauglichen und meint, wenn sich das herausstellen sollte, so wäre es durch den natürlichen Vorsprung zu erklären, den die zum Militärdienst Auserlesenen dank ihrer durchschnittlich besseren Gesundheit vor den Militäruntauglichen in bezug auf Fortpflanzung erlangen, „und es ließe sich nicht bestreiten, daß die Ausnutzung dieses natürlichen Vorzuges durch unsere militärische Auslese nur gemindert wird". Das wäre denn freilich, mit Reuters Amtshauptmann ut de Franzosentid zu reden, „eine andere Sache". Und doch heißt es im Texte (S. 260) nach wie vor: „Diese Einrichtung begünstigt die zum Kriegsdienste Untauglichen in der Fortpflanzung hauptsächlich dadurch, daß sie in die Lage versetzt werden, eher zu heiraten, als es den zum Militärdienst Ausgehobenen möglich wird." Nun hebt er aber wenigstens hervor, daß es sich hier nur um die negative Auslese »sanitärer« Erbanlagen handeln kann. Denn der vorhergehende Satz lautet: „Die belangreichste Verschlech-

7 „gerade

nach der vom Verfasser ... dargestellt wird": Vgl. hier, mit leicht veränderter

Wortstellung, S. 3 6 7 . 8 seine schon 1891 aufgestellte These: Vgl. Schallmayer 1 8 9 1 . 15 einem ihm günstigen Kritiker: Gemeint ist Steinmetz, 1 9 0 6 ; vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 2 5 0 , Fn. 24 „und es ließe sich ... Auslese nur gemindert

wird": Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 2 6 3 , Fn.

25 Reuters Amtshauptmann

Vgl. das Buch „Ut de Franzosentid" (1860)

ut de Franzosentid:

des mecklenburgischen Schriftstellers Fritz Reuter.

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

441

terung aber erfuhr die Individualselektion des Krieges durch die moderne Verteilung des Militärdienstes in Staaten mit allgemeiner Wehrpflicht, indem sie dessen Lasten und Gefahren nur dem sanitär tüchtigeren Teil der männlichen Jugend aufbürdet, während der etwa ebenso zahlreiche Rest, dessen Durchschnitt »an sanitären Erbqualitäten« sicher minderwertig und in anderer Hinsicht wenigstens nicht mehrwertig ist, von dieser und auch von anderer, etwas ausgleichender Belastung und Gefährdung frei bleibt." „Mindestens nicht mehrwertig" - das weiß Herr Schallmayer also gewiß; er muß es wohl wissen. Er weiß aber auch, daß insbesondere die Großstädter in besonders großen Mengen von dieser Belastung und Gefährdung frei bleiben. Diese frei bleibenden Großstädter sind also auch „in anderer Hinsicht mindestens nicht mehrwertig". Im allgemeinen war aber doch die städtische Bevölkerung überhaupt in intellektueller (und sogar in ethischer!!) Hinsicht mehrwertig; darum fand der Verfasser es ja so erfreulich, daß die allgemeine Sterbeziffer der Städte sich vermindert habe; und weil »übrigens« (S. 222) für eine Nation die Häufigkeit an guten psychischen Erbanlagen (einschließlich der Anlagen zu guten Charaktereigenschaften) „ganz besonders wertvoll" sei; weil man aber annehmen dürfe, daß es im ganzen die energischeren, unternehmenderen und geweckteren Köpfe sind, die sich in den Städten versammeln, so bedeutete es eine nicht geringe Schädigung der »Erbkonstitution« eines Volkskörpers, wenn die städtische Bevölkerung einer größeren Sterblichkeit unterworfen sei als die Gesamtbevölkerung; ja er fürchtet (S. 225), wenn die starke Abnahme der städtischen Geburtenzahl noch eine Zeitlang so weitergehe, so werde trotz sinkender Sterblichkeit das Fortpflanzungsdefizit der Städter wieder wachsen, anstatt zu verschwinden. Fürchtet es, weil eben die Städter „in bezug auf psychische Anlagen mehrwertig" sind. Aber die militärfreibleibenden Großstädter sind „in anderer Hinsicht" (d. h. aber hier: in bezug auf psychische Anlagen) mindestens nicht mehrwertig (eher auch in dieser Hinsicht minderwertig; eher, d. i. es würde dem Herrn besser in den Kram passen). Nicht mehrwertig im Vergleiche mit den ausgehobenen Großstädtern - das könnte ja sein, Herr Schallmayer muß es wissen - , aber auch nicht im Vergleich mit der ausgehobenen Masse von Städtern und Landbewohnern, die erfahrungsgemäß so viel stärker in der »dienenden Hälfte« vertreten sind? Also nur die ausgehobenen Städter zeichnen sich vor

8 „Die belangreichste

Verschlechterung...

Gefährdung

frei bleibt.": Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 :

2 6 0 . Der Ausdruck zwischen den Sonderzeichen (»...«) steht in A zwischen Asterisken und ist bei Schallmayer nicht hervorgehoben.

442

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

den Landbewohnern durch bessere »psychische Anlagen« aus, die frei bleibenden nicht? Dann braucht also Herr Schallmayer nur um die Minorität unter den Städtern, nämlich um die zum Militärdienst herangezogenen jungen Männer wegen ihrer Sterblichkeit, ihres Heiratsalters, ihrer Fortpflanzung und Nettofruchtbarkeit besorgt zu sein; die übrigen Städter, insbesondere Großstädter, sind ja „an sanitären Erbqualitäten sicher minderwertig" und „in anderer Hinsicht mindestens nicht mehrwertig"! Im Gegenteil: diese Mehrheit unter den Großstädtern kann sich nicht genug beeilen mit dem Sterben; ihre Fortpflanzung und Nettofruchtbarkeit müßte auf ein Minimum herabgedrückt werden; unbeabsichtigt oder beabsichtigt (Geschlechtskrankheiten oder Präventiw e r kehr) muß die Verringerung ihrer Geburtenzahl ebenso als ein Segen gepriesen werden, wie die Verminderung ihrer Säuglingssterblichkeit unwillkommen sein muß. Aber nein; wir kennen ja des geehrten Herrn Ausrede im voraus. Wenn es ihm nicht in den Kram paßt, daß irgendwelche Mängel vererblich sind, so erklärt er sie für erworben - dann affizieren sie ja, nach Weismanns und seiner Theorie, das Keimplasma nicht-, er macht also das Milieu dafür verantwortlich. „Deshalb sind auch die Unterschiede in den Aushebungsergebnissen von Stadt und Land, die eine Zeitlang recht groß waren (!), »weit davon entfernt«, als Maßstab für städtische und ländliche Rassetüchtigkeit gelten zu können, obwohl ein Teil der äußeren Einflüsse ... wirklich degenerativer Art ist" (S. 186) 6 . Folgt Exempel der Syphilis. „Soweit jedoch die Unterschiede durch die äußeren Entwicklungsbedingungen der Jugend, die Berufstätigkeit der Erwachsenen und andere ... Milieuverhältnisse verursacht sind, werden, wie dargelegt wurde, die Erbsubstanzen der Individuen und somit die Rassequalität davon schwerlich berührt." Die militäruntauglichen Städter dürfen also ihre Qualitäten ruhig vererben; wie verkümmert und verkrüppelt sie sein mögen, ihre Erbsubstanzen bleiben gut. Nur die Städter? Ist es ein Privileg der Stadtgeborenen, daß ihre Mängel bloß erworben, also unerblich sind? Oder muß doch gerechterweise auch den Landgeborenen Nachsicht gewährt 6

Man darf natürlich nicht erwarten - bei der Unkenntnis der Statistik, die den Verfasser charakterisiert - , die wichtigen Ergebnisse der G. Etherischen Untersuchung verwertet zu finden, obgleich diese schon in dem Anfang März 1 9 0 9 publizierten Statistischen Jahrbuch für den preußischen Staat (Nachtrag IV) dargestellt sind.

20 »weit davon entfernt«-. In A mit Asterisken und ist bei Schallmayer nicht hervorgehoben. 27 „Soweit jedoch die Unterschiede 33 Evertschen

... schwerlich berührt."-. Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 186.

Untersuchung-. Vgl. Evert 1 9 0 8 .

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

443

werden, so daß eben die Aushebungsergebnisse auch für deren Erbsubstanz nichts beweisen? Wir werden Herrn Schallmayer nicht die Absurdität zutrauen, behaupten zu wollen: die Fehler, wegen deren die Landgeborenen kassiert werden, sind erblich, diejenigen, wegen deren die Stadtgeborenen kassiert werden, unerblich, sondern seine Meinung ist natürlich generell: die Qualitäten, die militäruntauglich machen, haben zum größten Teil für die Rasse keine Bedeutung. Aber wozu dann die Aufregung über den Vorsprung der Untauglichen im Heiratsalter usw. usw.? Eine Aufregung, die doch noch gegen Ende des Buches zur Empfehlung der Wehrsteuer herhalten muß („in Anbetracht der S. 2 6 0 f. erörterten kontraselektorischen Wirkungen der bei uns geübten Verteilung der Militärlasten", S. 424), wenn auch die Begründung dafür von 3 - 4 auf eine Seite zusammengeschrumpft ist! Natürlich muß auch umgekehrt gelten: viele von den Qualitäten, die Militärtüchtigkeit begründen, sind der Gunst des Milieus, gesunder Beschäftigung, guter Ernährung usw. zu verdanken, geben also keine Aussicht auf Vererbung. Ausdrücklich bestätigt es unser Autor in bezug auf gewisse Merkmale (S. 187: „Worauf es ankommt, ist, daß die durch Besserung der wirtschaftlichen Wohlfahrt und durch Fortschreiten der Volkshygiene bewirkte Zunahme der »Lebensdauer« und der »Körperlänge« sogar mit Rasseverschlechterung * leicht* Hand in Hand gehen kann").

XVII. „Daß geistige Tüchtigkeit mit leiblicher vereint das Ziel jeder auf menschliche Gesellschaften angewandten Züchtungspolitik sein muß, würde uns selbstverständlich erscheinen, wäre nicht durch einwurfsbeflissene Kritiker der Beweis erbracht, daß man auch hierin anderer Meinung sein kann." So beginnt der erste Abschnitt im XIV. Kapitel (2. Aufl.) unter dem Stichwort »Züchtungsziel«. Natürlich bin auch hier (neben anderen) ich gemeint. Ich soll es »für« eine ausgemachte Tatsache betrachten, daß man immer nur 20 »Lebensdauer« ... »Körperlänge«:

In A mit Asterisken und bei Schallmayer nicht hervor

gehoben. 22 XVII.:

In A: X X I .

26 „Daßgeistige

Tüchtigkeit...

28 (neben anderen):

anderer Meinung sein kann.": Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 3 7 1 .

Schallmayer (ebd.) nennt M a x Nordau und Havelock Ellis. Siehe zu

Letzterem Tönnies' Rezension von dessen „Geschlecht und Gesellschaft" (TG 9, S. 5 9 3 5 9 9 , zuerst Tönnies 1912a).

444

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

eine Eigenschaft auf Kosten der anderen züchten kann, und ich soll den »Züchtungspolitikern« vorgeworfen haben, daß sie dies nicht zu wissen scheinen. Zitat aus diesem Jahrbuch 1905, H. 3, S. 278 f. unter »Eugenik« V. hier S. 455 ff. In Wirklichkeit berichte ich dort über Einwände, die Delage und andere gegen Galton erhoben haben. Dann erst (S. 281 f.) gebe ich meine eigenen Anmerkungen in verkürzter Übersetzung wieder. Von diesen lautet „1. Physische, intellektuelle und moralische Tüchtigkeit sind das erwünschte Ziel" (daraus macht der gewissenhafte Schallmayer, ich sei einwurfsbeflissen anderer Meinung als er über das Ziel jeder Züchtungspolitik!!); diese Tüchtigkeiten ... variieren zwar nicht unabhängig voneinander, aber sie haben doch »auch« eine Tendenz, sich auszuschließen; namentlich ist bedeutender Verstand »oft« mit zarter Gesundheit, und »ebensooft« mit geringen sittlichen Qualitäten verbunden, und umgekehrt. Es bleibt unklar und ist doch, wie mir scheint, die große Frage, ob Eugenik einen dieser Vorzüge auf Kosten des oder der anderen begünstigen soll, und ob einer von ihnen unter allen Umständen „den Vorzug verdient" (daraus macht Herr Schallmayer, ich habe behauptet, daß man immer nur eine Eigenschaft auf Kosten der anderen züchten könnel). Ich beziehe mich dann ausdrücklich auf „meine Ausführungen gegenüber Schallmayer". Unklarheit hatte ich auch diesem zur Last gelegt. Unklarheit, was er eigentlich züchten oder vor Entartung bewahren wolle, insbesondere ob physische Tüchtigkeit oder intellektuelle; Unklarheit darüber, daß der „generative Wert" keine einfache und eindeutige Sache sei, daß dessen Merkmale wenigstens möglicherweise miteinander kollidieren, daß also, wenn die natürliche Auslese, die zuungunsten einer Gruppe von Anlagen - z. B. der physischen oder, wie Herr Schallmayer dafür jetzt sagt, der sanitären - wirken, sie möglicherweise eben dadurch andere Gruppen - wie z. B. die intellektuellen - begünstige und umgekehrt. Auf diese begriffliche Unterscheidung kam es an, das werden, wenn nicht Herr Schallmayer so doch seine Freunde und Anhänger hoffentlich einsehen; 4 unter »Eugenik« v. hier S. 455 ff.-. Der Verweis auf den Abdruck im vorliegenden Band fehlt selbstverständlich in A. 4 berichte ich dort-. In A: dort S. 2 7 8 - 2 8 1 . Die Seitenangabe bezieht sich auf Tönnies 1905, vgl. hier S. 462 ff. 5 (S. 281 f.): Vgl. hier S. 466. 17 diese Tüchtigkeiten ... Vorzug verdient"-. Die ganze Passage ist ein Selbstzitat Tönnies', vgl. hier S. 466. Die Ausdrücke zwischen den Sonderzeichen (»...«) stehen in A zwischen Asterisken. 17 daraus macht Herr Schallmayer: Vgl. Schallmayer 1910: 371. 30 hoffentlich einsehen: In A: hoffentlich kapieren.

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

445

daß ich meine, tatsächlich komme die Kombination guter Anlagen der einen mit schlechten der anderen Art häufig vor, ist zwar für das Gewicht dieses Argumentes wesentlich, aber doch in seinem Gehalte von sekundärer Bedeutung. Daß Herr Schallmayer in dem ganzen Texte seiner ersten Auflage nichts von der Möglichkeit eines Widerspruchs wußte, wollte ich ihm allerdings zum schweren Vorwurf machen; daß er in seiner Antikritik höchst naiv sich darauf beruft, es gehe aus verschiedenen Erörterungen hervor, daß er „speziell auch den ethischen Anlagen großen »Wert« beilege", veranlaßte mich zu einer Ausführung in meiner Replik (S. 503 ff.), worin ich betone, daß ich ihn auf diese Möglichkeit erst habe aufmerksam machen müssen; daß es sich wenigstens bei der Militärtauglichkeit von selbst verstehe, daß die „generativen Schätze" hier so gut wie ausschließlich die physisch tüchtige Beschaffenheit bedeuten und daß der Verfasser die so naheliegende Frage, ob die (angebliche) negative Auslese in dieser Hinsicht etwa, wenigstens teilweise eine günstige Auslese in anderer Hinsicht sein möge, gar nicht aufgeworfen habe. Danach beurteile man den Wert seines neuen Angriffes. Seine Antwort (in der Antikritik, S. 455) lautete, es scheine ihm das Richtigste zu sein und überhaupt nichts anderes übrig zu bleiben, als die Voraussetzung zu machen, daß gute und schlechte sanitäre Anlagen bei der Bevölkerung, die mit wertvollen psychischen Anlagen geboren ist, ungefähr ebensooft vorkommen wie bei der anderen Hälfte, und er nennt dies seinen „neutralen Standpunkt". Hier wird wiederholt (z. B. S. 2 2 2 Anm.): „In dieser Arbeit (der ersten Auflage) hatte ich übrigens nichts weiteres vorausgesetzt, als daß tüchtige sanitäre und tüchtige geistige Anlagen ebensowohl miteinander vereint wie nicht vereint vorkommen." Meine Entgegnung stand schon in der Replik (S. 527): „Hier und an anderen Stellen will der geehrte Herr den Schein erwecken, als wäre irgendeine Annahme über das Verhältnis zwischen physischer und psychischer Begabung in seinem Buche enthalten. Eine solche Annahme ist in seinem Buche nicht enthalten, es ist nicht einmal eine Spur davon anzutreffen, daß er an dies Verhältnis überhaupt gedacht hat." Ich hatte auch schon damals die »Voraussetzung« gelten lassen und sie mit seiner Behauptung verknüpft, daß die geistig minderbegabte „Hälfte der Bevölkerung" sich stärker fortpflanze als die begabte - „so folgt, daß die Hälfte,

9 „speziell auch ... »Wert« beilege": Vgl. Schallmayer 1906: 442. Die Hervorhebung ist von Tönnies. 9 Ausführung in meiner Replik: Vgl. hier, S. 353 ff. 31 „Hier und an anderen Stellen ... gedacht hat.": Vgl. hier S. 381.

446

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

die sich schwächer fortpflanzt, im Durchschnitt ebenso gute physische Erbqualitäten hat wie die Hälfte, die sich stärker fortpflanzt. Und doch hat der Verfasser wie der Antikritiker (und der Verfasser der neuen Auflage) fortwährend argumentiert, die Hälfte mit schlechteren physischen Erbqualitäten pflanze sich stärker fort!" Auf die Fälle des NichtZusammentreffens guter physischer und guter intellektueller mit guten ethischen Qualitäten hatte ich hier noch nicht einmal hingewiesen. Sie machen natürlich die „generativ Wertvollen", die doch alle drei Anlagegruppen in sich befassen müssen, um so unwahrscheinlicher und seltener. Optimum quidque rarissimum gilt natürlich auch hier. Nun redet die zweite Auflage fortwährend, als hätte ich die Möglichkeit dieser oder überhaupt einer günstigen Kombination bestritten. „Sicher ist" - so sagt der Verfasser bedeutungsvoll (S. 374) - „daß es nicht wenige Personen gibt, bei denen gute intellektuelle und Charakteranlagen mit den Anlagen zu einer guten gesundheitlichen Konstitution vereinigt sind. Es würde also nicht an dem erforderlichen Züchtungsmaterial fehlen, um bei einer Nation durch geeignete Zuchtwahl die Vereinigung jener Anlagen schließlich allgemein zu machen." Auch darauf hat schon meine Replik geantwortet (S. 518): „als ob ich das bestritten hätte!" In der Tat hatte schon die Kritik (Jahrb. X X I X , 1, S. 65) von den Prachtexemplaren der Menschheit gesprochen und wie sie bei folgerichtiger Anwendung des Züchtungsgedankens beschäftigt werden müßten; „Polygamie, und zwar ohne alle Wahl und Neigung, wäre unausweichliche, ja selbstverständliche Konsequenz". Seitdem das geschrieben ward, hat, wie vielen Lesern bekannt sein dürfte, der Österreicher Frhr. von Ehrenfels mit diesem Gedanken Ernst gemacht. Er erklärt „alle volkseugenischen Bestrebungen, die sich mit der bestehenden Herrschaft der lebenslänglichen Einehe abfinden, als wertlos". Herr Schallmayer, der so darüber berichtet (S. 413 dieser Auflage), läßt das natürlich nicht gelten. Ich hatte schon in meiner ersten Kritik rühmend hervorgehoben, daß er alle phantastischen Vorschläge für eine positive menschliche Zuchtwahl verwerfe; so will er auch jetzt an „vorwiegend indirekten Beeinflussungen der Fortpflanzungsauslese" (S. 374) sich genü5 „so folgt, daß die Hälfte ... sich stärker fort!": Vgl. hier S. 3 7 0 ; neu ist der Einschub in der Klammer. 10 Optimum quidque rarissimum-, [lat.] svw. gerade das Beste ist besonders selten. 19 „als ob ich das bestritten hätte!": Vgl. hier S. 3 6 9 f. 23 „Polygamie

... selbstverständliche

27 „alle volkseugenischen

Bestrebungen

fels (1907) paraphrasierend.

Konsequenz":

Vgl. hier S. 2 3 9 .

... als wertlos": Vgl. Schallmayer 1910: 4 1 3 , Ehren-

XIV. Die Anwendung der Deszendenztheorie. Sechster Teil

447

gen lassen. In eine neue Prüfung der von ihm vorgeschlagenen Maßregeln will ich hier nicht eintreten. Die frühere kann er auch in diesem Zusammenhange nicht ohne einige flache Säbelhiebe vorbeilassen. Ich, heißt es S. 372, wolle aus den Beziehungen, die zwischen dem extremen Genie und dem Wahnsinn bestehen, den Schluß ziehen, daß ganz allgemein ein Antagonismus zwischen tüchtiger geistiger und tüchtiger leiblicher Begabung bestehe. „Das ist natürlich Unfug." Da beinahe alles, was Herr Schallmayer über mich aussagt, nicht wahr ist, so tröste ich mich, daß auch dies Urteil vermutlich nicht wahr sein wird. In der Tat paart sich hier wiederum eine unrichtige Angabe mit einem groben Unverständnis. Nämlich 1. ist von Schlußziehen gar keine Rede. Ich habe gemeint (Jahrbuch XXIX, 1, S. 60), nähere Erwägung lehre, daß jene Beziehungen „nur den besonders ausgeprägten Fall einer allgemeinen Erscheinung darstellen". Ich habe (in der Replik, S. 521) selber dies als eine gewagte Behauptung bezeichnet. Ich habe mich nachdrücklich gegen die in der Antikritik enthaltene Angabe, daß ich mich dafür habe auf Galton berufen wollen, verwahrt. Ich habe hervorgehoben, daß mir viel mehr an der allgemeinen, sehr viel weniger bemerkten Erscheinung lag, und daß ich mich dafür, um meine Ansicht zu unterstützen, nicht auf Galton, sondern etwa auf Moreau berufen hätte. Daß Herr Schallmayer nichtsdestoweniger sogar mit Sperrdruck wiederholt, ich habe mich mißverständlich auf Galton berufen, wird den aufmerksamen Leser ebensowenig noch verwundern, wie es wundernehmen kann, daß der Mann außerstande ist, zwischen einem Schlüsse und dem Urteil, daß eine Erscheinung den besonders ausgeprägten Fall einer allgemeinen Erscheinung darstelle, zu unterscheiden. 2. Mein Urteil ist niemals dahin gegangen, daß ganz allgemein ein Antagonismus zwischen tüchtiger geistiger und tüchtiger leiblicher Begabung bestehe. Wenn Herr Schallmayer es hundertmal wiederholt, so wird es dadurch nicht wahrer. Hier aber ist von diesem möglichen Antagonismus überhaupt gar nicht die Rede. Wenn ich mich in der Kritik nicht genau ausgedrückt hatte, so ist dagegen in der Replik deutlich erkennbar, was ich als die allgemeinere Erscheinung verstanden wissen will: nämlich dies, daß die Beschaffenheit des Gehirns, die in ausgezeichneter geistiger Begabung, besonders in künstlerischer zutage tritt, eine gewisse »Verwandtschaft« mit pathologischer Beschaffenheit des Gehirns und des Nervensystems überhaupt aufweise, daß sie oft „dicht

n Jahrbuch XXIX, 1, S. 60: Vgl. hier, leicht abweichend, S. 233 f. 14 in der Replik, S. 521: Vgl. hier S. 373 f. 21 ich habe mich mißverständlich auf Galton berufen: Vgl. Schallmayer 1910: 372.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

neben" solchen pathologischen Anlagen liege, „zum guten Teil in denselben Individuen, wenigstens aber in derselben blutsverwandten Familie" (a. a. O., S. 523). Die Hauptsache ist also hier eine ganz andere; sie betrifft die Beschaffenheit der Erbsubstanzen und läßt sich, ihrem wesentlichen Inhalte nach, in die Erfahrung übersetzen (wie sie vorzüglich aus der Erfahrung hergeleitet ist), daß dieselben Eltern, ohne daß die Ursachen erkannt wären, einmal einen ausgezeichnet begabten, ein andermal einen schwachsinnigen oder zur Geisteskrankheit Disponierten erzeugen. Darum zitiere ich Moreau, der auf die „hereditäre Verkettung" hinweist, „welche die besonderen geistigen Begabungen der einen mit den nervösen Erkrankungen verbindet, wovon andere Mitglieder derselben Familie betroffen wurden" (a. a. O., S. 524). Herr Schallmayer mag dies bestreiten; er kann es vielleicht widerlegen. Aber zu dem Behufe müßte er erst verstanden haben, wovon die Rede ist. Was er hier, wie früher, geltend macht: daß Galton „beim Gelehrtenstand im ganzen" alle möglichen guten psychischen Eigenschaften „in der Regel mit guter Gesundheit verbunden" fand, und daß viele Geistesriesen ein hohes Alter erreichten, ist nicht zur Sache. Auch typische Formen nervöser und psychischer Krankheiten vertragen sich mit Langlebigkeit wohl; ich habe meine Bemerkung ausdrücklich mehr auf künstlerische als auf wissenschaftliche Intelligenzen bezogen; und während Gesundheit des Individuums und Langlebigkeit, wie Herr Schallmayer oft hervorhebt, mindestens ebensosehr der Gunst des Milieus, der vernünftigen Lebensführung usw. wie der Güte der Erbqualitäten zuzuschreiben sind, so tritt deren Beschaffenheit in den Anlagen der Deszendenten und anderen nahen Verwandten oft viel deutlicher zutage. Lehrreicher als die Aufzählung von 56 langlebigen berühmten Männern, an deren Spitze Solon, Thaies, Pythagoras, Buddha, Konfuzius, Demokrit u. a. marschieren, wäre eine kleine Untersuchung über ebensoviele neuere Ritter vom Geiste gewesen, über deren Familien wir einiges Nähere wissen. Aber irgendwelche originale Untersuchungen wird man bei Herrn Schallmayer vergebens suchen.

2 „zum guten Teil...

blutsverwandten

12 „welche die besonderen

Familie": vgl. hier S. 3 7 5 .

... Familie betroffen wurden"-. Vgl. das vollständige Zitat Moreaus

in diesem Band auf S. 377. Das fehlende Anführungszeichen am Anfang des Zitats sind vom Herausgeber ergänzt. 17 viele Geistesriesen 26 Aufzählung 31 vergebens

ein hohes Alter erreichtem

von 5 6 langlebigen berühmten suchen.:

Vgl. Schallmayer 1 9 1 0 : 3 7 2 .

Männern:

Vgl. ebd.: 3 7 3 , Fn.

In A schließt sich ein Absatz an, vgl. im editorischen Bericht S. 6 9 1 .

XV. Die soziologische Gesellschaft in London

2 Die soziologische Gesellschaft in London: Der Beitrag, in dem Tönnies dem deutschen Publikum die Gründung einer soziologischen Gelehrtengesellschaft in Britannien anzeigt, wurde zuerst im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb.] 1904, 28, 2, S. 743-746, veröffentlicht; diese Fassung ist im Folgenden als A bezeichnet. In dieser Erstveröffentlichung findet sich unter der Überschrift, wie in Schmollers Jahrbuch üblich, das folgende Inhaltsverzeichnis: Herbert Spencers Vermächtnis S. 451. - Vorbereitungen und Begründung der neuen Gesellschaft S. 451. Ihre Zwecke und Aufgaben S. 453. - Englische Vorbedingungen für soziologische Studien S. 453. Die Seitenangaben sind der hier vorliegende Ausgabe angepasst worden.

Das Hinscheiden Herbert Spencers (f 8. Dezember 1903) ist der Zeit nach beinahe zusammengetroffen mit der Bildung eines wissenschaftlichen Vereins, der zu einem Teile seines Lebenswerkes eine intime Beziehung hat, und zwar zu dem Teile, der in seiner Seele das lebhafteste Bewußtsein hinterlassen hatte, daß für die großen Verallgemeinerungen einer synthetischen Philosophie die nötigen Grundlagen noch nicht fest genug gelegt wären. Spencer hat, wie ich einem mir zugehenden Zeitungsausschnitt entnehme, einen beträchtlichen Teil seines Vermögens und der noch zu erwartenden Einkünfte aus dem Verkauf seiner Schriften, der Fortführung seines Torsounternehmens der deskriptiven Soziologie - einer Kompilation ethnologischer, historischer, statistischer Daten in Tabellenform, die sich nach und nach auf alle Völker der Erde erstrecken sollte - testamentarisch bestimmt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er der Gründung einer soziologischen Gesellschaft, die am 20. November 1903 erfolgt ist, wenn sie einige Jahre früher erfolgt wäre, nicht allein seine lebhafte Sympathie, sondern auch seine tatkräftige Unterstützung würde gewidmet haben. Welchen Wert er darauf gelegt hätte, wenigstens wenn sie nach seinem Sinne erfolgt wäre, mag an der Tatsache ermessen werden, daß er nicht weniger als 12 wissenschaftliche Vereine und Institute, von denen freilich nur die Geographische Gesellschaft und die Britische Assoziation ein gewisses Verhältnis zu soziologischen Studien haben dürften, mit Legaten bedacht hat. Es scheint aber, daß Spencer kein besonderes Verhältnis zur Statistischen Gesellschaft gehabt hat, die der neuen Gesellschaft für Soziologie ihre Räume zur Verfügung gestellt und andere wertvolle geburtshilfliche Dienste geleistet hat. Über die Gründung dürften folgende Mitteilungen auch für den gegenwärtigen Leser einiges Interesse haben. Nachdem am 16. Mai eine Besprechung unter dem Vorsitze des bekannten Politikers und Historikers James Bryce M. P. (Handelsministers im Kabinett Rosebery) stattgefunden hatte, wurde eine größere Versammlung am 29. Juni gehalten, die von Herrn Brabrook, erwähltem Präsidenten der ökonomischen Abteilung der British Association, geleitet wurde. Unter den Teilnehmern hebe ich außer bekannten Professoren der Philosophie (Adamson, Bosanquet, Geddes u. a.) hervor: Oscar Browning, J. A.

7 Spencer: Bis auf den Spencers sind in A Personennamen nicht hervorgehoben.

452

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Hobson, Benjamin Kidd, Frau Sidney Webb und Miß Collet. Es fand eine mannigfache Aussprache statt. Bemerkenswert erschienen mir die Worte Brownings, der als langjähriger Dozent der Geschichte im historischen »Tripos« zu Cambridge hervorhebt, daß diese Schule erfolgreich gewesen sei, gerade soweit als sie soziologisch, und nicht erfolgreich, soweit sie nicht soziologisch war. Er beruft sich auf den Gründer des Tripos, den geistvollen Sir John Seeley1, welcher auch der Meinung gewesen sei, daß Geschichte nicht um ihrer selbst willen, sondern in Beziehung zu den soziologischen Wissenschaften, zu deren Erklärung und Deutung studiert werden müsse. „Geschichte ist die Wurzel der Soziologie, und Soziologie die Frucht der Geschichte, und wer diese Wahrheit erfaßt, hat den stärksten Anspruch darauf, ein wissenschaftlicher Historiker zu heißen." - Ferner verdient erwähnt zu werden, daß ein Herr White 1000 £ gestiftet hat zur Fundierung von Vorlesungen an der Londoner Universität; solche sollen zunächst gehalten werden von Prof. Patrick Geddes-Edinburgh, Dr. Westermarck-VitlsmgioTs und Dr. A. C. Haddoe. Patrick Geddes hat seit 15 Jahren eine freie soziologische Schule in Edinburgh, zum Teil in Verbindung mit Ferien-Hochschulkursen, geleitet, von deren pädagogischen Erfolgen mit Bewunderung gesprochen wird. Auch in London ist eine ähnliche Schule gegründet worden. Die neue Gesellschaft, die mit diesen vorhandenen Anfängen engste Fühlung hält, hat durch einen Unterausschuß Satzungen entwerfen lassen, worin die Zwecke als „wissenschaftlich, pädagogisch und praktisch" bezeichnet werden. Eine Bibliothek und eine Zeitschrift sollen begründet werden. Auch die übrigen Bestimmungen (über Mitgliedschaft, Beiträge, Ehren- und korrespondierende Mitglieder) sind die sonst in England bei 1

In Deutschland besonders durch seine (auch übersetzte) Monographie des Frhrn. vom Stein bekannt geworden. Es gibt von ihm außerdem zwei Werke, die man in dem hier gemeinten Sinne als soziologisch ansprechen darf: „The Expansion of England" und „Growth of British Foreign Policy". Ich habe beide mit wahrer Spannung gelesen. Aus Seeleys Nachlaß sind auch Vorlesungen über theoretische Politik gedruckt worden. l Frau Sidney Webb: D. i. Beatrice Webb(-Potter). 4 »Tripos« zu Cambridge:

Tripos ist der Name des „honours"-Examens an der Universität

Cambridge, das zum BA (Bachelor of Arts) führt. 12 „Geschichte

ist die Wurzel...

16 A. C. Haddoe: 28 Monographie 31 Vorlesungen 1 8 9 5 , 1896.

Historiker zu heißen.":

Als Zitat nicht nachgewiesen.

So auch in A; korrekt ist: Alfred Cort Haddon. des Frhrn. vom Stein: Vgl. Seeley 1878 (deutsch: ders.: 1 8 8 3 - 1 8 8 5 ) .

über theoretische

Politik: Vgl. in der genannten Reihenfolge Seeley 1 8 8 5 ,

XV. Die soziologische Gesellschaft in London

453

gelehrten Gesellschaften üblichen. Mit beträchtlichen Schenkungen ist schon ein Anfang gemacht, daran sind u. a. der greise Francis Galton und die als philosophische Schriftstellerin bekannte Victoria Lady Welby beteiligt. Der provisorische Gesamtausschuß besteht aus 185 Personen. Viele bekannte Namen - außer den schon angeführten - begegnen in der Liste. Auch der Kontinent und die Vereinigten Staaten sind vertreten. Die Aufgabe einer gelehrten Gesellschaft bestimmt sich nach der Aufgabe der Wissenschaft, die sie befördern will. Ist Soziologie Name einer Wissenschaft oder einer Vielheit von Wissenschaften? Ich denke, daß im Grunde jeder Wissenschaftsname, außerhalb der formalen Disziplinen, beides zugleich bezeichnet. Der allgemeine Teil, der die Prinzipien entwickelt, ist zugleich ein spezieller Gegenstand und insofern der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft, deren Name doch auch alle ihre besonderen Teile umfaßt. Es entspringen daraus Unklarheiten, die überall in bezug auf wissenschaftliche Aufgaben groß sind. Sie fallen da am meisten auf, wo man in unbetretene, unerschlossene Gegenden zu wandern angelockt wird und die Wegweiser vermißt. Wenn es um Soziologie sich handelt, so kann man ihr eigentliches, besonderes, unterscheidendes Objekt, oder ihren allgemeinen und verbindenden Charakter hervorheben. Für eine soziologische Gesellschaft wäre der erstere theoretisch der allein richtige, weil bestimmte und sichere Weg, auf den die zu konzentrierenden Kräfte gewiesen werden müssen. Praktisch wird aber der andere als weit zweckmäßiger, vielleicht als notwendig sich darstellen, wenn überhaupt Kräfte gewonnen werden sollen. Die Londoner soziologische Gesellschaft will nach ihrem Programm ein gemeinsames Feld darstellen „auf dem Arbeiter aller Richtungen und Schulen einander begegnen können: der Geograph und der Naturforscher, der Anthropologe und Archäologe, der Historiker und der Ökonom, der Psychologe und der Ethiker; aber auch der Arzt und der Psychiater, der Kriminologe und der Jurist, der Hygieniker und Pädagoge, der Philanthrop und soziale Reformer, der Politiker und der Geistliche." Glücklicherweise hängt für die zu erwartenden Leistungen nicht viel von Programmen, sondern das meiste von den Menschen und nicht wenig von den zur Verfügung stehenden Geldmitteln ab. Wir dürfen das Vertrauen hegen, daß es an beiden Elementen in Großbritannien nicht mangeln wird. Die Stiftung der Gesellschaft ist jedenfalls ein bedeutungsvolles Ereignis. England besitzt namentlich für die planmäßige, noch bei weitem 3i „auf dem Arbeiter

... der Politiker

und Geistliche."-.

Als Zitat nicht nachgewiesen.

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

nicht erschöpfte, immer dringender werdende Erforschung der sozialen Zustände, Einrichtungen, Sitten der »Naturvölker« so günstige Gelegenheiten und Bedingungen, wie kaum eine andere Nation. Und was bedeutet für die gesamte Kulturwissenschaft die Herrschaft der englischen Zunge auf dem Erdball! Was die englische Administration in Indien, der englische Einfluß in Japan und China! - Aber auch für die höchst entwickelten und verwickelten Zustände einer modernen industriellen Nation ist immer noch London das Zentralobservatorium. Alle hier gewonnenen Erkenntnisse für das historische und begriffliche Verständnis der menschlichen Kultur und ihrer Entwicklung zu verwerten - dies ist die Aufgabe der Soziologie; genauer würde ich sagen: der angewandten Soziologie im Unterschiede von ihrem reinen oder philosophischen Teile. Wie eng oder weit aber sie gefaßt werden möge, sie wird immer eingedenk der Verdienste bleiben, die sich Persönlichkeiten wie Herbert Spencer, E. B. Tylor, Sir John Lubbock, Sir Henry Maine, Sir Alfred C. Lyall, Mac Lennan, denen sich die besten Historiker, Statistiker und deskriptiven Nationalökonomen gesellen, um ein solches Verständnis erworben haben. In ihrem Geiste zu arbeiten, Arbeit zu organisieren und zu konzentrieren, möge die englische soziologische Gesellschaft sich angelegen sein lassen. Der Gelehrtenstaat darf sie in seiner Mitte freudig willkommen heißen.

XVI. Eugenik1

Francis Galton: Restrictions in Marriage. Studies in National Eugenics. Eugenics as a Factor in Religion. Followed by an Abstract of an earlier Memoir .Eugenics: its Definition, Scope and Aims'. Extracted from the forthcoming publications of the Society: Sociological Papers Vol. II, 195, 55 S.

2 Eugenik: Dieser Beitrag steht im Zusammenhang mit Tönnies' Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Soziobiologie. Die wichtigsten Veröffentlichtungen Tönnies' zu diesem Themenkreis sind in der hier vorliegenden ersten Sammlung der „Soziologischen Studien und Kritiken" aufgenommen worden. Zuerst wurde diese Abhandlung, die sich mit Arbeiten des Mentors der britischen eugenischen Forschung, Francis Galton, und der internationalen Diskussion dieses Aufsatzes auseinandersetzt, im Jahrbuch f ü r Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich [Schmollers Jb.] 1905, 29, S. 1089-1106 [H. 3: 2 7 3 - 2 9 0 ] veröffentlicht (im folgenden: A). - In A steht unter dem Titel wie üblich für Artikel in Schmollers Jahrbuch ein Inhaltsverzeichnis: „Galtons Stiftung und Vorträge S. 457. - Schallmayers Verdienst S. 458. - Galtons Leitgedanken S. 459. - Ehebeschränkungen und Tabus S. 460. - Studienplan S. 461. - Debatte und schriftliche Meinungsäußerungen S. 462. - Galton Schlusswort S. 469. - Kritik S. 471. Die angegebenen Seitenzahlen wurden auf die vorliegende Ausgabe angepasst. In A sind die Namen nicht durchgängig hervorgehoben, Abweichungen werden im Folgenden nicht einzeln dokumentiert. 3 Francis Galton: Vgl. Galton 1904 und 1905.

Der ehrwürdige Francis Galton hat diesen Ausdruck erfunden, der ihm eine neue Wissenschaft bedeutet, für deren Pflege er ein dauerndes Stipendium - eine Research Fellowship - an der Londoner Universität gestiftet hat; einem Gelehrten, dessen Name auf deutsche Abstammung deutet, Herrn Edgar Schuster, bisher am New College in Oxford, ist diese Stellung und Aufgabe übertragen worden. Schon im vorigen Jahre hat Galton der jungen Soziologischen Gesellschaft, von deren Begründung in diesen Blättern Mitteilung gemacht wurde, einen Plan dieses seines Vermächtnisses - wie man es wohl nennen darf vorgelegt und seine Grundgedanken mit besonderer Beziehung auf ihre mögliche Förderung durch diese Gesellschaft entwickelt. Er definierte »Eugenik« als eine Disziplin - wie wir lieber anstatt »Wissenschaft« sagen würden - welche sich mit allen Einflüssen zu beschäftigen habe, die dazu angetan seien, die angeborenen Eigenschaften einer »Rasse« zu verbessern oder zum größten Vorteile zu entfalten. Das allgemeine Ziel: Reproduktion der besten individuellen Exemplare. „Die Praxis der Eugenik würde so die Durchschnittsqualität einer Nation zu derjenigen ihrer gegenwärtigen besseren Hälfte erheben; mit der Hebung des allgemeinen Niveaus würden Menschen von einem Begabungsgrade, der jetzt sehr selten ist, häufiger werden. Soweit Maßregeln ins Auge gefaßt werden, sollten sie dahin gehen, so viele Einflüsse, als sich vernünftigerweise zur Geltung bringen lassen, anzuwenden, um die nützlichen Klassen eines Volkes zu veranlassen, mehr als ihren normalen Anteil zur nächsten Generation beizusteuern." 8 Mitteilung gemacht wurde: Vgl. hier S. 4 4 9 ff. 10 ein Plan ... vorgelegt: Vgl. Galton 1 9 0 4 . 24 „Die Praxis der Eugenik

... beizusteuern"-. Tönnies übersetzt recht frei. Bei Galton heißt

es im Zusammenhang (1904: 47): „Let us for a moment suppose that the practice of Eugenics should hereafter raise the average quality of our nation to that of its better moiety at the present day, and consider the gain. The general tone of domestic, social, and political life would be higher. The race as a whole would be less foolish, less frivolous, less excitable and politically more provident than now. ... We should be better fitted to fulfil our vast imperial opportunities. Lastly, men of an order of ability which is now very rare, would become more frequent, because the level out of which they rose would itself have risen. [Absatz] The aim of Eugenics is to bring as many influences as can be reasonably employed, to cause the useful classes in the community to contribute more than their proportion to the next generation.".

458

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Auf den ersten Blick springt die Verwandtschaft mit den Ideen unseres Landsmannes Dr. Schallmayer, in dessen preisgekröntem Werke, das vor kurzem den Lesern des Jahrbuches für Gesetzgebung usw. (Schmollers Jahrbuch) vorgeführt wurde, in die Augen. Wenngleich Galton den Arbeiten seines langen Lebens mit diesem Programm nur einen Abschluß gibt, und wenn er auch längst sehr fruchtbare Anregungen in der Richtung auf das Studium der erblichen Eigenschaften beim Menschen gegeben hat, so kann man doch für unsern deutschen Forscher eine gewisse Priorität insofern in Anspruch nehmen, als er die Dringlichkeit der Aufgabe, den Naturprozeß der natürlichen und sexuellen Auslese durch bewußte Zuchtwahl zu ergänzen, zuerst und mit viel größerer Schärfe hervorgehoben hat, indem er die Ergänzung zugleich als Gegenwirkung gegen einen fehlerhaft gewordenen Naturvorgang begreifen will; seine Parole ist: Hemmung der in unserer Kultur und durch unsere Kultur sich ausbreitenden Entartung, und außerdem Begünstigung der Reproduktion des begabteren Teiles, im Gegensatze zu den leidigen individuellen und sozialen Umständen, die diesen sogar schwächer als den Durchschnitt sich vermehren lassen. Wenn ich auch in meiner Kritik, deren sonstigen Inhalt ich keinen Grund finde zu modifizieren, stark hervorgehoben habe, daß ich es für eine sehr bedeutende sittliche Aufgabe halte, das „generative Interesse", wie Schallmayer es nennt, zu fördern, und in diesem Sinne seine Schrift willkommen hieß, so habe ich doch scheinbar durch mein endliches Urteil, das eben dieser Schrift einen bedeutenden wissenschaftlichen Wert nicht zuerkennen wollte, über ihre Grund- und Leitgedanken den Stab gebrochen, was jedoch meine Meinung nicht gewesen ist. Ich habe bei diesem Urteil angedeutet, daß ich das Ganze des Buches im Auge hatte, das Wort bedeutend habe ich in dieser Anwendung auf das Ganze betonen wollen, und in dem Augenblicke an das Verdienst, dessen entschiedene Anerkennung in meinen vorausgehenden Worten und im Willkommenheißen enthalten war, nicht gedacht: das Verdienst, den Gedanken der Eugenik, um nun das Galtonsche Wort zu ehren, in einem großen Zusammenhange kulturphilosophisch-biologischer Erörterungen, wie ein Banner auf neuerobertem, wenn auch noch unurbarem Boden aufgepflanzt zu haben. Es ist mir eine Gewissenssache, gerade angesichts der neuen Galtonschen Publikationen, mein Urteil in dieser Hinsicht zu ergänzen und in diesem Sinne zu interpretieren. 2 preisgekröntem Werke: Vgl. Schallmayer 1903. Zu Tönnies' Auseinandersetzung mit Schallmeyer beachte in diesem Band die Seiten 218 ff., 337 ff. und 427 ff.

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XVI. Eugenik

Galton stellt der soziologischen Gesellschaft in bezug auf seine Eugenik folgende Aufgaben: 1. Ausbreitung des Wissens von den Gesetzen der Vererbung, so weit sie mit Sicherheit bekannt sind, und Förderung ihres ferneren Studiums; 2. historische Untersuchung der relativen Beiträge aller verschiedenen Klassen der Gesellschaft - die nach dem Grade ihrer Nützlichkeit für das Gemeinwesen zu klassifizieren wären - zur Bevölkerung in verschiedenen Zeiten bei antiken und modernen Völkern. Es gebe starken Grund für die Annahme, daß das Auf- und Absteigen der Nationen eng verknüpft sei mit diesem Einflüsse, und es scheine die Tendenz der Zivilisation zu sein, die Fruchtbarkeit bei den höheren Typen zu hemmen; 3. systematische Sammlung von Tatsachen, woraus die Umstände, unter denen »eugenische« Familien am häufigsten entsprungen sind, zu ersehen seien; daraus kann füglich ein „goldenes Buch" blühender Familien entwickelt werden; 4. wären die Einflüsse, die auf Eheschließungen wirken, zu untersuchen. „Wenn Ehen, die aus dem eugenischen Gesichtspunkte untauglich seien (unsuitable marriages), sozial geächtet, oder auch nur mit der »unvernünftigen Ungunst« betrachtet würden, die einige den Ehen von Geschwisterkindern zuwenden, so würden sehr wenige solcher geschlossen werden." 5. Mit Ausdauer ist die nationale Bedeutung der Eugenik zur Geltung zu bringen; sie muß schließlich ins nationale Gewissen, gleich einer Religion, eingeführt werden. „Die Verbesserung unserer Art ist eines der höchsten Ziele, wonach wir vernünftigerweise streben können. Wir kennen die endlichen Schicksale der Menschheit nicht, aber wir dürfen uns völlig sicher fühlen in dem Gedanken, daß es eine ebenso edle Aufgabe ist, in dem hier gedachten Sinne ihr Niveau zu heben, wie es eine Schande wäre, es zu erniedrigen." - Hieran schließt sich dann der Vortrag, den Galton der soziologischen Gesellschaft am 14. Februar dieses Jahres über »Ehebeschränkungen« gehalten hat. Mit diesem Vortrage will er dem Einwände begegnen, daß die menschliche Natur niemals Eingriffe in die 2 seine Eugenik folgende Ausgaben: 19 „Wenn

Ehen

Vgl. Galton 1 9 0 4 : 47—49.

... sehr wenige geschlossen

werden."-

Vgl. bei Galton ( 1 9 0 4 : 49): „If

unsuitable marriages from the Eugenic point of view were banned socially, or even regarded with the unreasonable disfavour which some attach to cousin-marriages, very few would be made.". In A steht »unvernünftigen Ungunst« zwischen Asterisken. 26 „Die Verbesserung

unserer Art ... zu erniedrigen":

Vgl. bei Galton (1904: 50): „The

improvement of our stock seems to me one of the highest objecives that we can reasonably attempt. We are ignorant of the ultimate destinies of humanity, but feel perfectly sure that it is as noble a work to raise its level in the sense already explained, as it would be disgraceful to abase it.". 26 Vortrag-. Vgl. Galton 1 9 0 5 : 1 - 1 3 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Freiheit der Eheschließung sich werde gefallen lassen. Er läßt sich angelegen sein, eine Reihe von weitverbreiteten Sitten vorzuführen, die mit geringen Ausnahmen nicht auf natürliche Instinkte, sondern auf soziale Zweckmäßigkeit gegründet seien; nämlich 1. die Monogamie und das Verbot der Polygamie unter strengen bürgerlichen und kirchlichen Strafen - davon gelte insbesondere, daß keineswegs natürlicher Instinkt, sondern Erwägungen des Gemeinwohles zugrunde liegen. 2. Endogamie, insbesondere die semitische Sitte des Levirats die auf einer religiösen Wertschätzung von Familieneigentum und Familienabstammung beruhe. „Eugenik hat mit etwas zu tun, das wertvoller ist als Geld oder Land, nämlich mit der Erbschaft hohen Charakters, fähigen Gehirns, Schönheit und Kraft des Leibes - lauter Werten, deren Besitz einer Familie im höchsten Grade erwünscht sein müßte." 3. Die Praxis und Pflicht der Exogamie findet sich ebenfalls in weiter Ausbreitung. 4. Die komplizierten Ehesitten der Australneger (wo jedes Individuum in eine Stammesklasse hineingeboren wird und nur in eine bestimmte andere Stammesklasse hineinheiraten darf) zeigen eine andere Beschränkung der Ehefreiheit, deren Prinzip sich füglich auch zur Förderung irgendwelcher Form von Eugenik hätte verwenden lassen. 5. Die Erfahrung aller Zeiten und Völker zeigt, daß die immateriellen Motive häufig viel stärker als die materiellen sind, und hier ist an die vielfach bezeugte Tyrannei des Tabu, sei es mit diesem oder einem anderen Namen bezeichnet, zu erinnern. „Wenn nicht-eugenische Verbindungen durch solche Tabus verboten wären, so würden keine geschlossen werden." 6. Es gibt kein allgemeines instinktives Widerstreben gegen Ehen in verbotenen Graden, sondern die gegenwärtige Stärke dieses Widerstrebens folgt in der Hauptsache immateriellen Erwägungen. Es ist durchaus denkbar, daß einmal eine nicht-eugenische Ehe keinen geringeren Widerwillen errege, als es jetzt die Ehe zwischen leiblichen 7 Gemeinwohles

zugrunde

liegen.-. Vgl. ebd.: 4 f.

8 Levirats: Von lat. levir [Schwager], svw. Ehe einer Witwe mit dem Bruder des verstorbenen Gatten. 9 Familienabstammung 13 „Eugenik

beruhe-. Vgl. Galton 1 9 0 5 : 5 - 7 .

hat mit etwas zu tun ... erwünscht sein müßte."-. Vgl. bei Galton ( 1 9 0 5 : 6 f.):

„Eugenics deals with what is more valuable than money or lands, namely the heritage of a high character, capable brains, fine physique, and vigour; in short, with all that is most desirable for a family to possess as a birthright.". Zu den beiden folgenden Punkten siehe ebd.: S. 7 f. 24 „Wenn nicht-eugenische

Verbindungen

... geschlossen

werden."-. Vgl. bei Galton (1905:

9): „If non-eugenic unions were prohibited by such taboos, none would take place.". Vgl. die folgenden Punkte ebd.: 9 - 1 1 bzw. 11 f.

XVI. Eugenik

461

Geschwistern tun würde. 7. Auch in Erzwingung des Zölibats zeigt sich die Macht nicht nur des religiösen Sinnes in Förderung oder Hemmung von Ehen, sondern insbesondere der Einfluß und die Autorität eines Standes, des Priesterstandes; und zwar hat diese Autorität gerade in Eheangelegenheiten auch sonst sich stark geltend gemacht; die ganze Geschichte des Klosterlebens ist voll von Zeugnissen dafür, wie sie die Tendenzen der menschlichen Natur, die auf Freiheit der Eheschließung ausgehen, zu lenken und zu bekämpfen gewußt hat. - Resümierend meint Galton, daß Personen, die unter der Herrschaft dieser mannigfachen einschränkenden Regeln geboren sind, ihrer Hemmungen unbewußt leben, gleichwie wir uns der Atmosphärenspannung nicht bewußt sind. Besonderes Gewicht legt er auf die ihm vorschwebende Möglichkeit, der Eugenik eine religiöse Sanktion zu geben oder sie geradezu als eine neue Religion leuchten zu lassen. Der Ermutigung, sie wenigstens zu einem religiösen »Faktor« werden zu lassen, ist seine besondere Erörterung, die sich auf zwei Druckseiten erstreckt, gewidmet; und der eigentliche Vortrag schließt mit den Sätzen: „Es scheint mir, daß wir wenige Dinge so dringend nötig haben in England, wie eine Revision unserer Religion, um sie der Erkenntnis und den Bedürfnissen unserer Zeit anzupassen. Wir brauchen eine Gestaltung der Religion, die auf vernünftige Grundlagen gestellt und durch vernünftige Arten von Hoffnung und Furcht verstärkt wird, die ehrliche Moral in unzweideutiger Sprache predigt, eine Moral, die von guten Menschen vorbehaltlos befolgt werden kann, von Menschen, die an der Arbeit der Welt ihren Anteil nehmen und die Gefahren der Gefühlsseligkeit (of sentimentalism) kennen." - Angeschlossen ist ein Plan für das Studium „nationaler Eugenik", worauf verwiesen werde, wer sich für solches Studium interessiert. Es ist, wie man sich leicht vorstellen kann, abgesehen auf umfassende biographische Untersuchungen »begabter«, gewöhnlicher und minderwertiger Familien; ferner auf Erforschung der Wirkungen, die vom u seine besondere: In A: eine besondere. 15 zwei Druckseiten: Dies bezieht sich auf das dritte Kapitel „Eugenics as a factor in religion" in Galton 1905: 52 f. 25 „Es scheint mir ... (of sentimentalism) kennen.": Vgl. bei Galton (1905: 13): „It seems to me that few things are more needed by us in England than a revision of our religion, to adapt it to the intelligence and needs of the present time. A form of it is wanted that shall be founded on reasonable bases and enforced by reasonable hopes and fears, and that preaches honest morals in unambiguous language, which good men who take their part in the work of the world, and who know the dangers of sentimentalism, may pursue without reservation.". 26 „nationaler

Eugenik":

Siehe „Studies in national eugenics" in Galton 1905: 1 4 - 1 7 .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Staate und von öffentlichen Einrichtungen ausgehen, wobei angedeutet wird, daß diese tatsächlich überwiegend ungünstig für Eugenik seien. Ebenso sollen wirkliche und mögliche andere Einflüsse untersucht, die Tatsachen der Erblichkeit geprüft, gedrucktes Material zur Eugenik gesammelt, Zusammenwirken der Forscher angeregt werden. Als eine Zukunftsidee wird die Ausstellung von eugenischen Zeugnissen in Aussicht genommen: um ein solches zu erlangen, müßte man ein mehr als durchschnittliches Maß der verschiedenen Eigenschaften besitzen, zum mindesten nämlich guter Konstitution, guten Aussehens und geistiger Begabung. An Galtons Vorlesung hatte sich eine Debatte angeschlossen, die in der Hauptsache auf einige seiner ethnologischen Daten sich bezieht. Ergiebiger sind die schriftlichen Gutachten, die von einer Reihe von Korrespondenten eingeholt worden sind, und zusammen nicht viel weniger als die Hälfte der auf 55 Seiten angewachsenen Druckschrift einnehmen. Sie sind nach den Namen der Verfasser alphabetisch geordnet. Bemerkenswert ist schon das allererste, ein Auszug aus einem Privatbrief des Pariser Biologen Yves Delage. Er erklärt, daß er schon vor vielen Jahren ähnlichen Gedanken nachgegangen sei, daß er aber nur an Zwangsmaßregeln zur Erreichung des Zieles - also ähnlich wie Herr Dr. Schallmayer - gedacht habe. „Sie haben völlig recht, wenn Sie, wenigstens einstweilen, von allen solchen Mitteln absehen, und nur versuchen, eine Bewegung der Meinung zugunsten der Eugenik einzuleiten, damit junge Leute, besonders aber Eltern, weniger auf Vermögen und Stand, und desto mehr auf körperliche Tüchtigkeit, moralische Artung und intellektuelle Kraft sehen, so daß der Vorwurf der Mesalliance nicht auf die Verbindung von Vornehm und Gering oder Reich und Arm falle, sondern ausschließlich auf die Paarung guter, physischer, intellektueller und moralischer Qualitäten, mit deren Mangel." In Wahrheit ist nun Galtons Meinung, so Ii eine Debatte: Vgl. Galton 1905: 18 ff. 13 die schriftlichen Gutachten: Vgl. ebd.: 26 ff. 29 „Sie haben völlig recht... wie deren Mangel.": Tönnies verkürzt den Text leicht in seiner Übersetzung: „You are entirely right in laying aside, at least at the outset, all compulsory or prohibitive means, and in seeking only to initiate a movement of opinion in favour of eugenics, and in trying to modify the mental attitude towards marriage, so that young people, and especially parents, will think less of fortunate and social conditions, and more of physical perfection, moral well-being, and intellectual vigour. Social opinion should be modified, so that the opprobrium of mésalliance falls not on the union of the noble with the plebeian, or of the rich with the poor, but on the mating of physical, intellectual, and moral qualities, with the defects of these." (Yves Delage, in Galton 1905: 26).

XVI. Eugenik

463

wie Delage sie verstanden hat, nicht völlig klar ausgesprochen; der französische Gelehrte hat ihr allerdings die günstigste und am meisten sympathische Auslegung gegeben. Daß aber Zweifel nicht ausgeschlossen sind, zeigen die sich anschließenden Bemerkungen von Dr. Havelock Ellis. Dieser wendet sich auch mit Entschiedenheit gegen die vorausgesetzte Analogie zwischen menschlicher Eugenik und dem Züchten von Rassetieren und betont, daß diese Züchtung nicht nur immer durch ein überlegenes Lebewesen geschieht, sondern auch immer nur in einseitiger Richtung (for points). Die Idee einer Verbesserung schlechthin hält er für vage und unendlich schwierig. Immerhin will er eine Wirksamkeit in negativer Richtung: „die Fortpflanzung ausgesprochen schlechter Anlagen (stocks) zu hemmen" gelten lassen. Wenn er bei dieser Gelegenheit dafür eintritt, daß in einem Falle, wie er ihm vorgekommen sei, wo eine Frau ihren epileptischen Zustand vor der Eheschließung verheimlicht hatte, die Ehe sollte für ungültig erklärt werden, so machen wir ihn darauf aufmerksam, daß unser Bürgerliches Gesetzbuch dazu allerdings die Handhabe bietet (§ 1334). - Andere Bedenken macht A. H. Huth, der Verfasser einer Schrift über „Ehen in naher Verwandtschaft" geltend. Im ganzen hat er mehr Glauben an die Naturprozesse der Auslese und meint, Galton wolle diese beschleunigen. Während er im allgemeinen konstatieren zu dürfen meint, daß wir an Gesundheit, Schönheit und Langlebigkeit zunehmen, klagt er Politik und Philanthropie in den bekannten starken Wendungen an, daß sie die Tüchtigen zugunsten der Untüchtigen besteuern; ebenso, daß (in England) eine wahllose Einwanderung von Ausländern zum Schaden der »Rasse« zugelassen werde. - Ebenso wie Ellis besteht Dr. Max Nordau, 4 Ellis: Beachte Tönnies' Rezension von Havelock Ellis' Buch „Geschlechte und Gesellschaft. Grundzüge der Soziologie des Geschlechtslebens" (1. Teil, Würzburg 1 9 1 0 ) in Tönnies 1 9 1 2 a : 3 8 6 - 3 9 2 (erneut in TG 9, S. 5 9 3 - 5 9 9 ) . 12 „die Fortpflanzung ... zu hemmen": Vgl. (Havelock Ellis (in: Galton 1 9 0 5 : 28): „It would be something, however, if we could put a drag on the propagation of definitely bad stocks, by educating public opinion . . . " . 17 $ 1334: Vgl im Bürgerlichen Gesetzbuch vom 18. 8. 1 8 9 6 (Reichsgesetzblatt 1 8 9 6 , 105): „Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, der zur Eingehung der Ehe durch arglistige Täuschung über solche Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntniß der Sachlage und bei vollständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würde. Ist die Täuschung nicht von dem anderen Ehegatten verübt worden, so ist die Ehe nur dann anfechtbar, wenn dieser die Täuschung bei der Eheschließung gekannt hat. [Absatz] Auf Grund einer Täuschung über Vermögensverhältnisse findet die Anfechtung nicht statt.". 18 „Eben in naher Verwandtschaft":

Vgl. Huth 1875.

25 zum Schaden der .Rasse'zugelassen werde: Vgl. Alfred Henry Huth (in Galton 1 9 0 5 : 2 8 - 3 0 ) .

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

der Pariser Schriftsteller und Zionist, auf dem Unterschied zwischen Tierzüchtung, wie sie geübt werde, und Menschenzüchtung, wie sie gedacht werde; er weist auch darauf hin, daß jene ihre Triumphe auf Kosten der allgemeinen Lebenskraft erziele, daß die künstlichen Varietäten durchweg ohne menschliche Hege und Pflege unfähig wären, den Kampf ums Dasein zu bestehen. Die großen Schwierigkeiten, ein unanfechtbares Prinzip für die Menschenzüchtung aufzustellen, führt er in lebhaften Farben und ungefähr in denselben Gedanken, die ich gegen Schallmayer ausgesprochen habe, vor. Es komme, meint er, nicht sowohl auf die Auslese besonderer Individuen - denn jedes Individuum habe wahrscheinlich latente Qualitäten der besten Art (?) in sich - sondern auf die Herstellung guter Bedingungen für die Entwicklung der guten Qualitäten an. Die Eugenik müsse nicht als eine biologische, sondern als eine ökonomische Frage betrachtet werden. Den Glauben an die Wirksamkeit quasireligiöser Sanktionen hält er, unter den gegebenen Bedingungen heutiger Kultur, für irrtümlich; der moderne Mensch würde sich Gesetzen, die seine Freiheit in bezug auf Eheschließung neuen Einschränkungen unterwerfen, zu entziehen wissen. - Ein größeres Vertrauen bekundet der Spanier A. Posada; er erwartet aber besonderes Heil von dem Postulate der sittlichen Reinheit, insbesondere also der Keuschheit des Mannes vor der Ehe. - Wiederum hegt der italienische Ethnologe Sergi überwiegende Bedenken gegen die Ausführbarkeit der Galtonschen Idee. Er weist auf die Tendenzen im modernen Leben hin, die auf Lockerung des Ehebandes und auf »freie Liebe« abzielen und es besonders schwierig machen, irgendwelche Einschränkungen von neuer Form und Beschaffenheit einzuführen. Es sei auch illusorisch, zu erwarten, daß, allgemein gesprochen, aus intellektuellen Überzeugungen ein bewußter Verzicht auf sexuelle Beziehungen entspringen werde; fehle es doch nicht an Beispielen, daß Männer von hoher Kultur die Töchter wahnsinniger und epileptischer Eltern heiraten. (Hier könnte offenbar Galton antworten, eben dies und Ähnliches müsse solchen Leuten »abgelehrt« werden; wenn auch nicht ihre eigene Einsicht sie immer davon abhalten werde, so doch vielleicht die Scheu vor der öffentlichen Meinung, wenn diese einmal dahin erzogen sei, solche Ehen zu verabscheuen. Gleichwohl scheint mir Sergis erster Einwand wesentliche Bedeutung zu haben.) Es folgen die Bemerkungen des holländischen Sozio-

18 zu entziehen wissen-. Vgl. M a x Nordau (in Galton 1 9 0 5 : 3 0 - 3 3 ) . 20 vor der Ehe: Vgl. Adolfo Posada (ebd.: 3 3 f.). 29 Eltern heiraten: vgl. Giuseppe Sergi (ebd.: 35).

465

XVI. Eugenik

logen R. S. Steinmetz, der neben Galton auch Schallmayer zitiert und den leitenden Ideen beider zustimmt. Er kritisiert aber des ersteren Ausführungen über Polygamie, Endogamie und Exogamie und warnt vor seinen Schlüssen, sofern sie die Möglichkeit neuer und rationeller Eheregeln deduzieren wollen. Bei den zivilisierten (er meint heutigen) Männern und Frauen sei die »Rassenliebe« „von kläglicher Schwäche". „Ich setze weit mehr Hoffnung auf die Resultate aus intensiveren sozialen Anforderungen, aus Vermehrung und Wachstum pathologischer Erkenntnis, aus immer mehr erleuchteter Eigenliebe, als auf eine öffentliche Moral, die das zukünftige Geschick der Rasse in sich fassen soll." Steinmetz zollt aber, ebenso wie Sergi, der rein wissenschaftlichen Seite von Galtons Bestrebungen die wärmste Anerkennung. „Es ist eine Schmach für die Universitäten des Kontinents („a shameful reflection"), daß sie diese ganze Gruppe von Studien vernachlässigen, ebenso wie sie herkömmlicherweise das ganze Gebiet der Sozialwissenschaft auf die wirtschaftlichen Studien beschränken." Nach diesen internationalen Kundgebungen nimmt wieder ein Landsmann Galtons, Sir Richard Temple, das Wort. Er macht eine erste Anmerkung über die »eugenischen Studien«, eine andere über »Ehebeschränkungen«. Was jene betrifft, so vermißt er Definitionen der Ausdrücke »begabt« (gifted) und »befähigt« (capable); es sei geraten, jene als die mehr theoretisch, diese als die mehr praktisch tüchtigen Menschen zu verstehen. Man treffe aber wesentlich nützliche Eigenschaften als „Initiative, Diskretion, common sense, Ausdauer, Geduld, ja Temperament, Energie, und Mut" bei Individuen, namentlich bei Frauen an, die im übrigen keine besonders hohe geistige Qualitäten besitzen, daher zu den obskuren und in keiner Weise merkwürdigen Leuten gehören; und doch sei ohne diese Eigenschaften der Wert der »Begabten« und »Befähigten« fragwürdig. Ferner sei, wenn man nach dem Erfolge gehen und diesen 10 „Ich setze weit mehr ... in sich fassen soll.": Vgl. Sebaldus R. Steinmetz (ebd.: 37): „The race-love of civilised men and women is regretfully feeble." - „I put much more hope on this resultant of intensified social demands, of increase and spreading of pathological knowledge, and of evermore enlightened egoism than on public morals embracing the future of the race.". 16 „Es ist eine Schmach

... Studien zu beschränken"-.

Vgl. Steinmetz (ebd.: 38): „It is a

shameful reflection for Continental universities that this whole range of studies is neglected by them, and may be fittingly compared to their traditional narrowing of the whole field of social science to economics.". 28 Er macht eine erste Anmerkung

... und doch sei der Wert

... fragwürdig:

Vgl. Temple

(ebd.: 38): „The great practical difficulty in the inquiry on the lines indicated ... is that, especially among women - owing to their place in the world's work, - qualities essential

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statistisch feststellen wolle, nicht zu vergessen, daß zufällige Umstände (»das Glück«) für diese eine enorme Rolle spielen. In seiner zweiten Anmerkung meint Sir Richard, Eugenik sei in einem gewissen Sinne der älteste und allgemeinste Gedanke (»philosophy«) auf der Welt, und die konventionelle Einrichtung, die wir Ehe nennen, das äußere und sichtbare Zeichen dieses Gedankens. Bewußtes Denken kann Instinkte und dadurch Sitten ins Leben rufen, das ist aber bisher nur gelungen, wenn die Massen, die diesem Druck unterworfen werden sollen, in der Lage waren, den unmittelbaren persönlichen Vorteil gewahr zu werden, der durch die eingeschlagene Richtung für sie herauskam. Übrigens werden alle Ehebeschränkungen modifiziert teils durch ungeregelten Geschlechtsverkehr, teils durch Hetärismus. Es sind die Rebellionen gegen die konventionelle Geltung der Ehe. Auch sonst sind große Gefahren mit der bewußten Leitung der Eugenik verbunden. - Auch meine eigenen Anmerkungen erlaube ich mir hier in verkürzter Übersetzung (sie waren englisch geschrieben) wiederzugeben. Sie waren in acht Nummern gebracht, nachdem eine allgemeine Zustimmung zu Mr. Galtons Ideen vorausgegangen war: 1. Physische, intellektuelle und moralische Tüchtigkeit sind das erwünschte Ziel; diese Tüchtigkeiten - ich nehme an, daß Galton mit seinen Ausdrükken Constitution, physique und intellect dieselben meint - variieren zwar nicht unabhängig voneinander, aber sie haben doch auch eine Tendenz, sich auszuschließen; namentlich ist bedeutender Verstand oft mit zarter Gesundheit und ebenso oft mit geringen sittlichen Qualitäten verbunden und umgekehrt. Es bleibt unklar und ist doch, wie mir scheint, die große Frage, ob Eugenik einen dieser Vorzüge auf Kosten des oder der anderen begünstigen soll, und ob einer von ihnen unter allen Umständen den Vorzug verdient. (Dieser Einwand stimmt überein mit meinen Ausführungen gegen Schallmayer und auch mit dem, was andere Kritiker über die charakteristischen Merkmale der Tierzüchtung bemerkt haben.) 2. Es würde unter gegenwärtigen sozialen Verhältnissen eine Grausamkeit sein, die durchschnittliche intellektuelle Befähigung einer Nation auf das Niveau ihrer besseren Hälfte (siehe oben) zu heben. Denn es würde die to usefulness are frequently present in individuals who are otherwise possessed of no specially high mental qualities, and are therefore ,unknown,' and in no way remarkable: such qualities as initiative, discretion,,common sense,' perseverance, patience, even temper, energy, courage, and so on, without which the .gifted' and the ,capable' are apt to be of no practical value to the world.". 14 Leitung der Eugenik verbunden: Vgl. Temple (in Galton 1905: 39 f.). 14 meine eigenen Anmerkungen: Vgl. ebd. (40—42) „Professor Tönnies".

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Menschen ihres Elends um so bewußter machen, unter dem sie schon jetzt, so gedankenlos auch die große Menge ist, schwer genug seufzen. 3. Gerade die Steigerung der intellektuellen Qualitäten bedeutet auch die Gefahr eines weitergehenden Verfalles der sittlichen und sympathischen Gefühle. Intelligenz befördert Egoismus und Genußsucht, sehr gegen die Interessen der »Rasse«. 4. Kräftiger Körper scheint mit einigen Stücken unserer sittlichen Natur korrelat zu sein, aber nicht mit allen. Verfeinerung des sittlichen Gefühls und Taktes sind mehr intellektueller Natur und eben deshalb eher mit schwacher Leiblichkeit verbunden. 5. Galtons Schlußfolgerung, daß ähnliche Motive sozialen und religiösen Charakters, die bisher auf die Eheschließung gewirkt haben, möglicherweise in Zukunft »unangemessenen« (unsuitable) Ehen vorbeugen können, und daß dies sehr heilsame Wirkungen haben würde, ist theoretisch nicht anfechtbar; ich zweifle aber sehr, ob eine hinlängliche Einmütigkeit über die Frage sich herstellen lasse: welche Ehen sind »unangemessen«? - 6. Freilich kann eine ausreichende Forschung über die Wirkungen der Vererbung dieser Einmütigkeit förderlich sein. Die Bedeutung dieses Studiums habe ich schon vor mehr als 25 Jahren scharf ins Auge gefaßt, und doch bin ich genötigt zu glauben, daß das praktische Ergebnis schwerlich erheblichen Wert haben wird. Schon unsere gegenwärtige Erkenntnis in diesem Gebiete, dürftig und unzusammenhängend wie sie ist, genügt, um viele Ehen, die durch soziale Konvention, durch Religion und Sitte ihrer Art nach speziell begünstigt werden, für vernünftige Menschen in hohem Grade »unangemessen« erscheinen zu lassen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Wissenschaft einen Einfluß gewinnt, so bedeutend, daß er die mächtigen Einflüsse auf- oder gar überwiegen könnte, die fortwährend besondere Arten der Ehe gefördert und gehemmt haben. Anderseits macht auch jetzt die Stimme der Vernunft oft, sowohl in moralischer wie in hygienischer Hinsicht, vergebens sich geltend; sie wird oft genug vertreten durch Eltern, im Gegensatz zu den Neigungen oder gar den Leidenschaften ihrer Kinder (insbesondere der Töchter), und gerade in unserem Zeitalter sind die vorwaltenden Tendenzen sehr zugunsten individueller Wahlfreiheit und verkünden das Naturrecht der Liebe; die Stimme der Vernunft ist nur allzuoft machtlos dagegen. So hat die Eugenik gegen zwei Fronten zu kämpfen: gegen die Konvenienzehe auf der einen, die Liebesehe auf der anderen Seite. 7. Freilich gilt dies besonders für die oberen sozialen Schichten, wo ein gewisser Einfluß der Wissenschaft noch eher als in der großen Menge erwartet werden kann. Galton will, daß die nationale Bedeutung der Eugenik in das nationale Gewissen gleich einer neuen Religion einge-

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führt werde. Ich glaube nicht, daß dies möglich sein wird, es sei denn, daß die Bedingungen unseres täglichen Lebens völlig umgewälzt wären. Die Funktion der Religion ist immer gewesen, drückenden Übeln unmittelbare Erleichterung zu schaffen und diese mit Hoffnungen auf ein individuelles künftiges Leben zu verknüpfen. Das Leben der Art ist ein Gegenstand, der dem Volksgefühl durchaus fremd ist, und wird es bleiben, wenn nicht eben die Masse der Plage und Sorge des Tages in einem Maße überhoben wird, wie wir es jetzt nicht einmal vorzustellen vermögen. 8. Einstweilen ist aber die Sicherung eines allgemeinen intellektuellen Willkommens für die Eugenik das einzige, worauf es ankommt, und mit diesem brauchen wir nicht zurückzuhalten. - A. Weismann, der berühmte Biologe, wirft die Frage auf, ob eine erbliche Krankheit wie die Tuberkulose (sehr auffallend, daß gerade W. diese direkt als eine erbliche Krankheit bezeichnet), wenn sie einmal in einer Familie aufgetreten sei, wieder verschwinden könne; er hält dies für möglich, weil einzelne Zellen eines infizierten Keimplasmas von Bazillen frei bleiben können und meint, wenn es nicht der Fall wäre, so würde es kaum mehr eine Familie geben, die von erblichen Krankheitsanlagen ganz unberührt bliebe. Beachtenswerten Zweifeln gibt zum Schlüsse Victoria Lady Welby Ausdruck, die einzige Frau, die an den schriftlichen Meinungsäußerungen teilgenommen hat. Sie betont, daß die Hingebung an das Ideal der Artverbesserung regelmäßig ein Opfer an Gemütswerten fordern werde, und daß wir einem „praktischen Paradoxon" immer wieder gegenüberstehen. „Die Ehe, welche höchste Wohlfahrt von Mann und Weib begründet, kann geradezu verhängnisvoll sein für die Kinder, die aus dieser Verbindung entspringen und umgekehrt. Die höhere menschliche Entwicklung, die wesentlich Hirn und Hand vervollkommnet hat, ist dem übrigen Organismus nicht in entsprechender Weise zugute gekommen, insbesondere nicht den weiblichen Reproduktionsorganen, die sogar einer Rückbildung unterliegen. Sicherlich haben wir hier den Schlüssel zu vielen sozialen und ethischen Schwierigkeiten in der Ehefrage." Die Entwicklung 11 Weismann-. Vgl. August Weismann (ebd.: 4 2 f.) 30 Ehefrage:

Tönnies übersetzt aus zwei Textstellen recht frei: „We are always confronted

with a practical paradox. The marriage which makes for the highest welfare of the united man and woman may be actually inimical to the children of that union." (Victoria Lady Welbly, ebd.: 4 3 ) - „... human development is a development of the higher brain and its new organ, the hand. It may, I suppose, be said that the rest of the organism has not been correspondingly developed, but remains essentially on the animal level. What especially concerns us here is that this includes the uterine system, which has even tended to retrograde. Here, surely, we have the key to many social and ethical difficulties in the marriage question." (ebd.: 44).

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unseres Hirnlebens hat die organische Balance gestört und die intuitive Sicherheit der Reaktion auf gegebene Reize vermindert. Möglich, daß die Schaffung eines „eugenischen Bewußtseins" in dieser Richtung restaurierend wirken kann. Aber dies Bewußtsein setzt schon eine starke Dosis ursprünglichen und gesunden »Muttersinnes« voraus, der gar leicht erstickt wird durch die sonst unschätzbaren Kräfte abstrakten Denkens. Diesen elf mehr oder minder ausführlichen Kundgebungen folgen von neun anderen Korrespondenten kürzere und größtenteils zustimmende Bemerkungen, um dann Galtons Schlußwort Platz zu machen, das auf fünf Punkte speziellen Bezug nimmt. 1. Was eugenische Zeugnisse betrifft, so räumt er ein, daß wir noch keine genügenden Daten dafür besitzen (dies bezieht sich auf eine in der Diskussion gefallene Äußerung). Wohl aber gebe es Individuen, die in außerordentlichem Maße und unfraglicherweise ungeeignet seien, der Nation Nachwuchs beizusteuern, und die besten Methoden, mit diesen zu verfahren, seien für unmittelbare Überlegung reif. 2. Die Züchtungsfrage (breeding for points). Einstimmigkeit sei doch darüber vorhanden, daß Gesundheit und Kraft erwünscht seien, und dies gebe einen sicheren Ausgangspunkt. Er habe nie daran gedacht, Menschen wie Tiere auf gewisse Qualitäten zu züchten, ohne Rücksicht auf allgemeine Tüchtigkeit in physischen, intellektuellen (einschließlich moralischen) und hereditären Bezügen 2 . Überdies lehre die Statistik, daß die besten Qualitäten in weitem Umfange korrelat sind (Galton bezieht sich hier auf Untersuchungen, die teils von ihm selber, teils von Karl Pearson und 2

In seinem Memorandum hatte Galton von „Constitution, physique and intellect" als den drei Faktoren, auf die es ankomme, gesprochen. Die zugrunde liegende Einteilung war mir rätselhaft, und ich versuchte, sie dahin zu deuten, daß „Constitution" alle Willensanlagen, also das Moralische, in sich begreifen solle. In diesem Schlußworte führt G. an erster Stelle, wo er von Prüfungen und Zeugnissen redet, „health, physique, moral and intellectual powers, and hereditary gifts" vor, um sodann, wie oben, auf die Dreiteilung zurückzukommen. Gehören die physischen und intellektuellen Anlagen nicht zu den hereditary gifts oder qualifications? - Klarer ist der Gedanke nicht geworden. (Das Wort physique hat im Englischen besonderen Bezug auf die äußere Erscheinung, also körperliche Schönheit, und es scheint bei Constitution auch nur an körperliche Eigenschaften gedacht worden zu sein.) 9 zustimmende 9 Schlußwort:

Bemerkungen:

Vgl. Galton 1 9 0 5 : 46—48.

Vgl. ebd. ( 4 9 - 5 1 ) „Mr Galton's reply".

24 Karl Pearson: Vgl. aus dessen umfangreichen Werk z. B. Pearson 1 8 9 7 . 29 „health ... and hereditary gifts": Vgl. Galton 1 9 0 5 : 4 9 . 31 oder qualifications?: Vgl. ebd. (50): „No question has been raised by me of breeding men like animals for particular points, to the disregard of all-round efficiency in physical, intellectual (including moral), and hereditary qualifications.".

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dessen Schülern angestellt worden sind). „Die Jünglinge, die in England Bischöfe, Richter, Staatsmänner und Leiter des Fortschrittes wurden, hätten zu ihrer Zeit gewaltige Gespanne von Athleten abgegeben. Es gibt eine Erzählung, ich weiß nicht, wie weit sie tatsächlich begründet ist, daß Königin Elisabeth ein Augenmerk auf die Waden der Männer hatte, die sie zu Bischöfen ernennen wollte. Es läßt sich einiges dafür sagen, Leute nach ihren physischen Merkmalen für andere als physische Zwecke auszulesen. Es wäre entschieden sicherer als dem bloßen Zufall zu vertrauen." Gegen den Einwand (der in den kürzeren Notizen vorkommt), daß, wenn man die geringere Hälfte einer Rasse sich selber für eheliche Verbindungen überlasse, ihre Produkte zunehmenderweise inferior sein werden, macht Galton die Regel der „Rückkehr zum Durchschnitt" geltend, und wenn man auch unter diesen den selektiven Potenzen freien Spielraum gebe, so würde der so ausgelesene Teil der Nachkommenschaft sogar noch besser sein. Zum vierten geht Galton auf den Einwand ein, der aus der Liebesleidenschaft genommen wird. Er bedauert, daß er nicht im Vorwege auf den Unterschied zwischen den beiden Stufen von leichter Neigung und der völligen Verliebtheit aufmerksam gemacht habe, denn es sei die erste mehr als die zweite, der, wie er hoffe, das Volksgefühl der Zukunft erfolgreichen Widerstand leisten werde. „Wenn man ein Mädchen gelehrt hat, eine Klasse von Männern als tabu anzusehen, sei es wegen Ranges, Konfession, Anhangs oder aus anderen Gründen, so betrachtet es solche Männer nicht als mögliche Ehegatten und gibt ihren Gedanken eine andere Richtung." Endlich kommt noch unser Autor auf Eugenik als religiösen Faktor zurück und widmet diesem Thema eine besondere Betrachtung, von der schon oben die Rede gewesen ist. Sie tönt in folgenden Sätzen aus: „Der »eugenische Glaube« gibt dem verwandtschaftlichen Bande eine hervorragende Bedeutung und erweckt Liebe und Interesse an Familie und Abstammung auf kräftige Weise. Kurz, Eugenik ist ein männliches Credo, das, voll von 8 „die Jünglinge,

die in England Bischöfe ... Zufall zu vertrauen.":

Vgl. Galton ( 1 9 0 5 : 50):

„The youths who became judges, bishops, statesmen, and leaders of progress in England could have furnished formidable athletic teams in their times. There is a tale, I know not how far founded on fact, that Queen Elisabeth had an eye on the calves of the legs of those she selected for bishops. There is something to be said in favour of selecting men by their physical characteristics for other than physical purposes. It would decidedly be safer to do so than to trust to pure chance.". 23 „Wenn man ein Mädchen

... eine andere Richtung.":

Vgl. ebd. (51): „If a girl is taught

to look upon a class of men as tabooed, whether owing to rank, creed, connections, or other causes, she does not regard them as possible husbands and turns her thoughts elsewhere.".

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Hoffnungsstimmung, an viele der edelsten Gefühle unserer Natur appelliert." Ein kurzes Wort der Kritik sei diesem Bericht und Auszuge hinzugefügt. Soweit bei Galton überschwängliche Hoffnungen und Erwartungen zum Ausdrucke gelangen, kann man ihnen nicht viel mehr als eine allgemeine, wenn auch stark begründete Skepsis entgegenhalten. Wenn er seinerseits anstatt auf Sitten und Religionen von Naturvölkern sich auf die unermeßlichen Veränderungen und Umwälzungen berufen wollte, die im materiellen Leben durch Naturwissenschaft und Technik während der zwei bis drei letzten Menschenalter hervorgerufen wurden, um daraus zu folgern, daß nunmehr die Zeit gekommen sei für ebenso tiefgehende Wandlungen in unserem geistigen und sittlichen Leben, in unseren sozialen und politischen Anschauungen wie Institutionen, und daß voraussichtlich das Bedürfnis danach, die Erkenntnis ihrer Notwendigkeit rasch zu einer gewaltigen motorischen Kraft anwachsen werde, so würde ich denken, daß er sich auf festerem Grunde bewege. Indessen ist die Diskussion zukünftiger Möglichkeiten, die nach allgemeiner Übereinstimmung in erklecklich weiter Ferne liegen, nicht eben fruchtbar; der Phantasie ist hier zu viel freier Spielraum offen. Wichtiger ist es, zu erörtern, ob das vorgelegte Denkgebilde in sich hinlänglich durchsichtig und wohlgefügt sei, als die utopische Spitze zu betrachten, in die es ausläuft. Hier ist es aber notwendig, streng zu unterscheiden zwischen den rein wissenschaftlichen Plänen und den daran geknüpften praktischen Ideen. Gegen jene läßt sich nicht nur nichts einwenden, sondern sie verdienen die lebhafteste Aufmunterung. Ein unermeßlich weites und sehr interessantes Feld ist der Forschung hier aufgetan. Die bisherigen Erkenntnisse über Vererbung, besonders solche von intellektuellen und moralischen Anlagen, sind dürftig und kasuistisch. Es handelt sich zunächst um eine massenhafte Sammlung und kritische Analyse von Tatsachen. Die Schemata dafür hat Galton gegeben; sein Beispiel dafür sollte in anderen Ländern Nachahmung finden. Und wenn auch die Forschung in sich selber ihre Gewähr und Rechtfertigung trägt, so darf sie doch auf das allgemeine Interesse utilitarischer und idealer Art sich stützen, das diesem Wissensgebiet mehr als vielen anderen entgegenkommt. Anregungen werden daraus sicherlich viele entnommen werden, und wie ich meine, solche von sehr mannigfacher Art. Insoweit als sich 2 „Der,eugenische'

Glauben ... Natur appelliert.": Vgl. ebd. (53): „Eugenic belief ... brings

the tie of kinship into prominence and strongly encourages love and interest in family and race. In brief, eugenics is a virile creed, füll of hopefulness, and appealing to many of the noblest feelings of our nature.".

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feste und sichere Kausalzusammenhänge ergeben werden, so wird man um so mehr sich danach richten, je mehr andere Motive und Ursachen in die gleiche Richtung weisen. So ist die Neigung zwischen nahe verwandten Personen, namentlich Vettern und Kousinen, Liebes- und Ehebündnisse zu schließen, von Natur stark und wird durch die Lebensverhältnisse in hohem Grade begünstigt. Die Gelegenheiten zu naher Bekanntschaft, zu vertraulichen Jugendfreundschaften, Briefwechseln und Tändeleien, die zumeist bestehende Ähnlichkeit der Lebensgewohnheiten, der Standesund Vermögensverhältnisse, Gemeinsamkeit der Religion und sonstiger Weltanschauung und Lebensansichten, der Heimat und Sitte, ja oft auch die Verwandtschaft des Temperaments und Charakters - sind lauter Momente, die stark zugunsten solcher Verbindungen ins Gewicht fallen und auch recht oft, wenn meine persönliche Beobachtung mich nicht täuscht, gerade diese Ehen zu Quellen persönlichen Glückes und innigen Verständnisses macht. Es sind eben diese streng endogamischen Ehen in gewisser Hinsicht die allernatürlichsten Ehen! - Nun aber wirkt ihnen mit sehr beträchtlicher Stärke die Meinung entgegen: es wird darauf hingewiesen als auf allgemeine Erfahrung, daß aus solchen Ehen sehr oft schwächliche, ja mit Fehlern und Mängeln behaftete Kinder hervorgehen. Galton nennt diese Meinung »unvernünftig«, wie wir sahen; er behauptet (in diesem Memoire, S. 10), daß eine vereinzelte Paarung dieser Art so gut wie unschädlich sei, während allerdings fortgesetzte nahe Inzucht nach wenigen Generationen üble Folgen habe. Voraussichtlich werden die eugenischen Forschungen auch diese Frage von neuem in Angriff nehmen; sollten sie eine Bestätigung der Galtonschen Ansicht - die sich offenbar hauptsächlich auf die Studien von Darwin jun. stützt - ergeben, so würde dies eine starke Ermutigung jener Verwandtenehen bedeuten, soweit denn solche wissenschaftliche Ergebnisse bekannt werden und soweit sie eingewurzelten Urteilen entgegenzuwirken vermögen; denn ganz leicht wird es in diesem Falle nicht werden, die Überzeugung, daß es leere Vorurteile seien, stark genug werden zu lassen, um praktisch den Ausschlag zu geben. Freilich, wenn andere Motive da sind, um „das Ergebnis der Wissenschaft" als Waffe zu ergreifen oder als Hilfstruppe heranzuziehen! Und das würde, wie vorausbemerkt wurde, in weitem Umfange der Fall sein 3 . 3

Die Literatur über die Folgen konsanguiner Ehen ist übrigens schon alt und von nicht geringem Umfange. Ihre Ergebnisse widersprechen sich aber stark. Vgl. u. a. die Zusam-

21 in diesem Memoire:

Siehe Galton 1 9 0 5 .

26 Darwin jun.: Vgl. George Howard Darwin 1 8 7 5 (dt. 1876).

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Der normale Erfolg dieser Forschungen soll aber ja von ganz anderer Art sein, von entgegengesetzter: die Eugenik soll prohibitiv wirken! Man soll erkennen lernen, daß die Verbindung mit einem Menschen, der (oder die) an erblichen Mängeln leidet, wahrscheinlich eine Nachkommenschaft mit gleichen oder ähnlichen Mängeln erzielt, also eugenisch vom Übel ist. Wird dies eine neue Erkenntnis sein? Nein; wie es denn nicht sehr viele wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die ihrem wesentlichen Inhalte nach ganz neu sind. Im großen und ganzen beschränkt sich Wissenschaft darauf, 1. was qualitativ schon gewußt wird, quantitativ zu bestimmen, 2. entgegenstehende, abergläubische und durch Interessen diktierte Meinungen zu dämpfen. In diesem Falle wird sich die Meinung, daß solche Ehen ganz ungefährlich seien, kaum hervor- oder doch nicht über private Zirkel hinauswagen. Man wird aber oft meinen, daß die Gefahr unter gewissen günstigen Umständen nicht erheblich, und daß diese gewissen Umstände tatsächlich gegeben seien; man wird glauben, daß ihr, gerade wenn man sie kennt, um so eher mit Erfolg entgegengewirkt werden könne; man müsse eben für heilsame Lebensbedingungen sorgen, damit die schädlichen Keime nicht zur Entwicklung gelangen. Den Kindern aus solcher Ehe müsse eine besondere Sorgfalt zugewandt werden, und wenn man in der angenehmen Lage sei, dies zu können, so habe es mit der Gefahr nicht so viel auf sich. Dies trifft denn freilich nur für eine kleine Minderheit zu, aber diese kleine Minderheit wird am ehesten eugenischen Erwägungen zugänglich sein. Wird sich nun wissenschaftlich ergeben, wie eng die Grenzen sind, innerhalb deren solche Aufbesserung schlechter Anlagen möglich ist? Schwerlich; denn sie wird in die Zusammenhänge individueller Fälle nicht so tief hineindringen können. Aber sie wird vielleicht (ja wahrscheinlicherweise) ergeben, daß die Gefahr, z. B. mit einer Frau aus tuberkulöser oder herzkranker Familie Kinder zu erzeugen, die an unheilbaren Gebrechen leiden, die zu frühem Tode oder lebenslänglichem Siechtum prädestiniert sind, viel größer ist, als sie geschätzt zu werden pflegt, sie wird den Grad der Wahrscheinlichkeit bestimmen, wonach etwa regelmäßig auf 100 aus einer solchen Ehe hervorgehende Kinder nur 15-20 ganz normale und gesunde Individuen kommen. Das wird dann freilich eine eindringlichere Warnung vor solchen Ehen bedeuten, als sie auch

menstellungen bei Woltmann,

Pol. Anthropol. S. 1 0 7 ff., w o aber nur ein kleiner Teil der

Literatur benutzt ist.

35 S. 107 f f . : Vgl. Woltmann 1 9 0 3 .

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schon jetzt von Ärzten und sonst von erfahrenen und denkenden Leuten ausgesprochen wird. Immer aber wird sie nur ein Moment in der Wagschale ausmachen, zuweilen das ausschlaggebende, aber wie viele andere Gedanken und Gefühle sprechen bei der Eheschließung mit! Mit wieviel Schein wird oft behauptet werden können, der gegebene Fall liege anders, als er durch die abstrakte Statistik repräsentiert werde! Gesetzt aber, die Erkenntnis gewänne wirklich so starken Einfluß, wie er im Sinne der Eugenik gewünscht wird, soll die Folge dann sein, daß gewisse Kategorien von Menschen überhaupt von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden? Ja, meint Galton, und meinen viele mit ihm, z. B. solche mit kriminellen Anlagen. Auch wenn diese durch Körperkraft, Gesundheit, Mut und Intelligenz sich auszeichnen, und wenn ihre Söhne voraussichtlich sehr tüchtige Soldaten, zumal für den Dienst in fernen, wilden Gegenden abgeben (wie denn tatsächlich in der englischen Armee die Zöglinge der Reformatory und Industrial Schools, also fast ausschließlich Kinder von Spitzbuben, Prostituierten, stark vertreten sind und durchweg in befriedigender Weise ihre Pflichten erfüllen?) Nicht, im Interesse der physischen Rassequalitäten, vielmehr die mit tuberkulösen Anlagen, mit Herzfehlern, Hernien, Myopie behafteten? Aber, abgesehen von den Chancen, diese Ausschließung zu bewerkstelligen, würde sie nicht gar zu viele treffen? Oder soll nur die Verbindung gleichartiger Mängel vermieden werden? Das wäre schon eher tunlich und würde mir allerdings als das nächste und wichtigste Ziel erscheinen. Aber damit wäre freilich für eine positive Rassezüchtung nicht viel gewonnen, und das scheint mir die größte Schwäche in Galtons Ideen, daß er dies Ideal nicht gehörig scheidet von der bescheideneren Aufgabe, die absolut unsuitable marriages, als welche ganz offenbar die Paarungen von Männern und Frauen, die mit gleichartigen fehlerhaften Anlagen belastet sind, sich darstellen, zu verhindern. Ferner aber hat doch, was die eigentliche Züchtung betrifft, der verdiente Gelehrte die Einwände hinsichtlich der »points« gar zu leicht genommen. Ich hatte diese dahin ausgedrückt, daß es unklar sei, ob und wiefern die Meinung ist, eine Klasse von Vorzügen auf Kosten einer oder aller anderen zu pflegen und züchterisch zu begünstigen. Ich finde aber, daß Galton zunächst und unmittelbar wohl ausschließlich an intellektuelle Begabung gedacht hat, wie ja auch unsere deutschen Theoretiker in diesem 15 Reformatory and Industrial Schools: [engl.] svw. Besserungsanstalten für straffällig gewordene Jugendliche. 17 ihre Pflichten erfüllen?)-. Korrekt (so auch in A): ihre Pflichten erfüllen)?. 32 Kosten: In A hervorgehoben.

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Gebiete um den „Nachwuchs der Begabteren" sich am meisten Sorge machen. In seiner Antwort aber beruft sich Galton auf die Korrelation zwischen den guten Qualitäten und stellt die Rücksicht auf leibliche Kraft und Gesundheit in den Vordergrund, wie denn dies durchaus geboten ist, wenn man die Dauerhaftigkeit und etwa auch die Wehrfähigkeit einer Nation oder »Rasse« im Auge hat. Wenn er aber, was die Frage der geistigen und sittlichen Begabung angeht, sich dabei beruhigt, daß die Anlagen in weitem Umfange korrelat sind, und daß man, wo es um die allgemeine Qualifikation für besondere Leistungen sich handle, immer noch besser auf physische Tüchtigkeit als auf den reinen Zufall sich verlasse, so weicht er den Schwierigkeiten der Sache sichtlich aus. Die »jungfräuliche« Königin mag ihre Gründe gehabt haben, bei den Geistlichen, die ihr präsentiert wurden, nach den Waden zu sehen; sie war ohne Zweifel der Meinung, daß es für ein Kirchenregiment, wie die Monarchie es wünschen mußte, gegenüber den grassierenden puritanischen d. i. demokratisch-religiösen Bewegungen (die der Autokratin spezifisch verhaßt waren), mehr auf Derbheit, Energie, ja Brutalität, als auf sonderliche geistige und geistliche Gaben ankomme; aber wie die Gewaltpolitiker so oft Lügen gestraft werden, so war auch für ihre Prinzipien der Erfolg - in der „puritan rebellion"! - Die katholische Kirche hat gewiß recht, wenn sie grobe leibliche Mängel als disqualifizierend fürs geistliche Amt ansieht; aber innerhalb der hierdurch gezogenen weiten Grenzen kommen für sie, wie für jede mit Weisheit geleitete Institution, moralische und intellektuelle Qualitäten allein in Wettbewerb; in der richtigen Bemessung des relativen Gewichtes dieser beiden Arten ist schon eine nicht leichte Aufgabe gestellt, und die körperliche Tüchtigkeit, so erwünscht sie in mancher Hinsicht ist, muß notwendigerweise dagegen zurücktreten. Ebenso wird es unvermeidlich sein, wenn man auf eheliche Verbindungen zugunsten der Erzielung geistig hervorragender Kinder einwirken will, weniger Gewicht auf Kraft und Gesundheit zu legen, möge man die Verbindung der Vorzüge noch so hoch schätzen. Normale körperliche Beschaffenheit garantiert im allgemeinen einen Durchschnittsverstand, aber auch nicht mehr. Jedenfalls wächst der Verstand nicht proportional mit der Körpergröße, Muskelstärke, Sehschärfe usw. Eher umgekehrt. Ich will aber hier nicht wiederholen, was ich in betreff des Schallmayerschen Buches ausgeführt habe. Daß große und tiefe Probleme in der Sache liegen, anerkennt ja auch Galton durchaus. Auch der Gesichtspunkt, den Lady Welby hervorhebt, 35 was ich ... ausgeführt

habe: Vgl. S. 218 ff., 337 ff. und 4 2 7 ff. in diesem Band.

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daß es sehr oft - auch abgesehen von Neigung und Liebe der Individuen um Konflikte zwischen dem wirklichen Glück eines Paares einerseits, guter Nachkommenschaft anderseits sich handeln wird, ist von nicht geringer Bedeutung. Aber das wird man wiederum Galton, Schallmayer u. a. einräumen und vielleicht noch über sie hinausgehend betonen müssen, daß 5 tatsächlich bei Erwägungen, die sich auf die Ehe beziehen, 1. der Wert einer guten Nachkommenschaft (in welchem Sinne auch ihre Güte geschätzt werden möge) an sich, 2. der Wert, den sie auch besonders für die Eltern hat, 3. das Glück, das aus heiler und tüchtiger Beschaffenheit für die Nachkommen selber entspringt, in jammervoller, ja sträflicher Weise ver- 10 nachlässigt zu werden pflegt.

XVII. Das Wesen der Soziologie 1

1

Vortrag in der Gehe-Stiftung 1907. 2 Das Wesen der Soziologie: Der Text wurde zuerst veröffentlicht unter dem Titel: Das Wesen der Soziologie. Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 12. Januar 1907. Dresden: v. Z a h n 8c Jaensch 1907. Er erschien gleichzeitig und identisch als Separatdruck und im Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden „Neue Zeit- und Streitfragen" (4. Jg., Oktober 1906-Juni 1907, Bd. 13, S. 5 1 - 7 8 , im Folgenden: A). - Die an den Titel angehängte Fußnote fehlt in A.

Die Tatsachen des menschlichen Zusammenlebens unterliegen einer dreifachen wissenschaftlichen Betrachtung und Erkenntnis. Diese Arten pflegen nicht auseinandergehalten zu werden, und dies ist freilich auf vollkommene Weise nicht möglich. Sie pflegen aber auch nicht begrifflich unterschieden, also in ihrem Wesen nicht gehörig erkannt zu werden, und dies ist allerdings möglich; es ist auch geboten und notwendig. Man muß nämlich unterscheiden: A. die biologische, B. die psychologische und C. die eigentlich soziologische Ansicht der Tatsachen des menschlichen Zusammenlebens. Es ist nicht schwer zu verstehen, wie die biologische und die psychologische Ansicht dieser Tatsachen voneinander verschieden sind. Wir sind es durchaus gewohnt, den Menschen, und wir lernen mehr und mehr, alle organischen Wesen, einerseits als Physis, anderseits als Psyche zu betrachten. So ist auch das »Zusammenleben« der Menschen, wie anderer Organismen, zugleich Gegenstand der Naturbeschreibung und Gegenstand der Geistbeschreibung (wenn das Wort gestattet ist). Bei niederen Organismen wird die »Symbiose« so gut wie ausschließlich als Naturereignis, nämlich als Tatsache wechselseitiger Ernährung, Stütze usw. begriffen; mit dem Seelenleben der Tiere und Pflanzen pflegt der Naturforscher ohnehin sich nicht eingehend oder gar nicht zu befassen. Dies hängt damit zusammen, daß man von altersher die Erkenntnisfunktionen als die primäre Erscheinung des Geistes und dazu gar die menschliche Seele als Normalseele aufzufassen gewohnt ist - Denkformen, von denen wir schwer und langsam uns ablösen - , aber mehr und mehr dringt der »Voluntarismus« durch, der das Trieb- und Gefühlsartige als das allgemeine Erbteil der organischen Wesen auch bei den Elementarorganismen und den Pflanzen anzunehmen als notwendig einsieht und der die Seele nicht für ein Wesen hält, das auf irgendeine rätselhafte Art mit dem Leibe »verbunden« sei sondern für das Wesen des Organismus selbst, insofern als er an und für sich und nicht bloß für die Erkenntnis anderer Seelen vorhanden ist. Das Leben der Menschen, und somit auch ihr Zusammenleben, können wir zwar »von außen« betrachten; aber wir können es nur »von innen« verstehen, d. h. wir müssen es deuten von unserer Selbsterkenntnis aus, wodurch wir wissen, daß die Menschen von gewissen heftigen Trieben notwendig bestimmt werden, von starken Gefühlen, die das Gefördert-

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und das Gehemmtwerden dieser Triebe begleiten, und daß sie ihre Sinnesempfindungen und den Verstand, worin diese sich sammeln, als Führer, Spürer und Warner gebrauchen, um Freundliches und Feindliches, Günstiges und Gefährliches auch aus der Ferne voraus zu unterscheiden. So sind es auch Komplexe von Gefühlen und Empfindungen, was die Menschen zusammenhält und zusammenführt, was sie aneinander »bindet« und miteinander »verbindet«, denn sie sind nicht durch ein »äußeres«, physisches Band verbunden, wie etwa zwei Gefangene, die, am Handgelenk gefesselt, zusammen transportiert werden, sondern nur im bildlichen Ausdrucke sprechen wir von psychischen Bindemitteln, von Banden der Liebe und Freundschaft, von Verbindungen und Verbänden der Menschen. Wir wissen, daß die sozialen oder menschenfreundlichen Antriebe und Gedanken in fortwährendem Widerspruch und Streit mit solchen von entgegengesetzter Art leben, daß Liebe und Haß, Vertrauen und Mißtrauen, Dankbarkeit und Rachgier einander kreuzen, daß aber auch Furcht und Hoffnung und, auf Grund dieser Affekte, die menschlichen Interessen und Pläne einander teils harmonisch, teils disharmonisch begegnen, daß also Gefühle und Erwägungen die Menschen, sowohl einzelne als Gruppen aller Art, teils verknüpfen, teils entzweien. Der psychologischen Ansicht des menschlichen Zusammenlebens sind die Anziehungen und Abstoßungen, die Hilfeleistungen und die Kämpfe, friedliche Vereinigungen und kriegerische Konflikte an und für sich gleich wichtig und interessant. Die biologische Ansicht beachtet diesen Unterschied überhaupt nur in seinen Wirkungen: sofern Leben vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird. Die soziologische Ansicht, im Unterschiede von beiden, hat es wesentlich und in erster Linie mit den Tatsachen, die ich Tatsachen gegenseitiger Bejahung nenne, zu tun. Sie untersucht diese im engeren und eigentlichen Sinne sozialen Tatsachen und analysiert ihre Motive, sie muß, wie ich behaupte, vor allem ihre Aufmerksamkeit auf den bedeutenden Unterschied richten, ob gegenseitige Bejahung auf dem Grunde vorwiegender Gefühls- oder vorwiegender Denkmotive vorliegt; sie muß den Prozeß verfolgen, den ich in dieser Hinsicht als die Entwicklung von Wesenwillen zu Kürwillen bezeichne. Wesenwille 33 Kürwillett: In A steht hier wie im weiteren Text „Willkür" für Kürwille. Dies ist im Folgenden nicht einzeln nachgewiesen. Seit der 3. Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft" ersetzte Tönnies den Begriff Willkür durch Kürwillen,

um dadurch festzulegen,

„daß der Begriff selber ein freigebildeter Begriff ist. Außerdem habe ich fortgefahren, Fremdwörter, die keinen abgesonderten Sinn haben, auszuschalten." (vgl. Tönnies 1 9 2 0 : III).

XVII. Das Wesen der Soziologie

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ist der gewordene Wille, Kürwille ist der gemachte Wille. Der Mensch ist zur Bejahung des Menschen und also zur Verbindung mit ihm von Natur »geneigt«: nicht bloß durch »Instinkte«, wenn sie auch die stärksten Antriebe ergeben, sondern auch durch »edlere« Gefühle und ein vernünftiges Bewußtsein; aus dem Geneigtsein erwächst das Wollen und die ausgesprochene Bejahung, die den »Wert« des bejahten Gegenstandes kennt und in bezug darauf sowohl als ganze, wie als dauernde sich richtet. In den mannigfachen Formen dieser Bejahung wird der Gegenstand immer direkt, oder wie wir sagen, als Zweck, d. i. um seiner selbst willen, bejaht; dies schließt nicht aus, daß er zugleich um eines anderen Zweckes willen bejaht werde; wenn nur diese Zwecke sich miteinander vertragen, selber einander bejahen. So liebt der Reiter sein Pferd: er liebt es, weil es seinem Nutzen und seinem Vergnügen dient; er liebt es aber auch, weil er ein unmittelbares Gefallen an ihm hat. Anderseits kann aber der Gedanke an den Zweck, den äußeren Zweck, so stark werden, daß er die Bejahung eines »Mittels«, trotz völliger Gleichgültigkeit gegen dessen Beschaffenheit, also trotz mangelnden Gefallens daran, bewirkt; ja endlich des entschiedenen Mißfallens ungeachtet; der »Widerwille« wird überwunden, der Mensch »zwingt sich« etwas zu tun, zu nehmen, zu geben, obgleich er es nicht »mag«, er entschließt sich dazu, weil es ihm »vernünftig« scheint. Es ist durchaus richtig und wird oft genug erörtert, daß in weitem Umfange eine Assoziation und Vermischung der »Ideen« sich bildet, vermöge deren das Gleichgültige und sogar das Widrige, eben weil es nützlich ist, auch »angenehm« werden kann, und also, wie ich sage, auch durch Wesenwillen bejaht wird: hier liegt eben die höchst wichtige Gestaltung des Wesenwillens, die ich mit dem wohlbekannten Namen der » Gewohnheit« bezeichne und auf »Gedächtnis« beziehe. Aber dies ist eine sekundäre Erscheinung; und es bleibt ein weites Gebiet offen, worin sich jene Assoziation nicht vollendet, sondern die ursprüngliche Relation beharrt, so daß sogar aus einem einfachen Elemente, das der Kürwille bejaht, ein höchst kompliziertes Gebilde, ein System wird, ein Mechanismus, der aus vorgestellten, vorgedachten Kürwillensa&few besteht. Aber der Begriff des Kürwillens erschöpft sich, so wenig wie der des Willens überhaupt, in Akten; er erstreckt sich auf alles, was als Mittel für menschliche Zwecke gedacht werden kann, daher möglicherweise auf das gesamte »Nicht-Ich« als Material für das Begehren, das Streben und die Interessen eines »Ich«. Im Verhältnisse des Menschen zu anderen Menschen ist aber der so 32 Kürwillensakten:

In A: Willkürakte».

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verstandene Kürwille uns vorzugsweise wichtig, wenn er als gegenseitig wirksam gedacht wird; einseitig behandelt er den andern als Sache, oder wie ich lieber sage und schon gesagt habe, als Material, aber in gegenseitigem Verhältnisse heben diese Tendenzen einander insoweit auf, daß die Person als Person, d. h. eben als Willkür-Subjekt, erkannt und anerkannt wird, und folglich zwar eine für die andere bloßes Mittel zu ihren Zwecken darstellt, aber doch diesen Zwecken nicht unterworfen ist, sondern sie frei bleiben in bezug aufeinander und in ein freies Verhältnis gegenseitiger Bejahung zueinander treten können. Bis zur Ermüdung finden wir, auch von bekannten Soziologen, die alte These wiederholt, daß der Mensch von Natur ein soziales Wesen sei. Und doch ist sie nur ebenso richtig, wie die entgegengesetzte These, daß er, von Natur egoistisch, also unsozial, ausschließlich durch Vernunft, durch sein wohlverstandenes Interesse sozial werde, und mithin auch nur je nach Umständen sich so verhalte, nämlich wenn und in dem Maße als er glaubt, daß es seinem Vorteil entspreche, sich mit dem Gegner - in gewissem Grade, und wenigstens möglicherweise, ist eben jeder des anderen Gegner - zu vertragen und einen Modus vivendi zu suchen. Ich sage, daß diese beiden entgegengesetzten Thesen nebeneinander bestehen, daß jede in ihrem Gebiete richtig und anwendbar ist, daß sie einander ergänzen. Die eine liegt dem Begriffe Gemeinschaft, die andere dem Begriffe Gesellschaft zugrunde. Man hat das Theorem mehrfach dahin verstanden und ausgelegt, daß es diese Arten »unterscheide«, etwa wie der Botaniker Bäume und Gräser, der Zoologe Wirbeltiere und Wirbellose unterscheidet. Diese Auslegung ist nicht die meine. Ich vergleiche das hier angewandte Verfahren vielmehr dem Verfahren des Chemikers als dem der beschreibenden Naturwissenschaft. Es handelt sich vielmehr um Scheidung, als um Unterscheidung. Es gilt die Erscheinung des sozialen Verhältnisses in seine Elemente zu zerlegen und diese Elemente begrifflich darzustellen, unangesehen, ob ihre reine Gestalt in der Wirklichkeit vorkomme oder nicht.

I. Das soziale Verhältnis zu begreifen, ist die erste wissenschaftliche Aufgabe, die zum Wesen der Soziologie gehört. 17 möglicherweise,-.

In A: ohne Komma.

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Wir können diese Aufgabe nicht erörtern, ohne auf diejenigen Verhältnisse Bezug zu nehmen, die als rechtliche Verhältnisse Gegenstand einer reinen Theorie des Privatrechts oder, wie es seinem alten und echten Sinne nach zu verstehen, des »Naturrechts« sind. Der Begriff des sozialen Verhältnisses ist weiter als der des Rechtsverhältnisses. Das Rechtsverhältnis ist ein besonderer Fall des sozialen Verhältnisses. Merkel in seinem trefflichen Büchlein „Juristische Enzyklopädie" - und andere Neuere nennen als die Hauptteile des Privatrechts das Vermögensrecht und das Familienrecht. Diese Einteilung ist nicht haltbar. Das Familienrecht, soweit es privatrechtlichen Charakter hat, besteht fast ganz und gar aus vermögensrechtlichen Bestimmungen und Regeln. Der wirkliche und fundamentale Unterschied liegt in den Ursachen der rechtlichen Verhältnisse. Die eine große Hauptursache der rein privatrechtlichen Verhältnisse ist der Vertrag, er ist der Typus der Rechtsgeschäfte, und diese sind der regelmäßige Gegenstand rechtlich wirksamer Handlungen (Obligationen, die aus unrechtmäßigen Handlungen entstehen - ex delicto - würde ich nicht als unmittelbare rechtliche Verhältnisse verstehen). Die andere große Ursache liegt in dem natürlichen Zustande, dem »Status« des Menschen, der heute nur noch in engsten Familienverhältnissen förmliche Bedeutung hat: nicht durch Vertrag, sondern durch Status sind wir Vater oder Sohn, Bruder oder Schwester, Monarch oder Staatsbürger und haben darauf sich gründende subjektive Rechte oder rechtliche Verpflichtungen, denen subjektive Rechte anderer entsprechen. Zum Wesen des rechtlichen Verhältnisses gehört eben dies, daß »das Recht« oder »die Rechtsordnung« darin begründete Rechte gibt, daraus entspringende Pflichten auflegt. Aber ganz nach Analogie der rechtlichen, denken wir sittliche Verhältnisse und sprechen von sittlichen (oder moralischen) Verpflichtungen und berechtigten Ansprüchen. Indessen nur scheinbar ist dieser Begriff ebenso einfach und klar, wie der des rechtlichen Verhältnisses. In Wahrheit wissen wir bei allem, was sittlich genannt wird, ohne bestimmte Erklärung niemals, ob gemeint ist, es sei durch die Sitte geboten oder durch die ihr allerdings nahe verwandte positive Sittlichkeit - die herrschende Moral - oder endlich nur durch ein mehr oder

8 „Juristische Enzyklopädie":

Vgl. Merkel ( 1 8 8 5 : 2 3 7 , § 531): „Die Haupttheile des Privat-

rechts (bürgerlichen Rechts, Civilrechs) sind Vermögensrecht und Familienrecht. [Absatz.] Jenes hat die Vermögensverhältnisse privatrechtlicher Natur .., dieses die persönlichen Verhältnisse der Familienglieder zu einander zu seinem Gegenstände.".

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weniger anerkanntes theologisches oder philosophisches System der Ethik. Aus dieser Diskrepanz ergeben sich mindestens drei verschiedene Arten oder doch Nuancen sittlicher Verhältnisse; wenn gleich die meisten den drei Autoritäten gleichmäßig unterliegen und wenn auch diese zumeist übereinstimmen mögen in bezug auf die Normen, die sie diesen Verhältnissen geben. Und doch braucht man nicht lange nach Beispielen zu suchen, worin die genannten Regulatoren (wie wir sie auch nennen können) weit auseinandergehen. Was im besonderen Sinne »ein Verhältnis« heißt zwischen Personen verschiedenen Geschlechtes, wird von der Sitte einfach verneint und sozusagen totgeschwiegen; die Rechtsordnung ignoriert ebenfalls das »unsittliche« Verhältnis; die herrschende Moral, soweit sie der Sitte gegenüber selbständig ist, duldet es wenigstens, wenn beide Personen nicht verehelicht sind, leitet aber so gut wie keine sittlichen Rechte und Pflichten daraus ab - besonders dem Manne, der einer höheren sozialen Schicht angehört, gewährt sie in dieser Hinsicht eine Freiheit und Frechheit, die ihr - der herrschenden Moral - zur Schande gereicht. Theologische Ethik verhält sich am liebsten wie die Sitte zu solchen Dingen; aber philosophische Ethik von freiem Charakter wird erkennen, daß das »unsittliche« Verhältnis, grundsätzlich der Ehe nachzustellen und neben ihr verwerflich, gleichwohl unter besonderen Umständen der Ehe gleichwertig sein kann seinem sittlichen Wesen nach, und tatsächlich in einzelnen Fällen den meisten Ehen an sittlichem Werte überlegen; sie wird aber für alle Fälle strenge und bedeutende Forderungen erheben in bezug auf die Pflichten, die namentlich dem Manne, zumal wenn er einer begünstigten Schicht angehört, aus solchem Verhältnis erwachsen - Pflichten gegen die Frau, selbst wenn er gewahr wird, daß sie seiner »unwürdig« sei; ganz besonders aber Pflichten gegen die mit ihr erzeugten Kinder. - Wie auch immer ein sittliches Verhältnis verstanden werde, immer besteht eben diese Analogie zum rechtlichen Verhältnis, daß eine Autorität - auch wenn es philosophischer Ethik gemäß die Autonomie unserer praktischen Vernunft wäre - ein Sollen daran anknüpft und daraus entwickelt. Sittliche und rechtliche Verhältnisse sind daher Gegenstände normativer Disziplinen. Hingegen soziale Verhältnisse zu begreifen stellt die nächste Aufgabe einer rein theoretischen Wissenschaft dar, die von den Naturwissenschaften nur dadurch sich unterscheidet, daß ihre Objekte weder durch Teleskop, noch durch Mikroskop sichtbar werden und auch durch andere Sinne nicht wahrnehmbar sind. Nur der Gedanke vermag sie zu erkennen. Sie werden eben dadurch gedacht, daß sie aus den Tatsachen, aus dem wirklichen Verhalten der Menschen zueinander, abgezogen werden. Wenn

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wir erwägen, daß in allem friedlichen, oder wie ich sage, positiven Verhalten zwischen Menschen wenigstens die Keime eines sozialen Verhältnisses liegen, und daß schon die bewußte Enthaltung von Feindseligkeiten einen solchen Keim darstellt, so haben wir die ganze Mannigfaltigkeit des Stoffes der Soziologie in Gedanken vor uns. Aber die Begrenzung durch friedliches Verhalten kann nicht heißen, daß den Soziologen die feindseligen Verhaltungen nicht interessieren. Sie interessieren ihn so gewiß, wie den Biologen die unorganisierte Materie, wie den Chemiker die physikalischen Aggregatzustände interessieren. Die Objekte der Forschung sind in jedem Falle etwas anderes. Es bedarf nur geringer Überlegung, um zu gewahren, daß die sozialen Verhältnisse in weitem Umfange sich mit rechtlichen Verhältnissen decken, und daß sowohl diese, als auch die außerhalb ihrer gelegenen in mehr als einem Sinne eine sittliche Seite haben. Aber zunächst und unmittelbar gehen auch Rechte und Pflichten den Soziologen nur insofern an, als sie tatsächlich von den Personen, die in den Verhältnissen stehen, als solche empfunden und gedacht werden. Und doch ist auch diese Betrachtung sekundär gegenüber der Betrachtung des wirklichen Verhaltens, worin die Tatsachen der sozialen Verhältnisse begründet liegen.

II. Gestatten Sie mir nun, hochgeehrte Zuhörer, auf den zweiten Hauptgegenstand der Soziologie, wie ich sie auffasse, Ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Es ist das große Gebiet des sozialen Willens und seiner Produkte denn für sich allein gehört er der bloß psychologischen Betrachtung an das ich im Auge habe. In jedem sozialen Verhältnisse ist etwas von sozialem Willen, wenigstens der Anlage nach, vorhanden, aber dessen Bereich geht weit darüber hinaus. Der Bereich des sozialen Willens ist die Atmosphäre, durch die unser gesamtes soziales Leben bedingt ist. Sitte und Gewohnheitsrecht, Religion und Gesetzgebung, Konvention und öffentliche Meinung, Stil und Mode - lauter Ausdrücke für verschiedene Gestalten sozialen Willens. Am einfachsten und klarsten tritt uns sozialer Wille entgegen, wenn mehrere gemeinsam einen Beschluß fassen. Der nächste Inhalt eines gemeinsamen Beschlusses ist: wir wollen das und das tun. Der Inhalt kann aber auch sein: wir wollen, daß dies und das geschehe, daß es wirklich sei oder werde. Und dies Geschehen oder Wirklichwerden kann auch sein, daß andere etwas tun oder unterlassen. Aber hier tritt uns

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sogleich ein großer Unterschied im Sinne des Wollens entgegen. Die Sprache vermischt fortwährend eigentliches Wollen, das auf eigenes Tun sich bezieht, mit bloßem Wünschen. Daß etwas geschehe, was ich nicht durch mein Tun unmittelbar bewirke, kann ich nur wünschen. Aber ich mag dies Wünschen ein Wollen nennen, wenn ich es mittelbar zu bewirken, d. h. zu erzwingen entschlossen, um so mehr wenn ich dessen auch fähig bin. Wunsch geht hier in Befehl über. Befehle können wie von Einzelnen, so von Mehreren, die zusammen beschließen, ausgehen. Sie haben aber nur dann die Natur des sozialen Wollens, wenn die Mehreren auch zusammen bewirken, also erzwingen, wollen, vollends wenn sie es auch können. Dann ist es zunächst gleichgültig, aus welchen Beweggründen die »Anderen« gehorchen; ob sie in einem sozialen Verhältnisse zu den Befehlenden stehen, oder bloß unterjochte Feinde, d. i. Sklaven sind. Aber die Anderen können auch die Personen selber als einzelne sein, deren vereinigtes Wollen das soziale Wollen bildet, das sich als Befehl kundgibt. Und dies ist der für die soziologische Betrachtung wichtigste Fall: daß Menschen sich selber befehlen und sich selber gehorchen - als Befehlende sozial, als Gehorchende individuell agierend. Wenn dieser Fall aber am durchsichtigsten ist, wo das soziale Wollen die Form des Beschlusses hat, so ist er doch nicht minder bedeutend in den übrigen Formen des sozialen Wollens. Wie ich jene - den Beschluß - als Typus des rationalen Wollens darstelle, so als Typus des irrationalen Wollens die Gewohnheit. Daß Beschließen sowohl einen sozialen als einen individualen Sinn hat, liegt auf der Hand; aber es ist nicht minder offenbar an Gewohnheit: der einzelne Mensch folgt seinen Gewohnheiten, diese haben »Macht« über ihn, oft ist er ihr »Sklave«; und nicht minder sind die Menschen, in Masse betrachtet, aber auch hier als Individuen, von Gewohnheiten sozialen Inhaltes abhängig, die wir als Brauch, als Sitte, als Gewohnheitsrechte in um so größerer Ausdehnung und Gewalt kennenlernen, je tiefer wir in das Volksleben irgendwo forschend hinabsteigen. Aber Gewohnheit - wiefern ist denn Gewohnheit Wille? Es hat zwei Hauptursachen, daß dies nicht erkannt und nicht als von selbst einleuchtend zugegeben wird. Die eine ist darin gelegen, daß unsere Selbstbesinnung uns das Wollen als ein rationales kennen lehrt, wodurch es gleichsam als etwas Gemachtes, eben dadurch als etwas Helles und Klares vom dunklen unwillkürlichen Begehren und Wünschen sich abhebe. In der Tat ist es meine Meinung nicht, den Begriff des Wollens so zu fassen, daß das Wort auch die Triebe und Regungen der Seele, sogar solche, die unbewußt bleiben, bedeute; ich halte mich dem Sprachsinne viel näher, betone aber auch die

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in diesem gelegene perfektische Natur des Wollens: Wollen heißt in den Sprachen so viel, als sich vorgenommen haben, beschlossen haben, den Vorsatz gefaßt haben, entschlossen sein; und wie lebendig das Bedürfnis, ja die Notwendigkeit dieses Begriffes, zeigt die Sprache, nachdem der Gehalt des Wortes Wollen, wie so vieler Wörter, verschlissen und abgegriffen, nachdem es ein gewöhnliches Zeitwort geworden ist, durch Neubildungen, wie »willens sein«, »gewillt sein«, »gesonnen sein«, die doch nur den ursprünglichen Sinn des alten Wollens wieder auffrischen und etwas anderes gar nicht bedeuten können. Und diesen ursprünglichen Sinn erweitere ich nur dahin, daß ich auch das Gewohntsein oder Pflegen in meinen Begriff des Wollens hineinziehe, weil es mit dem »Gewilltsein« dessen wesentliches Merkmal: die nötigende Bestimmung zum Tun, der die eigene Neigung, der eigene Wunsch zugrunde liegt, also das autonomische Moment, gemein hat. Dies führt aber sogleich auf die andere Hauptursache, aus der ich erkläre, daß dies verkannt wird, nämlich auf die Abhängigkeit des Denkens vom Sprachgebrauch, auch wo dieser schlaff, unklar, zweideutig ist. In der Tat nämlich unterscheidet die Sprache nicht die Gewohnheit als eine objektive oder wie man sagt, äußerliche Tatsache von der Gewohnheit als einer subjektiven, psychischen oder »innerlichen« Tatsache. In jener ist nichts enthalten, als die häufige Wiederholung, die Regelmäßigkeit eines Tuns und Geschehens; in dieser aber ist das enthalten, was wir ausdrücken, wenn wir die Gewohnheit als mit uns verwachsen, uns in Fleisch und Blut übergegangen erkennen, wenn wir von dem unausmeßbaren Einflüsse sprechen, den die Gewohnheit jedes Menschen auf sein Tun, aber auch auf sein Wünschen und auf sein Denken, auf seine Gefühle, wie auf seine Meinungen ausübt. Ebenso pflegen wir, ohne uns des Unterschiedes bewußt zu werden, von Volksgewohnheiten, von Bräuchen und Sitten zu sprechen, die allerdings auch als bloße Tatsachen der Praxis, als materielle Vorgänge, aber in ganz anderer Weise und für den Soziologen viel näher interessant sind als autoritative Ausdrücke des Volksgeistes, d. i. als sozialer Wille. In diesem Sinne sind Sitten immer in Parallele gesetzt worden mit Gesetzen: die einen wie die andern haben Geltung, d. h. sie sind ihrem Wesen nach ideell, sie stellen eine Forderung, sie sagen was sein soll, und nur ein Wille kann sagen, was sein soll. Sitte und eigentliches Gesetz unterscheiden sich vorzugsweise durch ihre Gründe. Die Sitte sagt: weil es immer so gewesen, so geschehen ist, immer geübt, immer für gut gehalten wurde; das Gesetz sagt: weil der Gesetzgeber es befiehlt, und warum er befiehlt?, weil er es für richtig, für zweckmäßig hält, weil er etwas dadurch erreichen will. Der Gegensatz und Streit

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zwischen Sitte und Gesetz wird am meisten offenbar als Kampf zwischen den Gebilden des Privatrechts durch Gewohnheiten einerseits, durch den Gesetzgeber andererseits. Ich brauche nicht daran zu erinnern, daß die eigentlichen Gesetze der Form ihrer Entstehung nach Beschlüsse sind: und zwar vorzugsweise Beschlüsse von Versammlungen. Den Gegensatz von Beschluß und Gewohnheit habe ich meiner Betrachtung zugrunde gelegt. Die Formen des sozialen wie des individuellen Willens reichen aber viel weiter. Als Gegenstand soziologischer Untersuchung ist vor allen der mit der Sitte so innig zusammenhängende religiöse Glaube von größter Bedeutung. Die Götter selber sind nicht bloß vorgestellte und gedachte, sie sind als solche auch, und vor allem, gewollte Wesen. Der soziale Wille, der sie setzt, prägt sich nicht nur aus im Glauben an ihr Dasein, ihre Macht, ihren Zorn und ihr Wohlwollen, sondern besonders auch in der Verehrung, die ihnen gewidmet wird, in den Altären und Tempeln, die ihnen gebaut werden, im Opfer und in allem Kultus. Sie sind Geschöpfe der Volksphantasie, und wie könnte etwas geschaffen werden ohne das schöpferische Wollen? Sie sind aber nicht nur Objekte, sondern werden eben dadurch, durch die Fülle und Glut des Volksgeistes, die gleichsam in sie hineingegossen wird, selber Subjekte und Träger sozialen Willens. Sie werden regelmäßig gedacht als die eifrigen Hüter der Sitte, vor allem, und zumal in mehr barbarischen Ideen, weil sie streng darüber wachen, daß sie selber empfangen, was ihnen zukommt, die Abbilder der Despoten und Heerführer; sie werden aber auch als Gesetzgeber gedacht oder doch als Inspiratoren des Gesetzgebers. Wenn die Gewohnheiten und Rechte sonst für unabänderlich gelten, der Gott kann sie ändern und neuern; im Namen des Gottes, also seiner Stellvertreter auf Erden, heißen sie Hohepriester oder König, Papst oder Kaiser, geschieht die freie Auslegung und deutende Umgestaltung des Überlieferten, wie heilig dies auch an und für sich gehalten werde. Sir Henry Maine, ein soziologisch denkender Jurist, hat darüber wertvolle Ausführungen gegeben. Aber auch ihm fehlte die wichtige Erkenntnis, daß es nur verschiedene Ausdrücke sozialen Wollens sind, die in Gewohnheitsrecht und in heiligen Rechten, wie in freier, planmäßiger und an wissenschaftliche Theorien angelehnter Gesetzgebung niederschlagen. Für unser naives Bewußtsein ist das Seiende und eigentlich Wirkliche unauflösbar verknotet mit dem was gilt; und alles was gilt, gilt entweder für ein Individuum allein durch seinen individuellen, oder es gilt für 30 wertvolle Ausführungen:

Vgl. Maine 1 8 6 1 : 21—43.

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mehrere durch ihren sozialen Willen; dies aber ist von weit überwiegender Bedeutung. Ich habe kürzlich eine schon vor neun Jahren verfaßte Schrift herausgegeben, worin ich diese Wahrheit anwende auf die Wortbedeutungen der Sprache und sie vergleiche mit dem Gelten von Münzzeichen. Aber es ist ebenso wahr für Maß und Gewicht, für Zeitrechnung und Ära, für Schriftzeichen und andere »Symbole«, für Grenzen und Titel, für geltende Ansichten und Urteile, insbesondere für sittliche Maßstäbe, für Umgangsformen und Etikette - wir können kurz sagen für alles Konventionelle. Denn das Konventionelle und dessen Bereich erkennen, heißt wenigstens eine bedeutende Seite des Wesens und der Macht des sozialen Wollens verstehen. Wir wissen wohl, daß nur in wenigen und vergleichsweise unbedeutenden Fällen eine wirkliche Übereinkunft, etwas Vertraghaftes, dem, was konventionell gültig ist, zugrunde liegt; aber wir sagen und denken, daß es sehr vieles gibt, was so beschaffen ist, als ob es durch Übereinkunft festgesetzt wäre, und eben dies wollen wir mit dem Worte »konventionell« bezeichnen. Das Wort führt aber den Nebensinn des Starren und Steifen, Gekünstelten, daher Kalten und Frostigen mit sich, und dies weist auf einen höchst bedeutsamen Unterschied im sozialen Wollen, sofern es gültige Werte etabliert. Dieser Unterschied entspringt aus dem Prozeß vom Innerlichen zur Veräußerlichung, vom organischen zum mechanischen Mittel, von Wesenwillen zu Kürwillen, der im sozialen wie im individuellen Willen statthat. Denn in Sitte und Religion ist die lebendige Wärme der Phantasie und des Gefühls, die jugendlich-naive Frische, aber auch die Einfalt und kindische Torheit des Volksgeistes, deren Gebilde im Laufe einer Kulturentwicklung durch reifere Erfahrung, vermehrtes Wissen, zunehmende Bewußtheit in Verfolgung äußerer Ziele, daher besonders auch durch den Einfluß einzelner Personen, freier Geister und mutiger Charaktere, teils fortwährend verändert und umgewandelt, teils direkt bestritten und abgeschafft werden. Die Widersprüche und Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft, Aberglaube und Aufklärung sind nicht minder als diejenigen zwischen Sitte und Polizei, Gewohnheitsrecht und Gesetzgebung, Widersprüche und Kämpfe zwischen verschiedenen und zwar entgegengesetzten Arten oder Richtungen sozialen Wollens; jene bezeichnen scheinbar nur verschiedenes Denken und Meinen; aber hinter dem Denken und Meinen stehen nicht nur Interessen von Klassen und Parteien, sondern andere Wertschätzungen, die durch veränderte

2 vor neun Jahren verfaßte Schrift: Vgl. Tönnies 1906a: 36; zuerst war diese Abhandlung 1 8 9 9 in englischer Übersetzung erschienen (Tönnies 1899a); vgl. TG 4 und 7.

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Umstände des Lebens notwendig gemacht werden, und in den Wertschätzungen kristallisiert sich ein mehr oder weniger allgemeines Wollen.

III. Von Bedeutung und Ausdehnung der hier gelegenen Probleme kann ich in dieser Skizze nur eine schwache Vorstellung erwecken. Aber das Wesen der Soziologie vollendet sich erst in ihrem dritten Hauptgegenstande, in bezug worauf sie noch entschiedener als in bezug auf die beiden ersten von Biologie und Psychologie sich losreißt und ihre eigene Sphäre für sich allein hat. Diesen dritten Hauptgegenstand bilden die menschlichen Verbindungen und Vereine, Genossenschaften und Gesellschaften, Gemeinden und Assoziationen - um nicht alle Namen aufzuzählen, die allgemeine Namen von Einheiten sind, in denen die Vielheiten menschlicher Individuen mannigfach sich darstellen. Was sind sie ihrem Wesen nach? Sind sie etwas Wirkliches oder etwas Unwirkliches? In welchem Sinne können sie Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis sein? Wie verhalten sich solche Wesenheiten als eine Rasse, ein Volk, eine Nation, ein Stamm, ein Geschlecht und eine Familie, die gleichfalls Einheiten in und über den Vielheiten bedeuten, zu jenen Kategorien? Wie andererseits Begriffe, wie der des Staates und der der Kirche, die eine so unermeßliche Wichtigkeit in allem sozialen Leben und in seiner Geschichte erworben haben? Was sind alle diese Gebilde? Vor allem ist hier ein sehr bedeutsamer Unterschied zu beachten, der Unterschied, von dem meine gesamte Darstellung ausgegangen ist, zwischen den verschiedenen Betrachtungsweisen des menschlichen Zusammenlebens. Einige nämlich der genannten Einheiten gehören der biologischen Betrachtung an, weil sie Einheiten sind, deren Grund durchaus in den natürlichen Tatsachen der Zeugung und der Geburt, der Abstammung und der erblichen Merkmale gelegen ist, wenn sie auch teilweise zu gleicher Zeit einen psychologischen Wert erhalten haben, als Einheiten, die Träger sozialen Geistes sind; die Frage nach ihrer Realität aufwerfen, heißt die alte Kontroverse von Realismus und Nominalismus erneuern, die man fast allgemein durch die moderne Wissenschaft für endgültig erledigt und entschieden hält in dem Sinne, daß der Nominalismus die Wahrheit sei: nur die sogenannten einzelnen Dinge seien wirklich. Auf diese Frage einzugehen liegt außerhalb meines Planes. Aber mit allem Nachdruck betone ich die Unterscheidung, weil sie gar zu oft verkannt und gröblich

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vernachlässigt wird, zwischen solchen biologischen und höchstens psychologischen Gesamtheiten und Gruppen einer-, den wirklichen sozialen Ganzen oder wenn man will, »Körpern« andererseits. Nur mit diesen haben wir es nunmehr zu tun, wenn wir gleich alle Ursache haben, auf jene gelegentlich Rücksicht zu nehmen und gewisse Zusammenhänge zwischen den beiden sehr verschiedenen Gattungen zu beachten. Eine soziale Verbindung hat zunächst und unmittelbar so etwas wie ein »Dasein« nur durch den vereinigten (also sozialen) Willen der Menschen, die ihr angehören, indem diese es setzen und denken. Die hierin enthaltene Wahrheit pflegt wohl so ausgedrückt zu werden, daß man sagt, es handle sich um Fiktionen. Aber diesem Gedanken wird regelmäßig nur eine juristische Anwendung gegeben. Der Jurist spricht nur von juristischen Personen, als solchen, die es neben den natürlichen Personen, d. h. den Individuen gebe, und erklärt sie für eine vom »Recht« oder vom »Gesetzgeber« für bestimmte Zwecke hergestellte Fiktion. Den Soziologen interessiert aber ein viel weiterer Kreis von menschlichen Verbänden und es ist ihm zunächst gleichgültig, ob sie von einer Rechtsordnung als Träger von Rechten und Verbindlichkeiten anerkannt sind, oder nicht; wie es uns auch nicht von wesentlicher Bedeutung war, ob ein soziales Verhältnis zugleich als rechtliches Verhältnis ausgeprägt erscheine oder nicht. Die Gewerkschaften und Gewerkvereine haben bisher nicht die Rechte juristischer Personen; geschweige politische Vereine u. dgl. Sind sie darum überhaupt nicht vorhanden? Sind sie nicht höchst bedeutende Gebilde des heutigen sozialen Lebens? Und wodurch sind sie vorhanden? Sie sind vorhanden 1. und hauptsächlich durch den Willen ihrer Mitglieder, die einen solchen Verein entweder begründet haben oder doch gleich den Urhebern sein Dasein setzen, es durch Leistungen bejahen; sie sind aber ferner vorhanden 2. durch Erkennung und Anerkennung, die ihnen von anderen Individuen sowohl als Vereinen, namentlich von ihresgleichen zuteil wird, und 3. für den Zuschauer und Theoretiker, indem er eben diese Daseinsweisen gewahrt und sie von anderen Daseinsweisen unterscheidet. Aber offenbar ist die erste Ratio essendi die wesentliche, von ihr sind die anderen abhängig. Wir wissen, daß irgendwelche Menschen einen Verein „ins Leben rufen" können, wenn sie gemeinsam wollen, wenn sie darüber einig werden; und immer vollziehen sie damit einen Akt des Fingierens, denn zunächst nur in ihrer Vorstellung, in ihrer Idee ist der Verein vorhanden, aber bedingt durch ihr Wollen, sie haben einen gemeinsamen Zweck, dem der Verein dienen soll. Der Verein kann diesen Zweck durch sein bloßes Dasein, d. h. Gedachtwerden - und weil er gedacht

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wird, so empfängt er einen Namen - erfüllen, in der Regel aber muß er selber auch einen Willen haben können, eine Vertretung, und die Abmachung, die im Rechte ein Gesellschaftsvertrag heißt, muß auch festsetzen, wie dieser Wille gebildet werden soll - der Verein erhält eine »Verfassung«. Dieser einfache, logisch klare Fall ist uns allen durch viele Erfahrung bekannt. Die Frage ist, ob an dem Begriffe des Vereins alle Arten der menschlichen Verbände gemessen werden können? Und innerhalb dieser Frage hat am meisten Staub aufgewirbelt die Unterfrage, ob auch der Staat als ein Verein begriffen werden könne und müsse - das Problem des sozialen Kontraktes. Das Zeitalter der Aufklärung glaubte daran einmütig nein, es glaubte, es zu wissen, es klar und deutlich erkannt zu haben, daß der Staat auf Verträgen beruhe. Das 19. Jahrhundert, das im Denken nach so vielen Richtungen hin ein Zeitalter der Restauration gewesen ist, hat diesen Glauben, diese Gewißheit zerstört - es hat aber keine allgemein angenommene Theorie des Staates wiederum hervorgebracht. Man berief sich von Anfang an auf die Geschichte - die historische Rechtsschule machte gegen das Naturrecht ihre Ansprüche geltend. Die Staaten seien in Wirklichkeit überall oder doch mit verschwindenden Ausnahmen anders entstanden, als durch Verträge; und noch heute wird diese einleuchtende Wahrheit lebhaft genug wiederholt. Man kann sich demgegenüber auf Kant berufen, der mit Schärfe betont hat, daß es bei dieser Vertragstheorie um die Idee der Sache und nicht um den realen Ursprung sich handelt; für jeden, der das Naturrecht kennt und die Denkungsart, worin es wurzelt, ist dies schlechthin selbstverständlich; aber man wird uns erwidern, die Entstehung, die Entwicklung, das historische Gewordensein sei doch allein wichtig, das eigentliche Mittel, um das Wesen der Sache zu verstehen. Welcher Sache? Nun, eben des Staates. Was ist denn der Staat für eine Sache? Nun, eine Sache, die sich entwickelt hat, eine lebendige Sache also, ein Organismus. In diesem Punkte trifft die Reaktion gegen den naturrechtlichen Staatsbegriff mit einer starken, wenn auch jetzt fast nur noch in den Köpfen von Naturforschern fortlebenden Richtung der modernen Soziologie zusammen; nur daß diese lieber „die Gesellschaft" oder den „sozialen Körper" als den Staat in den Vordergrund ihrer Betrachtung stellt. In jeder Gestalt richtet sich diese Auffassung gegen die »individualistische« Ansicht des sozialen Lebens. Ich verteidige diese individualistische Ansicht nicht, aber ich behaupte, daß in der Subsumtion, sei es der

21 Kant: Tönnies bezieht sich auf Kants Schrift „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" von 1793 (vgl. Kant 1912: 297).

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Gesellschaft oder des Staates, unter dem Begriff des Organismus ein Knäuel von Verwechselungen enthalten ist; und ich muß hier zurückweisen auf die schon stark betonte Unterscheidung biologischer und soziologischer Betrachtung. Ich behaupte allerdings, daß der Begriffsrealismus, wie man ihn neuerdings nennt, in bezug auf organische Wesen nicht so einfach zu verwerfen ist, wie es sonderbarerweise regelmäßig von denselben Naturforschern geschieht, die ihre Übertragung des Organismusbegriffes auf die sozialen Gebilde für die einfachste und einleuchtendste Sache von der Welt halten. Ich lasse es gelten, ja ich lege Wert auf die Erkenntnis, daß ein Volk, ein Stamm, eine Familie (als biologische Erscheinung), in einem bestimmten, wenn auch schwer abzugrenzenden Sinne Realitäten sind, d. h. als reale Wesen begriffen werden müssen oder wenigstens dürfen, weil man ihnen wesentliche Merkmale des Lebens, namentlich die Selbsterhaltung ihres Ganzen unter Ausscheidung alter und Reproduktion junger Teile, zuzuschreiben Grund hat, ja genötigt ist. Aber mit um so größerer Energie und Entschiedenheit muß ich die Lehre hervorheben, daß die sozialen Gebilde, die menschlichen Verbindungen, ideeller Natur sind, daß sie ihr Wesen ganz und gar in den Seelen derer haben, die ihnen angehören, daß für sie ganz gewiß gilt, was der Bischof Berkeley auf die gesamte äußere Welt anwandte: Esse = percipi. Ich schreibe ihnen dennoch, so gut wie der metaphysische »Idealist« es in bezug auf die Materie tut, eine bestimmte empirische Realität zu, nämlich eben soziale Realität, die für mich insgesamt ideellen Wesens, d. h. in den Seelen der Menschen begründet ist, weshalb ich eben die soziologische Betrachtung des menschlichen Zusammenlebens der psychologischen folgen und auf ihr beruhen lasse, wie diese auf der biologischen. Auch die sozialen Verhältnisse, auch die Formen sozialen Willens und die dadurch gesetzten Werte, sind nur, indem und insofern als sie empfunden, gefühlt, vorgestellt, gedacht, gewußt und gewollt werden - und zwar zunächst von Individuen. Gibt es denn nicht so etwas wie eine Volksseele, ein nationales Bewußtsein, ein gemeinschaftlich-einheitliches Fühlen und Denken? - Ob es dergleichen »gibt«, anders als insofern Individuen übereinkommen und übereinstimmen in ihrem Fühlen und Denken, ist eine Frage, die abermals auf den Begriffsrealismus zurückführt, dessen Problem wiederum ein anderes ist in bezug auf materielle Dinge, ein anderes in bezug auf »Seelen«. Aber wenn

20 Esse = percipi: [lat.] svw. Sein ist Wahrnehmen, Dinge existieren nur in der Wahrnehmung; vgl. hier Berkeleys Hauptwerk „A Treatise Concerning the Principies of Human Knowledge" von 1710, bes. die Absätze 2 5 - 2 7 (Berkeley 1901: 270-272).

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man ihn bejaht in bezug auf Organismen, so wird man kaum umhin können, ihn zu bejahen in bezug auf Seelen; denn Organismen, lebende Wesen, sind Seelen - so (wurde schon im Eingange betont) muß man sagen, anstatt: sind mit Seelen verbunden, Seelen haben ihren Sitz in ihnen, die Sache ist: sie müssen als Materie und als Seele zugleich gedacht werden. Ich meine aber allerdings, daß es ein gemeinsames Denken und Wollen auch als objektive Realität gibt, aber auch die Formen des sozialen Willens, die dieser ganz nahestehen - soziale Gewohnheiten und sozialer Glaube, Sitte und Religion sind etwas ganz anderes, wenn sie in dieser ihrer objektiven Realität (die sie gerade als subjektive Wesenheiten besitzen) und wenn sie in ihrer subjektiven oder, wie wir nun dafür lieber sagen, sozialen Realität (d. h. als ideell-objektive Wesenheiten) betrachtet werden. Bei diesem etwas intrikaten Punkte will ich indessen nicht länger verweilen. Ich komme darauf zurück, daß der Staat jedenfalls wie alle Verbindungen der Menschen, Gemeinden, Genossenschaften, Körperschaften oder wie sie heißen mögen, etwas Ideelles ist; und die Frage kann nur sein, welcher Art dieses Ideelle sei, wie dieses Ideelle gedacht werden müsse. Und diese Frage führt uns wieder hin auf den Gegensatz der Begriffe Wesenwille und Kürwille, Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Staat kann von den Subjekten seiner selbst, von den Staatsbürgern oder dem Staatsvolke, empfunden und gedacht werden als wesentlicher Zweck, daher auch nach Art eines Organismus, eines natürlichen Ganzen, das sie in sich einschließt, von dem sie sich abhängig und bedingt wissen, dessen MitGlieder sie sind, das von Natur »früher« sei als sie - und hier steckt der Zusammenhang mit der biologischen Betrachtung, mit dem Begriffsrealismus und mit der »organizistischen« Theorie; denn es liegt auf der Hand, daß diese Denkungsart, dieses psychische Verhältnis sich viel leichter und wahrscheinlicher bildet, wenn die so gedachten Verbände mit natürlichen Gesamtheiten äußerlich identisch oder ihnen doch so sehr als möglich ähnlich sind, wenn - um es mit einem deutlichen Worte zu charakterisieren - z. B. der Staat einer Familie - diese als soziales Gebilde begriffen - möglichst ähnlich aussieht, die Familie aber als soziales Gebilde einigermaßen an die Familie erinnert, wie wir sie aus der Naturgeschichte kennen; und diese letzte Bedingung ist ja bei jeder auf Blutsverwandtschaft, besonders auf gemeinsamer Abstammung beruhenden

19 uns: In A: nicht kursiv.

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sozialen Verbindung erfüllt. Die Familie in ihren zwei Gestaltungen: als patriarchalische oder matriarchalische Herrschaft, und als fraternal-egalitäre Genossenschaft, ist daher der Typus der im menschlichen Wesenwillen beruhenden Gemeinschaft. Aber diese entfernt sich in ihrer höheren Entwicklung, zumal unter den Einflüssen städtischer Kultur, weit von diesem Typus, sie hört auf, einer Familie ähnlich zu sein, die ihren Zweck in sich hat, in ihrer Natürlichkeit und Notwendigkeit, sie wird einem Vereine ähnlicher, der seinen Zweck außer sich hat, der wesentlich Mittel zu ausgesprochenen oder nicht ausgesprochenen, offenen oder verborgenen Zwecken seiner Begründer und Mitglieder ist; von dem unsere Betrachtung als von dem klarsten und rationalsten sozialen Gebilde ausgegangen ist. Der Verein ist der Typus der Gesellschaft, die aus freiem Kürwillen, sei es wirklich, entsprungen ist oder doch ihrem Wesen nach hervorgeht. Ich sage: Gemeinschaft wird dem Vereine, der rationalen Zweck-Gesellschaft ähnlicher. Aber ich sage dagegen: sie kann gleichwohl Gemeinschaft bleiben, sich als Gemeinschaft entwickeln, wenn die entsprechende Denkungsart, wenn der soziale Wille anderer neuer Hilfsmittel und Stützen teilhaftig wird, wenn sich das Ganze, das Gemeinwesen, obgleich es nicht mehr, oder doch viel weniger, wirklich einem natürlichen Verbände, einer quasi-organisch zusammenhängenden Gesamtheit ähnlich ist, dennoch für Gefühl, Phantasie, Gedanken als eine solche sich darstellt, d. h. wenn der Gesamtgeist es als solches behauptet. Und hierin ganz vorzugsweise liegt die unermeßliche soziale Bedeutung der Religion im sozialen Leben - sagen wir bestimmter noch: in der Politik; welche Bedeutung gewahrt bleibt, wenn sie auch regelmäßig, bei zunehmendem wissenschaftlichen Bewußtsein und eben dadurch, aber auch aus vielen anderen Ursachen, verfallendem Glauben, mit einer bloßen Rolle, die sie hinter den Masken ihrer Priester und anderer Würdenträger spielt, sich begnügen muß. Die Idee bleibt dieselbe: das Gemeinwesen wird geheiligt, über die Kritik erhoben, es wird gleich einem Gotte oder der speziellen Emanation eines Gottes gedacht, sei es nun, daß diese göttliche Hoheit und Gnade zugleich über die Person und das vererbte Recht eines Herrschers ausgegossen wird, oder daß sie in dem Schutzgeiste der Stadtgemeinde wohnt: die Hauptsache ist, daß mit dem Gesetze und Rechte auch seine Urheber, Ausleger und Umbildner in das überirdische Licht Verehrung heischender Wesen emporgetragen werden; daß also die soziale Verbindung, möge sie nun Staat heißen oder anders, jene Autorität ausüben oder doch anstreben darf gegenüber den Individuen, ihren Untertanen oder Bürgern, die ein Schöpfer naturgemäß über seine Geschöpfe, eine Mutter

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

über die Kinder, die sie an ihrem Busen nährt, in Anspruch nimmt. Nun ist es freilich verhängnisvoll, wenn das religiöse Bewußtsein gleichsam ganz aus seinen eigenen Mitteln ein Gemeinwesen hervorbringt, das es als Civitas Dei dem weltlichen, das damit als wesentlich irdisch und profan, wenn nicht gar als Civitas Diaboli stigmatisiert wird, gegenüberstellt: die Kirche neben dem Reich, das nun seine göttlichen Attribute von jener entlehnen muß. Die Kirche ist göttlichen Ursprungs - das ist für die Gläubigen selbstverständlich; aber das Reich oder gar die Stadtgemeinde? mit ihren Burggöttern war die Polis dem Hellenen ein Gegenstand frommen Glaubens und des Kultus; die moderne Stadt konnte nie diese Selbstherrlichkeit ganz gewinnen; wenn sie auch im letzten Jahrhundert in drei bis vier Fällen in die Karrikatur eines »souveränen« Gliedes unseres deutschen Bundesstaates, ehemals Staatenbundes, verbildet wurde. Das alte deutsche Reich blieb bekanntlich, bis zu seinem Untergange, das heilige römische Reich. Verstehen müssen wir, daß für die wirkliche Beschaffenheit des Staates oder eines anderen Gemeinwesens, zumal eines nicht spezifisch geistlichen, das ökonomische Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen, mit anderen Worten das Eigentumsrecht entscheidendes Kriterium ist. Wird das Privateigentum gedacht und ist es in seinen wesentlichen Funktionen so beschaffen, daß es gedacht werden muß, als unabhängig, frei aus eigenem Rechte, als ob die Menschen, mit ihren Kapitalien und Landgütern die einen, mit ihren nackten Leibern die anderen, in den Staat eingetreten sind, den sozialen Kontrakt geschlossen haben, ganz wie ein großer Fabrikherr oder Rittergutsbesitzer mit Leuten, die ihre Ware Arbeitskraft anbieten, auf der Basis formaler Gleichheit den Arbeitsvertrag abschließt; oder ist es so, daß der Staat als ein guter Genius gedacht werden darf oder gar muß, der die Verteilung der Güter nach Grundsätzen des Verdienstes und der Gerechtigkeit vornimmt, der also dem einen ein Jahreseinkommen von 1 0 - 2 0 Millionen, dem anderen ein ebensolches von 500 bis 600 M. deutscher Reichsmünze »zubilligt« - ? In die Erörterung dieser Frage kann ich nicht mehr eintreten. Es ist auch keine ganz einfache Antwort möglich; aber Sie verstehen, geehrte Zuhörer, daß ich hier an das Problem des Sozialismus rühre. Dies berühmte Problem kann in der Tat dahin formuliert werden: ob das soziale Wollen und Denken in unserer Zeit sich stark genug erweisen werde, den modernen Staat in eine wirkliche, auch das Eigentum umfassende und beherrschende Gemeinschaft auszubilden - vielleicht muß 30 5 0 0 bis 600 M.: In A: 5 - 6 0 0 M.

XVII. Das Wesen der Soziologie

497

es heißen: umzugestalten - , oder ob die Tendenzen der Gesellschaft in diesem sozialen Wollen und Denken das Übergewicht behalten werden. Mit Hinweisung auf die drei Erkenntnisobjekte: soziale Verhältnisse, sozialen Willen, soziale Verbindungen, glaube ich das Wesen der Soziologie erschöpfend auszudrücken. In bezug auf soziale Verhältnisse bleibt die soziologische noch in starkem Zusammenhange mit der biologischen und der psychologischen Ansicht des menschlichen Zusammenlebens, vorzüglich aber mit der ersteren: denn alle sozialen Verhältnisse sind in der Arteinheit des Menschengeschlechtes, die meisten in der Blutsverwandtschaft, die sich in der Regel auch in gemeinsamer Sprache ausprägt, begründet. In bezug auf sozialen Willen ist der Zusammenhang mit der Psychologie und einer wesentlich psychologischen Ansicht menschlichen Zusammenlebens offenbar genug. Auch in bezug auf Verbindungen können diese Zusammenhänge nicht gelöst werden. Aber der Gegenstand ist ganz eigentümlich; er kann nur begriffen werden, wie er soziale Verhältnisse und sozialen Willen zur Voraussetzung hat; der Begriff liegt von den Begriffen biologischer Gesamtheiten und Gruppen weit entfernt, wenn auch Berührungen stattfinden. Er ist durch menschliche Vernunft, menschliches Denken bedingt; darum ist es im Sinne strenger Wissenschaft sinnlos, von Staaten der Bienen und Ameisen zu reden: das Zusammenleben der Tiere läßt sich nur einer biologischen und psychologischen Ansicht unterwerfen, es wird auch durch diese beiden völlig genügend erfaßt; denn wir haben nicht den geringsten Grund, anzunehmen - da wir ihnen eben Vernunft und Denken nicht zuschreiben - daß ihre Verhältnisse, ihr gemeinsames Wollen, vollends ihre Verbindungen für sie selber Objekte sind; und nur weil das beim Menschen sich so verhält, ist diese Trias der natürliche und notwendige Gegenstand einer besonderen begrifflichen, d. h. philosophischen Wissenschaft, der Soziologie. Die Soziologie steht der ungeheuren Fülle des sozialen, darum des geschichtlichen Lebens gegenüber. Sie muß es anfassen mit ihren Kategorien, es aufwühlen und durchdringen, um das Gesetzmäßige in ihr festzustellen, das Woher und Wohin ihres Verlaufes wenigstens zu divinieren; denn wissenschaftliche Erkenntnis davon ist nur in blassen Umrissen möglich. Geschichte ist keine Wissenschaft für sich; Geschichtschreibung ist eine tiefsinnige Kunst, wenn auch auf Erforschung der Wahrheit, die in wissenschaftlichem Geiste geschehen muß, beruhend. Sie hat ihre eigenen Regeln, ihre glorreiche Tradition, ihre gefeierten Meister. Kein Wunder, daß sie sich weigert, von der unreifen Soziologie neue Maßstäbe oder gar Vorschriften zu empfangen. Die angewandte Soziologie hat nicht die

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Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Aufgabe, mit der Geschichtschreibung in Wettbewerb zu treten. Sie ist nichts als (möge man das für wenig oder für viel halten) Philosophie der Geschichte. Allerdings aber sollte diese so gestaltet werden, daß auch der Geschichtschreiber aus ihr lernen könnte, lernen müßte. Die gesamte Philosophie wird mehr und mehr - im Laufe der letzten Jahrhunderte aus einer theologischen zu einer natürlich-wissenschaftlichen Synopsis und Synthese. Die Philosophie der Geschichte ist auf diesem Wege noch am weitesten zurückgeblieben. Die theologische Weltanschauung hat ihre Krönung gesucht und gefunden in einer Philosophie der Geschichte. In Philosophie der Geschichte muß auch die wissenschaftliche Weltanschauung sich vollenden. Anmerkung. Der vorliegende Gedankengang stimmt teilweise überein mit einem Vortrage, den der Verfasser am 21. September 1904 im allgemeinen wissenschaftlichen Kongreß zu St. Louis über das gestellte Thema „The problems of social structure" in englischer Sprache gehalten hat. Dieser liegt jetzt gedruckt in dem großen Sammelwerke vor: Congress of Arts and Science. Universal Exposition St. Louis 1904. Vol. V (Boston and New York 1906). Wo die gegenwärtige Darstellung von jener abweicht, da ist mir daran gelegen, die frühere teils zu erweitern, teils zu berichtigen. Die eine wie die andere sind bestimmt, die Theoreme der Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" (Leipzig, O. R. Reisland 1887, 4. und 5. Aufl. Berlin, K. Curtius, 1922) zu befestigen und auszubauen. Unausgesprochen ist auch kritischer Bezug genommen auf die Lehren des Altmeisters germanistischer Jurisprudenz, O. Gierkes, wie sie noch vor einigen Jahren in dem schönen Vortrag „Das Wesen der menschlichen Verbände" zusammengefaßt worden sind (Leipzig 1902). - Die Dreiteilung der Gegenstände der reinen Soziologie hat der Verf. neuerdings dahin abgeändert, daß an die Stelle des sozialen Willens die „Samtschaften" treten als (wie Verhältnisse und Körperschaften) eine Art der Verbundenheit. Der soziale Wille wird dann - soweit er nicht schon in der Sozial-Psychologie abgehandelt worden - diesen Arten der Verbundenheit als durch sie bedingt nachgeordnet.

15 „The problems

of social structure"-. Vgl. Tönnies 1906.

21 4. und 5. Aufl. ... 1922: In A: anastatischer Neudruck 1 9 0 4 . 24 „Das Wesen der menschlichen 30 Die Dreiteilung

Verbände":

... nachgeordnet:

Vgl. Gierke 1 9 0 2 .

In A fehlen diese Sätze.

Namenregister Adamson 451. Ahrens 87. Alexander d. Gr. 220. Ammon 323 f., 334, 386, 416, 422, 424 f. Aristoteles 323. Austin 281. Avenarius 273. Bachofen, A. 81, 92, 95. Baltzer, A. 100. Barth, P. 85, 98. Bentham 281. Bergbohm 265 f. Berkeley 493. Bernstein, E. 184 A. Bertillon 361. Blaschko 229, 389 f. Bodin 323. Böckh, R. 399. Bonaparte 220. Bosanquet 451. Broca 200. Brentano 89, 371. Browning, O. 451 f. Bryce, J. 451. Buckle 323. Buddha 448. Bücher, K. 94, 179, 185. Büchner 249. Caesar 221. Carlyle 89, 378. Collet, Miss 452. Comte, A. 80, 90, 148, 165, 199. Conrad, J. 240. Darwin 203, 214, 217 f.,

221, 230 f., 235, 249 f., 257, 276, 299 f., 311 ff., 316, 320, 340, 344 ff., 350, 437 f. - , j r . 472. Delage 444. Demokrit 448. Descartes 244. Ehrenfels v. 446. Ely, R. T. 327. Engel, Ernst 371. Engels 107, 163, 183. Eucken 85. Eulenburg, F. 99. Evert, G. 442 A. Feuerbach, A. 92, 270. Fichte 92. Fircks, Frhr. v. 400, 430. Frank, J. P. 62, 87 A. Fritsch 414. Fustel de Coulanges 95. Galton 444 ff., 455 ff., 466 ff., 474. Geddes, P. 451 f. Gierke, O. 81, 92 f., 137, 170 ff., 412. Gobineau 254. Goethe 82, 247, 259. Goldschmidt 180. Grey 231. Gros, Karl 271 f. Grünberg 104. Gumplovicz 203. Götte 392 f.

Hadley, A. C. 452. Häckel 153, 207, 214 ff., 295, 298. Haecker 389, 418. Hasbach 86. Haxthausen 94. Haycraft 235,372. Hearne 95. Hebenstreit, B. S. 396 A. Hegel 87,90,98,118,426. Helvetius 296, 377. Hertz 260. Hesse 281,284 ff., 293 ff., 305. Hobbes 87, 92, 119, 131, 144, 148. Hobson, J. A. 184, 452. Höffding 85, 97, 126. Hoffmann, F. (amerik. Statistiker) 324 Horatius 377. Hugo 87, 171. Hume 71. Huxley 49. Ihering, R. v. 95, 270, 274 f. Kant 92, 133, 244, 283, 296, 492. Kellogg, Charles D. 327. Kidd, B. 452. Klemm 254. Klotz 439. Knapp 89, 179. Koigen, D. 99. Konfuzius 448. Kovalevsky 203.

l Namenregister: Dieses Register folgt dem Original von SSK 1 (Tönnies 1925); die Seitenzahlen selbst sind auf die TG umgestellt. Das komplette Personenregister dieses Bandes befindet sich auf den Seiten 749-759.

500

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Krause 87. Krauss 203. Kuhlenbeck 425.

Post 95. Pythagoras

Lafargue 183, 194. Lamarck 214, 298. Lapouge 425. Laveleye 94. Leist 95. Lilienfeld, Paul v. 203. Livingstone 324. Lubbock, Sir J. 138, 203, 454. Lucas, Pr. 214.

Rawitz 426. Reitz 433. Reuter 440. Rickert 418. Robinson 267. Rodbertus 80, 89. Rosebery, Lord 451. Rosenbach 413. Rousseau 296. Ruhland 183. Ruppin 306 ff., 310, 315, 318 f. Ruskin 89, 137.

Mac Lennan 454. Maine, Sir H. 81, 92, 95, 454, 488. Malthus 231, 257, 300, 346. Marx, K. 81, 91, 123 f., 180, 184 ff., 331. Matzat 261, 264, 271 ff. v. Maurer 94. Mayr, G. v. 361, 400, 436 A. Merkel 483. Methner 411. Meyer, Rud. 183. Michaelis 323, 325. Montesquieu 323. Moreau 376 f., 447. Morel 245. Morgan

81, 92, 163, 255.

Neumann 399 f. Niebuhr, B. G. 385. Nietzsche 334. Nordau 203. Novikoff 203, 438. Ostwald

273.

Paulsen 85, 92, 95. Pearson, K. 469. Petzold 273. Plate 300. Platon 38, 148. Plötz 236.

448.

Quesnay 175, 291.

Saint-Simon 90. Schäffle, A. 80, 89, 204, 218, 221 f., 254, 340, 342. Schallmayer 218, 221 f., 229, 231 f., 236, 259, 276, 303, 339-345, 350, 353 bis 357, 365 ff., 373, 382 ff., 388, 391, 393, 399 ff., 405 f., 429 ff., 433 ff., 437, 438 ff., 458, 465, 476. Schalk, Emil 3 2 6 , 3 2 9 , 3 3 5 . v. Scheel 172. Schelling 87, 169. Schiller 244. Schmoller 89, 99, 124, 172, 179. Schopenhauer 73, 314 ff. v. Schulze-Gävernitz 189, 194. Schuster, Edgar 457. Seeley, Sir J. 452. Sergi 464. Smith, Ad. 173 f., 179, 186. Sörensen, Th. 430. Solon 448. Sombart 99. Spann, O. 379 ff., 398 ff.

Spencer, Herbert 80, 89, 97, 131, 138 ff., 142 ff., 155, 159, 199, 212, 261, 266 f., 276, 300, 333, 451. Spinoza 37. Stahl 87, 93. Stammler 261, 281 ff., 286 ff., 306 ff., 319, 418. Stein, L. v. 1 1 9 , 4 5 2 . Steinmetz, R. S. 378, 465. Steinthal 200. Thaies 448. Talquist 407 A. Tarde, S. 203 f. Teifen, T. W. 184. Temple, Sr. R. 465. Theophrast 323. Thomas, S. 136. Treitschke 208. Tönnies 203 f., 438. Tylor 454. Ueberweg-Heinze Unzer 395 A. Ure 188 f.

85.

Vacher 371. Verworn 393. Vico 323. Voltaire 137. Vorländer 85. Wagner, Ad. 80, 89, 95, 99. Wallace 249. Webb, Sidney 184. Webb, Frau 452. Weismann 207, 247, 253, 299, 388, 392 f., 418, 423, 433, 468. Welby, Lady 452, 468, 475. Westermarck 204, 452. Woltmann 248 f., 252, 255, 257 ff., 303, 473 A. Worms, René 199, 203 f. Wundt 85, 97, 276.

Sachregister Adelsstolz 297. Agrarkommunismus 104. Agrarstaat 257. Altersaufbau 436. American-Steel-Trust 329. Anarchismus 103. Anlagen 217. - , sittliche 382 ff. Anpassung 207, 276, 425. Antisemitismus 325. Arbeiterdisziplin 328. Arbeiterklasse 192, 237. Arbeit, Teilung der 152, 179 ff., 183, 193, 212. Artlehre 353. Athen 158. Auslese 2 4 4 , 2 5 3 , 3 5 8 , 3 6 1 , 421, 423. - , soziale 251. Austausch 65. Autorität 484. Begabung 354. - , ethische 388 ff. - , intellektuelle 388 ff.,474. psychische 358. BGB 266, 288. Begriffe 418. Begriffsrealismus 493 f. Berechnung 66. Besitz 49. Besitzbeziehungen 53. Bieten 59. Bindemittel, psychische 480. Biologie 66, 131, 201. Bitte 59. Bodenaristokratie 179.

Canones 263. Charakter 333. Darwinismus 90, 295. Degeneration (Entartung) 242, 256, 292 f., 303 f., 356. Demographie 35 A., 201. Demologie 35 A., 201. Denken, wissenschaftlich. 75 ff. Denkmittel 288. Deszendenztheorie 207, 215, 242, 256, 260, 285, 292 f., 298-302, 310, 425 A. Diagnose 420 f. Dialektik 347. Dienstpflicht 368. Dissolution 131, 333. Dressur 421. Düngung 307. Durchschnittswert 239, 305. Dysteleologie 290. Ehe 224 ff., 317,436,466, 468, 473. Ehebewilligung 396 f. Ehen, konsanguine 433. Ehescheidung 288. Eheverbote 404 f. Einheit 115. Empirismus 71. Endogamie 460. Energetik 273. Entartung 207, 391.

Entartungssymptome 372. Entwicklung 160. Entwicklungstheorie 116. Erbanlagen 431 ff. - , psychische u. sanitäre 438. Erziehung 235. Ethik 40, 309, 483 f. Eugenik 462 ff., 470. - , nationale 461. Evolution 131, 161 f., 333. Fabrik 178. Fabrikant 181. Fabrikdörfer 259. Familie 376 f. - Z é r o 401. Familienerbtafeln 403 f. Familiensinn 349. Feindschaft 61. Feindseligkeiten 53. Fiktion 491. Fortpflanzung 369, 393. - , uneheliche 226, 398 ff. Fortschritt 212, 256. Freihandel 265, 327. Freiheit 90. Freundschaft 61. Friedensvertrag 264. Fruchtbarkeit 436. Furcht 50, 62, 142, 146. Ganze, das 125, 1 5 1 , 1 8 1 , 212. Ganzes, soziales 491. Gauner 401, 422.

l Sachregister. Dieses Register folgt dem Original von SSK 1 (Tönnies 1925); die Seitenzahlen selbst sind auf die TG umgestellt. Das komplette Sachregister dieses Bandes befindet sich auf den Seiten 761-773.

502

Sachregister

Gebilde, soziales 490. Gebrechliche 360. Geburt, außereheliche 403. Geburtenrate 417. Gedächtnis 73, 146, 481. Gefühle 41 ff., 52, 146, 479 f. Gelehrte 396. Gemeindekapitalismus 108. Gemeinschaft 55, 63, 103 ff., 108 f., 275, 426. Gemeinschaften 104. Gemeinschaft u. Gesellschaft 59, 64, 66, 97, 109, 116 f., 152. Germinalselektion 58. Geschlechtskrankheiten 230, 317, 389 ff. Geschichte 33, 78. Gesellschaft 55, 61 f., 88, 103, 122 f., 152, 177, 426, 493 ff. - für ethische Kultur 396. - und Staat 119. Gesetzgebung 485. Gesinnung 283. Gewohnheit 5 6 , 2 6 2 , 4 8 1 , 486. Gewohnheitsrecht 211, 485. - verbrechen 397. Glaube, religiöser 488. - , sozialer 494. Gleichheit 91, 265, 297. Gleichheitstheorien 214. Großbetrieb 193. Gruppen 307. Häuptlingsschaft 156. Herrenklasse 237. Herrschaft 1 7 5 , 2 5 5 . Herzkrankheiten 255. Historie 193. Hochzucht 247. Hygiene 243, 292, 304. - , soziale 305. Ich 481. Imperialismus

333.

Individualausjätung 257. Individualismus 81, 127, 163. Industriestaat 257. Infektionen 333. Intelligenz 232. Interesse, soziales 240. Inzucht 246, 414, 422.

- geschichte 35, 201. - g ü t e r 219. - k ä m p f 88. - philosophie 38, 43.

Kameralwissenschaften 202. Kampf 138. - ums Dasein 297, 345. Kapital 179. Kapitalismus 89. Kartell 193. Kathedersozialismus 89. Kaufmann 177 ff. Kausalität 407 A. Keimauslese 246. Keimgut 421. Keiminfektionen 433. Kinderarmut 430. Kinderkrankheiten 258. Kinderlosigkeit 240. Kindersterblichkeit 230. Kirche 136. Koenonismus 426 A. Kombination 192. Kommunismus 100, 163. Kommunistisches Manifest 100.

Länder und Völker: Basel, Land u. B. Stadt, Cantone 236. Chinesen 216, 241 f. Deutschland 89, 106, 331.

Konkubinat 226. Konkurrenz, freie 288 ff. Konstitution 380. Kontrakt 137. Konvenienzehe 467. Konvention 485. Kooperation 177. Kriminalanthropologie 202. Krieg 412 ff., 417. Kriegsdienst 365. Kriegssozialismus 107. Kriegszustand 273. Kürwille 95, 232, 318,

253. Lebensideal 37. Legalität 281. Lehrer 386. Leistungen 53. Liberalismus 276. Liebesehe 467. Lumpenproletariat 360.

480 f., 489. Kultur 79, 81, 90, 139, 142,230,241, 243,276, 302, 340, 421 f.

- Völker

223, 417.

-werte 2 2 1 , 3 4 0 , 3 4 9 , 3 5 2 . - Wissenschaft

36.

Kundenproduktion

185.

England 89, 331. Frankreich 87, 371. Germanen 352. Japaner 417. Juden 255, 343. Nordamerika 3 0 1 , 3 2 6 ff. Papua 144, 334. Polen 343. Polynesia 144. Rußland 331. Tschechen 343. Zürich, Canton 236. Schweiz 236. Laissez-faire 289 f. Landfriedenskreise 341. Landwirtschaft 193. Lebenserhaltungsprinzip

Manchestertum 89. Maschinenarbeit 193. Matriarchat 204. Maturitätsexamen 234. Meinung, öffentliche 398. Menschheit 138. Metaphysik 39. Militärdienst 358 f., 438.

Sachregister Minderwertigkeit 423, 430. Monogamie 143, 460. Moral, Lehren der 281 ff. Moralstatistik 202. Muskelstärke 363. Myopie 363, 381. Nationalökonomie 89,98. Naturgesetze 287. Naturrecht 79, 86 f., 123, 169,175, 264, 266, 271, 276, 492. Naturzustand 270. Neodarwinisten 434. Nicht-Ich 481. Nominalismus 115, 490. Normen 282. Notwehr 268. Oberlehrer 387. Öffentliche Meinung 485. Ökonomie, politische 123, 171, 201. Organismen sociale 347. Organismus 492 f. Organizismus, soziologischer 249. Pflicht 268,274. Philosophie 77, 88, 109. - der Geschichte 38. Plutokratie 335. Polygamie 239. Privatrecht 170, 262. Produktion 192. Prognose 420 f. Proletariat 91. Prostitution 317. Protozoen 392. Psychologie 133,138,143. Qualität 215, 224. Qualitäten 210. - , ethische 382 ff. - , moralische 231. Quantitäten 180. Quietismus 291.

Rachitis 234. Rasse 238, 253 f., 297, 303. Rassenmischung 323. Rassen, neomorphe 414. - , passive 415. Rassenunterschiede 313. Rassequalitäten, physische 431. Rationalisierung 177. Rationalismus 71, 174 f., 191. Realismus 490. Realität, soziale 493 f. Recht 261 f., 268. Rechtsglaube 211. Rechtslehre 176. Rechtsphilosophie 122. Rechtsschule 172. - , historische 492. Rechts-Zustand 35. Regelung, soziale 283,288. Religion 211, 345, 411, 485, 489, 494 f. Religionen 135. Restaurationszeit 120. Rückschritt 256. Säuglingssterblichkeit 304, 435. Schätze, generative 358. Schule, historische 120. Schulkinder 433. Schutzzoll 326. Seelenleben 479. Selektionstheorie 209, 218, 299, 339, 361. - wert, geistiger 251. Seuchen 258. Sitte 281, 485, 487, 494. Sittengesetz 282. Sittlichkeit 262. Skrofulose 234. Soziale Frage 118, 202 f. Sozialisierung 106. Sozialismus 100 f., 106 f. Sozialität 143. Sozialwissenschaft 77, 187, 200.

503 Sozialwissenschaften 307. Soziologie 36, 38, 86, 89, 97, 115, 132 ff., 135, 148 ff., 199, 201 f., 202, 482, 485. - , Definition der 204. Staat 88, 119, 122, 176, 269, 275, 492 ff. Staaten 344. Staatskapitalismus 108. Staatssozialismus 329 f. Staatswille 211. Staats, Theorie des 136. Stadt 424. - u n d Land 4 3 5 , 4 4 2 . Städte 211,370 ff., 431 ff. Stammbaum 224. Stammlersche Schule 310. Standard-Oil-Company 326, 329. Ständebildung 258. Statistik 35 A., 201, 431, 435 A., 469, 473. - der Todesursachen 304. Status 483. Streben 49. Studenten 390. Sympathie 143. System, regulatives 156. Tabu 470. Tausch 126. Tauschwirtschaft 180. Technik 219. Technologie 419. Tendenzen 109, 209. Tod 392 f. Tradition 249. Traditionswerte 219, 350. Tuberkulose 224. Tugend 384. Typen 7 6 , 2 1 0 , 2 4 5 . Typus 140,158,213,216, 221, 224, 323, 412, 414. Ubervölkerungstendenz 257. Urgesellschaft 412. Urkommunismus 104.

504 Ursachenforschung

Sachregister 418.

Variationen 294. Verbindungen 490. Verbindung, soziale 491. Veredelung 245, 414. Vereine 263, 490. Vererbung 153, 207, 276, 294 f., 356, 364, 421, 424 f. Verfassung 492. Verhältnis, sittliches 483. - , soziales 482 f., 491. Vernunftehen 317. Verteilung 193. Verteilungssystem 155. Vertrag 2 6 5 , 4 8 3 . Vertragstheorie 120. Vertragsverhältnis 263, 275. Verwaltung 106. Verwandtenehen 318. Vertrauen 65. Volk 106, 192.

Völkerentwicklung 223. Völkerpsychologie 187, 200. Volksgeist 98, 487 f. Volkskörper 391. Volkswirtschaft 106. Voluntarismus 479. Wanderung Ware 178. Wechselwirkung 288. Weltanschauung 36, 411. Weltmarkt 108. Weltmeinung 108. Weltwirtschaft 192. Wesenheiten 490. Wesenwille 95, 124, 317, 480, 489. Wertethik 260. Wertforschung 418 f. Wertgefühl 62. Werturteile 42, 50. Wetter 305. Wille 45 ff., 55, 94.

Willensbeziehungen 48. Wille, sozialer 285, 301, 307, 485. - zum Leben 291. Willkür 49, 58, 124. Wirtschaft 181. Wollen 1 2 4 , 2 8 5 , 4 8 6 . - , soziales 488. Wunsch 49. Zeugung 403. Zölibat 461. Züchtung 300, 344. Züchtungs-Soziologen 236. Zuchtwahl 2 3 9 , 2 5 6 , 2 9 0 , 299, 437. - , geschlechtliche 313, 362. Zusammenwirken 158. Zweck 115, 125. Zweckmäßigkeit 290. Zweckmoment 289.

Weitere Schriften von Ferdinand

Tönnies

Hochschulreform und Soziologie. Kritische Anmerkungen über Beckers „Gedanken zur Hochschulreform" und Belows „Soziologie als Lehrfach". (Vermehrter Sonderabdruck aus „Weltwirtschaftl. Archiv", Bd. 16.) 36 S. gr. 8°. 1920. Jena, Gustav Fischer Gmk — . 7 0 Verfasser knüpft einerseits an die Schrift C. H. Beckers: „Gedanken zur Hochschulreform" an und nimmt andererseits kritisch Stellung zu jenen von Below in Schmollers Jahrbuch aufgestellten Gedanken „über die Soziologie als Lehrfach". Sich an Becker anschließend, gipfelt sie darin, daß der Soziologie als Wissenschaft eine größere Bedeutung im Lehrbetrieb unserer Universitäten zugestanden werden muß, und daß bei der Gestaltung und vorbereiteten Planlegung eines künftigen Gesetzentwurfs über eine Hochschulreform auch die Forderung berücksichtigt werde, daß soziologische Lehrstühle eine dringende Notwendigkeit für Hochschulen sind. Die Schrift will alle Kreise der Hochschulen, lehrende und lernende, auf diese so wichtige Frage hinlenken und zu möglichst großer Mitwirkung anregen.

Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 4. und 5. Auflage. 1922. Berlin, K. Curtius. (6. Auflage in Vorbereitung.) Thomas Hobbes Leben und Lehre. 2. Aufl. (vergriffen). 3. Aufl. in Vorbereitung. Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer 1906. Leipzig, Th. Thomas, jetzt: Berlin, K. Curtius.

Ansicht.

Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege. Dritte Auflage. (Sammlung Göschen.) 1919. Berlin und Leipzig, Walter de Gruyter 8c Co. 1

Weitere Schriften von Ferdinand Tönnies: Der Autorisierungsstatus dieser unvollständigen Monographien-Bibliographie ist ungeklärt.

5

(Vermehrter

Sonderabdruck

aus „Weltwirtschaftl.

Archiv",

Bd. 16.) - dort auf S. 2 1 2 -

2 4 5 mit dem Titel „Hochschulreform und Soziologie". 18

(6. Auflage in Vorbereitung.):

1 9 2 6 erschien die 6. + 7. Auflage im Verlag Karl Curtius,

Berlin; gewidmet ist sie den „Verfassern der mir zum 70. Geburtstage gütigst gewidmeten Abhandlungen (Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 5. Jahrgang, Heft 1/2)" (vgl. Tönnies 1926b: III). 20

3. Aufl. in Vorbereitung.:

Die dritte vermehrte Auflage erschien 1 9 2 5 in Fr. Fromanns

Verlag (H. Kurtz), Stuttgart. Sie wurde in Freundschaft bzw. Gedächtnis den Geschwistern Davies und ihrem Oheim George Croom Robertson gewidmet (vgl. Tönnies 1925b: V). 23

Dritte Auflage: Die ersten beiden Auflagen erschienen 1 9 0 7 bzw. 1 9 1 3 , seit 1 9 1 9 dann mit

506

Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung

Die Sitte. (Sammlung „Die Gesellschaft", Bd. 25.) 1909. Frankfurt a. M., Rütten & Loening. Marx Leben und Lehre. 1921. Berlin, Verlag für Sozialwissenschaft. Kritik der öffentlichen Meinung. 1922. Berlin, Jul. Springer. Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit. („Schriften 5 der Gesellschaft für soziale Reform", Heft 5.) 59 S. 8°. 1902. Jena, Gustav Fischer. Gmk —.40 Die niederländische Uebersee-Trust-Gesellschaß. (Nederlandsche Oversee Trust Matschappij). (Kriegswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Institut für Weltwirtsch. u. Seeverkehr a. d. Univers. Kiel. Heft 12.) IV, 34 S. 10 gr. 8° 1916. Jena, Gustav Fischer. Gmk—.75

dem Titelzusatz „bis zum Weltkriege". Zu Tönnies' Lebzeiten erschien eine weitere verbesserte Auflage (Tönnies 1926).

II. Schriften

Principielle bemerkninger til revolutionsteorien 1. Revolution i almindelig forstand er den politiske révolution. Den er forskjellig fra andre revolutionsarter. Disse andre arter kan henfares under den sociale (d. v. s. den vazsentlig okonomiske) og den aandelig moralske révolutions kategorier. Men den sociale révolution staar i sterk og mangfoldig forbindelse med den sidste. En politisk révolutions vassen og aarsaker kan bare forstaaes ut fra dens sammenhasng med det sociale livs og den sociale idéverdens forandringer. Disse forandringer er helt overveiende av kronisk natur, de foregaar litt efter litt, ofte ubemerket, efter forskjellige linjer, som delvis hindrer, delvis fremmer hverandre, men som tilslut finder hverandre i én stor stram. 2. Som politisk révolution forstaaes sedvanlig bare en éngangs begivenhet, selvom den ofte strsekker sig ut over maaneder, kanske endog over flere aar, nemlig statsformens forandring med vold. Ved en saadan voldsom forandring maa der skj eines - noget som ikke altid gjores i litteraturen eftersom den utgaar fra personer, som allerede indehadde en vsesentlig del av den politiske magt, eller fra saadanne, som slet ikke eller bare i ringe grad hadde del i den. Den forste art er det saakaldte statskup (coup d'état); den anden derimot den egentlige révolution. Selvom det kan siges med grund, at statskupet i Viesen og art er ensartet med revolutionen, er det allikevel hensigtsmasssig begrepsmasssig at skille mellem disse faenomener. Derimot er kontrarevolutionen i virkeligheten en révolution, hvis den maa opfattes som begivenhet, ikke bare som beviegelse. Den av historikerne i Pincipielle bemerkninger

til revolutionsteorien-. Der Artikel, wohl eine Gelegenheitsschrift,

erschien im Februarheft der norwegischen Tidsskrift for Bank- og Finansvaesen ([Zeitschrift für Bank- und Finanzwesen] 1 9 2 3 , 9, 2, S. 1 7 - 1 9 ) unter der Rubrik „Fra utlandet" [Aus dem Ausland]; er umfasst fünf Spalten. - Gezeichnet: Von Ferdinand Tönnies. Professor für Sozialökonomie an der Universität zu Kiel. Eine deutschsprachige Vorlage wurde nicht aufgefunden, es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Tönnies, der dänisch beherrschte, den Text in Deutsch geschrieben hatte und seine Tochter Franziska, die zu jener Zeit als seine Privatsekretärin tätig war, ihn in das norwegische „Bokmäl" übersetzte, nachdem sich Tönnies wohl vergebens bemüht hatte, V. Thorsteinsson, einen Isländer, der bereits die Übersetzung seiner Abhandlung „Den offentlige mening og dens Kjendetegen" für die ,Ukens Revy' (Fechner 1992: Werkverzeichnisnummer 5 7 0 ) besorgt haben soll, für diese Aufgabe zu gewinnen. Im editorischen Bericht findet sich eine Rückübersetzung ins Deutsche; vgl. S. 6 9 3 - 7 0 0 .

510

Schriften

saakaldte kontrareformation har vseret - ikke en begivenhet - men bare en bevaegelse, selvom den var noksaa betydningsfuld. 3. Det gives ogsaa en kronisk revolution, som kan vare et eller fiere aarhundreder. Den optraeder dels i fiere katastrofale statsforandringer med tendens til at utvikle sig i en rytme av revolutioner og kontrarevolutioner, dels i revolutionens uavbrutte kamp mot elementer, som motarbeider og forhaler selve revolutionen. Som enhver kamp mellem to magter eller tendenser kan ogsaa denne kamp faa tre forskjellige resultater: Avgjort seir for det ene eller andet parti, og kompromis med en ialfald tilsyneladende forsoning. Dette kompromis indtrseder for det meste derved, at en tredje formidlende magt eller tendens reiser sig over de to stridende. Denne magt kan samtidig drsepe revolutionen og blive til dens arving, saa den bliver revolutionens testamentsfuldbyrder. 4. Revolutionen maa ogsaa holdes ut fra rebellionen, skj0nt den kan gaa sammen og i visse tilfaelde forbinde sig med rebellionen. Rebellionen er undertiden et pludselig faenomen av kort varighet - „putschen" - , men kan ogsaa utvikle sig til formelig borgerkrig. En revolution fremkalder ofte saavel den ene som den anden form. Til dens begyndelse og kimer horer ofte sammensvcergelsen, som sedvanlig iverkssettes paa hemmelig maate, men ofte ogsaa hemmelig midt i aapne foreninger og klubber. 5. For Europas og dets koloniallandes sociale utviklings vedkommende i de sidste fire aarhundredes lop har de mest betydelige revolutioner utviklet sig av nye sociale lags opror. I denne tid har disse lag konsolidert sig mot middelalderens herskende magter, som haevdet sig ikke bare ind i de nye aarhundreder, men som for en stor del vistnok ogsaa gjorde dette skarpere og stivere end f0r. Dette skedde isser ved tilslutning til de monarkiske magter. Som den kroniske revolution virkede disse de gamie herskende stasnder imot - ialfald deres egen politiske magt - og arbeidet i statsmagtens form paa at indskrsenke og lamme denne. Disse den fyrstelige absolutismes tendenser er altsaa efter sin natur indbyrdes splidagtige og tveeggede: Delvis forbereder de revolutionen, delvis forbinder de sig med de av denne bekjasmpede magter, stotter og befazster dem. Absolutismens aktioner kan opfattes som kronisk statskup. Thi de forandrer og omstyrter ved sin magt de gamie stasnderforfatningers statsret. Konged0mmet hadde derfor gjennem aarhundreder sine mest forbitrede motstandere i de gamie staender, som i den nyeste tid gjaelder som dets paalideligste forbundsfadler, og som hasvder konged0mmet som princip. Ved saadant fiendskap blev hine forhen herskende staender til revolutionens ophavsmaznd, saafremt de ikke forenet sin skjaebne med monarkiets som dets mest lydige undersaatter.

Principielle bemerkninger til revolutionsteorien

511

De - saavelsom deres tilhaengere - sluttet sig til monarkiet og mot sin egen tidligere myndighet. 6. Man vii derfor finde revolutioner, som har en reaktionär karakter, saafremt de gaar ut paa at gjenoprette gamie tilstande, ialfald en konservativ karakter. De utspringer av de gamie magters defensiv. For at overvinde og lamme dem arbeider hele den nyere sociale, politiske og aandelige utvikling, somom den var en kronisk totalrevolution. Typisk er den saakaldte „glorious revolution" i England fra 1688. Efter sit vassen er den en kontrarevolution av de gamie herskende staender - adelen og geistligheten - contra Tudor- og Stuartsystemets borgerlig utjevnende tendenser. Allikevel er denne „glorious revolution" et led i den borgerlige totalrevolution. 7. Denne totalrevolution repraesenterer den utvikling, som i gründen er det moderne „samfunds" utvikling i enhver stat, som tar del i den. Det moderne samfund beror paa individernes formelle likhet. Samfundets utvikling skrider derhos frem paa grundlag av alle de mangfoldige „menigheter", som har sine rotter i familiesammenslutninger, lokale og andre sammenslutninger. Denne utviklings tjenere er overveiende absolutismen, de kroniske og akutte statskup, som igjen er dens uttryk, samt den nyere tids revolutioner. Selv kontrarevolution og restauration formaar ikke at hindre denne utvikling, ja, fremmer den sogar. Resultatet er dannelsen av en ny og middelbart herskende klasse. Dens kraefter ligger mere i kapitalen end i jorden. Den handler som stand, d.v.s. ikke paa rettens vegne, men som klasse. Dette herredomme har saa at si vaeret hele den politisk-revolutionasre bevaegelses nettoutbytte i fire aarhundreder. Som folge herav fremtraeder det som speilbillede av det okonomiske fremskridt, der har ophoiet handelen til det okonomiske livs avgjorende faktor. Dette fremskridt er netop en lovmsessig utviklings normaluttryk - en utvikling, som hasvder godernes ombytning og arbeidsfordelingen (fagmsessig, ideal og international arbeidsdeling) ved befolkningens tilvekst som en uundgaaelig nodvendighet, og som systematiserer vareproduktionen for dette formaal. 8. Revolutionerne har likesom totalutviklingen, hvis tjenende faktorer de er, hittil undergaat bare svake modifikationer ved motbevaegelser mot dette nyere system, som den praktiske revolutions form angriper og truer. Efter sakens natur berarer og forbinder disse motbevaegelser sig let og ofte med motvirkninger av de gamie magter, som - selvom i bestandig formindsket styrke - arbeider imot den samfundsmaessige utvikling og soker at forsvare sig overfor den. Paa den anden side derimot staar denne proletariske bevaegelse paa grund av sin avhsengighet av det nye system og

512

Schriften

dets bserere netop i den skarpeste motssetning til hine fortidens magter og fremmer delvis med hensigt, delvis under de almindelige motiver, totalrevolutionens karakter, som er den gamie og som fornyer sig fremdeles. Den politiske revolution, statsformens forandring, kan gaa ut paa det proletariske oprer og kan allikevel 0ke og styrke samfundets magter, som det proletariske oprar netop vii Optra; imot. Denne forklasdning og forvrasngning, som den moderne politiske revolutions naturlige former fremviser, kan anta de mest groteske skikkelser, idet den synes at vaere baade det gamie og det nye sociale systems tilintetgjorelse. Men selv isaafald vii dette ikke vasre noget andet end en paradoksal fase i den politiske revolutions totalproces i nutiden - nutiden, hvis virkelige indhold vii viere handelens og folgelig den mobile kapitals etablering som social og felgelig politisk avgj0rende magtfaktor. 9. Reform eller revolution? - er et alternativ, som ofte blev opstilt av politiske forfattere, og som ofte har opnaaet vseidig politisk betydning. Det er en gammel visdom, at tidlige, beieilige reformer er i stand til at forebygge revolution; videre er det en gammel erfaring, at forsinkede reformer fremmer og paaskynder en revolution, og at saadanne reformer gjerne blir iverksat forgjseves, saasnart en revolution er i anmarsj. Beramte er de Tocqueville's ord (L'ancien régime et la revolution, lib. III, kap. 4) om, at en daarlig regjerings farligste oieblik er det, da den begynder at forbedre sig. Som forbedring maa da forstaaes en tilpasning, som imidlertid ofte virker som en forvaerrelse, hvis man betragter den fra et objektivt fjerne. De Tocqueville fortsastter: „Lideiserne, som man taalmodig tok paa sig som uundgaaelige, blir utaalelige, saasnart man opdager muligheten for at kunne befri sig fra dem. Ethvert misbruk, som avskaffes, later desto tydeligere det tras frem som endnu staar igjen, og gjor enhver beroring med det desto mere smertefuld: Det onde er vistnok blit formindsket, men evnen til at fole det er vokset." Beleilige og vel gjennemtasnkte reformer og tilpasninger er egnet til at daempe det revolutioniere sindelag; forsinkede og forhastede reformer derimot fremkalder et flaut indtryk, de ssetter mot i hint sindelag. 20 L'ancien régime et la révolution: Vgl. Tocqueville 1 8 5 7 ; in der französischen Originalausgabe (1856) handelt es sich um das 16. Kapitel des II. Buches. 22 da den begynder at forbedre 29 „Lideiserne

sig: Vgl. Tocqueville 1 8 5 6 : 2 7 0 (dt. 1 8 5 7 : 207).

... det er vokset.": Vgl. ebd.: „Le mal qu'on souffrait patiemment comme

inévitable semble insupportable dès qu'on conçoit l'idée de s'y soustraire. Tout ce qu'on ôte alors des abus semble mieux découvrir ce qui en reste et en rend le sentiment plus cuisant: le mal est devenu moindre, il est vrai, mais la sensibilité est plus vive.".

513

Principielle bemerkninger til revolutionsteorien

10. Et maerkeligt trask i revolutionsideologien er dens retrospektive karakter. Revolutioner vil regelmässig gjenoprette noget tidligere, noget oprindeligt, som man mener er blit tilintetgjort ved de nuvasrende tilstande og regjeringer. Forsaavidt gaar de altsaa sammen med kontrarevolutionerne og restaurationerne i maal og strseben, skjont disse vil gjenoprette netop det, som de forste har odelagt. Denne sandhet har Karl Marx uttrykt saaledes: „Alle dode slegters tradition ligger som en mare paa de levendes hjerner. Og naar de netop synes at vsere beskjaeftiget med at reformere sig selv og tingene, og at skape noget, som aldrig har vaeret for, netop i saadanne revolutioniere kriseperioder besvaerger de asngstelig fortidens aander til sin tjeneste, laaner av dem navn, kampparoler, kostymer for i denne ved sin alder asrvaerdige forklasdning og for med dette laante sprog at opfere det nye verdenshistoriske skuespil." Og i Marxs spor har den - for tidlig avdede - baron Casimir Krauss vaaget at formulere „Ein Gesetz der revolutionären Rückschau". Denne lov formulerte han saa: „Enhver bevœgelse, der utgaar paa at forandre det sociale systems regier, begynder med at statte sig til en mere eller mindre fjern fortidsepoke." Og han forsoker da at avlede denne lovs nodvendighet av et slags psykologisk traeghet. Aanderne, som foler sig kraenket i sit tarv, vender sig bort fra den form, som er; de soker noget andet.... Man kan finde frelsen bare i det, man kjender [jeg tilfoier: eller man tror at kjende]; derfor onsker man denne fortidens tilbakekomst." Han paaberaaper sig en idè av en landsmand, den polske sociolog }. E. Potocki, og uttaler: „Disse fortidserindringers rolle bestaar i at lasgge til grund det cestetiske element, dramme som peker ind i fremtiden; og det er bare naturlig at bevaegelsens kunstnere pleier at vaere besjseiet netop herav." (Annales de l'institut internationale de sociologie, vol. I, pag. 2 8 3 ff, 289). 13 „Alle dede slegters tradition ... det nye verdenshistoriske is „Ein

Gesetz der revolutionären

retrospection

Rückschau":

skuespil.":

Vgl. M a r x , 1 8 8 5 : 7.

Vgl. Krausz ( 1 8 9 5 : 2 8 3 ) : „Loi de la

révolutionnaire".

17 „Enhver bevcegelse ... eller mindre fjern fortidsepoke.":

Vgl. ebd.: „Chaque mouvement,

tendant à changer les principes du système social, commence par se tourner vers une des époques du passé plus ou moins éloignée.". 21 Aanderne,

som faler ... denne fortidens tilbakekomst.":

Vgl. ebd. (284; Anführungszei-

chen fehlt im Original): „Les esprits blessés dans leurs besoins se détournent de la forme existante; ils cherchent autre chose. ... On ne peut chercher le salut que dans ce qu'on connaît: on désire le retour de ce passé.". 22 polske sociolog J. E. Potocki: Richtig: J. K. Potocki. Krausz gibt als Quelle an: „Gynécologie et Sociologie", Voix de Varsovie. Diese Schrift konnte nicht verifiziert werden. 25 „Disse fortidserindringers...

besjcelet netop herav. ": Vgl. Krausz ( 1 8 9 5 : 2 8 9 ) : „Donc,le rôle de

ces souvenirs du passé est de fournir aux tendances vers l'avenir l'élément esthétique, le tissu des rêves; et il est tout indiqué, que les artistes du mouvement justement en soient pénétrés.".

514

Schriften

1 1 . 1 mesterlig klarhet og skarphet uttaler Karl Marx: Ikke menneskenes bevissthet bestemmer deres tilvazrelse, men omvendt, deres sociale tilvasrelse bestemmer bevisstheten; han mener, at man ikke kan bed0mme en omvasltningsperiode efter bevisstheten, men maa tvertom forklare bevisstheten ut fra det materielle livs motssetninger, ut fra den tilstedevazrende motsaetning mellem produktionskrasfterne og produktionsforholdene. Men den anvendelse Marx har gjort av disse ssetninger paa en proletariskpolitisk revolutions, ja et mellemavsnits (som han betegner som proletariatets diktatur) sandsynlighet og endelig paa sandsynligheten av en saadan revolutions og av et diktaturs heldige utfald - denne anvendelse beror mere paa folelser, onsker, haab og paa almindelige ideer om den menneskelige kulturs fremskridt end paa gjennemtasnkte faktiske gründe. Kapitalens samfundssystem staar endnu i sin politiske utfoldelses begyndelse. Denne utfoldelse ser vi i sin mest fuldkomne form der, hvor den proletariske kontrabevasgelse er svakest, nemlig i den stat, som oiensynlig river til sig verdensherredommet, om end forelobig bare det 0konomiske, o: Amerikas forenede Stater. 12. Den marxistiske tankegangs alvorligste feil er, at den altfor meget ringeagter kapitalismens magt. I Marx' tid var den endnu langt fra sit hoidepunkt, og selv idag er den langt fra at ha opnaadd det. Men Marx trodde at kunne iagtta, at og hvorledes den gaar tilgrunde ved sine indre motssetninger. Dette vilde ha tilfolge, at arbeiderklassen ikke hadde noget andet at gjore end at bemazgtige sig det synkende skib for at komme „til roret". Trazghetens og utviklingens sterkere krazfter ligger forelebig og vil - saavidt kan sees - lsenge ligge i den kapitalistiske produktionsarts motiver og vaner. Man maa ikke la sig narre av det ytre skin. I sine mest karakteristiske trask vil dette fremtidsutviklingens billede hverken forandres eller indskraznkes, hverken ved forbigaaende og tilsyneladende arbeiderregjeringer i Australien og New Zealand eller ved den uhyre diskreditering, bolsjevismen tilfoier alle konklusioner ut fra Marx's praemisser i et land med svak kapitalistisk utvikling. Voldsomme forandringer av statsformen og statsforfatningen er ved gunstige omstsendigheter let at iverksastte. 3 Ikke menneskenes

... bestemmer

6 produktionskrcefterne

bevisstheten: Wörtlich nach Marx (1859: V) übersetzt.

og produktionsforholdene:

Vgl. ebd.: V f.: „So wenig man das, was

ein Individuum ist, nach dem beurtheilt, was es sich selbst dünkt, eben so wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurtheilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.".

Principielle bemerkninger til revolutionsteorien

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Voldsomme forandringer av samfundsformen og samfundsforfatningen kan umiddelbart slet ikke iverksaettes, middelbart kan det ske - d.v.s. ved statsmagten - bare forsaavidt samfundsformen og forfatningen er modne til forandringen, og hvis statsmagten ikke bare er sterk nok til at haevde sig mot de politiske magter, som er den imot, men ogsaa sterk nok til at hasvde sig mot de fiendtlige sociale magter samt mot de politiske magter, som tjener til statte for hine. Marx selv uttaler i lapidar form den sastning: „En samfundsformation gaar aldrig under forend alle de produktivkraefter er utviklet, som den er rummelig nok for . . . " Er - kan man sparre - vor samfundsformation „rummelig nok" for utviklingen av de idag eksisterende kraefter? Desvaerre har Marx forsamt at angi de kriterier, efter hvilke dette sporsmaal maa besvares. Men det er en kjendsgjerning, at denne utvikling, siden han forfattet disse uttalelser, ja endnu mere efter hans dod, er skredet frem paa en maate, som den störe taenker ikke har anet. Men beviser ikke verdenskrigen, at kapitalismens samfundsdannelse ikke 1 «enger er vid nok for denne utvikling? Har den ikke igrunden - ved siden av politiske reaktioner og i deres falge - tildels fremkaldt og tildels paaskyndet den uhyre motstramning av socialreaktionasr art? - Disse kjendsgjerninger maa man vaere forsigtig at traekke urigtige slutninger fra. Den tilstand, som Europa idag - ved slutten av 1922 - befinder sig i, ligner en fortvilet dodskamp. Paa oceanets anden side synes samfundsdannelsen for en lang tid endnu at vaere rummelig nok for umaalelige produktionskraefters utvikling. Politiske revolutioner, som - i lande som Mexiko og i sydligere lande - er saa hyppige, turde forberede De forenede Staters overvegt, om ikke deres avgjorte overherredemme.

9 „En samfundsformation

... rummelig nok for ...": Vgl. ebd.: VI.

Professor Aulard Herr Alphonse Aulard, der im 74. Lebensjahre steht, war ursprünglich Gymnasialprofessor, ist dann an mehreren französischen Hochschulen als Professor der Geschichte tätig gewesen, zuletzt und noch heute, soweit mir bekannt, an der Pariser Universität. Sein Sondergebiet ist die Geschichte der großen Revolution seines Landes, die er mit tiefgehendem Studium der Akten und Urkunden, also im modernen Stile beackert und befruchtet hat. In Parallele mit der neuen Aera des französischen Nationalbewußtseins, die nach dem schmählichen Ende der Dreyfus-Affäre mit dem Block und seiner antiklerikalen Politik einsetzte, gelangte Aulards historische Auffassung mehr und mehr zur Geltung. Die Tradition der Revolution und mit ihr die des glorreichen Cäsarismus wurde wieder lebendig. Aulard ist als Gelehrter nicht Rhetoriker, sondern gewissenhafter Forscher, er wurde aber der Herold einer Jugend, die im Bündnis mit dem heiligen Rußland die Zukunft Frankreichs, im Vergeltungs- und Vernichtungskriege gegen das Deutsche Reich die Aufgabe ihres Lebens sah, sobald der Ausgang dieses Krieges durch das herzliche Einverständnis mit dem britischen Erbfeinde gesichert schien. Die revolutionäre Legende war durch Hippolyte Taine, der den Geist eines Philosophen als Geschichtsschreiber bewährte, erbarmungslos zerstört worden. Er schildert die Anarchie: „Die Volksaufstände und die Gesetzgebung der konstituierenden Nationalversammlung endeten damit, in Frankreich alle Regierung zu zerstören." - „Ich habe das Bild des damai Professor

Aulard:

Die Auseinandersetzung mit dem französischen Historiker Alphonse

Aulard wurde am 18. Februar 1 9 2 3 in der in Berlin erschienenen Deutschen Allgemeinen Zeitung [62 Jg., Nr. 8 0 / 8 1 . Sonntagsbeilage] veröffentlicht. Unter der Überschrift ist als Autor angegeben: „Von Geheimrat Prof. Dr. Ferdinand Tönnies (Universität Kiel)." Die Schrift gehört in den Zusammenhang mit anderen Arbeiten aus den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, in denen Tönnies sich mit der Frage der Kriegsschuld auseinander setzte. Vgl. in diesem Band auch die Texte „Wiederaufnahme des Verfahrens", S. 5 2 9 5 3 3 , sowie „Enthüllte Diplomatie?", S. 5 8 6 - 5 9 1 . 9 Dreyfus-Affäre:

Die Dreyfus-Affaire gilt als die schwerste innenpolitische Krise der Dritten

Republik, vgl. die editorische Anmerkung S. 6 0 9 . 23 „ D i e Volksaufstände

und die Gesetzgebung

... Regierung

zu zerstören."-. Tönnies' Über-

setzung aus Taine ( 1 8 7 8 , I): „Les insurrections populaires et les lois de l'Assemblée constituante finissent par détruire en France tout gouvernement . . . " .

517

Professor Aulard

ligen Frankreich gezeichnet, ohne mich um unsere gegenwärtigen Streitigkeiten zu kümmern; ich habe geschrieben, als ob mein Gegenstand die Revolutionen von Florenz oder von Athen wären." Aulard setzte sich zum Ziele, das Ansehen Taines zu erschüttern. „Taine als Historiker der Revolution" ist die besondere Schrift, die er (1907) dieser Aufgabe gewidmet hat. Seine vielen Einzelstudien und seine politische Geschichte der französischen Revolution sind durchglüht von Begeisterung für jene Ideale und für ihre Träger. Er will und kann den Mann der Partei nicht verleugnen. Daß er in und mit diesem Eifer die Erkenntnis vieler Einzelheiten und wichtiger Zusammenhänge bereichert hat, wird auch der Kritiker anerkennen, der sich zum Geiste seiner Forschung kühl oder gar ablehnend verhält. Hier ist die Meinung, nicht, seine Verdienste in Zweifel zu ziehen, auch nicht, sie gegen diejenigen Taines abzuwägen. Daß Taine aber ein Mann von stärkerem und tieferem Verstände, von höherer Bildung war, darf mit einiger Zuversicht ausgesprochen werden. Die Art und Weise, wie Herr Aulard über die französischen Kriegsziele und das Deutsche Reich sich ausgelassen hat, ist danach angetan, auch seine Zuverlässigkeit als Geschichtsschreiber ein wenig zweifelhaft erscheinen zu lassen. Aulard hat im Jahre 1 9 1 6 eine Reihe von kleinen Kriegsaufsätzen „La guerre actuelle commentée par l'histoire" herausgegeben. Daß in diesen Artikeln ein leidenschaftlicher Patriotismus, eine kritiklose Verherrlichung der eigenen Nation laut wird, wird kein Deutscher dem Autor verargen. Auch daß ein ebenso kritikloser Abscheu gegen uns darin zu gellendem Ausdruck kommt, werden wir ihm gerne zugute halten, auch wenn die Schmähworte, die fast auf jeder Seite rasen, an die Damen der Halle und an das beim französischen Pöbel so beliebt gewesene Anspucken der deutschen Kriegsgefangenen erinnert. Am meisten merkwürdig und cha-

3 „Ich habe das Bild des damaligen Frankreich gezeichnet...

Athen wären. ": Siehe ebd. (III):

„A mon sens, le passé a sa figure propre, et le portrait que voici ne ressemble qu'à l'ancienne France. Je l'ai tracé sans me préoccuper de nos débats présents; j'ai écrit comme si j'avais eu pour sujet les révolutions de Florence ou d'Athènes.". s „Taine als Historiker der Revolution": 6 Seine vielen Einzelstudien:

Vgl. Aulard 1 9 0 7 .

Vgl. z. B. Aulard 1 8 8 9 - 9 7 , 1 8 9 2 , 1 9 1 4 .

7 politische Geschichte der französischen

Revolution: Vgl. Aulard 1 9 0 1 ( 1 9 2 4 erschien eine

deutsche Übersetzung). 21 „La guerre actuelle commentée

par l'histoire": Vgl. Aulard 1 9 1 6 .

26 die Damen der Halle: Dies bezieht sich wohl auf die sprichwörtlichen Fisch-Verkäuferinnen im Pariser Großmarkt „Les Halles".

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Schriften

rakteristisch für den Verfasser dürfte der Aufsatz über Jaurès sein, den Aulard als Vorsitzenden eines Komitees für die wirtschaftliche Geschichte der Revolution gekannt hat. Er feiert ihn, obgleich Parteigegner. Im Vorbeigehen spricht er davon, daß Jaurès auf eine so scheußliche Weise ermordet sei; er hütet sich aber wohl, zu verraten, daß diese Ermordung, die kein Strafrichter erreichte, unmittelbare Folge davon war, daß Jaurès Herrn Iswolsky als den Urheber des Krieges bezeichnet hatte, und daß er im Begriff stand, das Proletariat Frankreichs gegen die Teilnahme an diesem russischen Kriege aufzurufen. Aulard meint, genau und mit Sicherheit zu wissen, wie Jaurès, wenn er im verrußten Frankreich am Leben geblieben wäre, sich verhalten hätte: natürlich wäre er nach Aulards Ansicht eines der Häupter der „union sacrée" für den Dienst des Vaterlandes gewesen, das die deutsche Tyrannei angegriffen hatte. Er nennt ihn einen „socialiste poète" und meint, seine Illusionen über den guten Glauben und den guten Willen der Deutschen wären von der Wirklichkeit in brutaler Weise zerstört worden usw. Lassen wir ihm diese Meinung über einen Mann, der am 9. Oktober 1912 in der „Humanité" geschrieben hat: „Das verbrecherische Marokko, das verfluchte Marokko, hat die Unternehmung von Tripolis verursacht, die selbst wieder den Zustand der Gärung und Verwirrung schuf, der zum Balkankrieg führte, und aus dem der allgemeine Krieg hervorgehen kann" - der also deutlich den Weltkrieg als natürliche Folge der französischen Politik kommen sah! Aulard bekennt sich als Verehrer des deutschen Geistes von ehemals. Er liebt insbesondere, Kant als Schüler der französischen Revolution zu fei-

i Aufsatz über Jaurès: „Jaurès dans l'Union sacrée", aufgenommen in Aulard 1 9 1 6 : 42—46. Der Erstdruck erschien in Guerre Sociale vom 2. 6. 1 9 1 5 . 13 natürlich wäre er nach Aulards Ansicht...

die deutsche Tyrannei angegriffen

hatte.-. Vgl.

Aulard (1916: 44): „Cette ,union sacrée' où il nous avait ralliés pour le service de la vérité historique, il en aurait été un des chefs pour le service de la patrie attaquée par la tyrannie allemande.". 16 und meint...

zerstört worden usw.: Vgl. ebd. (44 f.): „Brutalement dissipées par la réalité,

les illusions du socialiste-poète sur la bonne foi et la bonne volonté allemandes, auraient fait place à la colère de l'honnête homme, et le patriotisme de Jaurès, éclairé, déchaîné, armé, aurait été redoutable à l'Allemagne, donc il aurait d'autant plus haï les crimes qu'il avait lui-même été davantage dupe de son hypocrisie.". 21 „Das verbrecherische

Marokko

... Krieg hervorgehen

kann":

Vgl. Jaurès (1912, die

Hervorhebung im deutschen Text ist von Tönnies): „Le Maroc criminel, le Maroc maudit, a suscité l'entreprise tripolitaine, qui elle-même a créé l'état de trouble qui aboutit à la guerre des Balkans, d'où peut sortir la guerre universelle.".

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Professor Aulard

ern. Im zweiten Jahre des Krieges verfaßte er eine Broschüre über Kant und den zukünftigen Frieden 1 . Aulard wendet sich gegen diejenigen seiner Landsleute, die davon sprachen, Deutschland völlig zu vernichten. Er meint, das wäre eine Verletzung des Prinzips, welches Rußland, England, Frankreich, Belgien, Serbien bestimmt habe, Wilhelm II. und Franz Joseph mit den Waffen in der Hand Widerstand zu leisten. Andererseits könne man aber das Deutsche Reich nicht so bestehen lassen, wie es 1871 gebildet wurde: das würde gegen die Sicherheit der Alliierten, gegen die Sicherheit Europas verstoßen. Aus diesem Dilemma weise Kant einen Ausweg! Kant behandelt nämlich in § 6 0 seiner Rechtslehre das Recht eines Staates gegen einen ungerechten Feind. Ein solcher sei derjenige, dessen öffentlich, es sei wörtlich oder tätlich, geäußerter Wille eine Maxime verrät, nach welcher, wenn sie zur allgemeinen Regel gemacht würde, kein Friedenszustand unter Völkern, sondern der Naturzustand verewigt werden müßte: dergleichen sei die Verletzung öffentlicher Verträge. In solchem Falle gelte es, ein solches Volk eine neue Verfassung annehmen zu lassen, die ihrer Natur nach der Neigung zum Kriege ungünstig sei. Aulard betrachtet unter diesem Gesichtspunkte die damals noch geltende Verfassung des Deutschen Reiches von 1871. Er zitiert daraus Artikel

„La paix future d'après la révolution française et Kant." Paris, Armand Colin, 1 9 1 5 . Ein Auszug daraus wurde ungefähr gleichzeitig in dem von Eugène Baie herausgegebenen Symposium „Le droit des nationalités" (Paris, F. Ahen, 1 9 1 5 ) veröffentlicht; es sind dieselben Seiten (pp. 2 5 bis 30), die der gegenwärtigen Betrachtung zugrunde gelegt werden.

7 Aulard wendet sich ... Widerstand zu leisten.: Vgl. Aulard ( 1 9 1 5 : 26): „Ceux qui parlent aujourd'hui de supprimer entièrement l'Allemagne parlent contre le principe même qui a décidé la Russie, l'Angleterre, la France, la Serbie à résister par les armes à Guillaume II et à François-Joseph.". 9 Andererseits

könne man aber ... Sicherheit

Europas

verstoßen.:

Vgl. ebd. „Ceux qui

parlent aujourd'hui de laisser subsister l'empire allemand tel qu'il s'est formé en 1 8 7 1 , sous la direction du roi de Prusse, parlent contre la sécurité des alliés, contre la sécurité de l'Europe.". il § 60 seiner Rechtslehre:

Vgl. Kant 1 9 1 4 : 3 4 9 .

18 In solchem Falle gelte es ... zum Kriege ungünstig sei.: Vgl. Aulard 1 9 1 5 : 2 7 . 2i „La paix future d'après la révolution française et Kant.": Vgl. Aulard 1 9 1 5 . 23 „Le droit des nationalités":

Vgl. Baie 1 9 1 5 ; Aulards Ausführungen finden sich dort

textlich identisch unter dem Titel „La paix future" auf S. 8 0 - 8 4 . Im Folgenden werden Zitate nur aus Aulard 1 9 1 5 nachgewiesen.

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Schriften

11, wohlgemerkt: nur den ersten Absatz. Es sei eine Gefahr, nicht nur für andere Nationen, sondern für Deutschland selber, daß der König von Preußen in diesem Artikel zum dauernden Herrn von Deutschland gemacht werde. Dann folgt ein Absatz, der mit der rhetorischen Frage anhebt: „Zum Herrn?" und darauf antwortet: „Ja, zum Herrn." Er zitiert alsdann den ersten Absatz des Artikels 63 und ebenso den ersten Absatz des Artikels 64, um zu schließen: „Der Kaiser ernennt alle höheren Offiziere, ebensowohl in Bayern, in Sachsen, in 'Württemberg wie in Preußen." Dagegen empört sich in dem folgenden Absatz der gelehrte Historiker, dessen besonderes Fach die Geschichte der neuesten Zeit ist und der natürlich die Verfassungen der großen europäischen Staaten kennen muß. Er ruft aus: „Dieses Deutschland, das so durch seine Verfassung verpreußt ist, - wir werden das Recht und die Pflicht haben, es zu entpreußen. Wir werden das Recht und die Pflicht haben, mit den Schriften Kants in der Hand die tyrannischen Artikel der deutschen Reichsverfassung zu vernichten" (das sind also die Artikel 61 bis 68 nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes). l Artikel 11, wohlgemerkt: nur den ersten Absatz.: Vgl. die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (Reichsgesetzblatt 1871: 63): „[Abs. 1] Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. [Abs. 2] Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrats erforderlich, es sei denn, dass ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. ...". 5 „Zum Herrn?" ... „Ja, zum Herrn.": Vgl. Aulard (1915: 28): „Le maître? Oui, le maître. Lisez l'article 63: . . . " . 6 Artikels 63: Vgl. die Verfassung des Deutschen Reichs, ebd.: Art. 63.1): „Die gesamte Landmacht des Reichs wird ein einheitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers steht.". 7 Artikels 64: Vgl. ebd.: Art. 64.1): „Alle deutschen Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingte Folge zu leisten. Diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen.". 8 „Der Kaiser ernennt ... wie in Preußen.": Vgl. Aulard 1915: 28; Hervorhebung durch Tönnies): „L'Empereur nomme tous les officiers supérieurs, aussi bien en Bavière, en Saxe, en Wurtemberg qu'en Prusse.". 16 „Dieses Deutschland ... zu vernichten": Vgl. ebd.: „Cette Allemagne ainsi prussianisée constitutionnellement, nous aurons le droit et le devoir de la déprussianiser. Nous aurons le droit et le devoir d'abolir, les écrits de Kant à la main, ces articles tyranniques de la Constitution de l'Empire allemand.". 17 Artikel 61 bis 68 nach der Verfassung des Norddeutschen Bundes: Vgl. die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 (Bundesgesetzblatt 1867: 2). Die Art. 6 1 - 6 8

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Professor Aulard

Wie steht es damit in Wahrheit} Am 23. November 1 8 7 0 wurde der Bündnisvertrag mit Bayern geschlossen, worin es gleich zu Anfang heißt: „Die Artikel 61 bis 68 finden auf Bayern keine Anwendung". An deren Stelle treten nicht weniger als sieben ausführliche Bestimmungen, von denen die dritte mit dem Satze anhebt: „Das bayerische Heer bildet einen in sich geschlossenen Bestandteil des deutschen Bundesheeres mit selbständiger Verwaltung unter der Militärhoheit des Königs von Bayern; im Kriege - und zwar mit beginnender Mobilisierung - unter dem Befehle des Bundesfeldherrn." Im November 1 8 7 0 wurde auch eine Militärkonvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg abgeschlossen. Danach sollen die württembergischen Truppen ein in sich geschlossenes Armeekorps bilden, und in Artikel 5 heißt es: „Die Ernennung, Beförderung usw. der Offiziere und Beamten des Königl. Württembergischen Armeekorps erfolgt durch Se. Maj. den König von Württemberg, diejenige des Höchstkommandierenden für das Armeekorps nach vorgängiger Zustimmung Sr. Maj. des Königs von Preußen als Bundesfeldherrn. Se. Maj. der König von Württemberg genießt als Chef seiner Truppen die ihm Allerhöchst zustehenden Ehren und Rechte" usw. Im Artikel 7 endlich heißt es: „Ueber die Ernennung der Kommandanten für die im Königreich Württemberg gelegenen festen Plätze, welche nach Artikel 64 der Bundesverfassung dem Bundesfeldherrn zusteht, sowie über die demselben gleichermaßen zustehende Berechtigung, neue Befestigungen innerhalb des Königreichs anzulegen, wird der Bundesfeldherr eintretenden Falles mit dem Könige von Württemberg sich ins Vernehmen setzen; ebenso wenn der Bundesfeldherr einen von ihm zu ernennenden Offizier aus dem Kgl. Württembergischen Armeekorps wählen will." Es folgen noch acht weitere Artikel. stehen im Abschnitt „XI. Bundes-Kriegswesen" und betreffen die Einrichtung eines einheitlichen Heeres. 9 „Das bayerische

Heer ... unter dem Befehle des Bundesfeldherrn.":

Vgl. den Bundes-

vertrag betreffend den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes (Bundesgesetzblatt, 1 8 7 1 : 9, § 5), dort heißt es leicht abweichend: „ . . . mit selbstständiger Verwaltung, unter der Militairhoheit Seiner Majestät des Königs von Bayern; 19 „Die Ernennung,

Beförderung

... Ehren und Rechte":

Vgl. die Militärkonvention zwi-

schen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg vom 2 1 . / 2 5 . November 1 8 7 0 (Bundesgesetzblatt, 1 8 7 0 : 658, Art. 5): Dort heißt es: „Die Ernennung, Beförderung, Versetzung u.s.w. 27 „Ueber

die Ernennung

der Kommandanten

... Armeekorps

wählen will.": Vgl. ebd.:

Art. 7; dort leicht abweichend: „ . . . wird sich der Bundesfeldherr eintretenden Falles mit dem Könige von Württemberg vorher ins Vernehmen setzen; . . . " . Auf die Bundesverträge

522

Schriften

Herr Aulard spricht über die Reichsverfassung und - weiß von nichtsl Wenn uns diese schreiende Unwissenheit über die damaligen Befugnisse des Königs von Preußen, die dann diejenigen des Deutschen Kaisers werden, bei einem beliebigen Demagogen begegnet, so ist sie nicht der Erwähnung wert. Aber Herr Aulard ist Professor an der Pariser Universität und gilt für eine Autorität in der politischen Geschichte des gegenwärtigen Zeitalters. Auf Grund seiner Kenntnis und unter Berufung auf - Kant verlangt nun Herr Aulard, daß jeder deutsche Staat seine eigene selbständige Armee habe, deren Stärke der „europäische Kongreß" bestimmen soll, und daß diese Heere in keinem Falle als Werkzeug der Eroberung in der Hand eines der Staaten, eines Königs vereinigt werden dürfen. Daß sie zu anderem Zweck als zum Behuf der Eroberung sich vereinigen sollten, war natürlich in der so unmilitaristischen, so friedlich gesonnenen Umgebung des Zarismus und seiner Bundesgenossen undenkbar. Dies dem französischen Volke zu suggerieren, dazu hat ein Gelehrter wie Aulard sich hergegeben: Und darum führt er die „tyrannischen Artikel" der deutschen Reichsverfassung an, ohne von den so ungemein bedeutsamen Reservatrechten der beiden süddeutschen Staaten eine Ahnung zu haben. („Wir werden das Recht und die Pflicht haben, die Schriften Kants in der Hand, diese tyrannischen Artikel zu vernichten.") Sodann kommt Herr Aulard noch auf das, was er die „Frage" des linken Rheinufers nennt, zu sprechen. Er sieht darin ein scheinbar furchtbares Dilemma: „Entweder wir werden es annektieren, dann verletzen wir das Prinzip (der Selbstbestimmung der Nationalitäten) oder wir werden nicht annektieren, so wird Frankreich in dauernder Invasionsgefahr stehen." Kant soll wieder den Ausweg zeigen. Und nun kommen mit naiver Dreistigkeit die entscheidenden Sätze: „Wir werden in diesem Punkte die Verfassung des Deutschen Reiches verändern; wir werden diese Rheinländer nicht verhindern, deutsch zu sein; wir werden sie nicht zwingen, Franzosen zu werden, wenn sie es nicht werden wollen; sie werden nicht Franzosen werden wider ihren Willen; aber wir werden sie jeder Autorität Preußens entziehen; wir werden sie

mit Bayern und Württemberg und ihre militärpolitische Bedeutung verweist die „Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt" (Reichskriegswesen) in der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 (Reichsgesetzblatt, 1 8 7 1 : 63, unter dem Art. 68). 26 „Entweder

wir werden ... Invasionsgefahr

stehen.":

Vgl. Aulard (1915: 29): „Ou nous

annexerons la rive gauche du Rhin, et nous violerons le principe, ou nous n'annexerons pas, et la France sera en perpétuel péril d'invasion.".

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Professor Aulard

verhindern, sich gegen uns zu bewaffnen; wir werden sie neutralisieren; wir werden aus ihnen sogenannte Pufferstaaten machen; wir werden die Tendenzen dieser Völker (!!) zur Freiheit und zur Autonomie befördern; wir werden ihnen durch die Dauer guter Nachbarschaft den Geschmack am Frieden einflößen; ja, wir werden sie zwingen, den Frieden zu lieben, friedlich zu leben; wir werden ihnen den Krieg verbieten; wir werden ihnen die Mittel nehmen, Krieg zu führen. Man kann sich sehr wohl eine rheinische Republik mit einer Regierung vorstellen, deren Neutralität geschützt wird." „Auf diese Weise werden wir sowohl die Frage des deutschen Bundes als auch die Frage des linken Rheinufers lösen können, gemäß den Grundsätzen der Revolution, wie Kant sie verherrlicht und gedeutet hat, indem er ihnen den Stempel seines Geistes aufdrückte." Was Herr Aulard hier als französische Kriegsgesinnung enthüllt, ist niemandem neu und überraschend: heute steht es in schreiender Deutlichkeit vor aller Augen. Die Berufung auf Kant erhöht nur den Ekel, den jeder Redliche, auch jeder redliche Franzose, angesichts der brutalen Denkungsart, die sich darin verrät, empfinden muß. Wie der Denkungsart die Handlungsweise entspricht, das haben wir seitdem sattsam erfahren und erfahren es täglich. Wegen Kants mit Herrn Aulard zu rechten, halte ich der Selbstachtung eines deutschen Gelehrten und jenes großen Namens nicht für würdig. Aber ein Kantischer Spruch werde Herrn Aulard und den Kantverehrern seines Schlages ins Stammbuch geschrieben: „Es ist kein Unglück, das demjenigen, der der Freiheit gewohnt wäre, erschrecklicher sein könnte, als sich einem Geschöpf von seiner Art über9 „Wir werden ... Neutralität geschützt wird.": Vgl. ebd. (29 f.): „Ici encore, Kant nous aide à sortir du dilemme. Nous changerons, à ce point de vue, la constitution de l'Empire germanique. Nous n'empêcherons pas ces Rhénans d'être Allemands, nous ne les forcerons pas à être Français, s'ils ne veulent pas l'être: ils ne deviendront pas Français, malgré eux; mais nous les soustrairons à toute autorité de la Prusse; nous les empêcherons de s'armer contre nous; nous les neutraliserons, nous en ferons, comme on dit, des

États-tampons,

nous faciliterons les tendances de ces peuples à la liberté et à l'autonomie; nous leur inspirerons, par la continuité d'un bon voisinage, le goût de la paix; oui, nous les forcerons à aimer la paix, à vivre en paix; nous leur interdirons la guerre, nous leur ôterons les moyens de faire la guerre. On se représente très bien une République rhénane dans un régime de neutralité protégée.". 13 „Auf diese Weise werden wir sowohl die Frage ... Geistes aufdrückte.":

Vgl. ebd. (30):

„C'est ainsi que nous pourrons résoudre et la question de la Confédération allemande et la question de la rive gauche du Rhin, selon les principes de la Révolution tels que Kant les a, en les frappant de la marque de son génie, glorifiés et interprétés.".

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Schriften

liefert zu sehen, das ihn zwingen könnte, sich seiner eigenen Willkür zu begeben und das zu tun, was jenes will. Daher kann kein Abscheu natürlicher sein als der, den ein Mensch gegen die Knechtschaft hat." -

3 „Es ist kein Unglück ... den ein Mensch gegen die Knechtschaft Kants Werk nicht nachzuweisen.

hat."-. Dieses Zitat ist in

Harald Höffding Zum 80. Geburtstag, 11. März „Wenn auch ein Siebzigjähriger schwerlich ganz neue Gedankenwege beschreiten wird, so dürfte doch im Geiste eines rastlos tätigen Mannes so vieles bereitliegen, daß herbstlich sonnige Tage noch schöne Früchte reifen lassen werden. Solche Tage mögen dem Ehrwürdigen im achten Jahrzehnt seines Lebens reichlich beschieden sein! Mit diesem Wunsche wollen wir die Feier seines 70. Geburtstages begehen." Diese Sätze beschlossen einen kleinen Aufsatz, der zum 11. März 1913 dem dänischen Philosophen zu Ehren geschrieben wurde. 1 Die darin ausgesprochene Erwartung hat sich in bewunderungswürdiger Weise erfüllt, ja, man darf sagen, sie ist übertroffen worden. Höffding hat in diesen zehn Jahren auf der Höhe seiner Leistungen und seines Ruhmes sich erhalten. Eine Reihe von Abhandlungen und Büchern, die zumeist auch in die deutsche Sprache übergegangen sind, gibt davon Zeugnis. Es könnte scheinen, als wäre der Philosoph von den Wirbelwinden des Weltkrieges und seiner Folgen unberührt geblieben. Und doch hat er als Präsident des dänischen Roten Kreuzes mitgewirkt, die schweren Leiden zu lindern, die das ungeheure Schicksal für Millionen von Menschen im Gefolge hatte. Die Gefangenenlager mit guten Büchern zu versorgen, war die edle Absicht, der Höffding Zeit und Mühen gewidmet hat; ohne seinen Namen zu kennen, ist auch mancher Deutsche ihm in stillem Herzen dankbar gewesen. 1

Deutsch in der Zeitschrift „Das freie W o r t " , zweites Märzheft 1 9 1 3 . l Harald Höffding: Tönnies war mit dem wohl bedeutendsten dänischen Philosophen seiner Generation über viele Jahre freundschaftlich verbunden. Eine Ausgabe des Briefwechsels (Bickel/Fechner 1 9 8 9 ) dokumentiert diese Verbundenheit wie auch die zeitweise dichte inhaltliche Auseinandersetzung der beiden Wissenschaftler. In der Briefausgabe findet sich auch ein persönlicher Glückwunschbrief Tönnies' vom 9. 3. 1 9 2 3 (ebd.: 1 5 9 f.). Der folgende Glückwunschartikel erschien in zwei Zeitungen. Als Vorlage hier dient der Abdruck in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom Sonntag, den 11. 3. 1 9 2 3 (62. Jg., Nr. 1 1 6 / 1 1 7 , Berlin 1923). Dieser Text wurde verglichen mit dem Abdruck in der Kieler Zeitung, 3. Blatt morgens, Nr. 118, vom 11. 3. 1 9 2 3 (im Folgenden: A). 8 „Wenn auch ein Siebzigjähriger

17 Wirbelwinden:

... Geburtstages

In A: Wirbelstürmen.

begehen."-. Vgl. Tönnies 1 9 1 3 a : 9 0 6 f.

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Schriften

Kurz vor seinem 70. Geburtstage hatte der Philosoph sein Werk „Der menschliche Gedanke, seine Formen und seine Aufgaben" vollendet, das er selber als ein abschließendes und als das Gepräge seiner Persönlichkeit tragend bezeichnet hat. Er hat es aber dabei nicht bewenden lassen. Rüstig und arbeitsfroh verfaßte er noch die beiden Beiträge zur Lehre von den Kategorien „Der Totalitätsbegriff" und „Der Relationsbegriff", wodurch zwei wichtige Stücke der Gedankenformen des näheren entwickelt werden. Und ganz neuerdings ist noch eine Studie über die „Analogie" hinzugekommen, die der dänischen Gesellschaft der Wissenschaften vorgetragen wurde und uns noch unbekannt blieb. Die beiden früheren sind wertvolle Beiträge zur Erkenntnistheorie, die Höffding, wie er selber sich ausdrückte, nicht pflegt, um seine Erkenntnis zu verbessern, sondern weil die Möglichkeit des Erkennens ein so bedeutsames Problem und weil es ihn immer aufs neue reizt, die Formen, innerhalb deren der Trieb zum Erkennen sich befriedigt, zu untersuchen. Es ist die große Frage der Methode, der kein wissenschaftlicher Mensch sich entziehen kann, die also jeden in immer neuen Kontakt mit der Philosophie bringen muß. Wenn diese Probleme immer wieder auf Kants Gedankenwelt zurückführen, der auch Höffding viel verdankt und mit der er sich auseinandersetzt, so sind es zwei andere Philosophen von größtem Namen, an die unser Jubilar mit Vorliebe sich anschließt: Plato, mit dessen merkwürdigem Dialog Parmenides noch neuerdings eine kleine Schrift sich beschäftigt, und Spinoza, dessen berühmter Ethica Höffding einige Jahre früher eine tiefgehende Analyse gewidmet hat. Außer dem Dreigestirn ist es der Landsmann Sören Kierkegaard, dessen tiefsinniger Denkerarbeit wir immer wieder bei Höffding als einer innerlich bewegenden, anregenden und aufregenden Paradoxie begegnen, wie sie in früher Jugend für ihn Epoche gemacht hat. Wir finden daher Kierkegaards schwermütige Gestalt auch wieder in den „Ledende Tanker i det nittende Aarhundrede", die unser Philosoph zu der großen von Aage Friis redigierten Ueberschau beigesteuert hat (nur 2 „Der menschliche Gedanke, ... als ... tragend bezeichnet hat.-. Vgl. Höffding 1911, dazu S. IV. 6 „Der Totalitätsbegriff"-. Vgl. Höffding 1917. 6 „Der Relationsbegriff"-. Vgl. Höffding 1922. 8 „Analogie": Vgl. Höffding 1924a. 22 kleine Schrift: Vgl. H 0 ffding 1920. 23 Ethica: Vgl. z.B. Spinoza 1875. 24 tiefgehende Analyse: Vgl. Höffding 1924. 27 Paradoxie: Vgl. Höffding 1896. 29 „Ledende Tanker i det nittende Aarhundrede": Vgl. Hoffding 1920a.

527

Harald Höffding

dänisch vorhanden). Im dritten der großen Gesichtspunkte, unter denen das Geistesleben des Jahrhunderts betrachtet wird (1. Wissenschaft, 2. soziales Leben, 3. Religion) wird zuletzt das Persönlichkeitsprinzip hervorgehoben, dem Höffding seine stärksten Sympathien zuwendet. Ein Vorzug dieses Buches, der ein sich von selbst verstehendes Verdienst des Verfassers bedeutet, ist der, daß die nordischen Gelehrten und Denker hier mehr als sonst zu der ihnen gebührenden Geltung gelangen. „Von hervorragenden Wortführern wird in energischer und genialer Weise auf die individuelle menschliche Persönlichkeit - „den Einzelnen" - hingewiesen, dessen Not und Bedrängnis die Religion - ob nun das Wort im weiteren oder engeren Sinne verstanden wird - zufrieden stellen soll." Als bekanntester Vertreter dieses Persönlichkeitsprinzips wird Carlyle hervorgehoben. In seinen Spuren ging der Amerikaner Emerson und „unabhängig von ihm in den nordischen Landen Erik Gustaf Geijer, Frederik Christian Sibbern und Sören Kierkegaard". Von diesen ist Kierkegaard der bedeutendste. „Was die Religion betrifft, so erklärt er, ebenso wie Carlyle, Ehrlichkeit für das, womit man zuerst und am weitesten sich gedrängt fühlt. Als er in seiner letzten großen Polemik gegen die offizielle Kirche sagen sollte, was er eigentlich wolle, antwortete er: Ganz einfach, ich will Redlichkeit!" Mit dem Persönlichkeitsprinzip in der Philosophie hat Höffding auch in einer Reihe von Vorlesungen sich beschäftigt, die 1 9 1 7 in schwedischer Sprache erschienen; dem Verfasser dieses Berichts ist nur die Tatsache und der Titel bekannt geworden. Aber die „Ledende Tanker" sind selber ein durchaus persönliches Buch. Es stellt den Geist des 19. Jahrhunderts, der in Wissenschaft, in Philosophie, im sozialen Leben und in der sozialen Frage ausstrahle, dar, wie er im Geiste einer Persönlichkeit sich reflektiert; und das Auszeichnende ist, daß diese nicht die eines jungen Schriftstellers ist, der das vergangene Jahrhundert nur von außen kennen kann, sondern eines Mannes, der einen großen Teil davon denkend miterlebt und mitdenkend erlebt hat, der die gesamten Ströme, die darin wogten, fortwährend auf sich wirken ließ. Darum gibt hier ein Kenner seines Zeitalters sich Ii „Von hervorragenden 15 „unabhängig

Wortführern

... zufrieden stellen soll.": Vgl. ebd.: 137.

von ihm ... und Sören Kierkegaard":

19 „Was die Religion betrifft ... will Redlichkeit!": 22 in schwedischer

Sprache:

Vgl. ebd.: 1 3 7 f.

Vgl. ebd.: 140.

Für das Jahr 1 9 1 7 weist die Bibliographie Höffdings keine

Veröffentlichung in schwedischer Sprache nach (vgl. Sandelin 1 9 3 2 ) ; wahrscheinlich meint Tönnies Höffdings Buch „Personlighetsprincipen i filosofin. Föreläsningar vid Helsingfors universitet varen" (1911a). 31 ein Kenner: In A ist hier eine Zeile aus dem letzten Absatz falsch montiert.

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Schriften

kund, der an seinem Gepräge mitgearbeitet hat, und wenn er in der Einleitung sagt: Bei ein und derselben Persönlichkeit können verschiedene Gedankenrichtungen sich geltend machen, ohne daß eine Harmonie möglich wird, so ist eben die Harmonie das, was der Persönlichkeit unseres Autors ihren so schönen Charakter verleiht. Eben dies tritt auch in dem letzten Buche hervor, dessen wir hier Erwähnung tun, dem „Großen Humor". In noch höherem Grade als die Ledende Tanker ist es ein persönliches Buch. Man kann es vielleicht als ein Vermächtnis des Philosophen an Mit- und Nachwelt bezeichnen. Denn diese Studie, die den Humor als einen seelischen Gesamtzustand schildert, ist zugleich eine Mahnung, die lehrt, die menschlichen Dinge, trotz all ihrer Schranken und unermeßlichen Trübsal, in einem versöhnenden Lichte zu betrachten, mit dem milden zweifelnden Lächeln der Weisheit, die alle Torheiten mit Nachsicht, alle Bosheiten mit der Scham des Gewissens beurteilt. Wenn es für Höffding - auch darin stimmen wir ihm zu - höhere Lebensstandpunkte gibt, so ist ihm doch der große Humor einer der idealen menschlichen Lebenstypen, und er bekennt, daß er selber eine Liebe zu ihm hegt, durch die er ihn um so besser zu verstehen glaube. Unter den Philosophen ist ihm Sokrates der einzig große Humorist. Höffding selber hat Züge in seinem Wesen, die an Sokrates erinnern, die Heiterkeit auf dem Grunde des tiefen Ernstes, die volkstümliche Gesinnung samt dem Streben, die Erkenntnis für das sittliche Leben des Volkes zu verwerten, und ein Zug von gutmütiger Schalkhaftigkeit. - Möge sein Lebensabend heiter und von langer Dauer sein!

7 „Großen Humor": Auf Deutsch unter dem Titel „Humor als Lebensphilosophie (Der grosse Humor). Eine psychologische Studie" (Höffding 1918); Titel der dänischen Originalausgabe von 1916 ist: „Den störe Humor".

Wiederaufnahme des Verfahrens Wenn es ein regelrechtes Gerichtsverfahren gewesen wäre, worin das deutsche Volk schuldig befunden wurde, den Weltkrieg angestiftet und angefangen zu haben: zuerst vor dem sogenannten Richterstuhl der öffentlichen Meinung feindlicher Länder (der Bundesgenossen des Zarismus) und einiger neutraler Länder, sodann vor den alliierten und assoziierten Mächten, die auf ihren „Sieg" stolz sein zu dürfen meinten: dann müßte nunmehr, nach den Grundsätzen moderner Strafprozeßordnungen, einer Wiederaufnahme des Verfahrens stattgegeben werden. Denn nicht nur sind nachweisbar falsche Zeugnisse maßgebend gewesen, sondern es sind auch mehr und mehr neue Tatsachen bekanntgeworden und zwar keine zur Belastung, viele zur Entlastung der deutschen Nation und Regierung von 1914, weil sie beweisen, daß der Zarismus von langer Hand her den Weltkrieg vorbereitet und planmäßig herbeigeführt, auch die letzten Anstöße dazu gegeben hat - der Zarismus, dem Frankreich sein Geld hergab, und dem es, zuerst zögernd, dann aber, unter Poincaré, zielbewußt und unbedingt seine Unterstützung für jene Balkanpläne zusagte, die zur Zerstörung Europas bestimmt waren. Auch wenn man das Gleichnis eines Gerichtshofes der öffentlichen Meinung, möge sie auch noch so parteiisch sein, gelten lassen, auch wenn man die Beurteilung eines überwundenen Volkes durch ein Friedensdiktat völkerrechtlich anerkennen will, so hat es sich in Wirklichkeit doch um Zerrbilder der Gerechtigkeit gehandelt. Die Verbrecher selber werfen sich zu Anklägern und zugleich zu Richtern auf. Schimpfwörter galten als Beweise und das geladene Maschinengewehr wußte ein Geständnis zu erzwingen. Die wirkungsvollste Revision des Prozesses haben nunmehr die Franzosen selber vorgenommen. Sie enthüllten ihr wahres Antlitz, sie handelten so, wie sie oft gehandelt haben; die Gespenster der Soldaten Mélacs und l Wiederaufnahme

des Verfahrens: In diesem Artikel, der am 11. März 1 9 2 3 in der in Berlin

erscheinenden Deutschen Allgemeine Zeitung (62. Jg., Nr. 1 1 6 / 1 1 7 , Sonntags-Beilage) erschien, zeigt Tönnies sein 1 9 2 2 erschienenes Buch „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1 9 1 4 " an; vgl. TG 12. 17 Zerstörung

Europas bestimmt waren: Vgl. hierzu ausführlicher Tönnies 1 9 2 2 : X - X I V .

26 haben nunmehr

die Franzosen

selber vorgenommen:

Diese Passage bezieht sich auf die

Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen am 11. 1. 1 9 2 3 , nachdem Reparationszahlungen von Deutschland nicht beglichen worden waren.

530

Schriften

der „Eroberer" Straßburgs, mitten im Frieden, standen aus ihren Gräbern auf. Wer jetzt noch die Franzosen für ein friedliebendes Volk hält, das von den bösen Deutschen als den Hunnen unserer Tage überfallen worden sei, der kann nur wegen geminderter Zurechnungsfähigkeit mit Nachsicht beurteilt oder sogar entschuldigt werden. Die Wiederaufnahme des Verfahrens in Sachen der deutschen Schuld ist Sache der historischen Untersuchung und Feststellung. Sie hat im Laufe der 4Vi Jahre seit dem Zusammenbruch der deutschen Wehrkraft sehr große Fortschritte gemacht. H. Delbrück hat vor anderen das Verdienst, diese Untersuchung geführt und erfolgreich verteidigt zu haben. Die scheinbaren Beweisgründe des vor kurzem an dieser Stelle charakterisierten Professors Aulard sind, wie Wassertropfen auf heißem Stein, verdunstet. Die Namen deutscher und ausländischer Forscher, die neben Delbrück um die Wahrheit sich verdient gemacht haben, brauchen hier nicht hergezählt zu werden. In der vom ,Arbeitsausschuß deutscher Verbände" mehrfach herausgegebenen Übersicht über die Schuldfrage sind die wichtigsten Erscheinungen dieser Art nach Titel und Inhalt zusammengestellt worden. Wenn ich mich denen gesellt habe, die in dieser Richtung sich bemühen, so habe ich damit nicht den Rang eines historischen Forschers in Anspruch nehmen wollen; was mich angetrieben hat, ist zunächst die Ueberzeugung von der beharrenden Wichtigkeit dieser sogenannten Schuldfrage gewesen, ihrer Wichtigkeit in politischer und in moralischer Bedeutung; sodann aber ein philosophisches Pathos, dem darum zu tun ist, aus den feststehenden, anerkannten Tatsachen die richtigen und bedeutsamen Schlußfolgerungen zu ziehen und die Verworrenheiten und Schiefheiten entgegengesetzter Folgerungen aufzudecken. In diesem Sinne ließ ich schon im Frühling 1919 ein kleines Heft „Die Schuldfrage"' erscheinen, das in einigen Tausend Exemplaren verkauft, dann, obgleich von Delbrück, v. Jagow und anderen empfohlen, rasch 9 Delbrück:

Vgl. die Aufsatzsammlung Delbrück 1 9 2 6 .

12 Aulard: Tönnies bezieht sich auf seinen Artikel „Professor Aulard" vom 18. 2. 1 9 2 3 , vgl. in diesem Band S. 5 1 6 - 5 2 4 . 16 Übersicht über die Schuldfrage: 28 „Die Schuldfrage": 29 Delbrück:

Vgl. Arbeitsausschuß deutscher Verbände 1 9 1 9 .

Vgl. Tönnies 1 9 1 9 (TG 12).

Vgl. Delbrück (1919: 148): „Prof. Tönnies hat sich soeben das Verdienst

erworben, die urkundlichen Beweise zusammenzustellen, daß nicht nur der Plan, Konstantinopel zu erobern, sondern daß dies geschehen werde in einem Kriege gegen Westen, also gegen Deutschland, vollkommen ausgearbeitet war und feststand 29 Jagow: Besprechung nicht nachgewiesen. 29 und anderen:

Die Deutsche Allgemeine Zeitung brachte am 3. Mai 1 9 1 9 (58. Jahrgang,

Wiederaufnahme des Verfahrens

531

vergessen wurde. Es wollte nur die Dokumente zusammenstellen, die schon damals bekannt waren und bei freier Beweiswürdigung in dem unbefangenen Geschworenen die Ueberzeugung begründen müssen, daß der Zarismus seit Anfang 1914 den europäischen Krieg als ein ihm erwünschtes Ziel ins Auge gefaßt und militärisch wie politisch planmäßig verfolgt hat. Ein jüngst erschienenes neues Buch („Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914". Neue Beiträge zur Kriegsschuldfrage. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin W. 8. X X I X und 188 S.) ist im Laufe der Jahre 1919 bis 1922 allmählich entstanden. Es beruht zunächst auf dem Studium und der Analyse der österreichischen, demnächst der Akten des deutschen Auswärtigen Amtes und der bis dahin bekannt gewordenen Stücke aus den russischen Archiven. Eingeschoben ist dazwischen eine Kritik der Folgerungen, die Karl Kautsky aus den deutschen Akten gezogen hatte. Das vierte Kapitel erörtert die im Auslande sehr bekannten Anklageschriften des Herrn Greiling und die Anklagen des Bundes „Neues Vaterland"; das fünfte behandelt die in Deutschland viel zu wenig bekannt gewordenen Erinnerungen des französischen Botschafters (in St. Petersburg 1914) Paleologue, das sechste endlich die in vieler Hinsicht schätzbare und doch sonderbar verblendete Schrift des Earl of Loreburn „How the war came", mit der auch die Vorrede sich auseinandersetzt. Bezug genommen ist vielfach auf die Darstellungen unmittelbar beteiligter Staatsmänner, die das Merkmal miteinander gemein haben, daß sie das unverkennbare Gepräge der Wahrhaftigkeit tragen, wie Bethmann Hollwegs „Betrachtungen zum Weltkriege", Band I, v. Jagows „Ursachen und Nr. 2 1 2 , Abendausgabe) unter dem Titel „Die Schuld am Weltkriege" auf der dritten Seite einen ungezeichneten Besprechungsartikel zu Tönnies' Buch von etwas weniger als einer Spalte Länge. 14 Kautsky: Vgl. ebd.: 66 ff.; Tönnies bezieht sich auf Kautsky 1 9 1 9 und 1 9 2 0 . 16 Greiling: Vgl. Tönnies 1 9 2 2 : 108 ff. mit Bezug auf Greiling 1 9 1 5 . Im Buch selbst hatte Tönnies das Pseudonym des Autors Richard Greiling („Von einem Deutschen") nicht aufgedeckt. 17 Anklagen des Bundes „Neues

Vaterland":

Vgl. Tönnies 1 9 2 2 : 1 3 4 ff. Im Buch verweist

Tönnies auf eine Erklärung des Bundes, die „auf einer Versammlung der Deutschen Friedensgesellschaft, Ortsgruppe Berlin, am 2 1 . 1. 1 9 2 0 " angenommen (ebd.: 134) worden sei; diese Erklärung konnte nicht belegt werden. 19 Paleologue: Vgl. ebd.: 148 ff. mit Bezug auf Paleologue 1 9 2 1 . 21 „How the war came": Vgl. Loreburn 1 9 1 9 . 21 auch die Vorrede: Vgl. Tönnies 1 9 2 2 : 5 f. und 161 ff. 25 „Betrachtungen

zum Weltkriege":

Vgl. Bethmann Hollweg 1 9 1 9 .

532

Schriften

Ausbruch des Weltkrieges", Graf Pourtalès „Am Scheidewege zwischen Krieg und Frieden", des Serben Dr. M. Boghitschewitsch Broschüre „Kriegsursachen" u. a., ferner wurde als aktenmäßige Darstellung des österreichisch-serbischen Konfliktes und des Verhaltens der Mächte dazu die ausgezeichnete Schrift B. W. v. Büloivs („Die Grundlagen der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch") benutzt und wurden, neben den Ergebnissen der allgemeinen Untersuchungen Delbrücks, auch Hoenigers spezielle Forschungen über die russische Mobilmachung herangezogen. Leider konnte die vor kurzem vom Freiherr G. v. Romberg herausgegebene Schrift „Die Fälschungen des russischen Orangebuches" nicht mehr verwertet werden, wie sie in hohem Maße verdient hätte. Auch andere neue Tatsachen, die fast jeder Monat aus den russischen Archiven neu zutage fördert, sind nicht mehr vollständig zur Geltung gelangt. Am meisten sind sie in der Einleitung des Buches, die zuletzt geschrieben wurde, in ihrer Bedeutung gewürdigt worden, aber nicht die erst später bekannt gewordenen, ungemein wichtigen Enthüllungen über die Konferenzen zwischen den Generalstäben Frankreichs und Rußlands, die in den Jahren 1911, 1912 und 1913, und zwar charakteristischerweise auf russischem Boden stattgefunden haben. Leider vermochte der Verfasser auch nicht der von Herrn Poincaré in der „Société des Conférences" gehaltenen Vorträge rechtzeitig habhaft zu werden, freute sich aber um so mehr, auf die Darstellung und treffende Kritik Bernhard Schwertfegers („Poincaré und die Schuld am Kriege", 1921) hinweisen zu können. Ich glaube also, berechtigt zu sein, mein Buch dem geehrten deutschen und ausländischen Publikum warm zu empfehlen. Dazu hält wohl jeder Autor sich für berechtigt, aber man sagt das doch nicht. Ich sage es um der Sache willen. Seines Fleißes darf sich jeder rühmen, sagte Lessing. Ich füge hinzu: auch seiner Bemühung um die Wahrheit. Es herrscht zu viel Schweigen über die Schuldfrage. Es kann nicht genug kritisches Licht in sie

1 „Ursachen

und Ausbruch

des Weltkrieges":

Vgl. Jagow

2 „Am Scheidewege

zwischen Krieg und Frieden":

3 „Kriegsursachen":

Vgl. Boghitschewitsch 1 9 1 9 .

1919.

Vgl. Pourtalès

1919.

5 Schrift B. W. v. Bülotvs: Vgl. Bülow 1 9 2 0 . 8 Hoenigers

spezielle Forschungen:

io „Die Fälschungen

Vgl. Hoeniger 1 9 1 9 .

des russischen Orangebuches":

Vgl. Romberg 1 9 2 2 .

21 Vorträge: Vgl. Poincaré 1 9 2 1 . 22 Kritik Bernhard

Schwertfegers:

Vgl. Schwertfeger 1921.

27 Lessing:Vg\. Lessing 1 8 7 8 : 7 , 4 7 5 (Hamburgische Dramaturgie,Hundertunderstes, zweites, drittes u. viertes Stück, 19. April 1768): „Seines Fleißes darf sich Jedermann rühmen . . . " .

Wiederaufnahme des Verfahrens

533

hineingetragen werden. Warum legt ein englischer Schriftsteller, dessen Wahrheitsliebe seine erbitterten Gegner nicht anzuzweifeln wagen, Herr E. D. Morel, einen so hohen Wert darauf, „die Theorie von einer am Kriege schuldigen Nation zu zerstören"? Warum spricht er von der großen Täuschung, der die britische Nation unterworfen worden sei? Warum nennt er die Verhüllung und Verleugnung der Wahrheit in dieser Sache „the poison that destroys"? 1 Er, der doch das amtliche Deutschland der Wilhelminischen Zeit in keiner Weise von der Schuld freisprechen will, vor dem Kriege eine herausfordernde Sprache gebraucht, ein unangemessenes Benehmen gezeigt, eine unüberlegte Politik getrieben, unglaubliche Rechenfehler gemacht, schwere psychologische Verstöße begangen zu haben! - (wie immer man über diese Vorwürfe denken möge). Warum? Weil er die ungemeine Wichtigkeit der Erkenntnis in politischen Dingen richtig würdigt, weil er weiß, daß auch in diesem Gebiete gilt: „Die Wahrheit wird euch freimachen." Aus diesem Gedanken heraus ist auch „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1 9 1 4 " geschrieben.

Sonderabdruck aus der Monatsschrift „Foreign affairs", August 1 9 2 2 . Deutsch unter dem Titel „Das Gift, das zerstört" (Frankfurt a. M., Sozietätsdruckerei), herausgegeben (nebst einer biographischen Mitteilung über Morel) von Hermann Lutz (München), der auch sonst um die Aufklärung der Tatsachen sich ein erhebliches Verdienst erworben hat.

4 „die Theorie von einer am Kriege ...zu

zerstören":

Morel zitiert im von Tönnies heran-

gezogenen Dokument den Brief eines ungenannten Lesers an ihn als Herausgeber von Foreign Affairs „who has held high executive positions in the [British] State": „Might it not be desirable that you should state, as simply as the nature of the case allows, the principal reasons which prompt you to attach such importance to destroying the theory of one guilty nation in the war?" (vgl. Morel 1922a: 29). 17 Sonderabdruck:

Vgl. Morel 1922a.

18 „Das Gift, das zerstört"-. Vgl. Morel 1 9 2 2 . 20 ein erhebliches

Verdienst: Vgl. Lutz 1 9 2 2 .

[Rede zur Eröffnung des III. Deutschen Soziologentages] Ehrenwerte

Versammlung.

Ich wende mich zunächst an die Mitglieder der D. G. f. S. Ich bin aber dankbar, wenn auch die übrigen Zuhörer dem Inhalte dieser Mitteilungen ihr Interesse nicht versagen wollen. Die D. G. f. S. wurde im Jahre 1909 gegründet. Der erste Soziologentag fand in Frankfurt im Jahre 1910 statt, der zweite in Berlin 1912. Die Berichte über diese Tagungen liegen im Druck vor. Es bestand die Absicht, zum dritten Male den Soziologentag für den Herbst 1914 einzuberufen. Der Gegenstand der Verhandlung sollte die Bevölkerungsfrage sein. Nicht ohne tiefe Bewegung, ja Erschütterung des Gemütes können wir der ungeheuren Ereignisse gedenken, die seitdem über das Reich, dem wir angehören, über Oesterreich, das auch in diesen Angelegenheiten des Geistes von Anfang her innig mit uns ReichsDeutschen verbunden war, und über die ganze Kulturwelt zermalmend hereingebrochen sind. Es war nur eine der geringsten ihrer Wirkungen, daß sie unsere junge Gesellschaft zum Schweigen brachten. Im Jahre 1919 wurde ein schüchterner Versuch gemacht, sie aufs neue ins Leben zu rufen. Der Versuch mißlang. Ein Rundschreiben, das damals versandt wurde, fand nur schwachen Widerhall. Eine bedeutende Zahl kam als unbestellbar zurück: die Adressaten hatten, wie es scheint, für Nachsendung ihrer Postsachen keine Sorge getragen. Einige waren verstorben. Manche waren aus eben diesem Grunde schon ausgelassen worden. Obgleich ich nur von einem Falle weiß, daß ein Mitglied, - es war der hoffnungsvolle Dr. Kurt l [Rede zur Eröffnung

des III. Deutschen

Soziologentages]:

Als Präsident eines im Kriege

gebildeten Interimsvorstands der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hielt Tönnies die nachstehende Eröffnungsrede auf dem Dritten Deutschen Soziologentag am 2 4 . 9. 1 9 2 2 . Der vorliegende Text erschien unter dem Titel „Ansprache des Präsidenten, Geheimrats Prof. Dr. Tönnies, zur Eröffnung des III. Deutschen Soziologentages" in den „Verhandlungen des Dritten Deutschen Soziologentages am 24. und 2 5 September 1 9 2 2 in Jena". Tübingen: J. C. B. Mohr, 1 9 2 3 , S. 1 - 5 . - Nach dem Verhandlungsprotokoll hat Tönnies auf dem Soziologentag nur noch einmal, zur Eröffnung der Debatte zweier Referate zur Theorie der Revolution, das Wort ergriffen. Das Protokoll dieser Äußerungen findet sich im editorischen Bericht S. 7 0 2 f. 3 D. G. f. S.: Deutsche Gesellschaft für Soziologie. 7 Berichte über diese Tagungen:

Vgl. Verhandlungen 1911 und 1 9 1 3 .

[Rede zur Eröffnung des III. Deutschen Soziologentages]

535

Marcard - unmittelbar dem Kriege zum Opfer gefallen ist, so ist doch die Zahl derer, die inzwischen den irdischen Dingen und ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit entrissen worden sind, nicht gering. Ich nenne folgende Namen, unter denen Sie solche von bestem Klange, ja von dauernder Bedeutung finden werden: Hermann Cohen, Richard Ehrenberg, Wilhelm Hasbach, Ernst Jaffe, Georg Jellinek, Felix Laband, Karl Lamprecht, Wilhelm Lexis, Franz v. Lißt, Richard Meyer, Georg Simmel, Ludwig Sinzheimer, Wilhelm Schallmayer, Franz Staudinger, M a x Weber, Wilhelm Wundt, Robert Wuttke, Wilhelm Wygodzinski. Der Verlust so vieler hervorragender Männer, unter denen ich als vorzüglich wertvoll für den bisherigen Fortschritt dieser Gedanken und Bestrebungen die Namen: Georg Simmel und M a x Weber hervorhebe, bedeutete eine tiefe Erschwerung für den Versuch, die fast erstarrte Gesellschaft wieder aufleben zu lassen. Als am 1. Mai 1920 eine sehr kleine Gruppe, die den ehemaligen Vorstand und ehemaligen Ausschuß zugleich repräsentierte, hier in Jena zusammenkam, war die Gesellschaft tatsächlich so gut wie aufgelöst. Wir einigten uns aber dahin, von dem Wunsche und der Hoffnung, daß auch ihr aufs neue der Morgenstern leuchten werde, beseelt, wie wir waren, ihr Dasein einstweilen im Schwebezustande zwischen Sein und Nichtsein zu belassen, sie also zu suspendieren. Als Ausdruck ihrer förmlichen Fortdauer wurde ein interimistischer Vorstand gewählt, in dessen Namen ich heute zu Ihnen zu sprechen die Ehre habe. Während der folgenden zwei Jahre ergab die Erfahrung und Beobachtung durch Gespräche und Korrespondenzen, daß die Umstände für einen Wiederaufbau der Gesellschaft günstiger lagen, als wir zu vermuten gewagt hatten. Die Soziologie hatte nicht nur im Felde der Wissenschaft festeren Fuß gefaßt. Sie durfte auch in dem 4 Namen:

Ein undatiertes „Verzeichnis der seit 1 9 1 4 aus der Deutschen Gesellschaft für

Soziologie ausgetretenen Mitglieder" in den Akten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Nachlass Tönnies C b 5 4 . 6 1 : 1 . 2 . 0 . 1 2 ) enthält von den im Folgenden zitierten die Namen Hermann Cohen, Franz von Liszt und Richard Meyer. M a x Weber hatte die aktive Mitgliedschaft in der Gesellschaft schon 1 9 1 2 aufgekündigt (vgl. eine Abschrift seines diesbezüglichen Briefs vom 2 2 . 10. 1 9 1 2 an den Geschäftsführer der DGS (Nachlass Tönnies Cb54.61.1.1) und war 1 9 1 4 ganz ausgetreten (vgl. ebd.: Abschrift eines Briefes vom 17. 1. 1914). 6 Jaffe:

Gemeint ist Edgar Jaffe, schriftführender Herausgeber des „Archiv für Sozial-

wissenschaft und Sozialpolitik". 6 Felix Laband: Gemeint ist hier möglicherweise der Jurist Paul Laband. Ein Felix Laband ist zwar in der (durchaus nicht fehlerfreien) Mitgliederliste der Deutschen Gesellschaft für Soziologie aufgeführt, aber er ist in der soziologischen Literatur nirgends nachgewiesen. 14 am 1. Mai 1920: Jacoby ( 1 9 7 1 : 1 8 5 und FN 59, 2 8 9 ) nennt für das Treffen in Jena den 2 9 . - 3 0 . Mai; siehe dort auch zu den Hintergründen des Treffens.

536

Schriften

neuen Staatswesen, obschon dieses bis zur Stunde unter schweren Wehen um sein Leben ringt, einer rückhaltlosen Anerkennung ihres Wesens und ihrer Bedeutung sich erfreuen: nur die allgemeine Not hat es verhindert, daß Lehrstühle für Soziologie errichtet wurden. Dagegen hat wenigstens die preußische Unterrichtsverwaltung an Lehraufträgen es nicht fehlen lassen, und wir dürfen auch in Zukunft auf die Sympathie und den guten Willen der Regierungen in allen deutschen Ländern und in Oesterreich rechnen. Aus Besprechungen im engeren Kreise ging die Erkenntnis hervor, daß die Gesellschaft nur gedeihen könne, wenn sie den von Anfang an erwählten Charakter ihrer Bestrebung auch in ihrer äußeren Form zum Ausdrucke bringen werde. Es erschien notwendig, in einer Zeit vollkommener Zerrüttung und Umwälzung um so mehr notwendig, die Form eines Vereins, an dem jeder auf seinen Wunsch und gegen Zahlung eines Beitrages sich beteiligen konnte, um damit das Recht zu erwerben, in jede Verhandlung, ob fördernd oder hemmend einzugreifen, - diese Art der Oeffentlichkeit aufzugeben. An die Stelle soll eine geschlossene Zahl von Mitgliedern treten, zusammengesetzt aus Personen, die entweder durch literarische Werke und andere gelehrte Betätigung schon um die Soziologie sich verdient gemacht haben, oder doch ein hinlänglich starkes Interesse für die Sache kundgeben, so daß eine gedeihliche Wirksamkeit in diesem Sinne von ihnen erwartet werden darf. Es erschien als unwahrscheinlich, daß die Zahl solcher Personen im Reiche und in Oesterreich größer als 100 sein werde. Die Auswahl ergab sich in der großen Mehrheit von Fällen von selbst. Manche geschätzte Namen haben sich dem Ansinnen versagt. Um so mehr konnten jüngere Kräfte herangezogen werden. Indessen setzt jede solche Wahl dem Fehlgriff und also dem Tadel sich aus. In unserem Falle kann die Wahl keine Auszeichnung bedeuten, daher auch niemanden zurücksetzen. Sie beruht zum guten Teile nur auf der Sicherheit in bezug auf einen Punkt, der bei manchen anderen Personen ungewiß, ja unwahrscheinlich war: dieser Punkt ist die Ueberzeugung vom Werte der Soziologie, der gute Wille für die Soziologie. Es ist nun immerhin eine große Versuchung für mich, an dieser Stelle über das Wesen der Soziologie, über ihre Aufgaben und ihr Recht mich auszusprechen. Ich widerstehe dieser Versuchung. Vor 12 Jahren war mir die Aufgabe gestellt wurden. Ich versuchte sie in dem Sinne zu lösen, daß 36 Aufgabe: Vgl. Tönnies 1911a, seine Eröffnungsrede „Wege und Ziele der Soziologie" auf dem ersten deutschen Soziologentag 1 9 1 0 (erneut in TG 17).

[Rede zur Eröffnung des III. Deutschen Soziologentages]

537

ich nicht sowohl meine persönliche Stellung zu der Frage, als vielmehr eine mir möglich scheinende Konkor dienformel zum Ausdruck bringen wollte, die das Gemeinsame in den Tendenzen der Gelehrten vieler Fächer außer den wenigen, die schon damals als Soziologen von Fach sich fühlten, in einem Brennpunkte vereinigen sollte: der National- oder Sozialökonomen, der Philosophen als Psychologen und Ethiker, der Historiker, insbesondere Kultur-, Wirtschafts-, Sozial-, Staats- und Kirchenhistoriker, der Juristen, insbesondere der Vertreter des öffentlichen Rechtes und der Rechtsphilosophie, der Biologen, der Ethnologen, endlich einer Gruppe, die schon als eine Sektion ihre Zugehörigkeit zur Soziologie öffentlich in die Erscheinung treten ließ: der Statistiker. Daß die Erkenntnis des sozialen Lebens für alle Geisteswissenschaften, insofern, als sie notwendig auch Kulturwissenschaften sind, und für jene Naturwissenschaften, die damit sich nahe berühren, von großer Wichtigkeit, ja Notwendigkeit ist, bedarf keiner näheren Erklärung. Indessen war die Meinung jener Frankfurter Eröffnungsrede, den gemeinsamen Sinn aller dieser Tendenzen und Strahlen zu treffen, vielleicht verfrüht. Heute möchte ich nur so viel zu dieser Grundfrage bemerken, die im übrigen einer weitreichenden Durchdenkung und Erörterung offen bleiben möge, daß ich die Unterscheidung der reinen Soziologie von der angewandten und empirischen, welche letztere abzugrenzen am schwersten fallen dürfte, für unerläßlich halte. Die reine Soziologie ist eine philosophische Lehre von reinen Begriffen. Sie wird neuerdings von berufener Seite als Beziehungslehre bestimmt. Ich nehme dies an, meine aber, daß der besondere Inhalt des Sozialen in den positiven oder unfeindlichen Beziehungen der Menschen zueinander gelegen ist, und daß diese positiven Beziehungen in einer dreifachen Ausprägung betrachtet werden müssen: 1. als soziale Verhältnisse, 2. als soziale Gruppen, Gesamtheiten, oder, wie ich am liebsten sagen möchte, Samtschaften, 3. als soziale Verbände oder Körperschaften, von denen die bedeutendsten der Staat und die Kirche sind. Ich gestatte mir, diese Einteilung hier hervorzuheben, weil ich in einem, (dem mittleren) Punkte damit eine frühere, schon vor 15 Jahren kundgegebene Einteilung zu berichtigen mir angelegen sein ließ. - Angewandte Soziologie ist nach meiner Auffassung nicht, was in den Vereinigten Staaten, in Italien und sonst darunter verstanden wird: Ethik, Völkerrecht, Sozialpolitik und andere Politik; wir

23 Beziehungslehre:

Dies bezieht sich vor allem auf das Fachverständnis Leopold von Wieses.

32 Einteilung zu berichtigen:

Vgl. Tönnies' Aufsatz „Das Wesen der Soziologie", in diesem

Band abgedruckt auf S. 4 7 7 - 4 9 8 .

538

Schriften

sind in Deutschland längst darüber einig, diese Disziplinen, deren wissenschaftlicher Charakter von manchen bestritten wird, vom Gebiete der Soziologie streng zu scheiden. Als empirische Soziologie endlich verstehe ich die auf induktive Erforschung sozialer Zustände, also auch der sozialen Verhältnisse usw. aufgebaute Lehre von den wirklichen Erscheinungen 5 des sozialen Lebens zu irgendeiner Zeit und in irgendeinem Lande; eine Lehre, bei deren Pflege man immer sich des Umstandes erinnern sollte, daß der Beobachtung nur die von uns erlebte Zeit und das Land, in welchen wir leben, zunächst und unmittelbar zugänglich sind, so daß man hier, wenn irgendwo, vor Verallgemeinerungen auf der Hut sein muß, die nicht 10 hinlänglich durch Erfahrungen gedeckt sind. - Ich erteile nunmehr Herrn Professor von Wiese das Wort zum ersten Referate.

12 von Wiese: Leopold von Wiese referierte zum Thema „Die Problematik einer Soziologie der Revolution" (vgl. Wiese 1923: 6-23).

Egoismus und Gemeinschaftsgeist Der Egoismus, insbesondere der wirtschaftliche, wird oft angeklagt, selten verteidigt. In der Wirklichkeit behauptet er sich nicht nur, sondern strebt danach, sich immer weiter auszudehnen, und zwar mit gutem Erfolge. Der europäische Kriegszustand, der mehr als vier Jahre lang gewütet hat und heute noch, wenn auch in schwächerer Gestalt, fortdauert, kam naturgemäß dem wirtschaftlichen Egoismus außerordentlich zu statten. Der Gemeinschaftsgeist wird oft gepriesen, sein Wert wird kaum jemals angezweifelt, aber seine praktische Geltung ist gering. Freilich gab der furchtbare Krieg auch ihm Nahrung. Die Kameradschaft wurde gepflegt, das Nationalgefühl und die Opferbereitschaft der Heimat vermehrten Mut und Kraft der Kämpfer. Und die Folgen des Krieges scheinen wenigstens die eine Lichtseite zu haben, daß sie den Gemeinschaftsgeist vermissen lassen: kaum je ist mehr von ihm die Rede gewesen als heute. Die Jugend begeistert sich für ihn. Viele Vereine und Bünde bemühen sich, ihn zu pflegen. Freilich bemerkt man auch hier die Wahrheit des Lessingschen Spruches, daß andächtig schwärmen viel leichter als gut handeln ist. Man darf aber zugeben, daß eine ehrliche Begeisterung und edle Schwärmerei wohl geeignet sind, nicht nur in gutes Handeln überzugehen, sondern es auch zu beleben und zu vertiefen. Der Gemeinschaftsgeist dieses Sinnes wird in der Regel nur bei wenigen vorhanden sein. Aber er kann gelehrt und ausgebreitet werden. Man kann Einrichtungen treffen, ihn zu pflegen; man kann ihn in Verbindung brini Egoismus

und Gemeinschaftsgeist-,

Diese kleine Abhandlung wurde in der Zeitschrift

„Konsumgenossenschaftliche Rundschau" am 2. 6. 1 9 2 3 (20. Jg., S. 2 3 5 f.) veröffentlicht. Seit 1901 hatte Tönnies schon in ihrem Vorläufer-Blatt immer wieder veröffentlicht, bis 1 9 3 2 zeichnete er für nicht weniger als 2 6 Beiträge (vgl. Fechner 1 9 9 2 : 184; TG 2 2 : 302). Die Zeitschrift diente als Kommunikationsorgan für die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik breite konsumgenossenschaftliche Bewegung. Tönnies Sympathie für genossenschaftliche Wirtschaftsformen und sein publizistisches Engagement für die Genossenschaft als wirtschaftliche Alternative mag davon geprägt sein, seinem Begriff der Gemeinschaft in der Genossenschaftsbewegung nicht nur ein sympathisierendendes Forum zu erschließen, sondern gemeinschaftliche Elemente unter gesellschaftlichen Bedingungen zu bewahren. 17 Lessingschen Spruches: Vgl. Lessings „Nathan der Weise" ( 1 8 7 8 : III, 85) zu Recha sagend: „Begreifst du aber / Wie viel andächtig schwärmen

leichter, als / Gut handeln

ist?".

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Schriften

gen mit religiösen Vorstellungen, man kann ihn aber auch ohne solche als den Kern einer weltlichen, rein philosophischen Ethik anschauen und die günstigen Bedingungen für seine Entwicklung herstellen. Aber im Kampf ums Leben, ums tägliche Brot, zumal in einer Zeit des allgemeinen Notstandes, wird es nicht möglich sein, Gemeinschaftsgeist zu fördern, wenn er nicht mit dem wirtschaftlichen Eigeninteresse vereinbar scheint. J a , die scheinbar entgegengesetzten Motive müssen und können miteinander verschmelzen, nur davon ist eine heilsame Entwicklung des Gemeinschaftsgeistes zu erwarten, daß er mit dem wirtschaftlichen Egoismus gleichsam eine Ehe eingeht. Der wirtschaftliche, wie jeder vernünftige Egoismus stellt sich auf drei Stufen dar, die von sehr verschiedenem Werte sind. Auf der niedrigsten Stufe beschränkt er sein Interesse und seine Liebe auf das eigene Ich: der Egoismus des Geizhalses, den die Fabel am liebsten als einen engherzigen einsamen Greis vorstellt, der keine andere Lebensfreude kennt als die ängstliche Bewahrung und Vermehrung seines heißgeliebten Schatzes. Die zweite Stufe ist die des Familienegoismus. Sie ist bei weitem die häufigste, und der Gedanke an Weib und Kind erfüllt oft auch den Geschäftsmann, dessen Trachten nach schrankenlosem Gewinn dem allgemeinen Tadel anheimfällt. Dieser gemeine Egoismus ist aber einer zwiefachen Veredlung fähig: erstens er kann sich mit der Erkenntnis erfüllen, daß das Wohl der eigenen Familie wesentlich bedingt ist durch ein allgemeines Gedeihen: durch das Wohl, anstatt durch den Schaden seiner Genossen in seinem Wohnorte, seinem Gewerbe, seiner Klasse, seinem Vaterlande, ja, der Menschheit. Der Familienegoismus kann sich zweitens veredeln in der Richtung, daß es dem Manne nicht sowohl um die schönen Kleider und den übrigen Schmuck seiner Frau und Kinder, sondern um die Verschönerung und den Schmuck ihrer Seelen, insonderheit also um ihre Erziehung und sittliche Bildung zu tun ist. Die erste Art der Veredlung wird in der Regel nur von Zeit zu Zeit unter dem Druck eines starken Beweggrundes eintreten, wie wir es heute im gewaltsam unterdrückten Deutschland erleben. Die andere Art ist wesentlich Sache des persönlichen Charakters und der erworbenen Denkungsart. Der Charakter ist seinem Kerne nach angeboren, aber er bildet sich auch (nach Goethe) in dem „Strome der Welt". Die Denkungsart ist durch Unterricht und Lehre mitbedingt, sie kann geläutert, kann aufgeklärt, kann also selber veredelt werden. 34 nach Goethe: Im Goethes Torquato Tasso heißt es (1889: Vers 304 f.): „Es bildet ein Talent sich in der Stille, / Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.".

Egoismus und Gemeinschaftsgeist

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Die dritte und höchste Stufe des Egoismus ist die Richtung des eigenen Willens und Interesses auf ein zeitlich fernes Ziel, auf eine bessere Zukunft, möge sie noch so schwer vorstellbar sein, noch schwerer die dringenden Forderungen des Tages und der nächsten Zukunft überwinden. Dieser Gedanke kann aber mitbestimmend werden für die gesamte Seelenverfassung des Menschen und dadurch auch auf das alltägliche Tun und Treiben zurückwirken. Er begegnet sich mit dem Gemeinschaftsgeist und geht in ihn über. Das Heil einer ferneren Generation wird, wenn überhaupt, so als ein einheitliches empfunden. Wenn man an die Zukunft seines Urenkels denkt, so wird man leichter die Solidarität bewahren, worin ihr Wohl, ihre Kultur, mit dem Wohle und der Kultur ihrer Zeitgenossen, mit dem ganzen Stande der Gesittung ohne Zweifel stehen wird, als wenn man lediglich darauf bedacht ist, die Interessen der Kinder, deren Blüte man noch zu erleben hofft, sicherzustellen, was überdies so oft mißlingt. Die Erfahrungen, die in dieser Hinsicht aus der Verarmung Deutschlands, Österreichs und anderer Länder die neueste Zeit so nahe gebracht hat, werden nicht leicht vergessen werden. Das Genossenschaftswesen, zumal das der Konsumenten, ist darum eine Schule des Gemeinschaftsgeistes, weil es den Ausblick auf eine ferne Zukunft und auf eine hohe Entwicklung in ihr gewährt. Die höchste Stufe des Egoismus findet auch ihre Befriedigung darin. Hier kommen Gemeinschaftsgeist und Egoismus zusammen. Dies Zusammentreffen ist selten. Es kann dahin gewirkt werden, daß es häufiger werde. Es kann gelehrt werden, daß nicht der augenblickliche Vorteil eines billigeren oder besseren Einkaufs der einzige Nutzen ist, den die Genossenschaft oft gewährt, zuweilen aber auch nicht gewähren kann, sondern daß es sich bei der Förderung der Sache um eine hohe Kulturaufgabe handelt, um eine Aufgabe, an der zu arbeiten dem, der sie richtig versteht, nicht nur eine Freude bereitet, sondern auch seinem sittlichen Wohl unmittelbar und mittelbar zugute kommt. Im Vergleich dazu hat er eine geringere objektive Bedeutung, daß auch der Egoismus in der genossenschaftlichen Erkenntnis und Verfolgung des eigenen Interesses seine Rechnung findet. Aber es bleibt von großer Wichtigkeit, auch dies hervorzuheben, daß der engherzige Egoismus am wenigsten, der weitsichtige und aufgeklärte weit mehr und der zugleich veredelte am meisten danach angetan ist, dem genossenschaftlichen Streben eine Zuflucht vor den ungeheuren Schäden zu bieten, mit denen die Ungewitter des heutigen wirtschaftlichen Lebens den redlichen 30 dazu hat er: Lies: dazu hat es.

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Hausvater und die sorgsame Hausfrau bedrohen. An die Opferwilligkeit für mannigfache Zwecke wird oft appelliert. Die Opferwilligkeit der Arbeiterklasse für ihre gemeinsamen ökonomischen Interessen ist berühmt. Das Genossenschaftswesen stellt an die Opferwilligkeit nur geringe Ansprüche; es belohnt zumeist die geforderten Opfer mit unmittelbaren Vorteilen, sogar für den engsten Egoismus. Aber es wird um so mehr zu höherer Blüte gelangen, je mehr der wirtschaftliche Egoismus in ihm mit dem Gemeinschaftsgeiste sich vermählt und je mehr dies Ziel in seiner Schönheit und Würde erkannt wird. Auch solche Mitglieder, die nur der erwartete unmittelbare und äußere Vorteil in ihre Reihen führt, muß die Genossenschaft willkommen heißen; sie wird hoffen dürfen, manche von diesen zu echten Genossenschaftern auszubilden. Wertvoller sind von vornherein diejenigen, die einen dauernden und gewissen Nutzen wenigstens von der zukünftigen Entwicklung der Sache erwarten; sie werden als treuer sich bewähren und eben diese Entwicklung zu fördern beflissen sein. Am wertvollsten aber wird jeder sein, der den Wert der Idee, worin die Sache beruht, erkannt hat und diese Idee mit ganzem Herzen bejaht; für den das Heil seiner entfernten Nachkommen mit dem Heile seines Volkes und mit dem verbesserten Lose der Menschheit zusammenfällt.

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1. In der zweiten Auflage meiner Hobbes-Monographie habe ich auf mehrere Punkte der Entwicklung seiner berühmten Staatslehre aufmerksam gemacht, wie sie in den drei verschiedenen Fassungen: 1. der Elements of law, 2. des Büchleins De cive, 3. des Leviathan vorliegt. Schon viele Jahre früher hatten meine „Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes" (in der „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" Band III und IV) einige Gesichtspunkte aufgestellt, die ich als wesentlich für die Entwicklung jener Gedanken behaupte. Ich bin aber bisher nicht eingegangen auf die Grundlage des naturrechtlichen Systems, welches nach Gierkes Ausdruck die bisherige Lehre des Naturrechts zu sprengen 1 Hobbes und das Zoon Politikon: Die Abhandlung erschien zuerst in der Zeitschrift für Völkerrecht (12. 1923: 471—488). Ein Fragment des Manuskripts (flüssig geschrieben in schwarzer Tinte, kleine Schrift mit wenigen Korrekturen am Rande) findet sich im Nachlass Tönnies' unter der Signatur Cb54.34:23, paginiert S. 6 - 2 2 . Das Manuskript ist, abgesehen von einigen orthographischen Korrekturen und einer Ergänzung (des letzten Satzes von Punkt 8) identisch mit der Druckfassung. E. G. Jacoby hat den Text posthum mit einigen kleineren Kürzungen und Umstellungen, die er nicht immer nachweist, neu herausgegeben (Tönnies 1975: 311-329). 2 meiner Hobbes-Monographie: Vgl. Tönnies 1912b; vgl. TG 3. 5 Elements of law: Der Text wurde 1889 erstmals nach dem Manuskript von Tönnies herausgegeben (vgl. Hobbes 1889a). 1926 veröffentlichte Tönnies eine deutsche Übersetzung (Hobbes 1926). 5 De cive: Herangezogen wurden Hobbes 1696 - hiernach wurde zitiert - , die Werkausgabe von Molesworth (vgl. Hobbes 1839a) sowie ergänzend die kritische Edition von Warrender (vgl. Hobbes 1983). 5 Leviathan: Herangezogen wurden die Werkausgabe von Molesworth (Hobbes 1839) hiernach wurde zitiert-und ergänzend Curleys Neuedition (Hobbes 1994). 7 „Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes": Vgl. Tönnies 1879-81. Die Abhandlung erschien in den Jahrgängen 3 bis 5 der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie (vgl. TG 1). n nach Gierkes Ausdruck: Bei Gierke (1880: 300) heißt es: Zuerst „... versuchte .. Hobbes auf dem Boden und mit dem Rüstzeug des Naturrechts selber das Naturrecht zu sprengen. Denn er setzte das vorstaatliche Recht des Naturzustandes zu einem ,ius inutile' herab, das in Wahrheit nicht einmal den Keim eines Rechtes enthielt; er liess im Staat, durch dessen Befehl und Zwang erst Recht entstehen solle, jedes nicht von ihm selbst erzeugte Recht vollkommen untergehen; er verwarf schlechthin jeden Gedanken einer rechtlichen Gebundenheit der über die Begriffe Recht und Unrecht souverän entscheidenden Staatsgewalt".

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bestimmt war. Dies explosive Element ist in der berufenen These enthalten, dass der natürliche Zustand des Menschen der Kriegszustand zwischen ihnen sei, den er mit einem Ausdruck, der von ihm nicht erfunden, aber zur Klassizität erhoben wurde, den Krieg aller gegen alle nennt, während bisher (wie Gierke sich ausdrückt) die Vorstellung einer ursprünglichen Friedens- und Rechtsgemeinschaft unter den Menschen altherkömmlich war. Diese überlieferte Vorstellung fügte sich gut an den Satz des antiken Philosophen, dass der Mensch von Natur ein für die polis bestimmtes Lebewesen, ein zoon politikon sei. 2. In den „Elements of law" tut Hobbes dieser Lehre noch keine Erwähnung. Der Gedanke schreitet hier in folgender Weise fort: Nachdem in den ersten 13 Kapiteln die „ganze menschliche Natur" beschrieben worden ist, werden zu Anfang des 14ten deren natürliche Kräfte, leibliche und geistige, zusammengefasst als 1. Körperkraft, 2. Erfahrung, 3. Vernunft, 4. Affekt. Sodann wird die natürliche Gleichheit der Menschen in dem Sinne behauptet, dass sie, wenn der blossen Natur nach betrachtet, Gleichheit untereinander „zugeben müssten". Und: wer nicht mehr in Anspruch nehme, dürfe für bescheiden gehalten werden. Tatsächlich aber seien die Menschen in ihren Affekten sehr verschieden: manche eitel und herrschsüchtig, selbst wenn geringer an Kräften, so dass der gemässigte ihnen preisgegeben sei. Daher allgemeines Misstrauen und gegenseitige Furcht, aber auch Neigung, einander zu reizen, herauszufordern und offenem Kampf die Entscheidung zu überlassen, wer als der Stärkere die andern zu verdrängen imstande sei. In dieser Lage sei es ein natürliches „Recht", weil angesichts natürlicher Notwendigkeit „nicht wider die Vernunft": dass jeder Mensch sein eigenes Leben und seine Glieder mit aller ihm zur Verfügung stehenden Macht erhalten dürfe (der Begriff, dass ein subjektives Recht gegeben sei, wenn etwas der Vernunft nicht widerstreite, wird als gegeben vorausgesetzt. Gemeint ist offenbar das Recht des Not-

5 (wie Gierke sich ausdrückt)-. Vgl. ebd.: 76 ff. 8 Satz des antiken Philosophen:

Bei Aristoteles (1981: 1, 13) heißt es in seiner „Politik" (I,

2, 1253a): „Daraus geht nun klar hervor, daß der Staat zu den Dingen zu zählen ist, die von Natur sind, und daß der Mensch nach (der Bestimmung) der Natur ein Lebewesen ist, das zum staatlichen Verband gehört (zöon politikon),

und daß derjenige, der aufgrund

seiner Natur, und nicht durch eine Schicksalsfügung, außerhalb des staatlichen Verbandes steht, entweder minderwertig - oder übermenschlich - ist . . . " . 10 „Elements

of law"-. Der folgende Absatz ist eine enge Paraphrase des 14. Kapitels des

Ersten Teils der „Elements of Law" (vgl. Hobbes 1889a: 7 0 - 7 3 ) ; vgl. auch die von Tönnies herausgegebene deutsche Ausgabe (Hobbes 1 9 2 6 : 9 6 - 1 0 0 ) .

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standes). Das Recht auf diesen Endzweck schliesse aber das Recht auf jedes tauglich scheinende Mittel in sich ein; und welches Mittel tauglich sei, darüber zu entscheiden sei jeder für sich allein berechtigt: seine Stärke, sein Wissen, seine Kunst sei dann in richtiger Weise angewandt, wenn er sie für sich selber gebrauche. Folglich habe der Mensch schlechterdings ein Recht auf alle Dinge, das freilich seiner Wirkung nach nicht besser sei als ein Recht auf nichts, weil das Recht eines jeden einzelnen durch das Recht aller andern aufgehoben werde. Der Zustand der Menschen in dieser ihrer natürlichen Freiheit sei ein Kriegszustand, weil der Wille und die Absicht, Gewalt entscheiden zu lassen, durch Worte oder durch Handlungen hinlänglich erklärt sei. Der so konstituierte Zustand wird noch durch Hinweisung auf heute lebende Völkerschaften und auf die geschichtliche Kunde von „unsern Vorfahren, den alten Bewohnern Deutschlands und anderer, jetzt zivilisierter Länder" bekräftigt. Der Ausdruck „Krieg aller gegen alle" kommt hier noch nicht vor, auch nicht die Polemik gegen die Lehre vom zoon politikon. 3. Das erste Kapitel von De cive reproduziert diesen Gedankengang des 14ten Kapitels der Elements zum grossen Teil wörtlich. Aber hier wird sogleich im 2ten § ein Abschnitt eingeschaltet, der die Lehre vom zoon politikon widerlegen soll. Sie wird als die herrschende Lehre der Publizisten dargestellt, als ein Axiom, das dem Gebäude der Staatslehre zugrunde gelegt zu werden pflege. Es wird durch folgende Erwägungen bestritten: 1. Es beruhe auf einer oberflächlichen Ansicht der menschlichen Natur. In Wahrheit - so wird dies begründet - ist es nicht ihre Natur, was die Menschen zusammenführt, sondern es sind die Umstände. Die Menschen suchen Ehre oder Vorteil, nur um des einen oder des andern Zweckes willen streben sie nach Gesellschaft. Dies soll bewiesen werden aus den verschiedenen Arten der Geselligkeit, von denen drei unterschieden werden: A. als erster Typus erscheint die Geschäftsfreundschaft: offenbar will da jeder sein Geschäft machen und nicht Geselligkeit pflegen; B. Berufs- und kollegialische Freundschaft beruht mehr in gegenseitiger Furcht als in Liebe und Wohlwollen; C. die Vergnügungsgeselligkeit beruht wesentlich auf Eitelkeit: die Abwesenden werden fortwährend durchgehechelt; die Anwesenden nicht minder, nachdem sie die Gesellschaft verlassen haben. So sei die menschliche Natur, die nur durch erlittenen Schaden, zuweilen auch durch empfangene Lehren verändert werde. Eine weitere Auslassung 19 im 2ten 5 ein Abschnitt eingeschaltet: Vgl. zum Folgenden Hobbes 1696: 2 ff. und 1983: 90 ff.

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über die menschliche Schwachheit, wie sie in der Geselligkeit zutage trete, wird noch lose angefügt: sogar in einem Klub von Philosophen wolle jeder die andern belehren, jeder der Meister sein; übrigens sei da keine gegenseitige Liebe, sondern eher gegenseitiger Hass vorhanden. - 2. Dieser „Beweis aus der Erfahrung" soll ergänzt werden durch einen Beweis aus den Definitionen der Begriffe Wille, Gut, Ehre, Nutzen. Gesellschaft wird freiwillig eingegangen, der Wille muss einen Zweck im Auge haben. Der Zweck kann nur etwas sein, was dem, der sich mit andern vereinigt, gut scheint, also erfreulich ist. Alles was erfreulich ist, bezieht sich auf Sinnlichkeit oder auf Geist. Geistiges Vergnügen ist entweder unmittelbar oder mittelbar die gute Meinung, die man von sich selber hat; die mittelbar oder unmittelbar sinnlichen Freuden können als Vorteile zusammen begriffen werden. Nur diese beiden Beweggründe also: Eitelkeit oder Vorteile, können dazu veranlassen, dass ein Mensch sich mit andern verbindet. Aus der Eitelkeit aber kann weder eine zahlreiche noch eine langdauernde Gesellschaft hervorgehen, weil Ruhm und Ehre, wenn alle, so niemand geniesst; denn sie bestehen durch Vergleichung und Auszeichnung, und dazu, dass einer Ursache habe, stolz zu sein, hilft ihm die Gesellschaft anderer nicht. Denn ein jeder ist soviel wert, als er ohne die Hilfe anderer vermag. Was nun aber die Vorteile betrifft, so können sie allerdings durch gegenseitige Hilfe vermehrt werden; aber dies wird viel eher erreicht dadurch, dass man andere Menschen beherrscht als dadurch, dass man sich mit ihnen verbindet; darum kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Menschen ihrer Natur gemäss, wenn Furcht nicht im Spiele wäre, viel begieriger nach Herrschaft als nach Gesellschaft streben würden. „Folglich muss festgestellt werden, dass der Ursprung grosser und dauerhafter Gesellschaften nicht in gegenseitigem Wohlwollen, sondern in gegenseitiger Furcht zu suchen ist". - Es folgt dann der § III über die Ursachen der gegenseitigen Furcht und die folgenden über die mannigfachen Ursachen der Feindseligkeit, mündend in der Behauptung des von Natur einem jeden zustehenden Rechtes auf alle Dinge, d. h. zu tun, was ihm gut dünke zu seiner Verteidigung und zur Vorbeugung gegen die Angriffe seiner Mitmenschen. 4. Die Schrift De cive wurde zuerst 1642 in Paris gedruckt. Die schöne Quart-Ausgabe ist nicht erst heute von ausserordentlicher Seltenheit. Sie 28 „Folglich muss festgestellt ... Furcht zu suchen ist": Vgl. Hobbes ( 1 6 9 6 : 6; 1839a: 161 und 1 9 8 3 : 92): „Statuendum igitur est, originem magnarum & diuturnarum societatum non ä mutua hominum benevolentia, sed ä mutuo metu exstitisse". 33 zuerst 1642

in Paris gedruckt:

Elementorum Philosophie Sectio Tertia De Cive. Paris

1 6 4 2 . - Die Schrift wurde in kleiner Auflage anonym veröffentlicht, als Manuskript

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ist nur in sehr wenigen Exemplaren vorhanden gewesen, die der begüterte Freund des Autors, Sir Kenelm Digby, wie es scheint, auf seine Kosten herstellen liess. Das ihm zugeeignete Exemplar befindet sich in der Pariser Bibl. nationale. Auf ähnliche Art, wie kurze Zeit früher die Meditationen Descartes', war das Büchlein bestimmt, Urteile angesehener Männer hervorzurufen und wurde zu diesem Zwecke solchen übergeben. Hobbes selbst schreibt in der Vorrede an die Leser, die in jener Erstausgabe nicht enthalten war: „Um nicht unbesonnener Weise etwas herauszugeben, was unnötig wäre, habe ich nicht alsbald, was ich geschrieben, veröffentlichen wollen und daher wenige Exemplare im Privatdruck an Freunde verteilen lassen, um nach Erkundung der Ansichten anderer das zu verbessern, zu mildern und zu erläutern, was irrig, hart oder unklar zu sein schien." Er bezieht sich dann auf sehr scharfen Tadel, den seine Vorlage erfahren habe von Anwälten der Kirche, Anwälten der Sekten und von Juristen; durch diese interessierte Missbilligung sei er nicht irre gemacht und nur bewogen worden, die Knoten, an denen sie Anstoss nahmen, noch fester zu schnüren. Andere aber, die bei ihren Ausstellungen einer echten Gedankenbildung folgten, indem sie über die menschliche Natur, das Naturrecht, das Wesen der Verträge und die Bildung des Staates ihre Bedenken zum Ausdruck brachten, sei er durch hinzugefügte Anmerkungen zufriedenzustellen beflissen gewesen. - Diese Anmerkungen sind, wie die praef. ad lectores selbst, in kursiver Schrift gesetzt worden. In der deutschen Ausgabe von Frischeisen-Köhler (Leipzig, Meiner 1917) erscheinen sie als Fussnoten, wie schon in der englischen Uebertragung: English Works ed. Molesworth, Vol. III. Die erste dieser Anmerkungen bezieht sich auf das zoon politikon. Wenn sie damit anhebt, angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft in Wirklichkeit unter den Menschen eingerichtet sei; dass gedruckt und kam nicht in den Handel (vgl. hierzu Tönnies 1 9 1 2 a : 2 1 f. sowie die editorischen Anmerkungen in Hobbes 1 9 8 3 : 4 0 f.). 12 „Um nicht unbesonnener

Weise ... unklar zu sein schien. ": Vgl. Hobbes ( 1 6 9 6 : Prasfatio

ad lectores, nicht paginiert; 1839a: 153 und 1983: 84, [22]): „Postremo, ne quid per imprudentiam ederem quod edito opus non esset, id quod conscripseram, publici juris esse illico nolui: itaque exemplaria pauca privatim impressa amicis distribuenda curavi, ut sententiis aliorum exploratis, si qua; erronea, dura, obscurave esse viderentur, ea emendarem, mollirem atque explicarem". 23 Frischeisen-Köhler

(Leipzig, Meiner 1917):

25 English Works ed. Molesworth,

Der Band erschien 1 9 1 8 , vgl. Hobbes 1 9 1 8 .

Vol. III: Vgl. Hobbes 1 8 4 1 ; richtig ist: II. Bd. der „English

Works". Die genannte Schrift, zuerst erschienen [London] 1 6 5 1 als „Philosophicall Rudiments concerning Government & Civili Society" ist, wie erst seit neuerem bekannt, eine ohne Hobbes' Wissen veranstaltete Raubübersetzung, vgl. Milton 1 9 9 0 .

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niemand ausserhalb ihrer lebe; dass alle nach Begegnungen und Gesprächen, wie man täglich sehe, streben - möge es wohl als eine erstaunliche Torheit erscheinen, an der Schwelle der Staatslehre einen solchen Stein des Anstosses den Lesern vor die Füsse zu schieben, „dass der Mensch nicht zur Gesellschaft tüchtig geboren sei," - so lässt dies darauf schliessen, was ohnehin wahrscheinlich ist, dass ihm von mehreren Seiten starke Ausdrücke des Erstaunens über eine so paradoxe Lehre kundgetan worden sind. Auch deutet dahin, dass er zu seiner Verteidigung ein bedeutendes Zugeständnis zu machen bereit ist. Der Mensch könne allerdings ohne die Hilfe anderer nicht leben, das kleine Kind nicht einmal des Daseins sich erfreuen. „Darum leugne ich nicht, dass die Menschen unter dem Zwange der Natur danach streben, miteinander zusammenzukommen". Die bürgerlichen Gesellschaften aber - man beachte wohl das Beiwort - seien nicht blosse Zusammenkünfte, sondern Bündnisse, und diese zu schliessen seien Vertragstreue und Abmachungen notwendig. Kinder und Ungelehrte seien unfähig, deren Wesen zu erkennen; diejenigen aber, die keine Erfahrung der Schäden haben, die aus dem Fehlen der Gesellschaft entspringen, kennen den Nutzen solcher Bündnisse nicht. Jenen fehlt also die Fähigkeit, diesen der Wille, zur Begründung. „Mithin ist offenbar, das alle Menschen als kleine Kinder, also von ihrer Geburt her, dafür untauglich sind, sehr viele aber, vielleicht die meisten, ihr ganzes Leben lang, sei es wegen krankhafter Beschaffenheit ihrer Seele, sei es aus Mangel an Bildung, untauglich bleiben. Und doch haben jene wie diese die menschliche Natur - folglich ist der Mensch für die Gesellschaft nicht von Natur geeignet, sondern erst durch Bildung geeignet worden." Und selbst wenn der Mensch seiner angeborenen Natur gemäss Gesellschaft erstrebe, so folge daraus

5 Wenn sie damit anhebt ... Gesellschaft tüchtig geboren sei, ": Der Satz ist insgesamt eine freie Übersetzung des Hobbesschen Textes (1696: 6, Fn.; vgl. 1839a: 158 Fn. und 1 9 8 3 : 92): „Cum Societatem inter homines actu jam constitutam; cum extra Societatem vivere neminem; cum appetere congressum & colloquia mutua omnes videamus; mira qu«dam videri potest stupiditas in ipso doctrinse civilis limine, hujusmodi offendiculum legentibus opponere: Hominem 12 „Darum

ad Societatem aptum natum non

leugne ich ... miteinander

esse".

zusammenzukommen"-.

Vgl. ebd.: „Itaque homines

alterum alterius congressum natura cogente appetere non nego". 25 „Mithin ist offenbar

... Bildung geeignet

worden."-. Vgl. ebd.: „Manifestum ergo est,

omnes homines (cum sint nati infantes) ad societatem ineptos natos esse: permultos etiam (fortasse plurimos) vel morbo animi, vel defectu disciplina:, per omnem vitam ineptos manere. Habent tarnen illi tam infantes quàm adulti naturam humanam. Ad Societatem ergo homo aptus, non natura, sed disciplina factus est." - Im Text hieße es richtig: „ . . . offenbar, dass alle Menschen . . . " .

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nicht, dass er eben dieser angeborenen Natur nach tauglich dafür sei. „Denn es streben auch jene danach, die aus Hochmut nicht gewillt sind, die Bedingungen der Gleichheit, ohne welche Gesellschaft nicht bestehen kann, anzunehmen." 5. Hobbes ist ungemein oft wegen der strengen Folgerichtigkeit seiner Gedanken gerühmt worden. In der Tat ist die Energie seiner Argumentation in vielen Stücken bewunderungswürdig. Ich habe aber schon in einer im Jahre 1880 geschriebenen Arbeit darauf hingewiesen, wie brüchig doch an einigen Stellen die Gedankengänge sind, mit denen er seine hervorragende Lehre vom Staat zu begründen unternimmt. Meiner begründeten Vermutung nach war der ursprüngliche Kern dieser: im Naturzustande ist der Mensch durch seine Affekte bestimmt, einer fürchtet sich vor dem andern, aus verschiedenen Ursachen geraten sie in Streit miteinander, es ist ein Zustand des Krieges. Im bürgerlichen Zustand wirkt hingegen die Vernunft des Inhabers der Staatsgewalt, welche die Menschen zwingt, sich zu vertragen, es ist ein Zustand des Friedens. Eine Staatsgewalt kann aus dem Naturzustande nicht anders als dergestalt hervorgehen, dass die Menschen durch die üblen Erfahrungen des Kriegszustandes zu der Einsicht kommen, dass diesem greuelvollen Zustande nur ein Ende gemacht werden könne, wenn man dahin übereinkomme, das Ding, genannt der Staat, zu schaffen, dessen Wesen eben darin besteht, dass eine Person, sei es eine natürliche oder eine Kollektivperson, eine solche vollkommene und unbedingte Gewalt besitze und ausübe. Dieser Grundgedanke, der als solcher immer wieder durchbricht, wird aber gleichsam überfallen durch die neue Theorie der menschlichen Seele, die Hobbes aus seinen naturwissenschaftlich-mathematischen Studien, besonders auch aus der mechanistischen Physiologie, die er von Harvey lernte, abgeleitet hat: der menschliche Wille wird ausschliesslich durch Affekte bestimmt, und zwar notwendig bestimmt; er ist triebmässig egoistisch und kann nicht anders sein. Begierde und Furcht sind die Leitmotive. Dadurch wird Hobbes auf den Satz geführt: nur aus Furcht, und zwar aus gegenseitiger Furcht, kann Gesellschaft entspringen. Begierde kann nur dazu bewegen, den andern zu unterjochen und zu beherrschen. Sonst hatte auch die gegenseitige Furcht und das gegenseitige Misstrauen zu den Merkmalen des Naturzustandes,

4 „Denn es streben ... bestehen kann, anzunehmen."-. Vgl. Hobbes (1696: 7, Fn.; vgl. 1839a: 158 Fn. und 1983: 92 ): „Appetunt enim illi, qui tarnen conditiones sequas, sine quibus societas esse non potest, accipere per superbiam non dignantur". 8 im Jahre 1880 geschriebenen Arbeit-. Vgl. Tönnies 1879-81.

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also der allgemeinen Feindseligkeit gehört. Dass es seinen eigenen Prinzipien gemäss durchaus paradox war, die Gesellung und gar die Staatsgewalt daraus abzuleiten, musste der Autor wohl bemerken, auch scheint es ihm entgegengehalten worden zu sein. Er wehrt sich in der zweiten Anmerkung gegen den Einwand, die wechselseitige Furcht müsste vielmehr zur Folge haben, dass die Menschen nicht einmal ertragen könnten, einander ins Angesicht zu sehen. Unter Furcht verstehe er Vorsicht; diese führe am häufigsten dazu, dass man mit Waffen und andern Verteidigungsmitteln sich zu decken suche - „dadurch geschieht es, dass man vorwärts zu gehen sich entschliesst und alsdann in der Lage ist, einer des andern Gesinnung kennen zu lernen." Dann aber pflegt, sei es, dass sie kämpfen, aus dem Siege, sei es, dass sie zur Uebereinstimmung gelangen, aus der Uebereinstimmung, ein Staat zu entstehen (civitas nasci solet). Dies ist eine Rede der Verlegenheit. Im Texte war die Herrschaft, die doch offenbar als Frucht des Sieges den Staat bedeuten soll, von der Gesellschaft (Dominatiosocietas) stark unterschieden: nach Herrschaft würden die Menschen gieriger trachten, wenn die Furcht nicht mitspielte! - Allgemein bemerken wir, dass unser Philosoph, der auf Definitionen so entscheidenden Wert legt, den Begriff „Gesellschaft" keineswegs definiert hat. Meint er dasselbe, wenn er von Gesellschaft schlechthin (im Texte), wenn er von bürgerlicher Gesellschaft (in der Anmerkung) spricht? Und ist die letztere oder sind beide als gleichbedeutend mit dem Staate (civitas) gedacht? Oder sind nur „grosse und langdauernde Gesellschaften" mit dem Staate identisch? 6. Wie Hobbes auf Einwürfe wegen des zoon politikon zu antworten sich genötigt sah, so ist wahrscheinlich die ganze Stelle des Textes, die gegen den aristotelischen Begriff sich wendet, schon Entgegnung auf eine Einrede, die ihm in Wort oder Schrift begegnet war: sei es auf Grund seiner englischen, in Abschriften vervielfältigten Abhandlung, sei es, wenn er in Gesprächen sein Theorem vom Krieg aller gegen alle entwickelte. Er hätte diese Einrede etwa wie folgt erledigen können - im Geiste seiner eigenen 11 „dadurch geschieht es ... Gesinnung kennen zu lernen.": Vgl. Hobbes 1696: 8, Fn.; 1839a: 161, Fn. und 1983: 93): „Per metum est quod homines sibi cavent, fugä quidem & latebris, si caveri aliter posse nun putant: ssepissime verö armis atque instrumentis defensionis, quo fit, ut prodire audentes, alter alterius cognoscere ingenium possit". - Der folgende Satz ist eine Paraphrase des Anschlusssatzes bei Hobbes (ebd.): „Tunc autem, sive pugnant, ex victoriä; sive consentiunt, ex consensione civitas nasci solet". 17 nach Herrschaft würden die Menschen gieriger trachten, wenn die Furcht nicht mitspielte!-. Vgl. bei Hobbes 1696: 5 f. (1839a: 161). 23 „grosse und langdauernde Gesellschaften"-. Vgl. in diesem Band S. 546.

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Lehre: - wenn ihr das zoon politikon so versteht, dass es heissen soll, der Mensch könne ohne den Menschen nicht leben, einer bedürfe des andern zu seiner Hilfe, zu seiner Unterhaltung, zum Austausch und zum Verkehr, so gebe ich das mit Vergnügen zu; ich muss mir nur vorbehalten, dass Liebe und Wohlwollen nur zu einem kleinen Teile die Beweggründe sind, viel mehr sind es selbstsüchtige Motive, die diesem Trachten nach Geselligkeit oder Gesellschaft zugrunde liegen. Aber die selbstsüchtigen Motive - die sind eben gleich der angeborenen Natur des Menschen - führen viel eher und öfter zu Zank und Streit, ja offenem Kampf und Krieg, als zu Eintracht, Gehorsam, Friede; ja, die friedlichen Verhältnisse selber, z. B. zwischen Mann oder Weib, Eltern oder Kindern, werden leicht durch Zwietracht, Herrschsucht, Auflehnung zerrissen, sie enthalten im Naturzustande keine Gewähr der Dauer, keine des dauernden Friedens, also keine der Sicherheit vor feindlichen Angriffen, wonach der vernünftige Mensch, wenn er nicht mit sich selber streiten will, unbedingtes Verlangen tragen muss. („Wer also meint, in dem Zustande, wo allen alles freisteht, bleiben zu sollen, widerspricht sich selber," De cive I, 13). Dies Bedürfnis wird nicht befriedigt durch Verträge, in denen jeder dem andern gegenüber selbständig bleibt, die jeder brechen wird, sobald es ihm vorteilhaft scheint; es genügt nicht, dass etwa durch gegenseitige Furcht bewogen die Menschen zu der Meinung gelangen, es sei besser, aus dem allgemeinen Kriegszustande herauszugehen und ihn dadurch zu mildern, dass man mit Gewalt oder durch Uebereinkunft, Bundesgenossen suche; auch durch Gewaltherrschaft, der sich die Vergewaltigten immer zu entziehen streben werden, kann man sich dauernd nicht erhalten; sondern allein durch die Konstituierung eines Gemeinwesens, dessen eingesetzter, von allen als rechtmässig anerkannter Behörde die Verbundenen („alle") freiwillig und in Erkenntnis ihres gemeinsamen Nutzens sich unterwerfen. Ein solches Gemeinwesen ist seiner Verfassung nach ein Kunstwerk; der dadurch hergestellte bürgerliche Zustand ist ein künstlicher Zustand; er kann vielleicht nie in Vollkommenheit und jedenfalls nur von kultivierten Menschen geschaffen werden, die durch Bildung (disciplina heisst es in der besprochenen ersten Anmerkung) oder Erziehung (education, dies Wort steht in der von Hobbes selber herausgegebenen englischen Übersetzung

17 „Wer also meint ... widerspricht sich selber,": Vgl. Hobbes (1696: 15; 1839a: 166 und 1983: 96): „Quicumque igitur manendum in eo statu censuerit, in quo omnia liceant omnibus, contradicit sibimet ipsi". 33 besprochenen ersten Anmerkung: Vgl. in diesem Band S. 547 f.

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jener Anmerkung) gelernt haben, ihr wahres Wohl zu erkennen und auf die Zukunft bedacht zu sein. („Also kommen sie, die über das gegenwärtige Gute nicht übereinkommen konnten, über das zukünftige überein, und dies ist das Werk der Vernunft, denn das Gegenwärtige wird durch die Sinne, Zukünftiges nur durch die Vernunft wahrgenommen," heisst es De cive III, 31). Wie hier durch Zitate angedeutet, und wie der aufmerksame Leser sonst gewahrt, sind die meisten Stücke dieses Gedankengangs als Bruchstücke wirklich vorhanden, aber sie sind im Text und in den Anmerkungen nicht in gehöriger Weise zusammengefügt, sie sitzen schief aufeinander. Warum? Weil der Schlussstein fehlt: die deutliche und vollkommene Unterscheidung des Gemeinwesens, nicht nur von irgendwelcher Gesellschaft und Geselligkeit überhaupt, sondern auch von grossen und dauerhaften Gesellschaften, von Bündnisverhältnissen, von allen sozialen Zuständen, die auch im Naturzustande möglich sind und tatsächlich vorkommen, die als solche zum Naturzustande gehören. Warum? 7. Ich habe in der Monographie (2te Auflage S. 192 ff.) dargelegt, dass erst allmählich „der abstrakt rationelle Charakter der Theorie im eigenen Bewusstsein ihres Urhebers sich vollendet hat" (S. 199). „Wenn er zunächst noch an das Wesen der empirischen Staaten gedacht hatte, so war (diese) definitive Gestaltung aus der klaren Einsicht erwachsen, dass es um die Idee eines vernünftigen und richtigen Staates sich handle, wie weit auch immer die wirklichen so genannten Staaten davon abweichen mögen" (ib.). Ich habe auch nachgewiesen, dass diese Vollendung des Gedankens erst im Leviathan vorliegt, wenn gleich auch an diesem Werke noch Reste der ursprünglichen Absicht, die wirklichen Staaten beschreibend zu erklären, haften geblieben sind. Aber erst mit dieser Fassung „tritt der Staat in den Vordergrund" (1. c. S. 193); in der ersten war der Begriff des Rechtes, in der andern der des Bürgers zugrunde gelegt. Ich habe auch gezeigt, dass der Fortschritt des Gedankens durchaus an der Betonung des

i von Hobbes

selber

herausgegebenen

englischen

Übersetzung

jener

Anmerkung:

Vgl.

Hobbes 1 8 4 1 : 2, Anm. und 1983a: 4 4 . - Zur Authentizität jener Übersetzung siehe oben die editorische Anmerkung zu S. 5 4 7 , Zeile 2 5 . 5 „Also kommen

sie ... durch die Vernunft

wahrgenommen,"-.

Vgl. Hobbes ( 1 6 9 6 : 5 7 ;

1 8 3 9 a : 197 und 1 9 8 3 : 120): „Qui igitur de bono prassend convenire non poterant, conveniunt de futuro; quod quidem opus rationis est, nam prcesentia sensibus, futura non nisi Ratione percipiuntur". 18 „der abstrakt rationelle Charakter ... sich vollendet hat": In der Quelle (Tönnies 1 9 1 2 a : 199) heißt es: „ . . . der abstrakt rationale Charakter . . . " . - Im nachfolgend zitierten Satz heißt es: „... so war diese definitive Gestaltung . . . " .

Hobbes und das Zoon Politikon

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Staates als einer Person hängt, die in De cive entschiedener geworden, erst im Leviathan sich völlig durchgesetzt hat. Hier erst gelangt die Theorie zu reiner Geltung, dass das Wesen der Person in der Repräsentation (der eigenen Worte oder Handlungen eines oder mehrerer Menschen, oder sonst eines Wesens, dem sie, sei es eigentlich oder durch Fiktion, beigelegt werden) gelegen sei, und dass eine natürliche Person nur die sich selbst repräsentierende sei, sonst aber immer eine fingierte oder künstliche Person der Repräsentant anderer Willen und Interessen. Schon in meiner Abhandlung von 1880 hatte ich darauf hingewiesen, dass erst im Leviathan der Begriff des Staates als eines Kunstwerkes deutlich hervortritt, und dass er seine eigene Lehre hier mit den Regeln der Baukunst vergleicht. Dagegen ist die Prüfung der Frage, ob der Mensch von Natur gesellig oder ungesellig sei, völlig zurückgetreten. Vom zoon politikon ist nicht mehr die Rede; die ganze daran angeknüpfte Erörterung über die ausschliesslich egoistische Natur des Menschen fehlt. Es wird freilich wiederholt: die Menschen haben kein Vergnügen, sondern recht viel Ärger davon, einander Gesellschaft zu leisten, wo keine Macht vorhanden ist, sie alle in Furcht zu erhalten. Aber neben den drei grossen Ursachen des Streites in der menschlichen Natur: 1. Wettbewerb, 2. Misstrauen, 3. Eitelkeit findet er nunmehr doch ebensoviele Affekte (passions), die den Menschen zum Frieden geneigt machen, nämlich 1. Todesfurcht, 2. Verlangen nach den Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind, 3. Hoffnung, durch Betriebsamkeit solche Sachen zu erlangen. Das äusserlich verstandene Problem der Möglichkeit des Überganges aus dem Natur- oder Kriegszustand in den bürgerlichen Friedenszustand, also auch die historische Frage nach dergleichen Ereignissen, verschwindet somit fast völlig. Das Problem verinnerlicht sich: latent ist der Krieg aller gegen alle immer vorhanden, wo Konkurrenz, Misstrauen, Eitelkeit vorherrschen; von jeher wirken diesen Motiven andere Motive entgegen, deren Übergewicht etwa erst in dem vollkommenen, d. h. unserer Lehre und ihren Regeln gemäss aufgebauten Staate sich vollenden würde, bis dahin mit Mängeln und den Gefahren des Rückfalles behaftet bleibt. Dahin deuten mehrere gewichtige Stellen, die ich in der Monographie (2. Auflage S. 199 ff.) zusammengestellt habe. 8. Für den Fortschritt des Gedankens ist es auch merkwürdig, die Aussagen über den Krieg aller gegen alle in den 3 Fassungen zu vergleichen.

9 meiner Abhandlung von 1880: Vgl. Tönnies 1879-81. 33 Monographie: Vgl. Tönnies 1912b.

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In der ersten (Elements of Law) heißt es (Ch. 14, 11): „Der Zustand der Menschen in dieser natürlichen Freiheit ist der Zustand des Krieges. Denn Krieg ist nichts anderes als die Zeit, worin der Wille und die Absicht, mit Gewalt zu streiten, entweder durch Worte oder durch Handlungen, hinlänglich erklärt worden ist; und die Zeit, worin kein Krieg ist, heisst ,Friede'". Dann (12): „Da der Zustand der Feindseligkeit und des Krieges so beschaffen ist, dass die Natur selber dadurch zerstört wird, und die Menschen einander töten" - hier folgt eine lange Parenthese, die diesen Zustand als durch Geschichte und Erfahrung beglaubigt darstellt: „wie wir auch wissen, dass er es ist, sowohl durch die Kunde von wilden Völkerschaften, die heute leben, als durch die Geschichten von unsern Vorfahren, den alten Bewohnern von Deutschland und anderen jetzt zivilisierten Ländern, wo wir die Menschen gering an Zahl und kurzlebig finden, auch ohne die Zierden und Annehmlichkeiten des Lebens, die durch Frieden und Geselligkeit erfunden und beschafft zu werden pflegen" - , dann die Folgerung: „so widerspricht, wer in einem solchen Zustande zu leben wünscht, sich selber. Denn jeder wünscht, gemäss natürlicher Notwendigkeit sein eigenes Wohl usw." - Wie schon bemerkt wurde, fehlt noch der Ausdruck „Krieg aller gegen alle." In De cive ist die Definition von Krieg und Frieden wörtlich wiederholt. Hinzugefügt wird, dass und warum der Krieg seinem Wesen nach ewig sei: 6 „Der Zustand der Menschen ... heisst friede'".: Vgl. Hobbes (1889a: 73 und 1926: 99): „... the estate of men in this natural liberty is the estate of war. For war is nothing else but that time wherein the will and intention of contending by force is either by words or actions sufficently declared; and the time which is not war is peace". Das fehlende Zitatendezeichen nach .Friede' wurde durch dessen ursprünglich zeichenidentische Hervorhebung übersehen; hier korrekt dargestellt. 18 „Da der Zustand der Feindseligkeit... sein eigenes Wohl usw.": Vgl. Hobbes (1889a: 73 und 1926: 99): „The estate of hostility and war being such, as thereby nature itself is destroyed, and men kill one another (as we know also that it is, both by the experience of savage nations that live at this day, and by the histories of our ancestors, the old inhabitants of Germany and other now civil countries, where we find the people few and short lived, and without the ornaments and comforts of life, which by peace and society are usually invented and procured): he therefore that desireth to live in such an estate, as is the estate of liberty and right of all to all, contradicteth himself. For every man by natural necessity desireth his own good, to which this estate is contrary, wherein we suppose contention between men by nature equal, and able to destroy one another". 20 In De cive: Vgl. Hobbes (1696: 14; 1839a: 166 und 1983: 96 [I, 12]): „... negari non potest, quin status hominum naturalis antequam in societatem coiretur, Bellum fuerit; neque hoc simpliciter, sed bellum omnium in omnes. BELLUM enim quid est, praeter tempus illud in quo voluntas certandi per vim verbis factisve satis declaratur? Tempus Reliquum PAX vocatur".

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bei der wesentlichen Gleichheit der Streitenden gibt es keinen letzten Sieg; „schliesslich stirbt keiner eines natürlichen Todes". Als Beispiel dafür bietet uns das gegenwärtige Jahrhundert die Amerikaner; frühere Jahrhunderte die andern Völker, die jetzt freilich kultiviert und blühend sind, damals aber gering an Zahl, wild, kurzlebig, armselig, scheusslich, aller jener Erleichterung und Ausschmückung des Lebens entbehrend, die Friede und Geselligkeit zu gewähren pflegen". Dieser Zustand sei aber nicht Krieg schlechthin, sondern Krieg aller gegen alle (cap. I, 12). Hier die Anwendung des Begriffes auf die geschichtliche Entwicklung. Leviathan erläutert das Wesen des Krieges näher: der Begriff der Zeit müsse dabei erwogen werden; wie beim Wesen des Wetters. „Denn wie die Natur des schlechten Wetters nicht in einem oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer mehrere Tage dauernden Neigung dazu; so die Natur des Krieges nicht im tatsächlichen Kämpfen, sondern in der bekannten Neigung dazu während aller Zeit wo keine Versicherung für das Gegenteil besteht." „Alles daher, was folgt aus einer Zeit des Krieges, worin jedermann Feind jedermanns ist, das folgt auch aus einer Zeit, worin die Menschen ohne andere Sicherheit leben, als ihre eigene Stärke und ihre eigene Erfindung ihnen verschaffen wird." Im Anschluss daran wird ausgeführt, dass der Zustand der Unkultur, worin es keine andere Sicherheit gebe, als durch eigene Kraft und eigene Erfindung die Menschen sich zu geben vermögen, einem Kriegszustand, worin jeder Mensch jedes Menschen Feind, analog sei: alles was sich ergebe aus einer Zeit wie dieser, 2 „schliesslich stirbt keiner eines natürlichen Todes": Vgl. Hobbes (1983: I, 13): „... in eo enim ipsis victoribus periculum semper adeö imminet, ut pro miraculo haberi debeat, si quis, quamquam fortissimus, annis &C senectute conficiendus sit". 7 Als Beispiel dafür ... Geselligkeit zu gewähren pflegen": Vgl. Hobbes (1696: 14 f.; 1839a: 166 und 1983: 96 [I, 13]): „Exemplum huic rei sseculum praesens Americanos exhibet; ssecula antiqua caiteras gentes, nunc quidem civiles florentesque, tunc verö paucos, feros, brevis aevi, pauperes, feedos, omni eo vitas solatio atque ornatu carentes, quem pax & societas ministrare solent". Der Zitatbeginn ist im Original nicht markiert. 8 (cap. I, 12): Richtig ist: I, 12 f. 16 „Denn wie die Natur ... Gegenteil besteht.": Vgl. Hobbes (1839: 113 und 1994: 76 [1,13, 8]). „For as the nature of foul weather, lieth not in a shower or two of rain; but in an inclination thereto of many days together: so the nature of war, consisteth not in actual fighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary". 19 „Alles daher, was ... verschaffen wird.": Vgl. Hobbes (1983: I, 13, 9): „Whatsoever therefore is consequent to a time of war, where every man is enemy to every man; the same is consequent to the time, wherein men live without other security, than what their own strength, and their own inventions shall furnish them withal".

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ergebe sich auch aus einer Zeit von jener Art. In solchem Zustande gebe es kein Gewerbe, folglich keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, also keinen Gebrauch überseeischer Waren, keine mechanischen Mittel, Dinge fortzubringen; keine Kenntnis vom Antlitz der Erde, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine Gesellschaft; und was von allem am schlimmsten, beständige Furcht und Gefahr gewaltsamen Todes; das menschliche Leben daher einsam, armselig, hässlich, roh und kurz. - Merkwürdig ist, dass früher (in der Widmungsepistel von De cive, die in unseren Ausgaben das Datum Nov. 1. 1646 trägt, aber schon in dem Druck von 1642, dort mit der Jahreszahl 1641, sich findet) eine ähnliche Schilderung der Kultur diese „beinahe ganz" als wohltätige Wirkung der Geometrie preist, „denn was wir der Physik verdanken, das verdankt die Physik wiederum der Geometrie"; und in Lev. (I, 4) nennt er die Geometrie die einzige Wissenschaft, die es bisher Gott gefallen habe den Menschen zu verleihen. Damit werde verglichen, dass er mehrmals von der Anerkennung und Verwirklichung seiner moralisch-politischen Prinzipien, also von der wahren Staatslehre eine höhere und dauerhaftere Kultur erwartet; ausser in jener Epistel (wo er fortfährt: „Wenn die Moralphilosophen ihre Aufgabe eben so glücklich erfüllt hätten, so sehe ich nicht, was menschliche Beflissenheit weiter zur menschlichen Glückseligkeit in diesem Leben beitragen könnte") und in den erwähnten Stellen des Leviathan, am kräftigsten vielleicht in einer späten mathematischen Schrift (Principia et problemata aliquot geometrica 1674 Opp. latina ed. Molesw. V, 202) mit den Worten: „Den grössten Dank widmen alle Menschen übereinstimmend denjenigen, welche zuerst die Leute veranlasst haben, sich zu vereinigen und Verträge in dem Sinne zu schliessen, einer höchsten Gewalt gehorchen zu wollen. Ich aber werde den nächstgrossen Dank denjenigen wissen, welche dieselben 8 Widmungsepistel

von De cive: Vgl. Hobbes 1696: *6, sowie die Varianten in 1 9 8 3 : 76.

13 „denn was wir der Physik ... der Geometrie":

Vgl. Hobbes (1696: vor *4; 1839a: 137 und

1 9 8 3 : 74 [5]). „Et Geometra: quidem provinciam suam egregiè administraverunt. Quicquid enim humanse vitae auxilii contingit à siderum observatione, à terrarum descriptione, à temporum notatione, à longinquis navigationibus; quicquid in sedificiis pulchrum, in propugnaculis validum, in machinis mirabile est; quicquid denique hodiernum tempus à prisca barbarie distinguit, totum ferè beneficium est Geometria. debemus, id debet Physica eidem

Nam quod Physicte

Geometria".

13 Lev. (I, 4): Vgl. Hobbes 1 8 3 9 : 2 3 f. und 1 9 9 4 : 19 [I, 4, 12], 21 „Wenn

die Moralphilosophen

... Leben

beitragen

könnte":

Vgl. Hobbes (1696:

*4;

1839a: 1 3 7 und 1 9 8 3 : 74). „Si Philosophi morales munere suo pari felicitate functi essent, non video, ad felicitatem suam in hac vita quit amplius contribuere humana industria posset".

Hobbes und das Zoon Politikon

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Menschen überreden werden, dass sie ihre Verträge nicht verletzen." Ein gewisses Schwanken zwischen dem Vertrauen auf die etablierte Staatsgewalt - welchen Ursprunges auch immer (denn in allen Fassungen gibt es für Hobbes ausser dem Gemeinwesen „durch Institution" auch die patriarchalische und despotische Herrschaft, der er die gleiche Macht und das gleiche Recht zuschreibt, wie dort dem Inhaber der Souveränität) - und dem stärkeren Vertrauen auf die zunehmende Einsicht und die Wirkungen wissenschaftlicher Erkenntnis, ist an mehreren Stellen bemerkbar; die Gewalt behält immer ihre entscheidende Bedeutung, aber die Forderung gewinnt erhöhte Geltung, dass sie von der aufgeklärten und, wie man heute sagen würde, der „öffentlichen Meinung" als einem Ausdruck gemeinsamen Willens, getragen werde. - Überdies würde in strenger Durchführung der Grundbegriffe die patriarchalische und despotische Herrschaft unbedingt zum Naturzustande gehören; ich erinnere an das „avidius ferrentur homines natura sua ad dominationem quam ad societatem," De cive I, 2. 9. Der Gedanke aber, dass der Krieg aller gegen alle nicht sowohl oder nicht allein als der vorstaatliche Zustand, sondern auch oder sogar wesentlich als ein Zustand innerhalb des bürgerlichen, geordneten, friedlichen Zustandes gedacht werden müsse, klingt schon in De cive an; jedoch nicht im Texte selber, sondern in der später geschriebene Vorrede (ad lectores), und soll zum Beweise des „obersten Grundsatzes", den jedermann bekenne, dienen, dass die Anlagen der Menschen von Natur so beschaffen seien, dass sie, wenn nicht durch die Furcht vor einer gemeinsamen Macht in Schranken gehalten, einander gegenseitig misstrauen und einander fürchten, so dass jeder seinen eigenen Kräften nach Vorsichtsmassregeln zu treffen befugt sei und es auch notwendigerweise wolle. „Ihr werdet vielleicht einwenden, dass einige dies leugnen. So ist es allerdings: gar viele leugnen es sogar. Widerspreche ich denn nicht mir selber, wenn ich sage, dass dieselben Leute dieselbe Sache sowohl eingestehen als leugl „Den grössten Dank ... Verträge nicht verletzen.":

Vgl. Hobbes ( 1 8 4 5 : 2 0 2 ) : „Maximas

quidem deberi gratias consentiunt omnes illis, qui hominibus authores primi erant ut se consociarent unique potestati summae obedire inter se paciscerentur. Proximas habebo illis, qui eosdem homines pacta sua ne violare velint persuadebunt". 15 „avidius ferrentur

... ad societatem,":

Vgl. Hobbes ( 1 6 9 6 : 5 f. und 1 8 3 9 a : 1 6 1 ) . Frisch-

eisen-Köhler übersetzt: „Zwar können die Annehmlichkeiten dieses Lebens durch gegenseitige Unterstützung vermehrt werden; allein dies kann viel besser durch die Herrschaft über andere als durch die Verbindung mit ihnen erreicht werden; daher treibt unzweifelhaft jedes Menschen Natur, soweit die Furcht ihn nicht hindert, zur Herrschaft und nicht zur Gesellschaft" (Hobbes 1 9 1 8 : 8 2 f.).

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Schriften

nen? Nein. Nicht ich widerspreche mir, wohl aber jene, die eben das, was sie durch ihre Handlungsweise einräumen, durch ihre Redeweise verleugnen. Wir sehen, dass alle Staaten, auch wenn sie mit ihren Nachbarn Frieden haben, ihre Grenzen doch mit militärischen Stationen, ihre Städte mit Mauern, Toren, Wachen beschützen. Wozu das wohl, wenn sie von ihren Nachbarn nichts fürchteten? Ja, wir sehen auch innerhalb der Staaten, w o es doch Gesetze gibt, wo Strafen gegen die Bösen festgesetzt sind, dass gleichwohl die einzelnen Bürger weder auf Reisen gehen ohne Waffen zu ihrer Verteidigung, noch auch nur sich schlafen legen, ohne nicht nur ihre Türen zu verschliessen gegen ihre Mitbürger, sondern sogar ihre Schreine und Truhen gegen ihre Hausgenossen. Weil aber alle es so machen, gestehen sowohl Staaten, als Einzelmenschen ihr gegenseitiges Misstrauen und ihre gegenseitige Furcht. Im Meinungsstreit aber leugnen sie es, will sagen, im Eifer, andern zu widersprechen, widersprechen sie sich selber." In anderem Zusammenhang, und mitten im Texte des Kapitels, das die „natürliche Lage der Menschheit behandelt", bringt Leviathan diesen Gedanken. Die Schlussfolgerung, die aus den Affekten abgeleitet wurde, soll aus der Erfahrung bestätigt werden. „Möge daher, wer die Deduktion bezweifelt, bei sich selbst erwägen: wenn er, beim Antritt einer Reise, sich bewaffnet und um gutes Geleite sich bemüht; wenn er, beim Schlafenge15 „Ihr werdet vielleicht einwenden ... widersprechen sie sich selber."-. Vgl. (Hobbes 1696 [nicht paginiert] und ders., 1839a: 146 f. und 1983: 80 [10-11]): „Talem ergo Methodum secutus; Pono primo loco pro Principio ómnibus per experientiam noto, quodque nemo est qui non confiteatur, nimirum, Ingenia hominum ejusmodi esse ä natura, ut, nisi metu potentije alicujus communis coerceantur, fore ut sibi invicem diffidant 8c sese mutuo metuant, 8c ut propriis viribus singuli sibi cavere, cum jure possint, tum necessariö velint. Objicietis fortasse, nonnullos hoc negare. Ita verö est: permulti enim negant. Numnam igitur, qui eosdem idem &c fateri Se negare dico, mecum ipse pugno? Minimé quidem ego, sed illi qui, quod actionibus confitentur, id ipsum oratione negant. Videmus, civitates omnes, etiamsi cum vicinis pacem habeant, fines tamen suos prassidiis militum, urbes moenibus, portis, vigiliis tueri. Quorsum hsec, si a vicinis nihil metuerent; Videmus etiam in ipsis civitatibus, ubi leges sunt 8c pcense in malos constituías, cives tamen singulares ñeque in itinere esse sine telo sui defendendi causa, ñeque dormitum iré nisi obseratis non modo foribus contra concives, sed etiam arcis capsulisque contra domésticos. Possuntne homines, sibimet invicem omnesque ómnibus diffidere sese apertius significare; Quoniam autem omnes sie faciunt, tam civitates quam homines metum suum &c diffidentiam mutuam confitentur. Inter disputandum autem negant, hoc est, studio contradicendi aliis, contradicunt sibimet ipsis". 17 Kapitels, das die „natürliche Lage der Menschheit behandelt": Gemeint ist Kapitel I, 13 von Hobbes 1839 (110 ff. ) bzw. ders., 1994 (74 ff.): „Of the natural condition of mankind as concerning their felicity, and misery".

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Hobbes und das Zoon Politikon

hen, seine Türen verriegelt; wenn er sogar im Hause seine Schränke verschliesst; und das, obschon er weiss, es gibt Gesetze, gibt öffentliche Beamte, bewaffnet, um alle Unbill zu rächen, die ihm widerfahren mag welche Meinung er habe von seinen Mituntertanen, wenn er bewaffnet reitet; welche von seinen Mitbürgern, wenn er seine Türen zuschliesst; welche von seinen Kindern und Dienstboten, wenn seine Schränke? Klagt er da nicht ebenso stark die Menschheit an durch seine Handlungen wie ich es tue durch meine Worte?" - In unmittelbarem Anschluss daran macht Hobbes das Zugeständnis, dass eine Zeit oder ein Zustand des allgemeinen Krieges niemals allgemein, „über die ganze Welt hin," gewesen sei; wohl aber gebe es viele Orte, wo man jetzt so lebe. Nach erneutem Hinweis auf die Wilden Amerikas, wo aber die Ausnahme der „Regierung kleiner Familien, deren Eintracht von natürlichen Lustgefühlen abhänge," zugelassen wird, folgt dann der für die begriffliche Erkenntnis kennzeichnende Satz: „Wie dem auch sei, es kann erschlossen werden, was für eine Art von Leben sein würde, wo keine gemeinsame Macht zu fürchten wäre, aus der Lebensweise, worin Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung lebten, zu entarten pflegen in einem Bürgerkriege." Ebenso in der Polemik von 1656 über die Willensfreiheit gegen den Bischof Bramhall (Nr. XIV, Engl. Works V, p. 183): „es gibt daher zu allen Zeiten Mengen gesetzloser Menschen". Endlich wird dann wieder als entscheidend („Auch 8 „Möge

daher, wer die Deduktion

bezweifelt,

... durch meine

Worte?"-. Vgl. Hobbes

(1839: 1 1 4 und 1 9 9 4 : 7 7 [I, 13, 10]): „Let him therefore consider with himself, when taking a journey, he arms himself, and seeks to go well accompanied; when going to sleep, he locks his doors; when even in his house he locks his chests; and this when he knows there be laws, and public officers, armed, to revenge all injuries shall be done him; what opinion he has of his fellow-subjects, when he rides armed; of his fellow citizens, when he locks his doors; and of his children, and servants, when he locks his chests. Does he not there as much accuse mankind by his actions, as I do by my words?". 10 „über die ganze Welt hin,": Vgl. Hobbbes (1994: I, 13, 11): „It may peradventure be thought, there was never such a time, nor condition of war as this; and I believe it was never generally so, over all the world: but there are many places, where they live so now". 13 „Regierung

kleiner Familien ... Lustgefühlen

abhänge,":

Vgl. ebd.: „For the savage people

in many places of America, except the government of small families, the concord whereof dependeth on natural lust, have no government at all; and live at this day in that brutish manner, as I said before". 18 „Wie dem auch sei ... in einem Bürgerkriege.":

Vgl. Hobbes ( 1 8 3 9 , 1 1 4 f. und 1 9 9 4 : 7 7

[I, 13, 11]): „Howsoever, it may be perceived what manner of life there would be, where there were no common power to fear, by the manner of life, which men that have formerly lived under a peaceful government, use to degenerate into, in a civil war". 21 „es gibt daher

... gesetzloser

Menschen":

Vgl. Hobbes ( 1 8 4 1 a : 184): „ . . . there are

therefore almost at all times multitudes of lawless men".

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Schriften

wenn es niemals eine Zeit gegeben hätte, worin einzelne Menschen in einem Kriegszustande einer gegen den andern gewesen wären") das Beispiel des Verhältnisses der Völker gegeneinander herangezogen oder (genauer hier) der Könige und anderer Personen von souveräner Autorität, die wegen ihrer Unabhängigkeit in fortwährenden Eifersüchten und im Stande und der Auslage von Gladiatoren zueinander stünden, „indem sie ihre Waffen gezielt und ihre Augen scharf aufeinander gerichtet halten, d. i. ihre Festungen, Garnisonen und Kanonen auf die Grenzen ihres Reichs, und beständige Kundschafter wider ihre Nachbarn, das aber ist eine Haltung des Krieges". Sonderbar der Zusatz: „Aber weil sie dadurch den Gewerbefleiss ihrer Untertanen aufrecht erhalten, so folgt daraus nicht jenes Elend, das die Freiheit von Einzelmenschen begleitet." Es wäre wohl damals sowohl als heute Grund vorhanden gewesen, die elende Lage der Staaten als solcher - Hobbes schrieb in der Zeit des Ausganges jener deutschen Kriege, die wir als 30jährigen Krieg zusammenfassen - in Analogie zur Lage der Individuen in einem Zustande der Anarchie darzustellen. Es waren freilich die stehenden Heere noch in den Anfängen ihres Daseins. Völlig in die Ebene der Parallele gehört die Ansicht des natürlichen Völkerrechts als einer Anwendung des allgemeinen Naturrechts, sofern es auf den vernünftigen Begriff der Gleichheit und des zu erstrebenden Friedens sich gründet. So schon in Elements die letzte Zeile (P. II, Ch. 10), De cive c. XIV, 4 (etwas ausführlicher), Leviathan P. II, 30. 10. An Zeichen, dass Hobbes seinen eigenen Begriff als ein blosses hypothetisches Schema, ein zum Vergleich mit dem Gegenbilde erfundenes Gedankengebilde erkannt hat, fehlt es auch sonst nicht völlig. Einer seiner französischen Korrespondenten dankt ihm unter dem 4. Januar 1 6 5 7 für

10 „indem sie ihre Waffen ... Haltung des Krieges": Vgl. Hobbes ( 1 8 3 9 : 115 und 1 9 9 4 : 78 [I, 13, 12]): „But though there had never been any time, wherein particular men were in a condition of war one against another; yet in all times, kings, and persons of sovereign authority, because of their independency, are in continual jealousies, and in the state and posture of gladiators; having their weapons pointing, and their eyes fixed on one another; that is, their forts, garrisons, and guns upon the frontiers of their kingdoms; and continual spies upon their neighbours; which is a posture of war". 12 „Aber

weil sie dadurch

... Einzelmenschen

begleitet.":

Vgl. ebd.: „But because they

uphold thereby, the industry of their subjects; there does not follow from it, that misery, which accompanies the liberty of particular men". 21 in Elements die letzte Zeile: Vgl. Hobbes 1889a: 190. 22 De cive c. XIV, 4: Vgl. Hobbes 1 6 9 6 : 2 2 5 ; 1839a: 3 1 6 und 1 9 8 3 : 2 0 7 f. 22 Leviathan P. II, 30: Vgl. Hobbes 1 8 3 9 : 3 2 2 ff. und 1 9 9 4 : 2 1 9 ff.

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eine Antwort, die er auf seine Einwürfe erhalten hat 1 . Er sagt dann: Je trouve que vous ne me figurez pas assez justement Testat de Nature par les exemples des soldats qui servent dans divers partis, et des massons qui travaillent sous de differents Architectes. Meine Deutung geht dahin, dass Hobbes mit diesen Beispielen sage wollte: überall, wo die Menschen nicht unter dem gleichen Kommando stehen, nicht unter ein und derselben Verfassung leben, stellt sich etwa heraus, was dem Naturzustande analog ist: nämlich, dass die Menschen einander nichts angehen wollen, einander fremd sind und potentiell feindselig gegeneinander. Ob die Beispiele glücklich gewählt waren, bezweifle ich mit jenem Franzosen. Vielleicht hat Hobbes nochmals geantwortet und sich deutlicher ausgesprochen. Vielleicht ist er auch einmal in einer brieflichen Erörterung auf das zoon politikon zurückgekommen. (Dass von den vielen Briefen, die er nach Frankreich geschrieben hat, noch etliche in einer Provinzialbibliothek aufbewahrt werden, ist nicht ausgeschlossen; in den Pariser Bibliotheken habe ich, mit Erfolg, nachgeforscht, vgl. „Siebzehn Briefe von Th. Hobbes an Samuel Sorbiere u. a." im Archiv f. Geschichte der Philosophie III. Band 1. u. 2. H., 1898). Dass er in dieser Hinsicht inbezug auf das aristotelische Diktum - zu einer andern Ansicht oder Einsicht gekommen ist, halte ich für unzweifelhaft. Diese Erkenntnis musste reifen, je mehr ihm der „Staat als Kunstwerk" - das Thema des ersten Buches in Burckhardts berühmter „Kultur der Renaissance" - zum Bewusstsein kam, und darauf hatte eben die Nachprüfung jener Eingangserörterung in De cive ihn geführt! Allerdings steht der Satz des antiken

1

Aus diesen Briefen - die Gegenbriefe des Hobbes scheinen verloren gegangen zu sein, wenigstens fehlt bisher jede Spur - habe ich im J. 1878 im Devonshireschen Jagdschlosse Hardwicke, wo Hobbes am 4. Dez. 1 6 7 9 gestorben ist, einige Auszüge gemacht. Sie werden dort mit einigen anderen Reliquien des Philosophen unter dem Namen „The Hobbes papers" aufbewahrt.

4 Je trouve que ... de differents Architectes:

(franz.) svw. „Ich glaube, daß Sie mir den

Naturzustand durch die Beispiele der Soldaten, die verschiedenen Parteien dienen, und der Maurer, die unter verschiedenen Architekten arbeiten, nicht gerade ausreichend dargestellt haben.". - Der Brief von François Peleau aus Bordeaux an Hobbes liegt gedruckt vor in Hobbes 1994a, 1: 4 2 2 f., Nr. 110. 16 „Siebzehn

Briefe ... Sorbiere

u. a."-. Vgl. Tönnies 1889a. Die richtige Schreibweise ist

Sorbière; das Veröffentlichungsdatum 1 8 9 0 . 21 „Kultur der Renaissance":

Vgl. den ersten Abschnitt in Burckhardt, 1 8 6 0 : „Der Staat als

Kunstwerk". 28 „The Hobbes papers":

Zum Verbleib des Nachlasses und der erhaltenen Briefe von und

an Hobbes vgl. Hobbes 1 9 9 4 a .

562

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Denkers, dass die polis physei und dass der Mensch physei ein für die polis teleologisch angelegtes Lebewesen sei (dies ist ja der eigentliche Sinn des berühmten Diktums), der Idee des Kunstwerk-Staates anscheinend unversöhnbar gegenüber; anscheinend - in Wirklichkeit zeigen jene Stellen des Leviathan, dass Hobbes seine Denkmittel allerdings dahin erweitert hatte, die empirische Lehre von den wirklichen Staatsgebilden als unvollkommenen und mangelhaften Gebäuden mit der Theorie vom Gegenstande und den Regeln einer richtigen politischen Bau-Kunst zu vereinigen - und eine fortschreitende Annäherung an das Ideal für möglich zu halten: „Zeit und Arbeit bringen alle Tage neue Erkenntnis hervor" ... „lange nachdem die Menschen begonnen haben, Gemeinwesen einzurichten, unvollkommene und geneigt, in Unordnung zurückzufallen, können durch emsiges Nachdenken Grundsätze der Vernunft ausfindig gemacht werden, um ihren Bestand dauernd zu machen, ausgenommen durch Gewalt von aussen her" (Tönnies, Th. Hobbes 2 S. 189). Man vergleiche (daselbst) die Ausführung, warum er besorge, seine Arbeit möge so nutzlos sein wie die Republik des Plato, dass er aber doch Hoffnung hege, sie möge einmal in die Hände eines Souveräns fallen, der durch öffentliche Unterweisung in dieser Lehre dahin wirke, die Wahrheit ihrer Spekulation in den Nutzen der Praxis zu verwandeln! Ganz allgemein würde Hobbes sagen dürfen, er halte die antike Antithese der Dinge, die physei und derer, die nomo oder thesei seien, nicht für absolut gültig; in Wahrheit gelte sie nur, insofern das im letzteren Sinn Gedachte eben als Konstruktion, als abstrakter Begriff gedacht werde; in der Wirklichkeit gehöre die Kunst und Kunstübung zur menschlichen Natur, die eben durch die Fähigkeit des Denkens von der tierischen sich abhebe 2 . In der 2

„We speak of art as distinguished from nature; but art itself is natural to man," Ferguson, An essay on the history of civil society, p. 10 ed. Basil. 1789. l Satz des antiken Denkers: Vgl. Aristoteles' Politik ( 1 2 5 3 a 1 ff.); in der Übersetzung Rolfes' heißt es: „Hieraus erhellt sich also, daß der Staat zu den von Natur bestehenden Dingen gehört und der Mensch von Natur ein staatliches Wesen ist . . . " (Aristoteles 1 9 8 1 : 4).

14 „Zeit und Arbeit ... Gewalt von aussen her": An der zitierten Stelle (Hobbes, zit. nach Tönnies 1912a: 189) heißt es: „... können, sage ich, durch emsiges Nachdenken . . . " . Dort ist der erste Zitatbrocken gesperrt. - „Time and industry, produce every day new knowledge. ... long time after men have begun to constitute commonwealths, imperfect, and apt to relapse into disorder, there may principles of reason be found out, by industrious meditation, to make their constitution, excepting by external violence, everlasting." (Hobbes 1839: 3 2 4 f.; vgl. ders., 1 9 9 4 : 2 2 0 f. [II, 30, 5]). 15 Man vergleiche

(daselbst) die Ausführung:

Die hier paraphrasierte Passage aus dem

Leviathan (Hobbes 1 9 3 9 : 3 5 7 f.; vgl. ders., 1994: 2 4 3 [II, 31, 41]) zitiert Tönnies in „seinem" Hobbes (Tönnies 1912b: 1 8 9 f.).

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Doktrin selbst ist, wie ich wiederum hervorhebe, dieser Gedanke nicht zur entschiedenen Durchführung gelangt: die ursprüngliche Anlage wirkte zu stark nach, wie dies insbesondere auch in der Erörterung über die sozialen Tiere (Bienen und Ameisen) zutage tritt, die in allen drei Fassungen sich findet, und worin ausser mehreren anderen Merkmalen, die den Menschen unterscheiden und seine natürliche Eintracht hemmen, zuletzt eben dies geltend gemacht wird, die Uebereinstimmung jener Tiere sei natürlich, die der Menschen „nur durch Vertrag, welcher künstlich ist". Wenn Hobbes hier hinzugefügt hätte: „aber vernünftige Kunst ist für den Menschen, weil er mit Vernunft begabt ist, eben so natürlich, wie instinktive oder durch Empfindungen bedingte Kunst für gewisse Tiere ist, so hätte er nur ausgesprochen, was seiner allgemeinen Denkungsart ganz und gar gemäss ist. Deutlicher als in jenen schematisch reproduzierten Ausführungen über die sozialen Tiere und den Unterschied der Menschen von ihnen, tritt diese Denkungsart in der letzten Hauptschrift „De Homine" zutage, wo die wichtigsten Vorteile aufgezählt werden, die der Mensch von der Sprache habe; 1. die Fähigkeit zu zählen (mit ausführlicher Begründung), 2. dass man die andern belehren kann, 3. „dass wir befehlen und Befehle verstehen können, ist eine Wohltat der Sprache, und zwar eine sehr bedeutende. Denn ohne sie gäbe es keine Geselligkeit unter den Menschen, keinen Frieden und folglich keine Bildung; sondern Wildheit zunächst, demnächst Einsamkeit und statt der Wohnungen Höhlen. Obgleich nämlich einige Tiere so etwas wie ihre eigentümlichen Staaten (politiae) haben, so sind diese doch nicht von hinlänglich grosser Bedeutung zum guten Leben; sie verdienen also nicht; dass wir sie in Erwägung ziehen, und sie finden sich nur bei waffenlosen und nicht vieler Dinge bedürftigen Tieren; zu diesen gehört aber der Mensch nicht, der, gleich wie Schwerter und Schilde (die Waffen der Menschen) die der wilden Tiere: Hörner, Zähne, Klauen übertreffen - ebensosehr als Mensch die Wölfe, Bären, Schlangen, die nicht raubgierig über ihren Hunger hinaus sind und nur wenn sie gereizt werden, wüten, durch Raubgier und Wut übertrifft, hungrig auch durch Hunger der Zukunft. Hieraus versteht sich leicht, wieviel wir der Sprache verdanken, wodurch wir gesellig verbunden und in Verträgen übereinkommend sicher, glücklich und in

8 „nur durch Vertrag, welcher künstlich ist": Vgl. Hobbes (1696: 79; 1839a: 213 und 1983: 133 [V, 5]). „Postremö, consensio creaturarum illarum brutarum naturalis est; hominum pactitia tantüm, hoc est, artificiosa est ...". Ii Kunst für gewisse Tiere ist: Im Original fehlt das Abführungszeichen.

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verfeinerter Weise leben; d. h. leben können wenn wir wollen". Aber - so geht der Gedanke weiter - der Sprache haften auch üble Folgen an: vermöge ihrer kann der Mensch in weiterem Masse und in gefährlicherer Weise irren, als die übrigen Tiere; er kann ferner lügen und die Seele des Mitmenschen den Bedingungen der Geselligkeit und des Friedens feindlich machen; die Gesellschaften der anderen Tiere sind dem nicht ausgesetzt. Auch kann der Mensch unverstandene Worte nachsprechen und meinen etwas zu sagen, wenn er nichts sagt. Endlich kann er sich selber mit Worten täuschen; das kann eine Bestie nicht, „also wird der Mensch nicht besser sondern nur mächtiger durch die Sprache" (De Horn. X, 3) 3 . 3

Aus dem was hier mitgeteilt wird, kann der aufmerksame Leser ermessen, wie erheblich die Irrtümer sind, denen W. Sombart verfallen ist, da er über „die Anfänge der Soziologie" in der jüngst herausgegebenen „Erinnerungsgabe für Max Weber" (Hauptprobleme der Soziologie) schrieb. Er hält es einfach für gegeben, dass nach Auffassung der Naturrechtler und Vertragstheoretiker, als welche er Grotius, Locke, Hobbes und Spinoza in unrichtiger Ordnung nennt, Recht und Staat nur per dictamen rectae rationis „entstehen" können, aber niemals aus empirisch-psychologischen „Regungen" stammen! Hobbes lässt ausdrücklich, insofern es ihm wirklich ernst darum ist, den empirischen Staat aus der Vernunft und Einsicht „entstehen" zu lassen, die individuelle Vernunft des einzelnen Menschen walten: im Naturzustande sei aber unter der „richtigen" Vernunft, nicht, wie es von vielen geschehe, ein unfehlbares Vermögen, sondern der Akt des Denkens, d. h. das einem jedem eigentümliche Denken in Betreff seiner eigenen Handlungen zu verstehen, „die zum Nutzen oder zum Schaden der andern Menschen ausfallen können"; denn: ausserhalb des Staates kann niemand die richtige von der falschen Vernunft unterscheiden ausser durch Vergleichung mit der eigenen, „folglich muss jeder seine eigene Vernunft nicht nur für das Mass seiner eigenen Handlungen, die auf seine Gefahr geschehen, sondern in seinen eigenen Angelegenheiten auch für das Mass der fremden

l 3. „dass wir befehlen ... wenn wir wollen": Vgl. Hobbes (1839a: 91): „Tertio, quod imperare et imperata intelligere possimus, beneficium sermonis est, et quidem maximum. Nam sine eo nulla esset inter homines societas, nulla pax, et consequenter nulla disciplina; sed feritas primo, et deinde solitudo, et pro domiciliis latibula. Quanquam enim quibusdam animalibus suae quaedam sint politiae, non sunt tamen illae illis satis magni momenti ad bene vivendum; neque ergo merentur ut illas consideremus; inveniunturque in animalibus tantum inermibus nec multarum rerum indigis: in quorum numero homo non est, qui quantum enses et sclopeti, arma hominum, superant arma brutorum, cornua, dentes, aculeos, tantum homo lupos, ursos, serpentes, qui ultra famem rapaces non sunt, nec nisi lacessiti saeviunt, rapacitate et sevitia superat, etiam fame futura famelicus. Ex quo facile intelligitur quantum orationi debemus, qua sociati et in pacta consentientes, secure, beate, ornate vivimus; vivere, inquam, possumus si volumus". io „also wird der Mensch ... die Sprache": Vgl. ebd. (92): „Itaque oratione homo non melior fit, sed potentior". 14 Er hält es einfach für gegeben: Vgl. Sombart 1923: 7.

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11. Keine Spur findet sich bei Hobbes des Gedankens, der uns heute näher liegt als seine Ansicht vom Ur- oder von dem in aller Kultur verborgenen Naturzustande: des Gedankens nämlich, dass gerade die Vernunft erachten" (De cive II, 1 ann.) Als „natürliche Vernunft" wird in der DedikationsEpistel zu De cive geradezu diejenige erklärt, vermöge deren jeder den gewaltsamen Tod als das grösste Uebel der Natur zu vermeiden strebe! (also der rationalisierte Instinkt der Selbsterhaltung!) - Dass Hobbes über die Ableitung des empirischen Staates aus dem Naturzustände in einiger Unklarheit und Unsicherheit verharrte, habe ich hier, wie vor 4 3 Jahren, hervorgehoben und zu erklären unternommen. Aber die von mir angeführten Stellen dürften genügen, um die Grundlosigkeit der Sombartschen Behauptungen zu erhärten (S. 12), dass „noch Hobbes" einen 6fach gefestigten Wall errichtet habe, um die menschliche Gesellschaft gegen den „Einbruch des Naturalismus" zu schützen! Dieser Wall, meint Sombart, sei niedergerissen durch den Gedanken, „dank dessen" die Gegner des Hobbes die Begründer der modernen Soziologie westlichen Gepräges (! also nicht mehr die Anfänge der Soziologie schlechthin) geworden seien: den Gedanken, dass die menschliche Gesellschaft kein aus der Natur herausgehobener Zustand, vielmehr samt der Kultur, die sie in ihrem Schosse trage, selbst ein Stück N a t u r sei. Heute seien wir (meint Sombart) kaum noch fähig, zu ermessen, wie revolutionär dieser Gedanke einst war und welche grundstürzende Wirkung er haben musste, als er zuerst geäussert wurde! Der Gedanke, „die physiologische Anlage des Menschen, die Bedürftigkeit des kreatürlichen Menschen: als Kind und Greis, als Gesellschaftswesen, als Unterhaltfürsorgetreibender (!), bringe es mit sich, dass er mit andern in irgendwelche Verbindung tritt". Dafür, dass die „Verbindung aus Bedürftigkeit die menschliche Gesellschaft" sei, die deshalb immer war und deshalb der natürliche Zustand sei," werden dann Shaftesbury, Ferguson und Voltaire zitiert; für diese sei die Scheidewand zwischen des Menschen Welt und der übrigen „ N a t u r " gefallen; insbesondere trenne die Menschen von den Tieren nichts Spezifisches mehr. „Es wäre lächerlich, als eine Entdeckung zu behaupten, lese ich bei Ferguson (Essay S. 8 ed. Basil. 1789), dass die Spezies Pferd wahrscheinlich nie identisch war mit der Spezies Löwe, und doch sehen wir uns, im Gegensatz zu

4 „folglich muss jeder seine eigene Vernunft... Maß der fremden Vernunft erachten": Vgl. Hobbes (1696: 19 f. Fn.; 1839a: 169 f. Fn. und 1983: 99). „Per Rectam rationem in statu hominum naturali, intelligo, non ut multi Facultatem infallibilem, sed ratiocinandi actum, id est, Ratiocinationem uniuscujusque propriam, & veram circa actiones suas, quae in utilitatem, vel damnum caeterorum hominum redundare possint. Propriam dico, quia quamquam in Civitate, ipsius Civitatis ratio (hoc est, Lex civilis) à singulis civibus pro recta habenda sit; tarnen extra Civitatem, ubi rectam rationem a falsa dignoscere nisi comparatione facta cum sua nemo potest, sua cujusque ratio non m o d o pro actionum propriarum, quae suo periculo fiunt, regulä, sed etiam in suis rebus pro rationis alienai mensurä censenda est". 9 wie vor 43 Jahren: Gemeint ist Tönnies 1879-81. 17 den Gedanken, dass ... Stück Natur sei: Vgl. Sombart 1923: 11 f. 22 „die physiologische Anlage ... Verbindung tritt": Bei Sombart (ebd.: 12) heißt es leicht abweichend: „... als Unterhaltfürsorgetreibender, bringt es mit sich, daß er mit anderen in eine irgendwelche Verbindung tritt". Auch das folgende Zitat ebd.

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moderne grossstädtische, gesellschaftliche Zivilisation, von der er freilich nur die Anfänge kannte, einen verhüllten Krieg aller gegen alle darstellt. Und doch ist dies allerdings die Wahrheit seines Themas, wenn auch in Aeusserungen, die aus der Feder hervorragender Schriftsteller geflossen sind, genötigt zu bemerken, dass die Menschen immer unter den Tieren als eine ausgeprägte und eine überlegene Rasse aufgetreten sind; dass weder der Besitz ähnlicher Organe, noch die Annäherung der Gestalt, noch der Gebrauch der Hand, noch der beständige Verkehr mit diesem souveränen Künstler (dem Menschen) irgendeine andere Tierart befähigt hat, ihr Wesen oder ihre Erfindungen mit den seinen zu vermischen; dass er in seinem rohesten Zustande als über ihnen stehend gefunden wird, und in seiner grössten Entartung niemals auf ihr Niveau herabsteigend - kurz, er ist Mensch in jeder Lage; und wir können nichts über seine Lage lernen aus der Analogie anderer Lebewesen ... bei ihm scheint die Gesellschaft so alt wie das Individuum, und der Gebrauch der Zunge so allgemein wie der von Hand und Fuss." - Uebrigens sind die von Sombart hier genannten Autoren durchweg Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der revolutionären Philosophie, wie mit gutem Grund A. Comte sie nennt, und als deren „Vater" er mit ebenso gutem Grunde - Thomas Hobbes hervorhob! Als wirklicher Gegner des Hobbes ist nur der mitgenannte Richard Cumberland aufzufassen, einer der vielen scholastisch-theologischen Gegner, die seine wirklichen und wirksamen Gegner waren, nicht etwa wie Mandeville, dessen Bienenfabel man eine Kneipen-Ausgabe der Hobbeslehre genannt hat. Diese moderne - keineswegs bloss „westliche", sondern überall, wohin Naturwissenschaft und Rationalismus drangen, ausgebreitete - Weltanschauung wird oft durch Ausdrücke wie Individualismus und Nominalismus bezeichnet: Hobbes geht schlechterdings vom individuellen Menschen aus und Leibniz nannte ihn plus quam nominalis. In äusserer Verbindung aber damit steht bei allem der Gegensatz gegen die Scholastik, gegen die

14 „Es wäre lächerlich ... Hand und Fuss.": Vgl. Ferguson (1789: 8 f.): „It would be ridiculous to affirm, as a discovery, that the species of the horse was probably never the same with that of the lion, yet, in opposition to what has dropped from the pens of eminent writers we are obliged to observe, that men have always appeared among animals a distinct and a superior race; that neither the possession of similar organs, nor the approximation of shape, nor the use of the hand, nor the continued intercourse with this sovereign artist, has enabled any other species to blend their nature or their inventions with his; that in his rudest state, he is found to be above them; and in his greatest degeneracy, never descends to their level. He is, in short, a man in every condition; and we can learn nothing of his nature from the analogy of other animals. If we would know him, we must attend to himself, to the course of his life, and the tenor of his conduct. With him the society appears to be as old as the individual, and the use of the tongue as universal as that of the hand or the foot". 17 als deren „Vater" er ... Thomas Hobbes hervorhob!: Vgl. Comte (1864, 5: 499): „On arrive ainsi, par une exclusion graduelle, à regarder comme le véritable père de cette philosophie révolutionnaire l'illustre Hobbes ...". 18 der mitgenannte Richard Cumberland: So Sombart 1923: 10. 24 Leibniz nannte ihn plus quam nominalis: Vgl. Leibniz 1840: 69, Abs. XXVIII.

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einem abstrakten", schematischen Ausdruck, der nur soviel begriffliche Richtigkeit in Anspruch nehmen kann, wie etwa die Wahrheit, dass unser Planet die Gestalt einer Kugel hat. Der „Individualismus" ist oft als der Charakter unseres Zeitalters dargestellt worden, wenn auch kaum je wieder mit solcher historischer Eindringlichkeit wie in Burckhardts Kultur der Renaissance. Er aber ist es, der wie eine ewige Wahrheit dem rechtsphilosophischen System der Hobbes zugrunde gelegt wird. Der allgemeine Streit der Individuen folgt allerdings aus ihrer unbedingten Selbstbehauptung. Und die neuere Zeit hat mit dem entfesselten Konkurrenzkampf, mit ihren Klassenkämpfen, Parteikämpfen und Bürgerkriegen mehr und mehr das „Medusenhaupt" (mit Marx zu sprechen) enthüllt, das hinter dem

Theologie, gegen die theologische Anthropologie und folglich ihre Ansicht der Geschichte und des sozialen Lebens. Zu dieser Ansicht gehörte insbesondere die alttestamentliche Lehre von der besonderen Schöpfung des anfangs „sündenlosen" Menschen und von seiner Entartung „post lapsum Adae", woran die angebliche Daniel-Prophetie von den 4 Weltreichen angeknüpft wurde, und die Meinung, dass die Menschheit mit dem römischen Reich rasch ihrem Ende entgegengehe - eine Meinung, die von dem ausgezeichneten Historiker der deutschen Reformation Sleidanus noch mit voller Ueberzeugung vertreten wurde (De 4 summis imperiis) und auch im 17ten Jahrhundert keineswegs überwunden war. Jean Bodin bekämpfte sie und vertritt zaghaft die Ansicht vom Fortschreiten der menschlichen Kultur aus Wildheit und Barbarei, die dann alle aufgeklärten Denker, zuletzt auch die theologischen, wenigstens des Protestantismus, sich zu eigen gemacht haben. Wenn Sombart findet, dass jene Stufenfolge schon bei Ferguson angetroffen wird, also bei Morgan, den Engels kopiert, nicht originell sei, so ist daran nur

Ii „Medusenhaupt" (mit Marx zu sprechen): Marx setzte sich im Vorwort zum ersten Band des Kapital (1867: X) mit der Rückständigkeit der kontinentaleuropäischen Statistik auseinander: „Im Vergleich zur englischen ist die sociale Statistik Deutschlands und des übrigen kontinentalen Westeuropa^ elend. Dennoch lüftet sie den Schleier grade genug, um hinter demselben ein Medusenhaupt ahnen zu lassen. Wir würden vor unsren eignen Zuständen erschrecken, wenn unsre Regierungen und Parlamente, wie in England, periodische Untersuchungskommissionen über die ökonomischen Verhältnisse bestallten, wenn diese Kommissionen mit derselben Machtvollkommenheit, wie in England, zur Erforschung der Wahrheit ausgerüstet würden, wenn es gelänge, zu diesem Behuf ebenso sachverständige, unparteiische und rücksichtslose Männer zu finden, wie die Fabrikinspektoren Englands sind, seine ärztlichen Berichterstatter über ,Public Health' (Oeffentliche Gesundheit), seine Untersuchungskommissäre über die Exploitation der Weiber und Kinder, über Wohnungs- und Nahrungszustände usw. Perseus brauchte eine Nebelkappe zur Verfolgung von Ungeheuern. Wir ziehen die Nebelkappe tief über Aug' und Ohr, um die Existenz des Ungeheuers wegläugnen zu können". 19 (De 4 summis imperiis)-. Vgl. Sleidanus 1654. 24 Morgan, den Engels kopiert: Vgl. Morgan 1877 und Engels 1884.

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Schleier der vermeintlich „höchsten" Kulturentwicklung sich verbirgt, die wir als den Triumphzug der Technik, des Weltverkehrs, der Wissenschaft staunend erleben. Es wäre interessant, zu erforschen, wie oft und in welchen Zusammenhängen in der Literatur von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, in Parlamentsdebatten, Denkschriften, Reden und Gesprächen, das Gespenst des Krieges aller gegen alle, etwa seit der Mitte des 19ten Jahrhunderts, angerufen wurde. Ein Beispiel werde hier gegeben, wie nahe der Gedanke uns liegt. Ein Leser des neulich herausgegebenen Graf Walderseeschen Tagebuches erzählte einem mit der neuen Publikation noch Unbekannten von dessen Inhalt aus den Jahren 1 8 8 8 - 1 8 9 4 : von den Intrigen und Kabalen am Hofe Wilhelms des Zweiten, in den Ministerien und Ämtern, von der unablässigen Furcht, die diese Menschen voreinander hatten, dem gegenseitigen Misstrauen überall, dem offenen und versteckten Hass, Neid, der Missgunst und Abgunst, dem Strebertum und seiner Skrupellosigkeit in Verdächtigung und Verleumdung ... der Zuhörer rief aus: „also ein Krieg aller gegen alle". Drei Tage nachher begegnete jenem Leser, da er zu lesen fortfuhr, folgende Stelle in dem merkwürdigen Buche (S. 288) [Waldersee, damals kommandierender General des IX. Armeekorps, hält sich vorübergehend in Berlin auf; er erzählt am 2 2 . April 1893]: „Minister Friedberg, mit dem ich mich lange unterhalten konnte, und der als kluger Beobachter in Berlin lebt, sagte mir: ,Sie können dankbar sein, dass Sie in Altona wohnen; hier ist der Krieg aller gegen alle.'"

merkwürdig, dass Sombart dies für eine Neuigkeit zu halten scheint. Es ist hier nicht der Ort, näher noch auf die Irrtümer einzugehen, die sich in Sombarts flüchtiger Skizze finden. Da es die Irrtümer eines so hervorragenden wie einflussreichen Autors sind, so waren sie allerdings der Erwähnung wert. Hinzugefügt möge noch werden, dass ich auch die von Sombart zugrunde gelegte Ansicht der „Soziologie" für durchaus unrichtig halte: für die begriffliche Grundlegung und insbesondere für den Begriff des Staates ist die rationalistisch-naturrechtliche Doktrin von ungleich grösserer Wichtigkeit als jene verfrühten Versuche psychologischer Ableitungen des Kulturzustandes aus der Natur des Menschen und den sie bedingenden Umständen. Sombart nennt dies „Denkverfahren", das wir so wenig als er für endgültig halten - die „unhistorische" Methode der Aufklärung ist ja oft genug kritisiert worden - „Mediatisierung des Geistes" und „Zersetzung des Geistigen". Damit uns auseinanderzusetzen muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten werden.

9 neulich herausgegebenen

Graf Walderseeschen

Tagebuches:

24 für eine Neuigkeit zu halten scheint-. So Sombart 1 9 2 3 : 19. 34 „Mediatisierung

des ... des Geistigen":

Vgl. ebd.: 16.

Vgl. Waldersee 1 9 2 2 .

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Exkurs zu 4. 5. Übrigens ist der berufene aristotelische Satz keineswegs so einfach und eindeutig, wie er verstanden zu werden pflegt. Er soll nicht bedeuten, dass der Mensch von jeher im geordneten Zustande einer Polis gelebt habe. Im Gegenteil. Unmittelbar vorher zitiert A. das homerische „öeijucttevei 8e EKaCTTOS TraiScov f)6' äAöxooov" und fügt hinzu: „denn sie sind zerstreut „ K a i o ü t c o s t 6 a p x a i o v w k o u v " und so wohnten sie in der Urzeit." Physis bedeutet ihm, wie er dann ausdrücklich hinzufügt, soviel als telos, darum (in diesem Sinne) ist jede Polis