Gerichtliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht 9783504387259

Gerichte stehen in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten vor einer Herausforderung: Sie sollen einerseits die Gesellsc

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Gerichtliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht
 9783504387259

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Rafael Harnos Gerichtliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht

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Gerichtliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht von Privatdozent

Dr. Rafael Harnos Bonn

2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-30013-5 ©2021 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Stückle, Ettenheim Printed in Germany

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Wintersemester 2019/20 als Habilitationsschrift angenommen. Der Probevortrag fand am 24.  Januar 2020 statt. Soweit möglich sind die Rechtsprechung und das Schrifttum bis August 2020 berücksichtigt worden. Bedanken möchte ich mich vor allem bei meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Jens Koch, der meinen wissenschaftlichen Werdegang in jeder erdenklichen Hinsicht jahrelang gefördert hat. Ohne seine Unterstützung – die ich bereits als Student und Doktorand an der Universität Konstanz erhalten habe – hätte ich nicht gewagt, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Herrn Professor Dr. Rainer Hüttemann danke ich für die sehr hilfreichen Hinweise zum Manuskript und zum Habilitationsverfahren sowie die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Bei Frau Professorin Dr. Nina Dethloff und Herrn Professor Dr. jur. Dr. h.c. Werner Gephart möchte ich mich für die wissenschaftlichen Freiräume bedanken, die ich im Sommersemester 2019 als Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“ genossen habe. Mein ganz herzlicher Dank gilt schließlich Herrn Dr. Jonathan Bauerschmidt und Frau Rebekka Müller, die das Manuskript kritisch durchgesehen und kommentiert haben. Bonn, August 2020

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

Teil 1: Grundlagen § 1 Einführung I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Gerichtliche Kontrolldichte als Untersuchungsgegenstand . . . . . 4 III. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 § 2 Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle I. Außen- und Innenrechtsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Systematisierung der kontrollierten Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 III. Systematisierung der Kontrollgegenstände: Verhalten und ­Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 IV. Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 V. Willensbildungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 VI. Verzahnung der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 § 3 Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht I. Bedeutung des Organstreits für die Untersuchung . . . . . . . . . . . . 46 II. Meinungsstand im Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Unbeachtlichkeit rein rechtspolitischer Argumente . . . . . . . . . . . 51 IV. Partei- und Prozessfähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder . 53 V. Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VI. Klagegegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 VII. Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 VIII. Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 IX. Vorteile gegenüber den anderen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 X. Innenrechtsstreitigkeiten in der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

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Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung § 4 Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht I. Sprachliche Anknüpfungspunkte für den intradisziplinären ­Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II. Bisherige Transferversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Rolle der Verwaltungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 IV. Zivilgerichte zwischen Privatautonomie und Materialisierung des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 V. Verbandsrechtliche Konfliktlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 VI. Rolle der Gerichte im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 § 5 Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik I. Rechtsfolgenermessen (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO) . . . . . 145 II. Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene . . . . . . . 148 III. Planungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV. Letztentscheidungskompetenzen im Regulierungsrecht . . . . . . . 167 V. Gerichtliche Kontrolldichte als stimmiges dogmatisches Konzept? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 § 6 Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht I. Gerichtliche Prüfungsdichte und Bestandskraft einer Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Ausdifferenzierung und Systematisierung der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 IV. Ausgestaltung der Letztentscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . 214 Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen § 7 Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder I. Leitungsautonomie als verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 II. Gesamtvorstand und seine Mitglieder als Adressaten aktienrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 III. Kontrolle der kollektiven Willensbildung innerhalb des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 IV. Leitungsautonomie und Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . 228 V. Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . 236 VIII

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§ 8 Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Gerichtliches Prüfungsprogramm nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Sachlicher Anwendungsbereich: unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 III. Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 IV. Freiheit von Sonderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 V. Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung . . . . . . 315 VI. Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule . . 333 § 9 Gerichtliche Prüfungsdichte außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Kategorisierung der möglichen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 II. Überschreiten der Ermessensgrenzen bei Evidenzkontrolle . . . . 346 III. Nicht-unternehmerische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 IV. Fehler im Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 § 10 Kategorisierung der Letztentscheidungskompetenzen I. Drei Intensitätsstufen der gerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . 367 II. Begriffliche Kategorisierung der Entscheidungsspielräume . . . . 369 III. Prüfungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 § 11 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Vorstandsaufgaben I. Organisation und Überwachung des Unternehmens . . . . . . . . . . 371 II. Transaktionsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 III. Corporate Social Responsibility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 § 12 Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer I. Anknüpfungspunkte für die Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 II. Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 III. Unternehmerische Entscheidungen im GmbH-Recht . . . . . . . . . 436 IV. Bestimmung der Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 V. Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 VI. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 § 13 Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft I. Gerichtliche Kontrolle und Ermessen im Personen­gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 II. Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 IX

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§ 14 Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats I. Pflichten des obligatorischen Aufsichtsrats und seiner Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Drei Stufen der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 III. Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 IV. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 § 15 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben I. Personalmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 II. Einbeziehung des Aufsichtsrats als Teil der zukunftsgerichteten Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 III. Vergangenheitsgerichtete Kontrolle der Unternehmensleitung . 497 IV. Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 V. Übernahmesituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 § 16 Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane I. Vorgaben an fakultative Aufsichtsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 II. Bestimmung der Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 III. Informationsbeschaffung im fakultativen Aufsichtsorgan . . . . . . 516 IV. Interessenkonflikte im fakultativen Aufsichtsorgan . . . . . . . . . . . 517 Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern § 17 Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle I. Lückenhafte gesetzliche Regelung der Gesellschafterpflichten . . 519 II. Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . 521 III. Entwicklungslinien im Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 526 IV. Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungs­ instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 V. Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 VI. Gerichtliches Prüfungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 VII. Treuepflichten jenseits der Willensbildungskontrolle . . . . . . . . . 561 § 18 Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte I. Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­kontrolle . 564 II. Drei Stufen der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 III. Sachlicher Anwendungsbereich der Business Judgment Rule . . 572

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IV. Informationsgrundlage und Richtigkeitsvermutung . . . . . . . . . . 574 V. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 VI. Verteilung der Beweis- und Argumentationslast . . . . . . . . . . . . . 593 Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle § 19 Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG I. Besonderheiten der Querschnittsmaterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 II. Entscheidungen im Rahmen des Verzichts und Vergleichs nach § 93 Abs. 4 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 III. Kontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . 603 IV. Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder . . . . . . . . . . . . 605 § 20 Kapitalmaßnahmen I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 II. Gerichtliche Kontrolle der Kapitalbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . 611 III. Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung 614 IV. Gerichtliche Kontrolle der Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . 628 § 21 Ermächtigungsbeschluss in der Übernahmesituation I. Problemaufriss und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 II. Kontrolle des Ermächtigungsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 III. Kontrolle der Ermächtigungsausübung durch Verwaltungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 § 22 Entscheidungen über die Gewinnverwendung I. Mitwirkung der Verwaltung und Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . 644 II. Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung . . . . . . . . . . 646 III. Ergebnisverwendung und Gewinnverwendungsvorschlag in der AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 IV. Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . 656 § 23 Kontrolle des Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH I. Gesellschafter-Geschäftsführer zwischen unternehmerischer ­Ermessensfreiheit und mitgliedschaftlicher Loyalitätsbindung . 666 II. Parallelität der Ermessensspielräume auf Gesellschafter- und ­Geschäftsführerebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

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Teil 6: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Zum Teil 1: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Zum Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung 674 Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen . . . . . . . 677 Zu den §§ 7 bis 11: Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder . . 677 Zu den §§ 12, 13: Kontrolle der Geschäftsleiter in GmbH und Personen­ gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 Zu den §§ 14 bis 16: Kontrolle der Aufsichtsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Zum Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern . . 696 Zum Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707

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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V



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Teil 1: Grundlagen § 1 Einführung I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 II. Gerichtliche Kontrolldichte als Untersuchungsgegenstand . . . . 4 III. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 § 2 Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle I. Außen- und Innenrechtsstreitigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Systematisierung der kontrollierten Akteure . . . . . . . . . . . . . . 12 1. Gesellschafter und Verwaltungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Unterscheidung innerhalb der Verwaltung: Geschäftsleitung und Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 III. Systematisierung der Kontrollgegenstände: Verhalten und ­Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 IV. Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Schadensersatzansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Unterlassungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 b) Zulässigkeit und Grenzen der Unterlassungsklagen der ­Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Personalmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Mitglieder der Verwaltungsorgane in den Körperschaften 25 b) Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 aa) Gesellschafterausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 bb) Entzug der Geschäftsführungsbefugnis . . . . . . . . . . . 28 V. Willensbildungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Kollektive und individuelle Willensbildung . . . . . . . . . . . . . 29 2. Beschlusskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

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a) Systematisierung der Beschlussarten und Beschluss­ mängelklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Kontrolle der Verwaltungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3. Kontrolle individueller Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Individuelle Willensbildung in Personengesellschaften . . 36 b) Individuelle Willensbildung in Kapitalgesellschaften . . . . 38 aa) Gesetzliche Ausgangslage und Meinungsstand . . . . . . 38 bb) Umfassende Einzelgeschäftsführungsbefugnis . . . . . . 40 cc) Ressortaufteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 VI. Verzahnung der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Zusammenspiel zwischen Verhaltens- und Willensbildungs­ kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Richterliche Kontrolldichte und Corporate Governance . . . 44 § 3 Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht I. Bedeutung des Organstreits für die Untersuchung . . . . . . . . . . 46 II. Meinungsstand im Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 III. Unbeachtlichkeit rein rechtspolitischer Argumente . . . . . . . . . 51 IV. Partei- und Prozessfähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder . 53 1. Anerkennung der Organrechte und Organpflichten als ­Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Folgerungen für das Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 V. Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Bedeutung der Klagebefugnis für den Organstreit . . . . . . . . 58 2. Gesetzlich zugewiesene Organansprüche . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Kompetenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4. Rechtmäßigkeit des Organhandelns als Gegenstand des ­Organstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 a) Kontrolle des Gesamtorgans durch ein Organmitglied . . . 64 b) Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat . . . . . . . . 67 c) Kontrolle des Aufsichtsrats durch den Vorstand . . . . . . . . 69 5. Durchsetzung der Rechte des Gesamtorgans durch Einzel­ mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Überblick und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Analoge Anwendung des § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG . . . . . . 74 c) Seitenblick auf das Beschlussmängelrecht der Haupt­ versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 d) Gedanke der actio pro societate? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 e) Eingriffe in die individuelle Position der Organmitglieder 79 XIV

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VI. Klagegegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Lehre von Organrechten als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . 80 2. Gesetzlich zugewiesene Organansprüche . . . . . . . . . . . . . . . 81 3. Kompetenzschutzklagen und Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Organhandelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 VII. Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 VIII. Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Kein Vorrang des § 407 Abs. 1 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Kein Vorrang der Personalkompetenz und des Haftungsregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3. Selbsthilferecht nach § 110 Abs. 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Aufsichtsrat als Streitschlichter beim Intraorganstreit im ­Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5. Hauptversammlung als Streitschlichter? . . . . . . . . . . . . . . . 90 IX. Vorteile gegenüber den anderen Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Kein Dammbruch nach Anerkennung der Organklagen . . . 91 2. Vermeidung konstruktiver Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . 92 X. Innenrechtsstreitigkeiten in der GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Organansprüche des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder . . . 94 3. Kompetenzschutzklagen und allgemeine Verhaltenskontrolle 96 4. Gesellschafter als Streitschlichtungsinstanz . . . . . . . . . . . . . 96 Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung § 4 Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht I. Sprachliche Anknüpfungspunkte für den intradisziplinären ­Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 II. Bisherige Transferversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Befürworter eines intradisziplinären Ansatzes . . . . . . . . . . . 101 a) Kontrolle der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Kontrolle der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder . . 102 2. Kritische Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Diskussion nach dem UMAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Rolle der Verwaltungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Voraussetzungen für einen Wertungstransfer . . . . . . . . . . . . 110 2. Individualrechtsschutz und Institutionenschutz durch ­Verwaltungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 XV

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IV. Zivilgerichte zwischen Privatautonomie und Materialisierung des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Formelle Privatautonomie, Vertragsfreiheit und Richtigkeits­ gewähr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Anknüpfungspunkte für richterliche Inhaltskontrolle im BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Richterliche Inhaltskontrolle bei nachträglicher Leistungs­ bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Materialisierung durch Generalklausel . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Materialisierung durch AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 V. Verbandsrechtliche Konfliktlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Verband als lebender Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 2. Verselbständigung der Geschäftsleitung – Leitungsautonomie 123 3. Beschlüsse als Mittel der Willensbildung im Verband . . . . . 124 4. Ökonomische Umschreibung gesellschaftsrechtlicher ­Machtungleichgewichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5. Gesellschaftsvertrag als Instrument der Machtbegrenzung? . 129 a) Gesellschaftsvertrag in einer idealen Welt . . . . . . . . . . . . 129 b) Gesellschaftsvertrag in der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . 131 VI. Rolle der Gerichte im Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1. Machtbegrenzung durch richterliche Kontrolle . . . . . . . . . . 132 2. Stärkung der Entscheidungsrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Richterliche Kontrolle und Institutionenschutz . . . . . . . . . . 137 4. Reflexion über die Rolle des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 5. Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht zwischen Gesetzesvollzug und Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 § 5 Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik I. Rechtsfolgenermessen (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO) . . . . 145 II. Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene . . . . . . 148 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Prüfungs- und Bewertungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . 152 3. Entscheidungen weisungsunabhängiger pluralistischer Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Jugendschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Weinrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 c) Recht der Geheimdienste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4. Dynamische Erkenntnisprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a) Atom- und Gentechnikrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b) Naturschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 XVI

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III. Planungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Struktur der Planungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Auswirkungen der Normstruktur auf die gerichtliche ­Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IV. Letztentscheidungskompetenzen im Regulierungsrecht . . . . . . 167 1. Bedeutung und Struktur des Telekommunikationsrechts . . . 167 2. Marktdefinition und Marktanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Regulierung des Marktzugangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4. Entgeltregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Auswahl zwischen ex-ante- und ex-post-Regulierung . . . . 174 b) Verfahrensauswahl bei der ex-ante-Regulierung . . . . . . . 176 c) Bestimmung der Kosten effizienter Leistungsbereitstellung 177 V. Gerichtliche Kontrolldichte als stimmiges dogmatisches Konzept? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Ausdifferenzierung der Kontrolldogmatik . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Zweistufige Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3. Kriterien für die Verteilung der Letztentscheidungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Normstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 b) Funktionelle Adäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 4. Intensität der richterlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 a) Kontrollkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) Nachvollziehende Kontrolle der Entscheidungsprozedur 192 § 6 Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht I. Gerichtliche Prüfungsdichte und Bestandskraft einer Maßnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Ausdifferenzierung und Systematisierung der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 1. Variationsbreite der richterlichen Prüfungsdichte . . . . . . . . 197 2. Differenzierung bei komplexen Sachverhalten . . . . . . . . . . . 199 3. Kategorisierung der Kontrollvorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Normative Ermächtigungslehre als Inspirationsquelle . . . . . 200 2. Auswirkungen der Normstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Finalität und Konditionalität im gesellschaftsrechtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Beispiele für finale und konditionale Steuerung der Verbandsrechtsakteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 3. Funktionelle Adäquanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 XVII

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IV. Ausgestaltung der Letztentscheidungskompetenz . . . . . . . . . . 214 1. Keine Übernahme der öffentlich-rechtlichen Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Unterscheidung zwischen Entscheidungsinhalt und Entscheidungsprozedur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen § 7 Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder I. Leitungsautonomie als verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesamtvorstand und seine Mitglieder als Adressaten aktienrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kontrolle der kollektiven Willensbildung innerhalb des Vorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Fragestellung und Meinungsstand . . . . . . . . 2. Vorgaben an den Gesamtvorstand und Beschlussmängel . . . 3. Sorgfalts- und Treuepflichten der Vorstandsmitglieder und Beschlussmängel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Leitungsautonomie und Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . 1. Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Autonomie und Bindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Business Judgment Rule bei Individualentscheidungen der ­Vorstandsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Business Judgment Rule bei Kollektiventscheidungen des ­Gesamtvorstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . 1. Überblick über den Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verhinderung der Erfolgshaftung als Motiv für die Business ­Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Regelung der einfachen ­Fahrlässigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Lockerung des Verschuldens­ maßstabs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Konkretisierung des objektiven Pflichtenstandards? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Von der negativen zu der positiven Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVIII

217 220 222 222 224 225 228 228 230 232 236 236 239 241 243 245 245

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b) Umformulierung der Business Judgment Rule als Rechts­ fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Regelung der gerichtlichen ­Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Grundzüge der Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 b) Abspaltungslösung als Anerkennung „haftungsfreier ­Pflichtverletzung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 c) Materiell-rechtliche Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Hindernis? . . . . . . . . . . . . . . . 256 d) Praktische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 § 8 Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Gerichtliches Prüfungsprogramm nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Referenzpunkt: Wohl der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2. Prüfungsdichte: Vernünftigerweise annehmen dürfen . . . . . 265 3. Intensivierung gerichtlicher Kontrolle bei bestandsgefährdenden Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 II. Sachlicher Anwendungsbereich: unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Regelungstechnik und bisherige Definitionsversuche . . . . . . 273 2. Grenzen der bisherigen Definitionsversuche . . . . . . . . . . . . 275 3. Verfeinerung durch normtheoretische Analyse . . . . . . . . . . 276 4. Adäquanzgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 5. Business Judgment Rule und unbestimmte Rechtsbegriffe . . 281 6. Unternehmerische Entscheidungen trotz Treuepflicht . . . . . 283 III. Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Anforderungen an die Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Kontrolldichte hinsichtlich der Informationsbeschaffung . . 287 IV. Freiheit von Sonderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Verortung und teleologische Grundlage des Tatbestands­ merkmals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2. Konfliktbegriff des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . 292 3. Nahe stehenden Personen als Konfliktquelle . . . . . . . . . . . . 296 4. Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Schwere des Interessenkonflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 b) Zusammenhang zwischen Befangenheit und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5. Objektive oder subjektive Unbefangenheit? . . . . . . . . . . . . . 301 XIX

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6. Konfliktneutralisierung durch Transparenz und Einbeziehung anderer Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungsstand und Abschichtung der Problemfelder . . . b) Offenlegung gegenüber dem Gesamtvorstand . . . . . . . . . c) Billigung der Maßnahme durch die Hauptversammlung . d) Billigung der Maßnahme durch den Aufsichtsrat . . . . . . e) Sonderfall: Vorlagebefugnis bei faktischer Beschlussunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Keine Ausnahme bei mehreren Handlungsvarianten . . . . . . V. Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung . . . . . 1. Problemaufriss und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unterscheidung zwischen Individual- und Kollektiv­ entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Intensität der Verhaltenskontrolle bei einer Kollektiv­ entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsfolgen und Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiheit von Sonderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Intensität der Willensbildungskontrolle bei Kollektiv­ entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtsfolgen und Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiheit von Sonderinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule . . 1. Schadensersatzprozess: § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . 2. Keine Anwendung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG jenseits der Haftungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Beweislast bei Unterlassungsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beweislast bei der Willensbildungskontrolle . . . . . . . . . . . . § 9 Gerichtliche Prüfungsdichte außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Kategorisierung der möglichen Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überschreiten der Ermessensgrenzen bei Evidenzkontrolle . . . III. Nicht-unternehmerische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Präzisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kontrolldichte auf der Tatbestandsebene . . . . . . . . . . . . . . .

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307 307 309 309 310 312 314 315 315 319 321 321 321 325 326 326 327 330 333 333 339 340 343

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a) Unbestimmte Rechtsbegriffe und Einschätzungsprärogativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 b) Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte . . . . . . . . . . . 351 3. Kontrolldichte auf der Rechtsfolgenseite . . . . . . . . . . . . . . . 355 IV. Fehler im Entscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 2. Vorbehalte gegen die Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 3. Ausdifferenzierung der Kontrollintensität bei Befangenheit . 362 4. Vertretbarkeitskontrolle bei unzureichender Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 § 10 Kategorisierung der Letztentscheidungskompetenzen I. Drei Intensitätsstufen der gerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . 367 II. Begriffliche Kategorisierung der Entscheidungsspielräume . . . 369 III. Prüfungsschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 § 11 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Vorstandsaufgaben I. Organisation und Überwachung des Unternehmens . . . . . . . . 371 1. Bestandssicherungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG . . . . . . . . 371 2. Aufsichtsrechtliche Organisationspflichten in regulierten ­Branchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 a) Aufbau eines Organisations- und Risikomanagement­ systems als unternehmerische Entscheidung? . . . . . . . . . 374 b) Tatbestandliche Beurteilungsspielräume im regulierten ­Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 3. Compliance-Pflichten jenseits ausdrücklicher gesetzlicher ­Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 II. Transaktionsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 1. Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 2. Richterliche Kontrolldichte auf Seiten des Erwerbers . . . . . . 384 3. Richterliche Kontrolldichte auf Seiten des Veräußerers . . . . 388 4. Due Diligence und Verschwiegenheitspflicht in der ­Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 b) Informationsweitergabe als unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 c) Gerichtliche Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 5. Maßnahmen der Zielgesellschaft im Vorfeld der Transaktion – Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 6. Unternehmerische Entscheidungen des Vorstands der ­Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 XXI

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a) Gesellschaftswohl als Handlungsmaxime im Transaktions­ bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 b) Folgerungen für die richterliche Kontrolldichte . . . . . . . 402 7. Informationsobliegenheiten des Vorstands der Zielgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 a) Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . 403 b) Abwehrmaßnahmen und Investorenvereinbarungen . . . . 404 8. Auswirkungen von übernahmebedingten Interessenkonflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 a) Sonderinteressen bei Unternehmensakquisitionen . . . . . . 405 b) Interessenkonflikte bei der Stellungnahme nach § 27 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 c) Interessenkonflikte und übernahmerechtliches ­Verhinderungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 aa) § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 bb) Suche nach dem „Weißen Ritter“ im sicheren Hafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 d) Abwehrmaßnahmen im Vorfeld des öffentlichen ­Übernahmeangebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 e) Abwehrmaßnahmen bei nicht börsennotierten ­Zielgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 f) Interessenkonflikte bei freundlichen Übernahmen . . . . . 417 9. Vorstandsmaßnahmen zwischen Evidenz- und ­Vertretbarkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 III. Corporate Social Responsibility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 1. Gesellschaftszweck, Unternehmensgegenstand und ­freiwillige Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 2. Unternehmerischer Charakter sozialer Aktivitäten . . . . . . . 420 3. Auswirkungen der CSR-Reporting-Pflichten . . . . . . . . . . . . 424 4. Umgang mit nachteiligen Angaben im CSR-Reporting (§ 289e HGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 § 12 Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer I. Anknüpfungspunkte für die Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 II. Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 1. Stellungnahmen in Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . 431 2. Analogie als das methodische Mittel der Wahl . . . . . . . . . . . 432 3. Dogmatische Einordnung und Auswirkungen der Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 XXII

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III. Unternehmerische Entscheidungen im GmbH-Recht . . . . . . . 436 1. Normstruktur und Adäquanzgedanke als Eingrenzungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 2. Gesellschafter als Regelungsinstanz im GmbH-Recht . . . . . 436 IV. Bestimmung der Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 V. Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 VI. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 1. Anlehnung an aktienrechtliche Grundsätze . . . . . . . . . . . . . 441 2. GmbH-spezifische Konfliktquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 3. Konfliktneutralisierung durch Transparenz . . . . . . . . . . . . 445 a) Ausdrückliche Zustimmung der Gesellschafter . . . . . . . . 445 b) Konfliktneutralisierung durch bloße Offenlegung . . . . . . 446 § 13 Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft I. Gerichtliche Kontrolle und Ermessen im Personen­gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 1. Anknüpfungspunkte für gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . 449 2. Analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG . . . . . . . . 450 3. Dogmatische Einordnung und Voraussetzungen der Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 II. Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 1. Widerspruch als unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . 453 2. Intensität der gerichtlichen Widerspruchskontrolle . . . . . . . 455 3. Begründung und Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 § 14 Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats I. Pflichten des obligatorischen Aufsichtsrats und seiner Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 II. Drei Stufen der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 III. Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 1. Angemessenheit der Informationsgrundlage . . . . . . . . . . . . 463 2. Kontrollintensität hinsichtlich der Informationsbeschaffung 466 3. Informationsbeschaffung im Kollegialorgan . . . . . . . . . . . . 466 IV. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 1. Einschränkung des Konfliktbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 a) Aktienrechtliche Konflikttoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 b) Verbandsinterne Konfliktquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 c) Verbandsexterne Konfliktquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 2. Interessenkonflikte im Kollegialorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . 472

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§ 15 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben I. Personalmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 1. Auswahl der Geschäftsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 2. Ausgestaltung des Anstellungsvertrags, insb. Vergütungs­ entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 a) Anstellungsvertrag als unternehmerische Entscheidung . 477 b) Festsetzung der Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 c) Herabsetzung der Vergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 3. Abberufung der Geschäftsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 4. Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . 485 II. Einbeziehung des Aufsichtsrats als Teil der zukunftsgerichteten Überwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 1. Allgemeine Zustimmungsvorbehalte nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 2. Einbindung des Aufsichtsrats nach §§ 88, 89, 112 AktG . . . . 489 3. Besondere Zustimmungsvorbehalte nach §§ 114, 115 AktG . 491 4. Zustimmung zu related party transactions . . . . . . . . . . . . . . 493 a) Unternehmerischer Charakter der Zustimmungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 b) Interessenkonflikte bei Zustimmung durch Gesamtaufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494 c) Interessenkonflikte bei Zustimmung durch ­Aufsichtsratsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 III. Vergangenheitsgerichtete Kontrolle der Unternehmensleitung 497 1. Finalität der Überwachungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 2. Adäquanzgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 3. Geltendmachung von Informationsrechten als unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 4. Verfolgungspflicht bei Vorstandsinnenhaftung . . . . . . . . . . 502 IV. Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 V. Übernahmesituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 1. Problemaufriss und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 2. Stellungnahme des Aufsichtsrats nach § 27 Abs. 1 WpÜG . . 509 3. Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 4. Auswirkungen der Aufsichtsratszustimmung auf den Vorstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

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§ 16 Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane I. Vorgaben an fakultative Aufsichtsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 II. Bestimmung der Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 1. Inhaltliche Evidenzkontrolle unternehmerischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 2. Intensivierung der Inhaltskontrolle jenseits der Business Judgment Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 III. Informationsbeschaffung im fakultativen Aufsichtsorgan . . . . 516 IV. Interessenkonflikte im fakultativen Aufsichtsorgan . . . . . . . . . 517 Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern § 17 Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle I. Lückenhafte gesetzliche Regelung der Gesellschafterpflichten . 519 II. Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 521 1. Ausgangspunkt: Begrenzung der Mehrheitsmacht nach §§ 138, 226, 826 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 2. Grundsatz sachlicher Rechtfertigung und mitgliedschaftliche Treuepflicht als Schutzinstrumente der Minderheit vor der Mehrheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 3. Treuepflicht als Schutzinstrument der Mehrheit vor Macht der Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 III. Entwicklungslinien im Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . 526 1. Bestimmtheitsgrundsatz als Instrument der Vertragskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 2. Kernbereichslehre als Instrument des Individualschutzes . . 530 3. Materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht . 532 a) Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 532 b) Distanzierung von der Kernbereichslehre . . . . . . . . . . . . 533 c) Akzentverschiebung in der neueren BGH-Rechtsprechung 535 IV. Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungs­ instrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 1. Kritik aus dem Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 2. Treuepflicht als Schicksal des Gesellschaftsrechts . . . . . . . . . 538 V. Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 1. Vorherrschende zweispurige Treuepflichtdogmatik . . . . . . . 541 2. Einheitlicher Treuepflichttatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 XXV

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a) Unterschied zwischen Gesellschaftszweck und ­Gesellschaftsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 b) Interessenabwägung bei Gesellschafterbeschlüssen . . . . . 548 3. Bestimmung des Kontrollgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . 550 VI. Gerichtliches Prüfungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554 1. Verhältnismäßigkeitsprüfung im Kapitalgesellschaftsrecht . 554 2. Verhältnismäßigkeitsprüfung im Personengesellschaftsrecht 555 VII. Treuepflichten jenseits der Willensbildungskontrolle . . . . . . . . 561 1. Schadensersatzansprüche wegen Treuepflichtverletzung . . . 561 2. Lösung von „Marktkonflikten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562 § 18 Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte I. Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­kontrolle . 564 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 2. Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung der ­Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 3. Prozedurale Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse . . . . . . . 568 II. Drei Stufen der Kontrollintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 III. Sachlicher Anwendungsbereich der Business Judgment Rule . . 572 1. Unternehmerische Entscheidungen der Gesellschafter . . . . . 572 2. Kontrolldichte bei nicht-unternehmerischen Entscheidungen 573 IV. Informationsgrundlage und Richtigkeitsvermutung . . . . . . . . 574 1. Informationsbeschaffung bei Verwaltungsorganen . . . . . . . 574 2. Interessenabwägung im Rahmen der Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 3. Bedeutung der Gesellschafterstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 4. Folgen unzureichender Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 V. Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 1. Grundgedanken bei Kontrolle der Verwaltungsbeschlüsse . . 578 2. Bisherige Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 3. Qualifizierte Interessenkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 a) Sondervorteile als Ermessensschranke . . . . . . . . . . . . . . . 582 b) Sondernachteil als Konfliktquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 c) Relevanzschwelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 4. Bedeutung subjektiver Kriterien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 5. Einfluss des Stimmgewichts des befangenen Gesellschafters? 587 6. Folgen eines qualifizierten Interessenkonflikts . . . . . . . . . . . 589 a) Bedeutung der Realstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 b) Zusammensetzung des Gesellschafterkreises . . . . . . . . . . 590 c) Möglichkeit der Anteilsveräußerung am organisierten Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 XXVI

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VI. Verteilung der Beweis- und Argumentationslast . . . . . . . . . . . 593 1. Ansätze in Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . 593 2. Beweislastverteilung und Schutz der Verbandsautonomie . . 594 Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle § 19 Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG I. Besonderheiten der Querschnittsmaterien . . . . . . . . . . . . . . . . 599 II. Entscheidungen im Rahmen des Verzichts und Vergleichs nach § 93 Abs. 4 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 III. Kontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses . . . . . . . . . . . . 603 IV. Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder . . . . . . . . . . 605 1. Verzicht und Vergleich als unternehmerische Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 2. Aufsichtsratsvorschlag als Voraussetzung für Hauptversammlungs­ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 3. Sonderinteressen als Ermessensgrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 § 20 Kapitalmaßnahmen I. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611 II. Gerichtliche Kontrolle der Kapitalbeschaffung . . . . . . . . . . . . . 611 1. Vorstandsinitiative zur Kapitalbeschaffung . . . . . . . . . . . . . 611 2. Kapitalerhöhungsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 3. Durchführung der Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 III. Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung 614 1. Problemstellung und Systematisierung der Konstellationen . 614 2. Bezugsrechtsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 a) Rechtsentwicklung und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . 615 b) Bezugsrechtsausschluss als unternehmerische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 c) Qualifizierte Interessenkonflikte bei regulärer Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 d) Sonderinteressen der Verwaltungsorgane bei genehmigtem Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 3. Festsetzung des Bezugspreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 a) Faktischer Bezugsrechtsausschluss durch überhöhten ­Bezugspreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 b) Angemessenheitsgebot beim Bezugsrechtsausschluss . . . 626 c) Faktischer Bezugszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 XXVII

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IV. Gerichtliche Kontrolle der Sanierungsmaßnahmen . . . . . . . . . 628 1. Problemfelder und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 a) Kapitalgesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 b) Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 2. Begrenzung der Mehrheitsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 a) Business Judgment Rule bei Sanierung einer AG . . . . . . . 633 b) Business Judgment Rule bei „Sanieren oder Ausscheiden“Beschlüssen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 3. Begrenzung der Minderheitenmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 § 21 Ermächtigungsbeschluss in der Übernahmesituation I. Problemaufriss und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 II. Kontrolle des Ermächtigungsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 III. Kontrolle der Ermächtigungsausübung durch Verwaltungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 § 22 Entscheidungen über die Gewinnverwendung I. Mitwirkung der Verwaltung und Gesellschafter . . . . . . . . . . . . 644 II. Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung . . . . . . . . 646 1. Problemaufriss und Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 2. Kein unternehmerischer Charakter der Bilanzentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 3. Wider die Hypertrophie bilanzrechtlicher Einschätzungs­ prärogativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 III. Ergebnisverwendung und Gewinnverwendungsvorschlag in der AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 1. Ermessensspielräume bei der Ergebnisverwendung . . . . . . . 652 2. Ermessensspielräume beim Gewinnverwendungsvorschlag? 654 IV. Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . 656 1. Aktienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656 2. GmbH-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658 a) Treuepflicht als Grenze der Mehrheitsmacht . . . . . . . . . . 658 b) Verteilung der Argumentationslast . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 3. Personengesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 § 23 Kontrolle des Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH I. Gesellschafter-Geschäftsführer zwischen unternehmerischer ­Ermessensfreiheit und mitgliedschaftlicher Loyalitätsbindung 666 II. Parallelität der Ermessensspielräume auf Gesellschafter- und ­Geschäftsführerebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667

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Teil 6: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Zum Teil 1: Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Zum Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung 674 Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen . . . . . . 677 Zu den §§ 7 bis 11: Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder . 677 Zu den §§ 12, 13: Kontrolle der Geschäftsleiter in GmbH und Personen­ gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 Zu den §§ 14 bis 16: Kontrolle der Aufsichtsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Zum Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern . 696 Zum Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707

XXIX

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Teil 1: Grundlagen § 1 Einführung I. Problemaufriss Der Unmut über die zunehmende Verrechtlichung des Unternehmertums ist allgegenwärtig und er ist auch berechtigt. Namentlich im Gefolge der Finanzmarktkrise hat sich die Regulierungsgeschwindigkeit deutlich erhöht, so dass Unternehmen immer mehr gesetzliche Vorgaben zu beachten haben. Diese Regelungen betreffen zum einen das Außenverhältnis, also die Tätigkeit am Markt, und zum anderen die interne Organisationsverfassung und die Art und Weise der Unternehmensführung.1 In diesem Dickicht an Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, Verwaltungsvorschriften und Leitlinien wird oft vergessen, dass das primäre Ziel der Unternehmen nicht darin besteht, Vorschriften zu befolgen, sondern einen wirtschaftlichen Mehrwert zu schaffen. Ein Wirtschaftsakteur will und soll in erster Linie Produkte herstellen und vertreiben oder Dienstleistungen erbringen, nicht aber die Untiefen der juristischen Dogmatik erforschen und seine Bemühungen dokumentieren. Verliert man dieses Ziel aus den Augen, droht das Unternehmertum zu ersticken. Adressat dieser verbreiteten Klage ist zumeist der Gesetzgeber, der zu größerer legislativer Zurückhaltung ermahnt wird. Tatsächlich gibt es aber noch einen zweiten Akteur, der den Druck der Überregulierung deutlich reduzieren könnte: die Rechtsprechung. Wie sehr das Unternehmertum durch die Gesetzesflut betroffen wird, hängt nämlich nicht allein von dem legislativen Eifer des Gesetzgebers ab, sondern es ist auch maßgeblich, welche Freiheiten der Gesetzgeber den Gerichten bei der Anwendung des Normenbestands gewährt und wie die Rechtsprechung mit diesen Freiheiten umgeht. Während sich manche Gerichte im judicial self-restraint üben, setzen sich andere beherzt mit den unternehmerischen Entscheidungsprozessen auseinander. Ein Beispiel richterlicher Selbstbeschränkung ist das vielbesprochene ARAG/Garmenbeck-Urteil, in dem der BGH den weiten Handlungsspielraum des Vorstands betonte.2 Auch 1 Zu sozialpolitisch motivierten Reformen des Aktienrechts Seibert AG 2015, 593, 596. Vgl. auch die Vorschläge bei Habersack, DJT-Gutachten, S. 70 ff. 2 BGHZ 135, 244, 253 f. = NJW 1997, 1926. 1

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Einführung

im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse zeigt sich der II. Zivilsenat zurückhaltend, etwa als er im Media-Saturn-Urteil hervorhob, dass ein Gesellschafter in der Ausübung seines Stimmrechts frei ist und die Gerichte bei der Stimm­ ausübungskontrolle keine Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen haben.3 Eine andere Haltung nahm aber zum Beispiel das LG München im Neubürger-Urteil ein, als es die Compliance-Systeme der Siemens AG auf Herz und Nieren überprüfte und dabei einen strengen Beurteilungsmaßstab anlegte.4 Wie die stetige Zunahme der Regelungsdichte ist auch das Neubürger-Urteil auf Kritik gestoßen: Die Organisation eines Compliance-Systems liege innerhalb eines Beurteilungsspielraums der Geschäftsleitung, der nicht durch eine umfassende gerichtliche Inhaltskontrolle zu stark eingegrenzt werden dürfe.5 Dieser immer wieder erklingende Ruf nach weniger Verrechtlichung und mehr unternehmerischer Beinfreiheit steht allerdings in einem auffälligen Kontrast zu der Klagefreude, wenn eigene Rechte betroffen sind. Aus dieser Blickrichtung wird die Einmischung der Gerichte in das Leben des Unternehmens nicht gleichermaßen kritisch gesehen. So sind vor allem in geschlossenen Gesellschaften Situationen denkbar, in denen die Gesellschafter in eine Pattsituation geraten, aus der sie aus eigenem Antrieb nicht mehr hinausgelangen, und deshalb nach gerichtlicher Hilfe suchen.6 Ein Beispiel ist die jahrelange Fehde zwischen der Metro AG, die ca. 78% Anteile der Media Saturn Holding GmbH hielt,7 und dem Media Markt-Gründer Erich Kellerhals, der über die Convergenta Invest GmbH zwar nur knapp 22% Anteile an der Media Saturn Holding GmbH hielt, aber mit umfassenden Mitsprache- und Vetorechten ausgestattet war und deshalb die Beschlussfassung in wichtigen Angelegenheiten verhindern konnte.8 Zwar scheint der Dauerstreit nach dem Tod 3 BGH NJW 2016, 2739 Rn. 14 f. 4 LG München NZG 2014, 345, 347 ff. 5 Vgl. etwa Harbarth/Brechtel ZIP 2016, 241, 248 ff.; Nietsch ZGR 2015, 631, 633 ff. Zum Organisationsermessen des Vorstands ferner Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 14; Spindler in MüKoAktG § 91 Rn. 67. 6 Zu den Überlegungen, das Instrumentarium der Gerichte in „deadlock“-Fällen zu erweitern, s. etwa Wedemann, Gesellschafterkonflikte, S. 564 ff. 7 Inzwischen hält die Ceconomy AG, die nach der Aufspaltung des Metro-Konzerns entstanden ist (s. hierzu https://www.ceconomy.de/de/unternehmen/geschichte/), die Anteile an der Media Saturn Holding GmbH (s.  Jahresabschluss 2017/18 der Ceconomy AG, S. 60). 8 Zu verweisen ist insoweit auf das soeben erwähnte Media-Saturn-Urteil des BGH aus dem Jahr 2016, vgl. BGH NJW 2016, 2739: Erich Kellerhals (Kläger) hält 21,62% der Anteile an der Holdinggesellschaft (Beklagte); Beschlüsse der Gesellschafterversammlung erfordern eine Mehrheit von 80 % der Stimmen. 2

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Problemaufriss

Kellerhals im Dezember 2017 inzwischen weitgehend beigelegt zu sein,9 das Rechtsproblem ist damit aber nicht gelöst: Inwieweit dürfen Richter in das Verbandsleben eingreifen? Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Gerichte einer widersprüchlichen Erwartungshaltung ausgesetzt sind.10 Sie sollen einerseits die Gesellschaftsorgane kontrollieren,11 andererseits aber die verbandsautonome Entscheidungsfindung nicht über Gebühr stören – ein Petitum, das durchaus verständlich ist, weil das Gesellschaftsrecht eine Teildisziplin des Zivilrechts ist, dessen Grundpfeiler die Privatautonomie und damit die Abwesenheit richterlicher Inhaltskontrolle ist.12 Diese Erwartungen kann die Rechtsprechung erfüllen, wenn sie die Einhaltung der formellen Regeln überprüft, die das Gesetz und der Ge­ sellschaftsvertrag für das Entscheidungsverfahren formulieren.13 Schwieriger  ist die Lage, wenn die Gerichte mit der Aufgabe konfrontiert sind, die ­verbandsrechtlichen Maßnahmen einer Inhaltskontrolle zu unterziehen. Das Gesellschaftsrecht sieht nämlich verhältnismäßig wenige subsumtionsfähige Regelungen vor, die inhaltliche Anforderungen an die Gesellschaftsorgane enthalten. Die Organe werden vielmehr in erster Linie durch Generalklauseln gesteuert, die teils gesetzlich geregelt sind, teils auf Richterrecht beruhen; zu nennen sind hier exemplarisch die Sorgfaltspflicht sowie die organschaftliche und mitgliedschaftliche Treuepflicht.14 Dadurch fehlen den Gerichten Orientierungspunkte, an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten können, was auf Seiten der Unternehmen zu gesteigerter Rechtsunsicherheit führt. Sind die Kontrollvorgaben an die Gerichte unscharf formuliert, können die Gesell 9 Vgl. die einträchtige Pressemitteilung v. 3.  Juni 2019, abrufbar unter https://www.­ ceconomy.de/media/pressemitteilung_geschafts_fuehrer_jahresabschluss.pdf. 10 Die Erwartungshaltung ist auch vom Zeitgeist abhängig, was am Beispiel der Organhaftung in Kapitalgesellschaften besonders deutlich wird. Während die Innenhaftungsansprüche bis in die 1990er Jahre als totes Recht angesehen wurden (s. nur Bernhardt ZHR 159 [1995], 310, 314; Lutter ZHR 159 [1995], 287, 304) und die Wissenschaft über die Effektuierung der Organhaftung debattierte (s. Lutter ZHR 159 [1995], 287, 305 ff.; Ulmer ZHR 163 [1999], 290 ff.), setzte sich in den 2000er Jahren allmählich die Erkenntnis durch, dass die Tätigkeit in den Leitungs- und Kontrollorganen mit existenzvernichtenden Risiken verbunden ist, die eingegrenzt werden sollten (vgl. nur J. Koch AG 2014, 513 ff.; Reichert ZHR 177 [2013], 756). 11 Zu den einzelnen Anknüpfungspunkten für die gerichtliche Kontrolle s. noch §§ 2, 3. 12 Hierzu und den Einschränkungen der Privatautonomie im Gesellschaftsrecht s. noch § 4 IV und V. 13 Zu verweisen ist an dieser Stelle etwa auf die zahlreichen Vorgaben an die Durchführung und Beschlussfassung in der HV einer AG (§§ 121 ff. AktG). 14 S. hierzu noch § 6 III 2 b sowie die Zusammenstellungen in § 7 II, III, § 11, § 14 I, § 15, § 17 I und §§ 19-23. 3

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Einführung

schaftsorgane oft nur schwer vorhersagen, ob ihre Entscheidungen im Einklang mit dem materiellen Gesellschaftsrecht stehen.

II. Gerichtliche Kontrolldichte als Untersuchungsgegenstand Vor diesem Hintergrund widmet sich die Untersuchung der Frage, mit welcher Intensität die Gerichte die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane inhaltlich überprüfen dürfen:15 In welchen Fällen muss die Rechtsprechung die Autonomie der Gesellschaftsorgane respektieren, in welchen Fällen ist es ihr gestattet, die verbandsrechtlichen Maßnahmen aus inhaltlichen Gründen zu beanstanden? Dabei wird die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle mit dem griffigen Begriff „Kontrolldichte“ oder „Prüfungsdichte“ umschrieben,16 der in erster Linie Assoziationen mit der öffentlich-rechtlichen Dogmatik hervorrufen dürfte.17 Die Lektüre des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums zeigt jedoch, dass dieser Begriff längst jenseits des öffentlichen Rechts aufgegriffen wird, um die Überprüfungskompetenzen der Gerichte zu umschreiben. So wird §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Norm verstanden, die die gerichtliche Kontrolldichte im Kontext der Geschäftsleiterhaftung steuert.18 Im Recht des Aufsichtsrats wird diese Figur etwa im Zusammenhang mit der Pflicht zur Verfolgung von Innenhaftungsansprüchen und mit der Festsetzung der Vorstandsvergütung

15 Freilich werden die Verbandsrechtsakteure nicht nur durch die Gerichte kontrolliert, sondern es existieren weitere Kontrollmechanismen, die die Rechtskontrolle flan­ kieren. Speziell bei Publikumsgesellschaften ist an die Kontrolle durch den Markt (s. etwa A. Arnold, Steuerung, S. 225 ff.; im CSR-Kontext Schön ZHR 180 [2016], 279, 285) zu denken. Auch Fremdkapitalgeber können die Kontrollfunktion ausüben (A. Arnold aaO S. 211 ff.). Diese außerrechtlichen Kontrollmechanismen werden im Rahmen der Untersuchung punktuell aufgegriffen, um die Grenze der richterlichen Kontrolle zu bestimmen, so etwa in § 18 VI 6. 16 Vgl. Gärditz, DJT-Gutachten, S.  54: „Kontrolldichte ist kein Rechtsbegriff, sondern eine Umschreibung der Gesamtintensität des Zugriffs der Gerichte bei der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen“. 17 Der Begriff der „Kontrolldichte“ wurde von Peter Lerche 1961 in die verwaltungsrechtliche Doktrin eingeführt, s. Lerche, Übermaß, S. 335, 346. Zur Kontrolldichte im Verwaltungsrecht s. noch § 5. 18 Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  81, 83, 91, 99; ders. in MüKoGmbHG §  43 Rn. 78, 79a, 85a, 88a; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 114 Rn. 141; Michalski/Ziemons GmbHG § 43 Rn. 130, 135; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 135; Kocher CCZ 2009, 215, 216; Paefgen NZG 2009, 891, 895. Vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Lüpkemann, Ermessen, S. 41; Schumann, Bezugsrecht, S. 141. Hierzu noch ausf. § 7 V 6. S. ferner Möslein, Leitungsmacht, S. 46. 4

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Gerichtliche Kontrolldichte als Untersuchungsgegenstand

aufgegriffen.19 Und auch bei der Überprüfung der Gesellschafterbeschlüsse ist von der Kontrolldichte die Rede.20 Die Assoziationen mit dem öffentlichen Recht zeigen zugleich, dass der Begriff der gerichtlichen Kontrolldichte mit anderen Figuren untrennbar verbunden ist: dem Ermessen und den Beurteilungsspielräumen, die administrative Entscheidungen vor einem engmaschigen Zugriff der Judikative abschotten.21 Das verwaltungsrechtliche Schrifttum hebt hervor, dass die richterliche Prüfungsdichte davon abhängt, inwieweit die Behörden eine Einschätzungsprärogative genießen.22 Auch im Gesellschaftsrecht ist eine Wechselwirkung zwischen der Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle und den Letztentscheidungskompetenzen der Gesellschaftsorgane zu beobachten.23 In allen Fällen, in denen das Schrifttum den Begriff der Kontrolldichte verwendet,24 werden Ermessens- und Beurteilungsspielräume der Organe diskutiert.25 Anders als im Verwaltungsrecht, wo die unterschiedlichen Ausprägungen der behördlichen Einschätzungsprärogativen einer dogmatischen Kategorie zuge19 Fleischer in BeckOGK AktG § 87 Rn. 46; Bieder NZG 2015, 1178, 1183; Holle ZHR 182 (2018) S. 569, 579; J. Koch NZG 2014, 934, 940; Reichert ZHR 177 (2013), 756, 766 ff. 20 Generell zu den Schranken der Mehrheitsmacht Scholz/K.  Schmidt GmbHG §  47 Rn. 30 (in der Überschrift); Boese, Anwendungsgrenzen, S. 95 (Kontrollintensität – in der Überschrift); Hofmann, Minderheitsschutz, S. 223, 263; Fleischer ZHR 179 (2015), 404, 442 f.; Lutter ZGR 1981, 171, 178. Zu den Grundlagenbeschlüssen Hölters/Englisch AktG § 243 Rn. 45. Zum Bezugsrechtsausschluss bei Kapitalerhöhung Hölters/ Apfelbacher/Niggemann AktG § 186 Rn. 65; Habersack in MüKoAktG § 221 Rn. 188; Hüffer/J. Koch AktG § 203 Rn. 33; Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 113, 115; Köster, Rechtsschutz, S.  55.  Zur Gewinnverwendung Hölters/Waclawik AktG § 58 Rn. 35; Fleischer/Trinks NZG 2015, 289, 292 f. 21 Hierzu ausf. § 5. 22 S. nur Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 6; K. Redeker DÖV 1971, 757. 23 Dies zeigt zudem, dass die im öffentlich-rechtlichen Schrifttum anzutreffende Aussage, dass die Zivilgerichte entscheiden und die Verwaltungsgerichte kontrollieren (vgl. Gärditz, DJT-Gutachten, S. 54; Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 56; K. Redeker DÖV 1971, 757, 762), in dieser Allgemeinheit nicht zutrifft. So wie die Verwaltungsgerichte einen bereits erlassenen hoheitlichen Rechtsakt überprüfen (s. Gärditz aaO), so kon­ trollieren die Zivilgerichte eine Maßnahme eines Gesellschaftsorgans. 24 S. schon die Nachw. in Fn. 18 bis 20. 25 Zu den Geschäftsleitern s. nur Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 43 Rn. 33 ff.; C. Schäfer in MüKoBGB § 709 Rn. 30; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 43. Zum AR Michalski/Giedinghagen GmbHG §  52 Rn.  306; Habersack in MüKoAktG §  116 Rn.  39.  Zu den Gesellschaftern etwa Drescher in BeckOGK AktG §  243 Rn.  169; Merkt in MüKoGmbHG § 13 Rn. 124. 5

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Einführung

ordnet sind,26 differenziert das gesellschaftsrechtliche Schrifttum mitunter nicht zwischen Ermessens- und Beurteilungsspielräumen.27 Nur vereinzelt wird der Versuch unternommen, unternehmerisches Ermessen und die tatbestandlichen Beurteilungsspielräume als gesonderte Kategorien voneinander abzugrenzen.28 Im Hinblick auf diesen begrifflichen Wirrwarr liegt das zweite Ziel dieser Untersuchung darin, die unterschiedlichen Intensitätsstufen der gerichtlichen Inhaltskontrolle aus der Perspektive der Gesellschaftsorgane einer gesonderten dogmatischen Kategorie zuzuordnen.29 Diese Kategorisierung soll die künftige Diskussion um die organschaftlichen Letztentscheidungskompetenzen und die richterliche Kontrolldichte erleichtern. Freilich sollen sich die Ausführungen nicht in einer bloßen Begriffsbildung erschöpfen. Vielmehr wird herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen sich ein Gesellschaftsorgan auf eine Einschätzungsprärogative berufen darf und – damit korrespondierend – das Gericht die Intensität der Inhaltskontrolle lockern muss. Diese Aufgabe ist umso dringlicher, als Rechtsprechung und Schrifttum dazu neigen, einem Gesellschaftsorgan unreflektiert einen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum einzuräumen, ohne aber zu erläutern, unter welchen Voraussetzungen ein solcher Spielraum besteht und wie weit dessen Grenzen reichen.30 Häufig wird schlicht auf die „Business Judgment Rule“ ver26 Es wird differenziert zwischen dem Rechtsfolgenermessen (§ 5 I), Beurteilungsspielraum (§ 5 II), Planungsermessen (§ 5 III) und Regulierungsermessen (§ 5 IV). 27 S. etwa Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 42; Merkt in MüKoGmbHG § 13 Rn. 124; Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 203 Rn. 28 f.; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 54; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 59 Rn. 62; T. Diekmann, Vertrauen, S. 63. Manchmal ist vom „Beurteilungsermessen“ die Rede, s. Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 186 Rn.  56; Servatius in BeckOGK AktG §  186 Rn.  70; Hofmann, Minderheitsschutz, S. 672; Timm ZHR 153 (1989), 60, 63. 28 Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 11; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 142 ff.; Holle AG 2011, 778, 785. 29 Hierzu insb. § 10 II. 30 Als Beispiele mögen folgende Kommentarstellen dienen: Drescher in BeckOGK AktG §  243 Rn.  169 (großer Ermessensspielraum und großer unternehmerischer Freiraum); Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG §  13 Rn.  26 (unternehmerisches Ermessen); Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 114 Rn. 27 (Ermessensspielraum); Staudinger/Habermeier BGB §  709 Rn.  31 (Ermessensspielraum); Heidel in NK-BGB §  711 Rn.  4 (weiter Ermessensspielraum) Michalski/Lieder GmbHG §  13 Rn.  166 (unternehmerischer Beurteilungsspielraum); Merkt in MüKoGmbHG §  13 Rn. 124 (Beurteilungsspielraum; Ermessensspielraum); Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 285 (unternehmerisches Ermessen); Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG §  13 Rn.  57 (Beurteilungsspielraum); Rawert in MüKoHGB §  114 Rn.  56 (breiter Ermessensspielraum); Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 203 Rn. 28 f. (Ermessen; Beurteilungsspielraum); Wasmer in BeckOGK AktG § 203 Rn. 97 (unterneh6

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Gerichtliche Kontrolldichte als Untersuchungsgegenstand

wiesen, ohne sich aber mit den einzelnen Merkmalen dieses Rechtsinstituts vertieft auseinanderzusetzen.31 Mitunter entsteht der Eindruck, dass die Aussage „Es gilt die Business Judgment Rule“ wie eine Zauberformel verwendet wird, mit deren Hilfe sich die Konflikte zwischen den Gesellschaftsorganen mühelos lösen lassen. Es wird sich zeigen, dass die Rechtslage deutlich komplizierter ist. Das vorstehend skizzierte Programm soll sich nicht nur auf eine Gesellschaftsform oder auf ein Gesellschaftsorgan fokussieren, sondern es ist im Sinne einer gesellschaftsrechtlichen Institutionenbildung rechtsform- und organübergreifend angelegt. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, das Problem der richterlichen Prüfungsdichte und der damit korrespondieren Letztentscheidungsspielräume aus dem haftungsrechtlichen Kontext herauszulösen. Namentlich die Diskussion um die Ausgestaltung der Vorstandsinnenhaftung und die systematische Verankerung der deutschen Business Judgment Rule in § 93 Abs. 1 AktG haben dazu geführt, dass Ermessens- und Beurteilungsspielräume als haftungsrechtliche Figuren verstanden werden.32 Dass diese Einordnung nicht zutrifft, wurde schon früher herausgearbeitet,33 ist aber in den letzten Jahren zunehmend in Vergessenheit geraten. Da das haftungsrechtliche Verständnis merisches Ermessen); Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG Anh § 47 Rn. 96 (weites unternehmerisches Ermessen). 31 So etwa (in unterschiedlichem Kontext) LG Kiel NJOZ 2010, 1330, 1332; Hölters/Apfelbacher/Niggemann AktG §  186 Rn.  65; Hirte in KK-WpÜG §  27 Rn.  50; Hüffer/​ J.  Koch AktG §  76 Rn.  41a; Oppenhoff in HdB ÜbernahmeR §  9 Rn.  31; Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 5; Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 50; Schürnbrand in MüKoAktG, 4. Aufl., § 186 Rn. 108 (ausf. jetzt Schürnbrand/Verse in MüKoAktG §  186 Rn.  114  f.); Servatius in BeckOGK AktG §  186 Rn.  60; Veil in K.  Schmidt/Lutter AktG §  203 Rn.  30; J. Vetter in MüKoGmbHG Vor §  58 Rn.  62; Kruse in Mülbert/Habersack/Schlitt Unternehmensfinanzierung Rn. 6.52; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 59 Rn. 62; Heß, Investorenvereinbarungen, S. 180, 240; Boese, Anwendungsgrenzen, S.  96  f.; Dietz-Vellmer NZG 2011, 248, 251; Groß-Langenhoff StudZR 2007, 43, 59 f.; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 579, 593. 32 Die Fixierung auf das Haftungsrecht ist insb. in Stellungnahmen deutlich, die die BJR mit der Verhinderung der Erfolgshaftung in Verbindung bringen, s. dazu noch § 7 V 1 mit Fn. 92 und die Kritik in § 7 V 2. Vgl. ferner Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 67 ff.; B. Peus, Haftung, S. 101; J. Vetter, FS Bergmann, S. 827, 846. In diese Richtung auch T. Diekmann, Vertrauen, S. 62. 33 Zum Vorstandsrecht etwa Paefgen AG 2004, 245, 250.  Zur Kontrolle der HV-Beschlüsse Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 114; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 273 ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163 ff. Dass die Rspr. den Ermessensgedanken schon früh im Kontext der HV-Beschlüsse aufgegriffen hat, wurde bereits an einer anderen Stelle gezeigt; s. Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 216 f. 7

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Einführung

mitunter zu fehlerhaften dogmatischen Schlüssen führen kann,34 werden die Auswirkungen der Letztentscheidungskompetenzen jenseits des Haftungsrechts in Erinnerung gerufen. Die Untersuchung fokussiert sich auf Maßnahmen im lebenden Verband, also auf die gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen der Verwaltungsorgane und von Gesellschafterbeschlüssen. Ausgeklammert wird damit der Bereich der Vertragskontrolle,35 die sich auf Maßnahmen bezieht, die zur Entstehung des Verbands führen. Nicht eingegangen wird ferner auf die Überprüfung der verbandsrechtlichen Entscheidungen durch die Registergerichte und auf die Kontrolle der Unternehmensbewertung.36

III. Stand der Forschung In der vorstehenden Beschreibung der Aufgabenstellung wurde deutlich, dass sich das Schrifttum in unterschiedlichen Zusammenhängen mit dem Begriff der gerichtlichen Kontrolldichte und den damit zusammenhängenden Letzt­ entscheidungskompetenzen der Gesellschaftsorgane auseinandergesetzt hat. Gleichwohl beziehen sich die meisten Stellungnahmen entweder auf eine Gesellschaftsform oder auf ein Gesellschaftsorgan. Es fehlt bislang eine rechtsform- und organübergreifende Untersuchung der richterlichen Prüfungsdichte, die zugleich die Gesetzesänderungen in den vergangenen Jahren berücksichtigt.37

34 Als Beispiel sei an dieser Stelle der zwanghafte Versuch genannt, den Anwendungs­ bereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf alle Entscheidungen unter Unsicherheit zu erstrecken und dabei zu vernachlässigen, dass viele Fälle unter Rückgriff auf den Rechtsirrtum gelöst werden können; s. dazu noch in § 8 II 5. Zudem führt das haftungsrechtliche Verständnis der BJR dazu, dass ihre Bedeutung für die Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse bestritten wird; so etwa bei Köster, Rechtsschutz, S. 51 f. und Mayer, Beschlusskontrolle, S.  191.  Auch bei Organbeschlüssen verdunkelt die haftungsrechtliche Einordnung der BJR das Problem; s. etwa zur angemessenen Informationsgrundlage Harbarth, FS Seibert, S. 291, 298. 35 S. hierzu etwa Fastrich, Inhaltskontrolle, S. 124 ff. 36 Dazu im Kontext des § 255 Abs. 2 AktG in § 20 III 3 b. 37 Mancherorts wird sogar die These vertreten, die grundlegenden strukturellen Unterschiede zwischen den Verwaltungsorganen einerseits und der Gesellschafterversammlung andererseits würden es kaum zulassen, einen einheitlichen Verhaltensmaßstab zu formulieren; s. Mayer, Beschlusskontrolle, S. 30. Dass diese These nicht überzeugt, wird in § 18 herausgearbeitet. 8

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Stand der Forschung

So war die 2002 erschienene Habilitationsschrift von Walter Paefgen organübergreifend angelegt, sie bezog sich aber nur auf die Aktiengesellschaft.38 Die Habilitationsschrift von Andrea Lohse aus dem Jahr 2005 war ebenfalls auf das Aktienrecht beschränkt und klammerte überdies die Hauptversammlung aus.39 Der Zeitpunkt, in dem diese Untersuchungen erschienen sind, zeigt zudem, dass sie sich nicht bzw. nur punktuell40 mit dem 2005 eingeführten § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beschäftigten. Aus der heutigen Perspektive ist dies unbefriedigend, weil die Kodifizierung der Business Judgment Rule im Zuge des UMAG die Diskussion um die gerichtliche Kontrolldichte befeuerte und zur weiteren Rechtsentwicklung beitrug.41 Auch die Dissertationen grenzten den Untersuchungsgegenstand auf einzelne Organe oder Gesellschaftsformen ein. So beschäftigten sich die ersten Abhandlungen zum neu eingeführten § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vornehmlich mit der Vorstandshaftung.42 Vereinzelte Monographien gingen speziell auf den Aufsichtsrat oder auf die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft ein.43 Rechtsformübergreifende Abhandlungen beschäftigten sich mit den Geschäftsleitungsorganen und hatten dabei in erster Linie die haftungsrechtlichen Auswirkungen der Business Judgment Rule im Blick,44 ohne auf die Ge38 Paefgen führte in den Schlussworten an, er hege die bescheidene Hoffnung, mit seinem Diskussionsbeitrag Denkanstöße für weiterführende Überlegungen im GmbHund Personengesellschaftsrecht geliefert zu haben (Paefgen, Entscheidungen, S. 586). Wie die im Aktienrecht herausgearbeiteten Grundsätze im GmbH- und Personengesellschaftsrecht aufgegriffen werden können, zeigte Paefgen in FS U.H. Schneider, S. 929, 950 und ZIP 2016, 2293, 2296 ff. 39 Dies kommt schon in ihrem Untertitel zum Ausdruck: „Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat“. 40 Lohse behandelte die neu eingeführte BJR nur auf wenigen Seiten (Lohse, Ermessen, S. 42-50). 41 Speziell bei Lohse kommt hinzu, dass ihr dogmatisches System im Widerspruch zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG steht, weil es auf eine deutlich intensivere Inhaltskontrolle der Vorstands- und AR-Entscheidungen ausgerichtet ist, s. Lohse, Ermessen, S. 48 ff. 42 So der Schwerpunkt bei Bunz, Geschäftsleiterermessen, passim; Jena, Business Judgment Rule, passim; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 43 ff.; Schnieders, Haftungsfreiräume, passim; Winnen, Innenhaftung, passim. Zum Ermessen und Vorstands­ haftung vor Kodifizierung der BJR etwa M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, passim; M. Roth, Ermessen, passim. Vgl. ferner die Monographie von Bahnsen, Haftung, S. 23 ff. 43 Zum AR Göppert, Business Judgment Rule, passim. Zur HV Wallisch, Entscheidungen, passim. Punktuell gehen auf die Anwendung der BJR auf die HV-Beschlüsse ein: Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 273 ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163 ff. 44 So St. Fischer, Business Judgment Rule, passim. Für den GmbH-Geschäftsführer Taube, Business Judgment Rule, passim. Zu den Geschäftsleitern einer Personengesellschaft punktuell Spitze, Geschäftsführung, S. 93. 9

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Einführung

sellschafterbeschlüsse einzugehen.45 Festschriften- und Zeitschriftenbeiträge sowie Kommentierungen und Handbücher nehmen naturgemäß eine begrenzte Perspektive ein. Diese punktuellen Ansätze will die folgende Untersuchung systematisieren, um darauf aufbauend zu zeigen, dass die richterliche Kontrolldichte rechtsform- und organübergreifend nach ähnlichen Kriterien zu bestimmen ist.

45 Punktuell griff aber Melanie Dettke § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf, um die Spielräume der Gesellschafter einer Personengesellschaft bei der Gewinnverwendung zu bestimmen; s. Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 323 ff. 10

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§ 2 Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle I. Außen- und Innenrechtsstreitigkeiten Die Frage nach der Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle stellt sich nur in Fällen, in denen ein Gericht mit einer verbandsrechtlichen Maßnahme befasst wird.1 Besteht keine Möglichkeit, einen Konflikt zwischen den Verbandsrechtsakteuren vor Gericht auszutragen, ist die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte irrelevant. Deshalb werden im Folgenden die typischen verbandsrechtlichen Konfliktlagen beleuchtet, in denen Gesellschafter, Gesellschaftsorgane und Organmitglieder durch Zivilgerichte kontrolliert werden können. Strafrechtliche Kontrollinstrumente werden aus der Untersuchung ausgeklammert – wohl wissend, dass auch Strafgerichte namentlich im Zusammenhang mit der Untreue (§ 266 StGB) mit verbandsrechtlichen Maßnahmen befasst werden können. Im Hinblick auf die (asymmetrische) Zivilrechtsakzessorietät zahlreicher Vermögensdelikte2 spielen aber die Überlegungen zur richterlichen Prüfungsdichte auch im Strafrecht eine Rolle.3 Trotz der unterschiedlichen praktischen Relevanz der einzelnen Konfliktlagen wird hier der Versuch unternommen, die dogmatischen Strukturen des Gesellschaftsrechts unabhängig davon zu erforschen, inwieweit die Praxis mit den Problemen aktuell konfrontiert ist. Im Vordergrund steht nicht die Lösung konkreter Fälle, sondern die Entwicklung rechtsform- und organübergreifender Grundsätze der richterlichen Kontrolle. Es soll ein begrifflich-systematisches Grundgerüst geschaffen werden, auf dem weitere Überlegungen zur gerichtlichen Prüfungsdichte aufbauen. Im Verlauf der Untersuchung wird außerdem deutlich, dass diese gedankliche Vorarbeit kein bloßes Glasperlenspiel ist, sondern wichtige systematische Argumente für die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte liefern wird. 1 Zu den Auswirkungen der gerichtlichen Kontrolle auf die Corporate Governance s. noch § 2 VI 2. 2 Zur Untreue etwa Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 91; R. Esser NZWiSt 2018, 201 ff. (der auf S. 204 zutr. betont, dass die zivilrechtliche Haftung nicht zwingend die Strafbarkeit gem. § 266 StGB nach sich zieht und eine eigenständige strafrechtliche Wertungsebene erforderlich ist). 3 Speziell zur Bedeutung des BJR für die Untreue Baur/Holle ZIP 2017, 555, 557  ff.; R. Esser NZWiSt 2018, 201, 206 f. 11

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Facettenreiche Regelungen, die das Ausmaß richterlicher Kontrolle determinieren, werden im Schrifttum oft nur aus einem spezifischen Blickwinkel beleuchtet, was dazu führt, dass nicht alle relevanten Gesichtspunkte in der Diskussion genannt und wahrgenommen werden. Darüber hinaus kann die dogmatische Grundlegung auch für die Praxis relevant sein, weil die – häufig nur theoretische – Möglichkeit, ein Gericht mit gesellschaftsinternen Streitigkeiten zu befassen, ein Druckmittel sein kann, mit dessen Hilfe ein Konflikt um verbandsrechtliche Maßnahmen beendet werden kann.4 Zudem wird sich noch zeigen, dass die Reichweite der gerichtlichen Prüfung die Organisationsverfassung der Gesellschaften beeinflusst. Die Intensität, mit denen sich die Verbandsorgane gegenseitig kontrollieren dürfen, hängt in vielen Fällen von der richterlichen Prüfungsdichte ab.5 Insoweit ist es ratsam, zunächst herauszuarbeiten, in welchen Konstellationen die Gerichte verbandsrechtliche Maßnahmen überprüfen können. Will man die typischen Spannungsfelder der richterlichen Inhaltskontrolle im Gesellschaftsrecht systematisieren, bietet es sich an, zwischen verbandsrechtlichen Konfliktlagen in Außen- und Innenrechtsstreitigkeiten zu differenzieren. Um Außenrechtsstreitigkeiten handelt es sich in Fällen, in denen sich ein Gesellschafter oder ein Organmitglied und die Gesellschaft vor Gericht gegenüber stehen. Bei einem Innenrechtsstreit ist die Gesellschaft als solche nicht am Prozess beteiligt. Vielmehr wird der Konflikt innerhalb der Gesellschaft ausgetragen. Es streiten Gesellschafter, Organe oder Organmitglieder untereinander. Namentlich in den letztgenannten Fällen des Organstreits treten besondere materiell-rechtliche und prozessuale Probleme auf, die in § 3 näher beleuchtet werden.

II. Systematisierung der kontrollierten Akteure 1. Gesellschafter und Verwaltungsorgane Blendet man die Frage aus, ob der Konflikt eine Außen- oder eine Innenbeziehung betrifft, kann zwischen unterschiedlichen Objekten der gerichtlichen Kontrolle differenziert werden. Freilich ist eine solche Systematisierung nicht zwingend,6 doch können auf dieser Grundlage die Gemeinsamkeiten und Un4 Speziell zur Überwachung des AR durch den Vorstand J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 584. 5 Vgl. dazu noch in § 2 VI 2. 6 Es ist etwa denkbar, zwischen dem Organ und den Organmitgliedern zu differenzieren, vgl. zum AR Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 292 f. 12

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Systematisierung der kontrollierten Akteure

terschiede bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte präziser he­ rausgearbeitet werden. Auch lässt sich nicht leugnen, dass die Schwerpunkte der gerichtlichen Kontrolle von der Rechtsform und dem kontrollierten Organ abhängen. So hat sich das Schrifttum in den vergangenen Jahren intensiv mit der Schadensersatzhaftung der Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft beschäftigt. Die Diskussion zur Innenhaftung der GmbH-­ Geschäftsführer wurde mit weitaus geringerer Intensität geführt, die Innenhaftung der Gesellschafter hat das Schrifttum kaum interessiert. Dies gilt auch für die Beschlusskontrolle: Während das Beschlussmängelrecht im Hinblick auf die Gesellschafterbeschlüsse die Gemüter erhitzt, schenkt das Schrifttum der Kontrolle von Verwaltungsbeschlüssen deutlich weniger Aufmerksamkeit. Beginnt man die Systematisierung mit der Frage, wer durch die Gerichte kontrolliert werden kann, bietet es sich an, im Ausgangspunkt zwischen Gesellschaftern7 einerseits und Verwaltungsorganen und ihren Mitglieder andererseits zu unterscheiden. Dabei sind die folgenden Ausführungen als eine grobe Annäherung zu verstehen, die die Organisationsstrukturen der Gesellschaftsformen um der Übersicht willen stark vereinfacht. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gestaltungsfreiheit, die die Gesellschafter  – mit Ausnahme der Aktionäre (§ 23 Abs. 5 Satz 1 AktG) – im Innenverhältnis genießen. Die Systematisierung erfüllt deshalb eine bloße Ordnungsfunktion, ohne dass sie schematisch auf jeden Verband übertragen werden kann; entscheidend ist die jeweilige Verbandsstruktur im Einzelfall. Auch lassen sich aus den folgenden Ausführungen noch keine dogmatischen Schlussfolgerungen ableiten. Die Trennlinie zwischen den Gesellschaftern und den Verwaltungsorganen sowie ihren Mitgliedern ist deutlich sichtbar in den körperschaftlich strukturierten Verbänden, für die der Grundsatz der Fremdorganschaft prägend ist:8 Auf der einen Seite stehen die GmbH-Gesellschafter und die Aktionäre, auf der anderen Seite sind der Vorstand und seine Mitglieder, die Geschäftsführer sowie die Überwachungsorgane verortet.9 Auch wenn die Gesellschafter den Verwaltungsorganen angehören können, was häufig der Fall sein dürfte,10 lässt

7 Im Folgenden werden Gesellschafter auch als „Verbandsmitglieder“ bezeichnet. 8 Zur Fremdorganschaft J. Koch GesR § 2 Rn. 11. 9 Zur Bezeichnung des Geschäftsleitungs- und Überwachungsorgane als Verwaltung s. nur Langenbucher Aktien- und KapMR § 5 Rn. 1a. 10 Es ist schwer vorstellbar, dass ein Vorstandsmitglied keine Aktien der „eigenen“ AG hält. In der GmbH sprechen die Rechtstatsachen eine deutliche Sprache: Die Gesellschafter sind in der Geschäftsführung involviert, vgl. nur Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 37 ff. 13

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sich gedanklich klar zwischen den Gesellschaftern und der Verwaltung differenzieren.11 Innerhalb der Personengesellschaften ist eine solche Grenzziehung wegen des Grundsatzes der Selbstorganschaft nicht ohne weiteres möglich. Die Gesellschafter einer gesetzestypischen Personengesellschaft sind Verbandsmitglieder, die zugleich Verwaltungsaufgaben wahrnehmen;12 nach dem gesetzlichen Leitbild sind alle persönlich haftenden Gesellschafter geschäftsführungsbefugt. Immerhin lässt sich in einem solchen Fall zwischen zwei Aufgabenfeldern trennen: Einerseits können sich die Gesellschafter der Geschäftsführung widmen, andererseits Grundlagenentscheidungen treffen.13 In der erstgenannten Funktion sind sie – wenn auch mit Vorsicht – mit den Verwaltungsorganen einer Körperschaft vergleichbar. Im letztgenannten Fall nehmen sie Aufgaben wahr, die in den körperschaftlich strukturierten Verbänden den Gesellschaftern obliegen. Insoweit kann auch für die Personengesellschaften eine gedankliche Grenze zwischen den Gesellschaftern und der Verwaltung gezogen werden. Die Trennung zwischen der Verwaltung und den Gesellschaftern ist einfacher, wenn es sich um eine Personengesellschaft mit einer atypischen Organisationsstruktur handelt. Als eine solche kann zunächst die Kommanditgesellschaft eingeordnet werden, in der §  164 Satz  1 HGB die Kommanditisten von der Geschäftsführung ausschließt. Die Kommanditgesellschaft entspricht also nicht dem Leitbild einer Personengesellschaft als Arbeits- und Haftungsgemeinschaft. Vielmehr sind die Kommanditisten Kapitalgeber, die zwar an der Willensbildung des Verbands beteiligt sind, wenn außergewöhnliche Geschäfte oder Grundlagengeschäfte auf der Agenda stehen,14 sich aber – geht man vom gesetzlichen Grundmodell aus  – nicht als Verwaltungsorgane qualifi­ zieren lassen.15 Den Komplementären obliegt es hingegen, als Gesellschafter 11 Deutlich tritt die Trennung zwischen den Verwaltungsorganen und Gesellschaftern in der Diskussion um das aktienrechtliches Beschlussmängelrecht zutage, wo die Frontlinie nicht nur zwischen der Aktionärsmehrheit und -minderheit verläuft, sondern – vor allem bei Verfahrensfehlern – zwischen Vorstand und AR einerseits und Minderheitsaktionären andererseits gezogen werden kann. 12 Im Rahmen dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Gesellschafter einer Personengesellschaft als ihre Organe tätig sind. Zu dieser umstrittenen Frage vgl. Schürnbrand, Organschaft, S.  11  ff. (der die Organeigenschaft der Gesellschafter zu Recht bejaht). 13 Zu dieser Unterscheidung etwa C. Schäfer in MüKoBGB § 709 Rn. 7 ff. 14 Statt vieler Grunewald in MüKoHGB § 164 Rn. 10 ff., 16 ff. 15 Freilich kann der Gesellschaftsvertrag den Kommanditisten Geschäftsführungsbefugnisse einräumen, so dass sie in einem solchen Fall zu Verwaltungsorganen werden. Einzelheiten bei Grunewald in MüKoHGB § 164 Rn. 23 ff. 14

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Systematisierung der kontrollierten Akteure

die Grundlagenentscheidungen zu treffen und zugleich die Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen. Diese Organisationsstruktur rückt die Kommanditgesellschaft in die Nähe der Körperschaften, auch wenn sie weiterhin eine Personengesellschaft ist.16 Eine körperschaftliche Struktur weisen zudem Publikumspersonengesellschaften auf, in denen nur ein kleiner Teil des Gesellschafterkreises in die Geschäftsführung involviert ist, während die Mehrheit der Gesellschafter das Kapital zur Verfügung stellt. In einem solchen Fall lässt sich die Grenzlinie zwischen der Verwaltung und den „schlichten“ Gesellschaftern klar ziehen.17 2. Unterscheidung innerhalb der Verwaltung: Geschäftsleitung und Aufsicht Verfügt die Gesellschaft über eine verselbständigte Verwaltung, kann sich die gerichtliche Kontrolle – je nach Zuschnitt der Gesellschaft – auf die Geschäftsleitungs- und Aufsichtsorgane sowie ihre Mitglieder beziehen. Ein Referenzmodell für eine solche Differenzierung innerhalb der Verwaltungsorgane ist die Aktiengesellschaft, in der der Vorstand als Leitungs- und Geschäftsführungsorgan (§§ 76 f. AktG) vom Aufsichtsrat überwacht wird (§ 111 Abs. 1 AktG); im Ausgangspunkt gleich ist die Verwaltungsstruktur einer mitbestimmten GmbH (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG).18 Sieht die Organisationsverfassung eines Verbands kein obligatorisches Aufsichtsorgan vor, kann ein solches auf vertraglicher Grundlage geschaffen ­werden. Ausdrücklich vorgesehen ist eine solche Möglichkeit in § 52 Abs. 1 GmbHG, der eine Regelung über den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH trifft und sich dabei eng an das aktienrechtliche Vorbild anlehnt. Aber auch in anderen Gesellschaftsformen kann ein solches Organ ohne eine explizite gesetzliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen werden, wobei die Bezeichnungen im Einzelfall variieren; in der Praxis sind etwa Aufsichtsräte, Beiräte, Verwaltungsräte oder Gesellschafterausschüsse anzutreffen.19 Diese Gremien können auf gesellschaftsvertraglicher Grundlage mit Kompetenzen ausgestat16 Vgl. Häublein in BeckOK HGB § 161 Rn. 3: „Übergang von der Personal- zur Kapitalgesellschaft“. 17 Hinzu kommt, dass in Publikumspersonengesellschaften häufig ein fakultatives Überwachungsorgan (zB ein Beirat) installiert wird, vgl. noch sogleich in § 2 II 2 und die Nachw. aE der Fn. 19. 18 Vgl. Michalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn. 48 ff. 19 Zur GmbH Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 714 ff.; zu den Publikumspersonengesellschaften Staub/Casper HGB §  161 Rn.  210  ff.; Grunewald in MüKoHGB §  161 Rn. 158 ff. 15

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Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle

tet werden, die mit den Befugnissen eines obligatorischen Aufsichtsrats vergleichbar sind. Vor diesem Hintergrund können sie als Verwaltungsorgane eingeordnet werden, die nicht an der Geschäftsführung beteiligt sind.

III. Systematisierung der Kontrollgegenstände: Verhalten und Willensbildung Während die Differenzierung zwischen den kontrollierten Akteuren die Frage betrifft, wer der gerichtlichen Prüfung unterzogen wird, geht es bei der Systematisierung der Kontrollgegenstände um die Frage, was kontrolliert wird. Dabei lassen sich die Kontrollgegenstände in zwei Kategorien unterteilen. In die erste Kategorie gehören Fälle, in denen das Verhalten der Verbandsrechtsakteur bewertet wird. Das Gericht qualifiziert das Verhalten – je nach gesetzlichem Anknüpfungspunkt in der konkreten Situation – als pflichtwidrig oder pflichtenkonform, als verschuldet oder unverschuldet. Es geht um den einzelnen Gesellschafter oder das einzelne Organmitglied, deren (objektiv bzw. subjektiv) pflichtwidriges Tun oder Unterlassen Konsequenzen nach sich zieht, wie etwa Schadensersatz- oder Unterlassungsansprüche oder Personalmaßnahmen. Das Gericht muss das Verhalten der Akteure einer (meist nachträglichen) Kontrolle unterziehen, um zu entscheiden, ob die daran anknüpfenden Folgen berechtigt sind. Die gerichtliche Entscheidung betrifft also die persönliche Stellung der Verbands- oder Organmitglieder; sie ergeht in der Regel im Rahmen einer Außenrechtsstreitigkeit. In der zweiten Kategorie geht es um Fälle, in denen das Gericht den Willensbildungsprozess innerhalb des Verbands und dessen Ergebnis auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft. Als Beispiel kann etwa das Beschlussmängelrecht dienen. Das Gericht muss in erster Linie die Frage klären, ob die Kollektiventscheidung der Gesellschafter oder Verwaltungsorgane Bestand hat oder ob sie keine Rechtswirkungen entfaltet bzw. korrigiert werden muss. Ob sich die einzelnen Gesellschafter oder Organmitglieder pflichtwidrig oder schuldhaft verhalten haben, spielt dagegen im Rahmen der Willensbildungskontrolle eine nachgeordnete Rolle.20 Die Unterscheidung zwischen der Verhaltens- und Willensbildungskontrolle mag bei einer Einzelperson gekünstelt erscheinen. Die Einzelperson trifft eine Entscheidung und richtet ihr Verhalten danach aus, so dass beides gleichzeitig der richterlichen Überprüfung am gleichen Maßstab unterzogen wird. Anders verhält es sich bei Entscheidungen eines Organs, das aus mehreren Mitglie20 Zum Streit um den Gegenstand der Beschlusskontrolle s. noch § 17 V 3. 16

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Verhaltenskontrolle

dern besteht. In diesem Fall kann das Verhalten der einzelnen Mitglieder anders zu beurteilen sein als das Ergebnis der kollektiven Willensbildung.21

IV. Verhaltenskontrolle 1. Schadensersatzansprüche Paradigmatisch für die Verhaltenskontrolle ist die vieldiskutierte Geschäftsleiterhaftung in den Kapitalgesellschaften. Rechtsprechung und Schrifttum ringen seit langem um die Frage, in welchen Fällen ein Geschäftsleiter auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden kann, weil er sich sorgfaltswidrig verhalten hat. In der Aktiengesellschaft geht es dabei in erster Linie um Innenhaftungsansprüche aus §  93 Abs.  2 AktG, in der GmbH steht §  43 Abs.  2 ­GmbHG im Mittelpunkt. Beide Anspruchsgrundlagen setzen eine Pflichtverletzung des Geschäftsleiters voraus und bieten damit ein Einfallstor für die inhaltliche Verhaltenskontrolle. Außerdem können Außenhaftungstatbestände, so etwa § 823 Abs. 2 BGB oder § 826 BGB,22 ein Anknüpfungspunkt für die richterliche Kontrolle des Geschäftsleiterhandelns sein. Überdies können Mitglieder der Aufsichtsorgane wegen einer schuldhaften Pflichtverletzung auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden. Für den obligatorischen Aufsichtsrat folgt dies aus § 116 Satz 1, § 93 Abs. 2 AktG (ggf. in Verbindung mit § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG, § 52 Abs. 1 GmbHG),23 für die fakultativen Überwachungsgremien aus dem Rechtsverhältnis, das der Aufsichtstätigkeit zugrunde liegt.24 Wendet man sich der Kontrolle des Gesellschafterverhaltens zu, ist insbesondere das Personengesellschaftsrecht in den Blick zu nehmen. Dort können Schadensersatzklagen der Gesellschaft gegen die geschäftsführenden Gesellschafter eine Rolle spielen, auch wenn sie im Schrifttum weitaus seltener beleuchtet werden als die Innenhaftungsfälle im Kapitalgesellschaftsrecht. In den 21 Hierzu noch im Kontext der Vorstandsbeschlüsse § 8 V 4. 22 Zur Außenhaftung des AG-Vorstands statt aller Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 60 ff.; zum GmbH-Geschäftsführer Fleischer in MüKoGmbHG § 43 Rn. 335 ff. 23 Die Außenhaftung der AR-Mitglieder ist theoretisch denkbar, spielt aber in der Praxis eine untergeordnete Rolle, vgl. dazu J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 90. 24 Der Anspruch ergibt sich also aus § 280 Abs. 1 BGB. Für den KG-Beirat Grunewald in MüKoHGB § 161 Rn. 175. Beim GmbH-Beirat wird die Haftung der Beiratsmitglieder verbreitet auf eine Analogie zu §§ 43, 52 GmbHG, §§ 116, 93 AktG gestützt (so etwa Michalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn. 422 f.; Roth/Altmeppen GmbHG § 52 Rn. 94; Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 761 ff.); s. dazu noch § 16 I. 17

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Personengesellschaften ziehen pflichtwidrige Geschäftsleitermaßnahmen eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags nach sich; der Schadensersatzanspruch gegen den geschäftsführenden Gesellschafter ergibt sich aus § 280 Abs. 1 BGB.25 Theoretisch denkbar, praktisch aber weniger bedeutsam ist die Kontrolle des Gesellschafterverhaltens in den Körperschaften.26 Sind die Gesellschafter weder im Geschäftsleitungs- noch im Überwachungsorgan tätig, kann ihre Schadensersatzpflicht nicht über § 93 Abs. 2 AktG oder § 43 Abs. 2 GmbHG begründet werden. Ein Anspruch des Verbands gegen seine Mitglieder kann aber etwa bei treuwidrigem Stimmverhalten aus § 280 Abs. 1 BGB oder aus § 826 BGB hergeleitet werden,27 deren hohe Hürden auf der Tatbestandsebene nur selten überwunden werden können;28 dies gilt auch für die Haftung wegen schädigender Beeinflussung gem. § 117 Abs. 1 AktG. In konzernrechtlichen Sachverhalten kann die Muttergesellschaft etwa nach § 309 Abs. 2 AktG bei einem Vertragskonzern, nach § 317 AktG bei einem faktischen Konzern oder wegen eines existenzvernichtenden Eingriffs nach § 826 BGB29 von der Tochtergesellschaft in Anspruch genommen werden. 2. Unterlassungsansprüche a) Meinungsstand Die Verhaltenskontrolle im Rahmen der Schadensersatzansprüche ist repressiver Natur. Das Verbands- oder Organmitglied wird nachträglich zur Verantwortung gezogen, weil sein pflichtwidriges und schuldhaftes Verhalten einen Schaden der Gesellschaft verursacht hat. Ist die Verhaltenskontrolle anlässlich eines Haftungsprozesses ex post möglich, stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft – vertreten durch einen Gesellschafter, ein Organ oder ein Organmitglied – bereits ex ante eingreifen kann, etwa indem sie einen Unterlassungsanspruch gegen das Verbands- oder Organmitglied für den Fall geltend macht, 25 Vgl. BGH ZIP 1988, 843 (Schadensersatz wegen Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis); Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 114 Rn. 126; Podewils BB 2014, 2632. 26 Ein etwaiges Fehlverhalten der Gesellschafter ist im Recht der Körperschaften eher im Rahmen der Beschlusskontrolle bedeutsam; vgl. dazu noch in § 2 V 2. 27 Zu den möglichen Anspruchsgrundlagen Hüffer/J. Koch AktG § 53a Rn. 27 f. 28 So setzt die Haftung wegen treuwidriger Stimmabgabe nach § 280 Abs. 1 BGB nach wohl hM einen vorsätzlichen Treuepflichtverstoß voraus (s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 53a Rn. 28 mwN), der nur selten bewiesen werden kann. 29 Zur Entwicklung der Existenzvernichtungshaftung etwa Liebscher in MüKoGmbHG Anh. § 13 Rn. 519 ff. 18

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Verhaltenskontrolle

dass ein pflichtwidriges Verhalten des Mitglieds in der Zukunft zu einem Schaden der Gesellschaft führt.30 Der Unterlassungsanspruch der Gesellschaft wird in Rechtsprechung und Schrifttum deutlich seltener diskutiert als die Schadensersatzhaftung. Meist wird das Problem am Beispiel der Klagen gegen pflichtwidrige Geschäftsführungsmaßnahmen behandelt, wobei die einschlägigen Stellungnahmen einem präventiven Anspruch mehrheitlich zurückhaltend gegenüber stehen. So hat der BGH eine Unterlassungsklage der Kommanditisten einer Publikums-KG, die diese im Wege der actio pro societate gegen die Komplementär-GmbH wegen (angeblicher) Verletzung der Geschäftsführerpflichten erhoben haben, mit dem Argument abgewiesen, ein Unterlassungsurteil greife unmittelbar in das Geschäftsführungsrecht der Komplementär-GmbH ein und verletze dadurch die Zuständigkeitsverteilung. Es beeinträchtige damit das sachgerechte Funktionieren der Geschäftsführung und verwische die Verantwortung und Verantwortlichkeit für die Führung der Gesellschaftsgeschäfte, die grundsätzlich beim Komplementär liege. Die Kommanditisten seien deshalb auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen beschränkt. Eine Ausnahme sei denkbar, wenn eine Unterlassungsklage wegen besonderer Umstände zur Erhaltung des gemeinsamen Vermögens erforderlich sei.31 Im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum wird diese restriktive Linie teilweise begrüßt.32 Überdies wird die Argumentation des II. Zivilsenats im Aktienrecht aufgegriffen.33 So wird im aktienrechtlichen Schrifttum ein Unter30 Nicht zu verwechseln ist die Unterlassungsklage der Gesellschaft mit einem Organstreit, in dem ein Organ oder ein Organmitglied aus eigenem (Organ)Recht gegen ein anderes Organ oder Organmitglied vorgeht. Bei einer Unterlassungsklage wird die Gesellschaft durch einen Gesellschafter (actio pro societate), ein Organ oder Organmitglied vertreten; es handelt sich um einen Außenrechtsstreit. Lässt man einen echten Organstreit zu (dazu noch in § 3), steht auf der Klägerseite nicht die Gesellschaft, sondern ein Organ oder ein Organmitglied als solches (§ 3 I 6); es handelt sich um einen Innenrechtsstreit. Diesen Unterschied deutet etwa K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 220 an. Noch anders gelagert sind Unterlassungsansprüche der Aktionäre bei Verletzung der Mitgliedschaft durch Verwaltungshandeln, die etwa in Holzmüller/ Gelatine-Konstellationen oder bei Verletzung des Bezugsrechts bei der Ausübung des genehmigten Kapitals anerkannt sind (s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 119 Rn. 26, § 203 Rn. 38 f.); der Aktionär klagt im eigenen Namen. 31 BGHZ 76, 160, 167 f. = NJW 1980, 1463. 32 Erman/H.P. Westermann BGB § 705 Rn. 57; C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 204; Schöne in BeckOK BGB §  705 Rn.  120.  Aus der Rspr. OLG Celle GmbHR 2000, 388. Zurückhaltend Drescher in EBJS HGB § 116 Rn. 18. 33 Im GmbH-Recht wird diese Diskussion wohl deshalb nicht geführt, weil ein praktisches Bedürfnis für einen Unterlassungsanspruch nicht besteht: Die Gesellschafter 19

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lassungsanspruch gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder mit einem Verweis auf das Kompetenzgefüge und den Grundsatz der eigenverantwortlichen Leitung der Aktiengesellschaft abgelehnt.34 Manche Autoren halten auch Unterlassungsklagen der Gesellschaft gegen den Aufsichtsrat für unzulässig.35 Allerdings ist die Begründung des BGH nicht unumstritten. Im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum wird etwa darauf hingewiesen, dass auch Schadensersatzklagen – die nach der BGH-Rechtsprechung zulässig sind – die Zuständigkeitsverteilung beeinflussen können. Entscheidend sei nicht der Klagegegenstand, sondern die Frage, ob der geschäftsführende Gesellschafter evident den Gesellschaftsvertrag verletzt habe36 oder ob seine Maßnahme noch vertretbar sei.37 Auch im Aktienrecht wird teilweise danach differenziert, ob die Organmitglieder durch Gesetz oder Satzung verpflichtet sind, eine bestimmte Maßnahme vorzunehmen oder zu unterlassen,38 oder ob es um die Einhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht geht. Im erstgenannten Fall soll ein Unterlassungsanspruch denkbar, im letztgenannten Fall im Hinblick auf können gem. § 37 Abs. 1 GmbHG dem Geschäftsführer eine Weisung erteilen und sich von diesem ohne wichtigem Grund trennen (hierzu noch in § 2 IV 3 a). Allerdings wird eine Unterlassungsklage der Gesellschafter gegen Geschäftsführer erwogen, die ihre Vorlagepflicht nach § 49 Abs. 2 GmbHG verletzen, s. Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck, 21. Aufl., GmbHG § 37 Rn. 16. 34 Kort in GK-AktG § 82 Rn. 31; Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 82 Rn. 19 (mit Ausnahme bei Missachtung etwaiger Zustimmungsvorbehalte); Mehrbrey/Witte/Gossen § 9 Rn. 154; Borgmann, Organstreit, S. 245 ff.; Jacoby, Amt, S. 461, 471 f.; Brücher AG 1989, 190, 191 f. 35 Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 70. 36 Einhellig anerkannt ist etwa ein Unterlassungsanspruch der Personenhandelsgesellschaft und deren Gesellschafter (actio pro societate) bei Verstößen gegen das Wettbewerbsverbot, s. nur BGHZ 70, 331, 332 ff. = NJW 1978, 1001; Langhein in MüKoHGB § 113 Rn. 11; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 113 Rn. 4. Für einen Unterlassungsanspruch bei Kompetenzverstoß Drescher in EBJS HGB § 116 Rn. 18. 37 In diese Richtung mit Unterschieden im Detail M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 116 Rn. 4, § 164 Rn. 1; Becker, Verwaltungskontrolle, S. 552 ff.; Bork/Oepen ZGR 2001, 515, 537 ff.; Grunewald DB 1981, 407, 408 f. 38 S. die Aufzählung bei Mehrbrey/Witte/Gossen § 9 Rn. 153. Speziell für einen Unterlassungsanspruch bei drohender Verletzung des Wettbewerbsverbots (§  88 AktG) etwa Fleischer in BeckOGK AktG § 88 Rn. 33; Spindler in MüKoAktG § 88 Rn. 29; Hölters/M. Weber AktG § 88 Rn. 14; Mertens ZHR 154 (1990), 24, 30 (der auf den Anstellungsvertrag abstellt). Speziell zur Klage der AG auf Anmeldung des Kapitalerhöhungsbeschlusses durch den Vorstand bzw. den AR-Vorsitzenden, die sich auf § 83 Abs.  2 AktG stützen lässt, Hüffer/J. Koch AktG §  184 Rn.  3 mwN; insoweit anders Schürnbrand in MüKoAktG, 4. Aufl., § 184 Rn. 13: echte Interorganklage. 20

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Verhaltenskontrolle

die aktienrechtliche Organisationsverfassung nicht möglich sein.39 Die dogmatische Grundlage eines solchen Anspruchs wird in dem Rechtsprinzip gesucht, dass drohende, zum Schadensersatz führende Handlungen nicht hingenommen werden müssen.40 Noch seltener wird der Frage nachgegangen, ob die Gesellschaft die Mitglieder der Überwachungsorgane auf Unterlassen in Anspruch nehmen kann. Manche lehnen eine solche Möglichkeit pauschal ab,41 andere ziehen diesen Anspruch jedenfalls dann in Erwägung, wenn die Aufsichtsratsmitglieder – vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende – ihre Kompetenzen überschreiten. Dabei wird allerdings nicht immer klar differenziert zwischen einer Unterlassungsklage der Gesellschaft (Außenrechtsstreit) und einem Organstreit zwischen dem Überwachungs- und Leitungsorgan oder innerhalb des Überwachungsorgans (Innenrechtsstreit).42 b) Zulässigkeit und Grenzen der Unterlassungsklagen der Gesellschaft Die besseren Argumente sprechen für die Anerkennung der Unterlassungsansprüche der Gesellschaft gegen pflichtwidrig handelnde Verbands- oder Organmitglieder. Sieht das Verbandsrecht Pflichten der Verbands- oder Organmitglieder vor, hat der Verband spiegelbildlich einen Anspruch darauf, dass die Pflichtadressaten den Verhaltensvorgaben nachkommen. Wieso sollen die Kommanditisten einer Publikums-KG tatenlos zusehen müssen, wie die Komplementäre eine kartellrechtswidrige Absprache treffen? Wieso soll der Aufsichtsrat nicht befugt sein, mit gerichtlicher Hilfe ein Vorstandsmitglied auszubremsen, das einem Geschäftspartner mit äußerst schwacher Bonität einen Millionenkredit gewähren will, ohne sich Sicherheiten einräumen zu lassen? Lehnt man in solchen Fällen einen Unterlassungsanspruch pauschal ab und verweist man die Gesellschaft auf die Innenhaftung, sind die für die Kontrolle der Geschäftsführung zuständigen Personen gehalten, den Schadenseintritt abzuwarten, um sodann die pflichtwidrig handelnden Geschäftsleiter in Re39 Spindler in MüKoAktG § 82 Rn. 48; Hölters/M. Weber AktG § 82 Rn. 25; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 126 ff. In eine ähnliche Richtung A. Teichmann, FS Mühl, S. 663, 675 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 204 ff. Großzügiger augenscheinlich OLG Koblenz NJW-RR 1991, 487, 488 f. 40 A. Teichmann, FS Mühl, S.  663, 677.  Im Personengesellschaftsrecht ähnlich Grunewald DB 1981, 407, 408. Sympathisierend Peine, Organstreit, S. 125. 41 Lewerenz, Leistungsklagen, S. 135 ff., der aber eine Ausnahme für Verletzung der Verschwiegenheitspflicht erwägt. 42 S. etwa Friedeborn NZG 2018, 770, 773 f., der den Unterlassungsanspruch im Kontext des Organstreits problematisiert. Vgl. ferner J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 599 ff. 21

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gress zu nehmen.43 Dieser Lösungsweg mag auf dem Papier sauber aussehen, er kann aber häufig dazu führen, dass die Gesellschaft auf einem Großteil des Schadens sitzen bleibt, weil der Geschäftsleiter nicht genügend Mittel hat, um den Anspruch zu begleichen.44 Ist absehbar, dass ein Verbands- oder Organmitglied seine Pflichten verletzt, erscheint es wirtschaftlich geradezu widersinnig, wenn die Gesellschaft den Pflichtenverstoß zunächst hinnehmen müsste, um sodann etwaige Schäden, die aus dem Verstoß resultieren, im Wege einer Schadensersatzklage zu liquidieren. Diese Überlegungen taugen für sich genommen freilich nicht als eine dogmatische Begründung eines Unterlassungsanspruchs. Ein solcher Anspruch kann aber – in Anlehnung an Arndt Teichmann45 – aus dem Grundsatz hergeleitet werden, dass drohende, zum Schadensersatz führende Handlungen nicht hingenommen werden müssen. So wie ein Inhaber eines absoluten Rechts analog §§  1004, 823 Abs.  1 BGB einen quasi-negatorischen Unterlassungsanspruch geltend machen kann, um eine drohende Rechtsverletzung abzuwehren,46 so kann die Gesellschaft absehbare Pflichtverletzungen der Gesellschafter oder Organmitglieder präventiv verhindern.47 Will man das Problem mit den Begrifflichkeiten des allgemeinen Schuldrechts beschreiben, statuiert etwa § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG einen Primäranspruch48 der Aktiengesellschaft gegen ihre Vorstandsmitglieder, der auf sorgfältiges Handeln gerichtet ist. Droht ein Sorgfaltsverstoß, kann die Gesellschaft ihren Primäranspruch mit Hilfe einer Unterlassungsklage durchsetzen oder einen Sekundäranspruch geltend machen, der gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG auf Schadensersatz gerichtet ist.

43 Freilich kommt es in einer AG in Betracht, dass der AR ad hoc einen Zustimmungsvorbehalt beschließt, um sorgfaltswidriges Vorstandshandeln zu verhindern. Dieses mildere Instrument spielt im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses eine Rolle (dazu im Kontext der Organstreitigkeiten in § 3 I 8), spricht aber nicht generell für die Ablehnung eines Unterlassungsanspruchs. 44 Darauf weist zutr. Becker, Verwaltungskontrolle, S. 553 hin. Diese Überlegungen gelten erst recht, wenn man mit einer starken Auffassung die Regressreduzierung befürwortet (s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 51 f. mwN). Dann steht der Gesellschaft von vornherein nur ein der Höhe nach eingeschränkte Schadensersatzanspruch zu. 45 A. Teichmann, FS Mühl, S. 663, 677. 46 Statt vieler Förster in BeckOK BGB § 823 Rn. 50 ff. 47 Dieser Vergleich wird auch vereinzelt im Kontext des Organstreits (§ 3) gezogen, s. T.  Raiser/Veil KapGesR §  14 Rn.  109; Peine, Organstreit, S.  117  f., 125  ff.; T. Raiser ZGR 1989, 44, 56 ff., 63 ff. S. ferner Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 93. 48 S. auch im Kontext des Personengesellschaftsrechts Bork/Oepen ZGR 2001, 515, 538: Primärebene. 22

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Dagegen kann nicht pauschal eingewandt werden, dass solche Unterlassungsansprüche die Kompetenzordnung innerhalb des Verbands stören könnten. Diese Argumentation wird insbesondere im Kontext der Unterlassungsklagen gegen die Mitglieder der Leitungsorgane formuliert: Wollte man eine präventive Klage gegen die Geschäftsleiter zulassen, müssten diese eine Einmischung seitens der Gesellschafter oder Überwachungsorgane befürchten; damit wäre die Geschäftsführungsautonomie in Gefahr.49 Indes hat Barbara Grunewald bereits 1981 darauf hingewiesen, dass auch die (ausdrücklich vorgesehenen) Schadensersatzansprüche faktisch zu einer Einschränkung der Leitungsautonomie führen und damit die Organisationsverfassung beeinflussen können.50 Muss ein Geschäftsleiter damit rechnen, dass er mit einem Schadensersatzanspruch der Gesellschaft in existenzbedrohender Höhe konfrontiert wird, sind präventive Unterlassungsansprüche sein geringstes Problem. Will man das Verhältnis zwischen Haftungs- und Unterlassungsklagen überspitzt darstellen, kann sich ein übermäßig ängstlicher Geschäftsleiter sogar glücklich schätzen, wenn ihm die Gesellschafter oder Überwachungsorgane auf die Finger schauen und einen Unterlassungsanspruch geltend machen, der ihn im Ergebnis vor Haftungsrisiken schützt. Gleichwohl ist die Sorge der Gegenauffassung, dass Unterlassungsansprüche die verbandsrechtliche Organisationsverfassung durcheinander bringen und die Geschäftsführungsautonomie beschränken können, nicht gänzlich un­ begründet. Sie ist aber nur berechtigt, soweit einem Verbands- oder Organ­ mitglied ein diskretionärer Spielraum zusteht. Sind die Geschäftsleiter oder Überwachungsorgane durch strikte Vorgaben gebunden, genießen sie keine Leitungsautonomie, die durch einen Unterlassungsanspruch beeinträchtigt werden könnte.51 Steht den Organmitgliedern dagegen ein Entscheidungsspielraum zu, schießt man aber über das Ziel hinaus, wenn man die Unterlassungsklagen pauschal für unzulässig erklärt, um der Gefahr vorzubeugen, dass sich Gesellschafter oder Überwachungsorgane in die Angelegenheiten der Geschäftsleitung einmischen. Vielmehr kommt es darauf an, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs richtig zu justieren.

49 Vgl. die Nachw. in Fn. 31 und 34. 50 Grunewald DB 1981, 407, 408. Ähnlich Becker, Verwaltungskontrolle, S. 553 f. 51 Dies erkennt auch das aktien- und personengesellschaftsrechtliche Schrifttum an, wenn es die Unterlassungsansprüche bei drohender Verletzung des Wettbewerbsverbots bejaht (s. die Nachw. in Fn. 36 und 38). Darin wird übrigens deutlich, dass die pauschale Ablehnung des Unterlassungsanspruchs nicht der richtige Weg ist, sondern dass es darauf ankommt, ob der Anspruch im konkreten Fall begründet ist. 23

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Auch insoweit hat Barbara Grunewald den Lösungsweg aufgezeigt: Eine Klage sei nur dann zuzulassen, wenn die Pflichtverletzung des Geschäftsleiters evident sei.52 Damit hat sie einen Gedanken aufgegriffen, der einige Jahre später unter dem Etikett „Business Judgment Rule“ im haftungsrechtlichen Kontext Eingang in die verbandsrechtliche Diskussion gefunden hat und der im Zuge des UMAG in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifiziert wurde: Unternehmerische Entscheidungen eines Geschäftsleiters, die unter bestimmten prozeduralen Voraussetzungen getroffen wurden, unterliegen lediglich einer inhaltlichen Evidenzkontrolle.53 Überträgt man diesen Gedanken konsequent auf Unterlassungsansprüche,54 reduziert man das Risiko, die verbandsrechtliche Organisationsverfassung durch richterliche Eingriffe in die Geschäftsführungsmaßnahmen zu stören, ohne dass man Unterlassungsklagen generell untersagt. Die vom BGH 1980 beschworene Gefahr, die Unterlassungsklage könne zu einer Verletzung der Zuständigkeitverteilung führen,55 ist insbesondere dann gering, wenn man die Beweislastverteilung im Zusammenhang mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG austariert. Obliegt es dem Kläger, die Voraussetzungen des Unterlassungsanspruchs zu beweisen, sind die Hürden an einen Eingriff in die verbandsrechtliche Organisationsverfassung hoch.56 Der durch die Business Judgment Rule erzielte Effekt wird durch ein weiteres Instrument ergänzt. Erhebt ein Verbandsrechtsakteur im Namen der Gesellschaft eine Unterlassungsklage,57 obwohl keine evidente Pflichtverletzung eines Gesellschafters oder Organmitglieds vorliegt, kann er dadurch die eigene persönliche Verantwortlichkeit auslösen.58 Eine mutwillige Klageerhebung bindet die Gesellschaftsressourcen und ist im Hinblick auf die Schadensab52 Grunewald DB 1981, 407, 408 f. 53 Zu der Wirkungsweise und den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG s. noch in § 7 V und § 8. 54 Speziell hierzu § 7 IV 2. 55 BGHZ 76, 160, 167 f. = NJW 1980, 1463 und in § 2 IV 2 a. 56 S. noch ausf. in § 8 VI 3. 57 Wer diese Klage erheben darf, kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Es sei nur anzumerken, dass in Personengesellschaften die Gesellschafter im Wege der actio pro societate gegen die Maßnahme vorgehen können. In einer Aktiengesellschaft ist der AR gem. §  112 AktG für die Verfolgung des Unterlassungsanspruchs zuständig. Im älteren Schrifttum wird darüber hinaus die Anspruchsdurchsetzung durch die Aktionäre nach § 147 Abs. 3 AktG aF befürwortet (A. Teichmann, FS Mühl, S. 663, 678 ff.). Ob die Aktionäre analog §§ 147, 148 AktG den Unterlassungsanspruch durchsetzen können, bedarf weiterer Diskussion. 58 Überdies sind die Kostenregelungen in §§ 91 ff. ZPO ein Korrektiv. Der prospektive Unterlassungskläger trägt das Kostenrisiko, wenn der von ihm behauptete Anspruch nicht besteht, was ihn davon abhalten dürfte, vorschnell eine Klage zu erheben. 24

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wendungspflicht ein Sorgfaltsverstoß, der zur Haftung der klagenden Person führen kann.59 Vor diesem Hintergrund werden weder Gesellschafter noch Organmitglieder ins Blaue hinein einen Streit beginnen, sondern – wie ein gewöhnlicher Kläger – zunächst eine Prozessrisikoanalyse durchführen. Im Rahmen dieser Analyse werden sie beurteilen, ob das Gericht die Maßnahme des Verbands- oder Organmitglieds beanstanden wird. Dabei werden sie auch auf etwaige Entscheidungsspielräume des potenziellen Gegners Rücksicht nehmen müssen.60 3. Personalmaßnahmen a) Mitglieder der Verwaltungsorgane in den Körperschaften Einen weiteren Anknüpfungspunkt für die gerichtliche Verhaltenskontrolle bieten Sachverhalte, in denen ein Organmitglied oder ein Gesellschafter wegen einer Pflichtverletzung seinen Posten räumen soll. In den Körperschaften stehen dabei die Abberufung und Kündigung der Organmitglieder im Vordergrund. So kann der Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft nach § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG aus wichtigem Grund abberufen, wobei der Abberufungsgrund nach Satz 2 insbesondere in einer groben Pflichtverletzung liegen kann. Auch die außerordentliche Kündigung des Anstellungsvertrags kann auf eine grobe Pflichtverletzung gestützt werden.61 In beiden Fällen kann sich das Vorstandsmitglied gegen die Entscheidung des Aufsichtsrats wehren:62 Erstens kann es eine Gestaltungsklage erheben mit dem Ziel, dass die Abberufung für unwirksam erklärt wird (§ 84 Abs. 3 Satz 4 AktG). Zweitens kann es gerichtlich feststellen lassen, dass der Aufsichtsratsbeschluss, der dem Widerruf der Bestellung zugrunde liegt, fehlt oder nichtig ist.63 Drittens kann es auf die Feststellung klagen, dass der Anstellungsvertrag nicht durch die Kündigung beendet wurde und fortbesteht.64 Hat der Aufsichtsrat die Ab59 Zu parallelen Überlegungen im Kontext des Organstreits s. § 3 I 9 a. 60 S. noch dazu § 2 VI 2. 61 Hüffer/J. Koch AktG § 84 Rn. 52. 62 Aus Sicht des Vorstandsmitglieds bietet es sich regelmäßig an, sowohl gegen die Abberufung als auch gegen die Kündigung vorzugehen, vgl. Spindler in MüKoAktG § 84 Rn. 200. 63 Fleischer in BeckOGK AktG § 84 Rn. 141 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 84 Rn. 42; Mehrbrey/Witte/Gossen § 9 Rn. 7 f. Es handelt sich um einen besonderen Fall der Interorganklage, in der die Klagebefugnis daraus folgt, dass der AR in die persönliche Stellung des Vorstandsmitglieds eingreift. Ausf. zur Klagebefugnis bei Organstreitigkeiten in § 3 I 5. 64 J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 109; Spindler in MüKoAktG § 84 Rn. 200. 25

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berufung bzw. Kündigung auf eine grobe Pflichtverletzung gestützt, muss das Gericht unabhängig von der Klageart beurteilen, ob sich das Vorstandsmitglied sorgfaltskonform verhalten hat. Eine auf § 84 Abs. 3 Satz 2 Var. 1 AktG gestützte Abberufung kann also den Weg zur gerichtlichen Verhaltenskontrolle ebnen. Anders ist die Ausgangslage im GmbH-Recht: Nach § 38 Abs. 1 GmbHG kann ein Geschäftsführer grundsätzlich ohne wichtigen Grund abberufen werden. Allerdings ist zu beachten, dass diese Regel satzungsdispositiv ist: Nach § 38 Abs. 2 GmbHG kann der Gesellschaftsvertrag vorsehen, dass die Abberufung nur aus wichtigem Grund – insbesondere bei grober Pflichtverletzung – möglich ist.65 Insoweit kann das aktienrechtliche Regelungsmodell in der Satzung nachgebildet werden. Außerdem bedarf die außerordentliche Kündigung des schuldrechtlichen Anstellungsvertrags gem. § 626 BGB eines wichtigen Grundes, der namentlich in einer schwerwiegenden Pflichtverletzung liegen kann. Wird das organschaftliche oder schuldrechtliche Verhältnis zwischen dem Geschäftsführer und der GmbH wegen grober Verletzung der Organpflichten beendet, kann sich der Geschäftsführer gegen die Abberufung und Kündigung gerichtlich zur Wehr zu setzen und damit eine Verhaltenskontrolle veranlassen.66 Was die Abberufung der Mitglieder eines obligatorischen Aufsichtsrats angeht, ist zwischen zwei Sachverhalten zu unterscheiden: Zunächst kann ein Aufsichtsratsmitglied gem. § 103 Abs. 1 AktG – der gem. § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG für die mitbestimmte GmbH und gem. § 52 Abs. 1 GmbHG für den fakultativen Aufsichtsrat gilt – durch einen Beschluss einer qualifizierten Mehrheit der Anteilseigner abberufen werden. In einem solchen Fall scheidet eine gerichtliche Verhaltenskontrolle aus, weil die Abberufung grundlos erfolgen kann. Eine Verhaltenskontrolle ist nur im Rahmen der Abberufung eines Aufsichtsratsmitglieds durch ein Gericht möglich, die nach § 103 Abs. 3 AktG (ggf. in Verbindung mit § 6 Abs. 2 Satz 1 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG) neben einem Antrag des Gesamtaufsichtsrats oder einer qualifizierten Anteilseignermehrheit einen wichtigen Grund voraussetzt. Wie im Rahmen des § 84 Abs. 3 Satz 3 AktG ist eine grobe Pflichtverletzung eines Aufsichtsratsmitglieds ein Abberufungsgrund.67

65 S.  §  38 Abs.  2 Satz  2 Var. 1 GmbHG und Stephan/Tieves in MüKoGmbHG §  38 Rn. 85 ff. 66 Einzelheiten bei Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 38 Rn. 107 ff. 67 Vgl. nur OLG München ZIP 2018, 1932 ff.; Habersack in MüKoAktG § 103 Rn. 39. 26

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Verhaltenskontrolle

Für den fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH gilt § 103 Abs. 3 AktG hingegen nicht; eine analoge Anwendung ist im Hinblick auf den klaren Wortlaut des § 52 Abs. 1 GmbHG nach allgemeiner Auffassung nicht möglich.68 Die Gesellschafter können aber nach zutreffender, wenn auch umstrittener Ansicht die gerichtliche Abberufung aus wichtigem Grund, der in einer groben Pflichtverletzung liegen kann, in der Satzung vorsehen.69 Bei anderen Überwachungsgremien – etwa bei einem GmbH-Beirat – sind die Modalitäten der Abberufung von der konkreten Satzungsausgestaltung abhängig. Dabei steht es den Gesellschaftern frei, die Abberufung der Mitglieder fakultativer Aufsichtsorgane an eine Pflichtverletzung anzuknüpfen und damit eine gerichtliche Verhaltenskontrolle zuzulassen  – sei es, weil sich das Organmitglied gegen die Entscheidung eines anderen Organs wehren kann, sei es, weil die Abberufung wie in § 103 Abs. 3 AktG von vornherein einer gerichtlichen Entscheidung bedarf. b) Gesellschafter aa) Gesellschafterausschluss Anders als die Mitglieder der Verwaltungsorgane einer Körperschaft können die Gesellschafter weder in einer Körperschaft noch in einer Personengesellschaft abberufen werden. Vielmehr kommt es nur in Betracht, sie aus dem Verband auszuschließen. Ein solcher Ausschluss ist rechtsformübergreifend nur aus wichtigem Grund möglich, der namentlich aus einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verletzung einer wesentlichen Pflicht resultieren kann.70 Für die BGB-Gesellschaft folgt dies aus §§ 737, 723 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 BGB,71 für die Handelsgesellschaften aus §§ 140, 133 Abs. 2 HGB ggf. in Verbindung mit § 161 Abs. 2 HGB. In den Körperschaften ist ein Ausschluss aus wichtigem Grund nicht explizit geregelt,72 folgt aber nach zutreffender – wenn auch umstrittener – Auffassung aus dem Umstand, dass die Gesellschafter die 68 S. statt vieler Michalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn. 151 69 Vgl. Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 202. AA die hA, s. Michalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn. 151; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG § 52 Rn. 48. 70 Vgl. hierzu den rechtsformübergreifenden Überblick bei Grunewald, Ausschluß, S. 29 ff. („ein Stück allgemeines Korporationsrecht“ – S. 58). 71 Darüber hinaus muss der Gesellschaftsvertrag gem. § 737 Satz 1 BGB eine sog. Fortsetzungsklausel enthalten, vgl. dazu C. Schäfer in MüKoBGB § 737 Rn. 4, 7. 72 Geregelt ist nur die Kaduzierung (vgl. § 64 AktG, § 21 GmbHG), die aber weniger die Verhaltenskontrolle bezweckt, sondern dem Schutz realer Kapitalaufbringung dient (vgl. Hüffer/J. Koch AktG §  64 Rn.  1; Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG §  21 Rn. 1). 27

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Möglichkeit haben müssen, sich von unliebsamen Weggefährten zu trennen, wenn der Verbandszweck nur auf diesem Weg erreicht werden kann.73 Wird der wichtige Grund auf eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Pflichtverletzung gestützt, ist das Gericht dazu berufen, das Verhalten der Gesellschafter zu bewerten und ein Urteil über den Verschuldensgrad zu fällen. Unterschiedlich ist nur der Weg, auf dem das Gericht zur Entscheidung angerufen wird: In den Personenhandelsgesellschaften (§  140 Abs.  1 Satz  1 HGB) und Körperschaften bedarf der Ausschluss von vornherein einer gerichtlichen Entscheidung,74 in der Gesellschaft bürgerlichen Rechts können hingegen die Gesellschafter gem. § 737 Satz 2 und 3 BGB den Ausschluss beschließen und gegenüber dem Auszuschließenden erklären.75 Im letztgenannten Fall kann der ausgeschlossene Gesellschafter gegen die übrigen Gesellschafter eine Klage erheben, die auf die Feststellung der Nichtigkeit des Gesellschafterbeschlusses gerichtet ist.76 Es handelt sich dabei um einen Fall der Willensbildungskon­trolle, im Rahmen deren das Verhalten des Gesellschafters inzident geprüft wird. bb) Entzug der Geschäftsführungsbefugnis Sind die hohen Anforderungen an den Ausschluss eines geschäftsführenden Gesellschafters einer Personengesellschaft nicht erfüllt, kommt der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht aus wichtigem Grund als mildere Maßnahme in Betracht.77 Eine solche Möglichkeit sehen §§ 712, 715 73 Für die GmbH BGHZ 9, 157, 158 ff. = NJW 1953, 780; BGH NJW 1999, 3779; Strohn in MüKoGmbHG § 34 Rn. 103 ff. Für die AG OLG München NZG 2015, 1027, 1028; Hüffer/J. Koch AktG § 237 Rn. 15; aA noch BGHZ 9, 157, 163 = NJW 1953, 780; BGHZ 18, 350, 361 = NJW 1955, 1919. In Publikumsgesellschaften wird der Mitgliederausschluss freilich eine deutlich geringere praktische Rolle spielen als in personalistisch strukturierten Verbänden, in denen die Mitglieder auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen sind, vgl. Grunewald, Ausschluß, S. 48; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 63 Rn. 56.  74 Zur gerichtlichen Ausschließung in der GmbH BGHZ 9, 157, 158  ff. = NJW 1953, 780; BGH NJW 1999, 3779. Zur AG K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 63 Rn. 57.  75 Freilich können die OHG-Gesellschafter das Ausschließungsverfahren an das GbR-Modell anpassen, s. nur K. Schmidt in MüKoHGB § 140 Rn. 91. In einem solchen Fall kann sich der ausgeschlossene Gesellschafter gegen den Beschluss wehren, mit dem die Mehrheit die Antragsstellung beschließt, vgl. K. Schmidt aaO §  140 Rn. 93. Dabei handelt es sich um einen Fall der Willensbildungskontrolle (s. § 2 V), in dem die Gerichte zugleich das Verhalten des ausgeschlossenen Gesellschafters überprüfen (s. § 2 VI 1). 76 Vgl. BGH NJW-RR 1992, 227; C. Schäfer in MüKoBGB § 737 Rn. 12.  77 Funktional kann man die Entziehung mit der Abberufung und Kündigung von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft und Geschäftsführern einer GmbH vergleichen. 28

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Willensbildungskontrolle

BGB, §§  117, 127 HGB für den Fall vor, dass der Gesellschafter eine grobe Pflichtverletzung begangen hat. Auch in diesem Zusammenhang sind die Gerichte dazu berufen, das Verhalten der Gesellschafter zu überprüfen. In den Handelsgesellschaften ergibt sich dies daraus, dass der Entzug der Geschäftsführungsbefugnis und Vertretungsmacht gem. §§ 117, 127 HGB eine Gestaltungsklage der Gesellschafter voraussetzt.78 In der BGB-Gesellschaft reicht bereits ein Gesellschafterbeschluss aus, um den geschäftsführenden Gesellschafter seiner Handlungsmacht zu berauben; dieser und etwaige opponierenden Gesellschafter können aber gegen die Entziehung eine Feststellungsklage erheben.79 Die Maßnahme, die nach Ansicht der Gesellschaftermehrheit eine grobe Pflichtverletzung begründet, wird also im Rahmen des Entziehungsprozesses gerichtlich überprüft.

V. Willensbildungskontrolle 1. Kollektive und individuelle Willensbildung Die Kontrolltätigkeit der Gerichte ist nicht auf Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche sowie Personalmaßnahmen beschränkt. Vielmehr kann die Willensbildung der Gesellschafter und Verwaltungsorgane einer richterlichen Überprüfung unterzogen werden, ohne dass etwaige Konsequenzen für die Gesellschafter oder Organmitglieder im Vordergrund stehen. Was das Kon­ trollobjekt angeht, kann man zwischen der kollektiven und individuellen Willensbildung differenzieren, wobei die Kollektiventscheidungen für das Verbandsleben charakteristisch sind. Da Verbände nach der herkömmlichen Vorstellung durch mehrere Personen konstituiert werden80 und auch die Verbandsorgane nicht selten aus mehreren Mitgliedern bestehen,81 bedarf es ei78 Vgl. Jickeli in MüKoHGB § 117 Rn. 65 ff. 79 C. Schäfer in MüKoBGB, § 712 Rn. 18. 80 Dieses Idealbild wird im Kapitalgesellschaftsrecht durchbrochen: Nach § 2 AktG, § 1 GmbHG kann nur eine Person eine AG oder eine GmbH gründen. Diese Vorschriften können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verbandsrecht im Regelfall die Beziehungen zwischen mehreren Personen regelt und die Ein-Personen-Gesellschaften konzeptionell eine Ausnahme bilden. 81 Kollektivorgane sind namentlich im Aktienrecht verbreitet: Für den AR legt §  95 Satz 1 AktG eine Mindestzahl der AR-Mitglieder fest, die nicht in der Satzung verringert werden kann (vgl. § 95 Satz 2 AktG und Hüffer/J. Koch AktG § 95 Rn. 2). Beträgt das Grundkapital der AG mehr als drei Mio. Euro, muss der Vorstand gem. §  76 Abs.  2 Satz  2 AktG aus mindestens zwei Personen bestehen, wobei diese Regelung satzungsdispositiv ist (Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 55). Außerdem müssen Gesellschaften, die mitbestimmt sind (§ 33 Abs. 1 Satz 1 MitbestG) bzw. als Kredit- oder 29

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nes Instruments, mit dem der gemeinschaftliche Wille der Verbands- oder Organmitglieder festgelegt wird.82 Ein solches Instrument ist der Beschluss, bei dem es sich um eine Kollektiventscheidung handelt, die den Verbandswillen zum Ausdruck bringt.83 Die richterliche Willensbildungskontrolle kann also zunächst in Form der Beschlusskontrolle erfolgen. Es gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Gesellschaftsrechts, dass Beschlüsse  – unabhängig von der Rechtsform und dem beschlussfassenden Gremium – angegriffen werden können.84 Zudem kommt in Betracht, dass die Verbands- oder Organmitglieder befugt sind, Maßnahmen zu ergreifen, ohne zuvor eine Entscheidung des Kollektivs einholen zu müssen. Auch solche individuellen Entscheidungen können Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein.85 2. Beschlusskontrolle a) Systematisierung der Beschlussarten und Beschlussmängelklagen Wendet man sich zunächst der Kontrolle kollektiver Willensbildung zu, bietet es sich an, die Beschlussarten und die Beschlussmängelklagen zu systematisieren, um im späteren Verlauf der Untersuchung die Anknüpfungspunkte für die richterliche Kontrolldichte präzise herausarbeiten zu können. Dabei ist mit der allgemeinen Auffassung im Schrifttum zwischen positiven und negativen Beschlüssen zu differenzieren.86 Von einem positiven Beschluss ist die Rede, wenn die Gesellschafter oder Organmitglieder den zur Abstimmung gestellten Antrag angenommen haben.87 Wurde der Antrag hingegen abgelehnt, handelt es sich um einen negativen Beschluss. In beiden Fällen ergibt sich der Be-

Finanzdienstleistungsinstitut oder Kapitalverwaltungsgesellschaft tätig sein wollen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KWG, § 23 Nr. 2 KAGB), mindestens zwei Geschäftsleiter haben, vgl. etwa W. Goette in MüKoGmbHG § 6 Rn. 7. Zur Zusammensetzung eines GmbH-AR statt vieler Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 80 ff. 82 Dieser Wille wird wiederum dem Verband zugerechnet, so dass im Beschluss der Verbandswille verkörpert wird, vgl. Baltzer, Beschluss, S. 50 ff.; Boese, Anwendungsgrenzen, S. 37; Ernst, FS Leenen, S. 1, 7 f. 83 Anschaulich Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 293 (für den AR-Beschluss). 84 Zu den Einzelheiten sogleich § 2 V 2. 85 Dazu in § 2 V 3. 86 Vgl. hierzu rechtsform- und organübergreifend Baltzer, Beschluß, S.  114; Ernst, FS Leenen, S. 1, 6 f.; s. ferner Hüffer/J. Koch AktG § 133 Rn. 5. 87 Zu den Unterschieden zwischen Beschluss, Beschlussantrag und Beschlussergebnis vgl. Zöllner, FS Lutter, S. 821, 822 ff. Zur rechtstechnischen Bedeutung des Antrags ausf. Baltzer, Beschluß, S. 103 ff. 30

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Willensbildungskontrolle

schlussinhalt – also der Verbandswille – aus einer Kombination des Antrags mit dem Abstimmungsergebnis.88 Die positiven wie die negativen Beschlüsse können klageweise beanstandet und damit einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Auch wenn sich die Ausgestaltung der Beschlussmängelklagen in den einzelnen Verbandstypen im Detail deutlich unterscheidet, kann in Anlehnung an die Beschlussarten rechtsform- und organübergreifend zwischen zwei Klagearten differenziert werden: Auf der einen Seite stehen Klagen, die sich gegen einen positiven Beschluss richten.89 Es geht dabei um die gerichtliche Beseitigung eines Beschlusses oder um die Feststellung, dass ein Beschluss nicht wirksam zustande gekommen ist. Man kann insoweit von negativen Klagen sprechen. Der Kläger wendet sich gegen eine Entscheidung, in der das Beantragte beschlossen wurde. Auf der anderen Seite stehen Klagen gegen die negativen Beschlüsse. In einem solchen Fall will der Kläger meist nicht nur den Beschluss beseitigen bzw. festgestellt wissen, dass der Beschluss nichtig ist. Vielmehr liegt sein Ziel darin, einen Beschluss mit dem beantragten Inhalt durchzusetzen. Dieses Ziel kann er mit der positiven Beschlussfeststellungsklage erreichen. b) Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse Trotz dieser Gemeinsamkeiten weicht das Beschlussmängelrecht in den jeweiligen Rechtsformen erheblich voneinander ab. Für die Aktiengesellschaft hat der Gesetzgeber in §§ 241 ff. AktG ein stark ausdifferenziertes System geschaffen, für das eine Zweiteilung prägend ist: Zum einen führen manche Mängel qua Gesetzes zur Nichtigkeit des Beschlusses, zum anderen kennt das Aktienrecht fehlerhafte Beschlüsse, die nur im Wege einer Anfechtungsklage durch ein Gestaltungsurteil kassiert werden können.90 So sind in §§  241, 250, 253 AktG Fälle aufgezählt, in denen ein Hauptversammlungsbeschluss nichtig ist. §  241 AktG nennt zunächst §  192 Abs.  4, § 212 Satz 2 AktG, in denen zwei besondere Nichtigkeitsgründe im Kapitalerhöhungsrecht vorgesehen sind.91 Weitere Spezialnormen sind in §§ 250, 253 88 Zöllner, FS Lutter, S. 821, 823. S. ferner Baltzer, Beschluß, S. 171 ff. 89 In der Regel wird es sich dabei um einen Mehrheitsbeschluss handeln. Kann der Beschluss nur einstimmig gefasst werden (wie etwa in § 709 BGB, § 119 HGB und § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG vorgesehen), können Verbands- bzw. Organmitglieder den positiven Beschluss verhindern, indem sie gegen den Antrag stimmen. 90 Zur dritten Kategorie der Unwirksamkeit vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 241 Rn. 6. 91 Die weiteren Normen aus dem Recht der Kapitalmaßnahmen, die in § 241 AktG genannt sind, statuieren bei Lichte besehen keine Nichtigkeitsgründe, sondern sie regeln die Unwirksamkeit des Beschlusses, vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 241 Rn. 7. 31

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AktG enthalten, die die Nichtigkeit der Aufsichtsratswahl- und Gewinnverwendungsbeschlüsse regeln. Schließlich sind in § 241 AktG die allgemeinen Nichtigkeitsgründe aufgezählt. Während Nr. 1 und 2 auf Einberufungs- und Beurkundungsfehler eingehen und sich damit auf die formellen Anforderungen des Beschlussverfahrens fokussieren, ist bei Nr. 3 und 4 eine inhaltliche Prüfung des Beschlusses erforderlich.92 Liegt ein Nichtigkeitsgrund vor, können Aktionäre, der Vorstand als Gesamtorgan sowie die Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder gem. § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG eine Nichtigkeitsklage gegen die Gesellschaft erheben, die nach Maßgabe des § 246 Abs. 2 Satz 2 und 3 AktG vertreten wird.93 Andere Personen, die ein Feststellungsinteresse nachweisen, können gegen die Gesellschaft gem. § 256 ZPO eine allgemeine Feststellungsklage erheben.94 Ist kein Nichtigkeitsgrund einschlägig, können die nach § 245 AktG klagebefugten Personen eine Anfechtungsklage erheben, die gem. § 246 Abs. 2 Satz 1 AktG gegen die Gesellschaft zu richten und auf einen in §§ 243, 251, 254 f. AktG aufgezählten Anfechtungsgrund zu stützen ist. Dabei ermöglicht insbesondere die Generalklausel des § 243 Abs. 1 AktG eine gerichtliche Inhaltskontrolle der Hauptversammlungsbeschlüsse.95 Darüber hinaus erfordern §  254 Abs. 1 und § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG eine inhaltliche Prüfung des Beschlusses.96 Auf den ersten Blick anders ist die Lage im GmbH-Recht, das – außer dem besonderen Nichtigkeitsgrund in § 57j Satz 2 GmbHG97 – kein geschriebenes Beschlussmängelrecht kennt. Um diese Lücke zu füllen, greifen Rechtsprechung und Schrifttum auf den aktienrechtlichen Regelungsfundus zurück. So sind die Nichtigkeitsgründe des §  241 AktG auf GmbH-Beschlüsse entsprechend anwendbar und im Rahmen einer Nichtigkeitsklage analog § 249 AktG geltend zu machen, soweit die GmbH-rechtlichen Besonderheiten dem nicht 92 § 241 Nr. 5 und 6 AktG haben keinen eigenständigen Charakter und können im Rahmen dieser Untersuchung außer Betracht bleiben. Reformüberlegungen bei J. Koch, DJT-Gutachten, S. 48 ff. 93 Vgl. statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 249 Rn. 4 ff. 94 BGH NJW 1966, 1458 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 249 Rn. 12. 95 Hierzu noch § 17. 96 Einzelheiten in § 21 III 3 b (zu § 255 Abs. 2 Satz 1 AktG) und § 23 IV 1 (zu § 254 Abs. 1 AktG). 97 § 57n Abs. 2 Satz 4 GmbHG regelt – wie der im Wesentlichen inhaltsgleiche § 217 Abs. 2 Satz 4 AktG – entgegen dem missverständlichen Wortlaut die Unwirksamkeit. AA die wohl hM im GmbH-Recht, die von einer Nichtigkeitsvorschrift ausgeht, vgl. nur Lieder in MüKoGmbHG § 57n Rn. 11. 32

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entgegenstehen.98 Auch die in §§ 243, 251, 254 AktG geregelten Anfechtungsgründe werden im GmbH-Recht analog angewendet;99 ein anfechtbarer Beschluss ist (vorläufig) wirksam und kann mit einer Anfechtungsklage analog § 249 AktG angegriffen werden.100 Wie im Aktienrecht können also GmbH-­ Beschlüsse im Rahmen einer Nichtigkeits- oder Anfechtungsklage einer gerichtlichen Inhaltskontrolle unterzogen werden.101 Auch den Personengesellschaften ist ein geschriebenes Beschlussmängelrecht fremd. Anders als im GmbH-Recht geht die herrschende Auffassung aber davon aus, dass das aktienrechtliche Modell, dem die Unterscheidung zwischen Anfechtbarkeit und Nichtigkeit zugrunde liegt, vorbehaltlich anderweitigen gesellschaftsvertraglichen Bestimmungen im Personengesellschaftsrecht nicht analog gilt. Stattdessen sollen fehlerhafte Gesellschafterbeschlüsse nichtig sein, was namentlich bei materiellen Mängeln der Fall ist.102 Damit ist die Möglichkeit zur richterlichen Inhaltskontrolle der Gesellschafterbeschlüsse eröffnet, auch wenn der prozessuale Weg ein anderer ist als im Aktien- und GmbH-­ Recht: Gegen einen fehlerhaften Beschluss können die dissentierenden Ge­ sellschafter nach Maßgabe des § 256 ZPO eine allgemeine Feststellungsklage erheben,103 die  – soweit im Gesellschaftsvertrag nichts anderes vorgesehen ist – gegen die Gesellschafter zu richten ist, die der beantragten Feststellung widersprechen.104 c) Kontrolle der Verwaltungsbeschlüsse Verfügt ein Verband über ein organisatorisch verselbständigtes, mehrköpfiges Verwaltungsorgan, wird der Organwille ebenfalls im Beschlussverfahren gebildet. Dieser allgemeiner Grundsatz des Verbandsrechts ist positivrechtlich in 98 Einzelheiten bei Wertenbruch in MüKoGmbHG Anh. § 47 Rn. 12 ff. 99 S. nur Wertenbruch in MüKoGmbHG Anh. § 47 Rn. 120 ff. 100 Vgl. aus neuerer Zeit BGH NZG 2008, 317, 318 mwN. 101 Hierzu mit Reformvorschlägen J. Koch, DJT-Gutachten, S. 69 ff. 102 Überblick über die Beschlussfehler bei Habersack/C. Schäfer OHG §  119 HGB Rn. 79 ff.; Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 67 ff. 103 S. BGH NJW-RR 1992, 227; Habersack/C. Schäfer OHG § 119 HGB Rn. 75 ff.; Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 72. Diese Positionierung kann zwar nicht überzeugen (s. insb. K. Schmidt ZGR 2008, 1, 26 ff.), wird aber der Untersuchung zugrunde gelegt. Eine Ausnahme von diesem Grundmodell gilt für Publikumspersonengesellschaften, für die das kapitalgesellschaftsrechtliche System gilt, s. BGH NJW 2019, 157 Rn. 12. 104 Schöne in BeckOK BGB §  709 Rn.  72.  S.  auch (mit Reformvorschlägen) J. Koch, DJT-Gutachten, S. 74 ff. 33

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§ 28 BGB und § 108 Abs. 1 AktG festgeschrieben. Die Entscheidungen eines Kollegialorgans werden durch Beschluss getroffen.105 Wie bei Gesellschafterbeschlüssen können die Mitglieder der Verwaltungsorgane in Konflikt geraten. Die Schwierigkeit bei der rechtlichen Erfassung solcher Streitigkeiten liegt darin, dass die Willensbildung innerhalb der Verwaltungsorgane nur stiefmütterlich behandelt wird. So enthalten das Aktien- und GmbH-Gesetz sowie das BGB keine Vorschriften, die das Beschlussverfahren, die materiellen Anforderungen an einen Verwaltungsbeschluss und die Beschlussmängelfolgen umfassend regeln. §  28 BGB verweist lediglich auf §§  32  – 34 BGB und bringt dadurch zum Ausdruck, dass Entscheidungen des Vereinsvorstands in einer Vorstandssitzung nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden. § 108 Abs. 3 und 4 AktG lässt sich entnehmen, dass die Beschlussfassung des Aufsichtsrats in der Regel in einer Präsenzversammlung erfolgen soll;106 zudem stellt § 108 Abs. 2 AktG Anforderungen an die Beschlussfähigkeit auf. In § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG wird die Gesamtgeschäftsführungsbefugnis der Vorstandsmitglieder festgeschrieben, woraus sich schließen lässt, dass der Vorstand im gesetzlichen Regelfall per Einstimmigkeitsbeschluss entscheidet. In allen drei Regelungskomplexen fehlen aber Regelungen zum Beschlussmängelrecht. Das Gesetz äußert sich nicht ausdrücklich zu der Frage, in welchen Fällen ein Verwaltungsbeschluss fehlerhaft ist und auf welchem Weg ein etwaiger Beschlussfehler gerichtlich beanstandet werden kann. Trotz dieser Lücken im geschriebenen Verbandsrecht ist es allgemein anerkannt, dass auch die Organbeschlüsse einer gerichtlichen Kontrolle unter­ zogen werden können. Wissenschaft und Praxis versuchen, das Beschlussmängelrecht der Verwaltungsorgane aus den allgemeinen zivil(verfahrens) rechtlichen Grundsätzen zu entwickeln. Dabei fokussiert sich die Diskussion auf zwei Konstellationen, die eine erhöhte praktische Relevanz haben: Streitigkeiten innerhalb des Aufsichtsrats und Aktionärsklagen gegen rechtswidriges Verwaltungshandeln. In beiden Fällen hat das Schrifttum die Rechtsprechungsentwicklung kritisch begleitet; zahlreiche Stellungnahmen beziehen sich auf konkrete Gerichtsverfahren. So schwang das Schrifttum in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung der unternehmerischen Mitbestimmung die Feder, um die neu entfachten Konflikte im Aufsichtsrat  – mit denen sich auch die Rechtspre105 Für den AG-Vorstand s. nur Bürgers in Bürgers/Körber AktG § 77 Rn. 21; Mertens/ Cahn in KK-AktG § 77 Rn. 33; für den AR Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 8 ff. Für das GmbH-Recht Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG §  37 Rn.  12; Mi­ chalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn. 357 ff., 424 ff. 106 Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 16. 34

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chung befassen musste107 – rechtlich einzuordnen.108 Aus derselben Zeit stammen Arbeiten, die sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Aktionäre die Vorstandsbeschlüsse zum Gegenstand eines Gerichtsverfahrens machen können;109 die Rechtsprechung hat sich mit diesem Problem insbesondere im Holzmüller-Verfahren auseinandergesetzt.110 Sodann wurden Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die Rechtsstreitigkeiten im Aufsichtsrat der Adam Opel AG,111 der Hamburg-Mannheimer AG112, der Vereinte Krankenversicherung AG113 sowie der Pelikan AG114 literarisch begleitet.115 Der Aufsichtsratsbeschluss war ferner Gegenstand des vielbesprochenen ARAG/Garmenbeck-Prozesses,116 auch wenn sich die Literatur in erster Linie mit den Aussagenn zur Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats und zum unternehmerischen Ermessen des Vorstands beschäftigte.117 Die Aktionärsklagen gegen Vorstandsbeschlüsse wurden verstärkt diskutiert, nachdem der BGH im Siemens/Nold-Urteil118 im Zusammenhang mit genehmigtem Kapital die Anforderungen an den Ermächtigungsbeschluss der Hauptversammlung gelockert und den Schwerpunkt der Kontrolle auf den Verwendungsbeschluss des Vorstands gelegt hat.119 Will man die Grundsätze, die in den soeben zitierten Urteilen und Beiträgen entwickelt wurden, rechtsform- und organübergreifend verallgemeinern,120 ist das aktienrechtliche Modell in §§ 241 ff. AktG nicht auf Verwaltungsbeschlüs107 Zum AR der Beiersdorf AG vgl. etwa OLG Hamburg AG 1984, 21, 23 f.; OLG Hamburg AG 1984, 248 ff. 108 Zu nennen sind etwa: Lewerenz, Leistungsklagen, S. 18 f., 90 ff.; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288 ff. Davor bereits H. Westermann, FS Bötticher, S. 369 ff. 109 Statt vieler Knobbe-Keuk, FS Ballerstedt, S. 239 ff.; Lutter AcP 180 (1980), 84, 132 ff. 110 Zu den Klagemöglichkeiten der Aktionäre BGHZ 83, 122, 125 ff. = NJW 1982, 1703. 111 BGHZ 106, 54 = NJW 1989, 979: Klage der Arbeitnehmervertreter gegen Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstands. 112 BGHZ 122, 342 = NJW 1993, 2307. 113 BGHZ 124, 111 = NJW 1994, 520: Klage der Arbeitnehmervertreter gegen diverse AR-Beschlüsse. 114 OLG Celle NJW 1990, 582. 115 Hierzu Bork ZGR 1989, 1; ders. ZIP 1991, 137 ff.; Mertens ZHR 154 (1990), 24 ff.; T. Raiser AG 1989, 185 ff.; ders. ZGR 1989, 44 ff. 116 Vgl. BGHZ 135, 244, 245 ff. = NJW 1997, 1926. 117 So der zutreffende Befund bei J. Koch, ARAG/Garmenbeck-Entscheidung, S. 91, 96. 118 BGHZ 136, 133 = NJW 1997, 2815; präzisiert im Commerzbank/Mangusta II-Urteil, vgl. BGHZ 164, 249, 254  ff. = NJW 2006, 374.  Vgl. ferner BGHZ 164, 241, 244 ff. = NJW 2006, 371; BGH NJW 2018, 2796 Rn. 16 ff. 119 Dazu noch im Einzelnen in § 17 II 2 und § 20 III a und d. 120 Die Kontroversen um die Zulässigkeit des sog. Organstreits werden sogleich unter § 3 erläutert, weil sie auch die Kontrolle individueller Entscheidungen betreffen. 35

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se entsprechend anwendbar.121 Vielmehr sind fehlerhafte Beschlüsse der Verwaltungsorgane – wie die Gesellschafterbeschlüsse im Personengesellschaftsrecht – nichtig, wobei die Feststellungsklage das einschlägige Instrument ist, um den Beschlussfehler gerichtlich geltend zu machen. Dies gilt jedenfalls für die Beschlüsse des Vorstands122 und des Aufsichtsrats123 einer Aktiengesellschaft. In anderen Gesellschaftsformen wird das Beschlussmängelrecht der Verwaltungsorgane zwar nicht breit diskutiert, schreibt man aber die für die Organe der Aktiengesellschaft aufgestellten Grundsätze konsequent fort, ist das Nichtigkeitsmodell auch auf kollektive Entscheidungen der GmbH-Geschäftsführer,124 des obligatorischen GmbH-Aufsichtsrats125 und – vorbehaltlich anderweitiger Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag – der fakultativen Aufsichtsgremien126 anwendbar. Was die Fehlerquellen angeht, sind ebenfalls Parallelen zu den Mitgliederbeschlüssen erkennbar: Die Verwaltungsbeschlüsse können an formellen und materiellen Mängeln leiden; zur letztgenannten Gruppe gehören namentlich Gesetzes- und Satzungsverstöße.127 Damit unterliegen auch Verwaltungsbeschlüsse der richterlichen Inhaltskontrolle. Auf die Einordnung der gerichtlichen Kontrollinstrumente im Kontext des verbandsrechtlichen Organstreits wird noch in § 3 zurückzukommen sein. 3. Kontrolle individueller Willensbildung a) Individuelle Willensbildung in Personengesellschaften Die in § 2 V 2 skizzierten Beschlüsse sind nicht die einzige Entscheidungsform im Verbandsrecht. Auch wenn die Gesellschaften und ihre Organe häufig aus 121 AA insb. Becker, Verwaltungskontrolle, S. 486 ff.; Schwab, Prozeßrecht, S. 562 ff. 122 Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 28; Bayer, 50 Jahre AktG, S. 199, 219 f. 123 BGHZ 207, 190 Rn. 21 = NJW 2016, 1236; Hüffer/J. Koch AktG § 108 Rn. 25 ff. Umfassender Rspr.-Überblick bei Bayer, 50 Jahre AktG, S. 199, 214 f. 124 Vgl. Stephan/Tieves in MüKoGmbHG §  37 Rn.  154: „Auseinandersetzungen zwischen Geschäftsführern betreffend die Geschäftsführung sind durch Klage des Geschäftsführers gegen die Gesellschaft auszutragen“. Zur Bestimmung des Klagegegners in Intraorganstreitigkeiten s. noch in § 3 II 6.  125 Spindler in MüKoGmbHG §  52 Rn.  574  ff.; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck ­GmbHG § 52 Rn. 232, 299 mit Verweis auf Rn. 91 ff. 126 Grunewald in MüKoGmbHG §  161 Rn.  168; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG § 52 Rn. 91 ff.; R. Werner GmbHR 2015, 577, 578 ff. Für den GmbH-Beirat zwischen Anfechtbarkeit und Nichtigkeit differenzierend Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 771 ff. 127 Für den AG-Vorstand Fleischer in BeckOGK AG §  77 Rn.  28; für den AR BGHZ 207, 190 Rn.  21 = NJW 2016, 1236; Habersack in MüKoAktG §  108 Rn.  73, 80; Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 575; für den Beirat Spindler aaO § 52 Rn. 771.  36

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mehreren Personen bestehen, ist es denkbar, dass einzelne Gesellschafter oder Organmitglieder die Befugnis haben, selbständig Entscheidungen zu treffen, ohne zuvor die Meinung des Kollektivs einholen zu müssen. Besonders deutlich tritt dies in der offenen Handelsgesellschaft zutage, deren Gesellschafter gem. § 115 Abs. 1 Hs. 1 HGB die Geschäfte grundsätzlich alleine führen dürfen. In der BGB-Gesellschaft sind die Gesellschafter zwar nach § 709 BGB gesamtgeschäftsführungsbefugt, aus § 711 BGB ergibt sich aber, dass der Gesellschaftsvertrag die Einzelgeschäftsführungsbefugnis vorsehen kann. Sind die Gesellschafter einzelgeschäftsführungsbefugt, räumen ihnen § 711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB ein (abdingbares) Widerspruchsrecht ein, um ihr Einflussund Mitspracherecht sicherzustellen.128 Auf diesem Weg wird die Gleichberechtigung der geschäftsführenden Gesellschafter gewährleistet129 und der Status Quo in der Gesellschaft geschützt.130 Das Widerspruchsrecht reicht indes nur soweit wie die Geschäftsführungsbefugnis: Ist ein Gesellschafter von der Geschäftsführung ausgeschlossen, kann er nicht gem. § 711 BGB, § 115 HGB widersprechen.131 Sieht der Gesellschaftsvertrag eine Ressortaufteilung vor, können die Gesellschafter nicht in fremde Ressorts eingreifen, sondern nur Maßnahmen widersprechen, die auch ihr eigenes Ressort betreffen.132 Widerspricht ein einzelgeschäftsführungsbefugter Gesellschafter einer Geschäftsführungsmaßnahme, kann dies einen Prozess auslösen, in denen die umstrittene Maßnahme und der Widerspruch133 inhaltlich bewertet werden sollen.134 Der Gesellschafter, der ursprünglich die anvisierte Maßnahme er128 Staudinger/Habermeier BGB §  711 Rn.  1; Habersack/C. Schäfer OHG §  115 HGB Rn. 1; Schöne in BeckOK BGB, § 711 Rn. 1. Vgl. auch Weygand AcP 158 (1959/60), 150, 152: „Korrelat der Einzelbefugnis“. 129 Staub/Fischer, 3. Aufl., HGB § 115 Anm. 4. Dagegen geht es bei § 711 BGB, § 115 HGB nicht darum, die widersprechenden Gesellschafter von der persönlichen Haftung nach § 128 HGB zu schützen, vgl. Fischer aaO § 115 Anm. 8; R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 5. 130 Soergel/Hadding/Kießling BGB § 711 Rn. 1. 131 Soergel/Hadding/Kießling BGB §  711 Rn.  1; R. Hahn, Widerspruchsrecht, S.  18  f.; Spitze, Geschäftsführung, S. 131. 132 Hierzu und zu weiteren sachlichen und persönlichen Beschränkungen des Widerspruchsrechts Staudinger/Habermeier BGB §  711 Rn.  4  ff.; Habersack/C. Schäfer OHG §  115 HGB Rn.  9  ff.; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB §  115 Rn.  23  ff.; R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 18 ff. 133 Der Widerspruch ist selbst als Geschäftsführungsmaßnahme zu qualifizieren, vgl. Soergel/Hadding/Kießling BGB § 711 Rn. 1; C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 1 f.; R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 4 ff.; Schmidt-Rimpler, FS Knur, S. 235, 243. 134 Freilich kann der Widerspruch auch im Rahmen einer Schadensersatzklage wegen Überschreitung der Geschäftsführungsbefugnis relevant sein, wenn der Gesellschaf37

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greifen wollte, kann eine Feststellungsklage erheben, um zu klären, ob der Widerspruch rechtmäßig ist und ihn an der Geschäftsführung hindert.135 So hatte der BGH in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1986 über eine Feststellungsklage eines Gesellschafters zu entscheiden, der das Gehalt eines Mitarbeiters um 5% erhöhen wollte und an einem Widerspruch des Mitgesellschafters gescheitert ist. Der Gesellschafter beantragte festzustellen, dass der Widerspruch unbeachtlich ist.136 Umgekehrt kann auch der widersprechende Gesellschafter eine Unterlassungs- oder Feststellungsklage erheben, um dem Widerspruch zum Durchbruch zu verhelfen.137 b) Individuelle Willensbildung in Kapitalgesellschaften aa) Gesetzliche Ausgangslage und Meinungsstand Im Kapitalgesellschaftsrecht wird die richterliche Kontrolle der individuellen Entscheidungen der Organmitglieder weitaus weniger intensiv diskutiert als im Personengesellschaftsrecht. Dennoch kann es auch in einer Kapitalgesellschaft vorkommen, dass ein Mitglied eines mehrköpfigen Geschäftsleitungsorgans einer Geschäftsführungsmaßnahme widerspricht und in diesem Zusammenhang eine gerichtliche Klärung angestrebt wird. Zwar folgt aus §  77 Abs.  1 Satz 1 AktG, der nach allgemeiner Auffassung in der GmbH analog anzuwenden ist,138 dass ein mehrköpfiges Geschäftsleitungsorgan grundsätzlich einstimmig entscheidet,139 jedoch ist es gem. § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG zulässig, vom Einstimmigkeitsprinzip abzuweichen und eine unbeschränkte Einzelgeschäfts-

ter die Handlung trotz Widerspruchs vornimmt und der Gesellschaft dadurch ein Schaden entsteht, vgl. BGH ZIP 1988, 843 ff.; Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 21; Habersack/C. Schäfer OHG § 115 HGB Rn. 20; Schöne in BeckOK BGB, § 711 Rn. 7; Servatius in Henssler/Strohn GesR §  711 BGB Rn.  8; Oetker/Lieder HGB §  115 Rn. 23. Umgekehrt kann ein pflichtwidriger Widerspruch einen Schadensersatzanspruch gegen den Widersprechenden auslösen, so dass auch in diesem Zusammenhang eine gerichtliche Kontrolle denkbar ist, vgl. Drescher aaO § 115 Rn. 21. 135 Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 43; Habersack/C. Schäfer OHG § 115 HGB Rn. 23; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB §  115 Rn.  50; aA Drescher in EBJS HGB §  115 Rn. 22: regelmäßig kein Feststellungsinteresse. 136 BGH NJW 1986, 844. 137 Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 21; Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 43 f.; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 115 Rn. 4; Habersack/C. Schäfer OHG § 115 HGB Rn. 24; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 115 Rn. 50, 52. 138 S. nur Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 78 f. mwN: Analogie zu § 77 Abs. 1 AktG. 139 Zur Einstimmigkeit vgl. nur Kort in GK-AktG § 77 Rn. 10 ff. 38

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führungsbefugnis der Geschäftsleiter festzulegen.140 In der Praxis weit verbreitet ist eine sachliche Beschränkung der Einzelgeschäftsführungsbefugnis, etwa nach Funktionen des Vorstandsmitglieds oder nach Sparten.141 Sieht die Satzung oder die Geschäftsordnung Einzelgeschäftsführungsbefugnis vor, stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Organmitglieder den Entscheidungen anderer Mitglieder widersprechen können. Das Gesetz beantwortet die Frage nicht; es fehlen Regelungen, die mit § 711 BGB, § 115 HGB vergleichbar sind.142 Die herrschende Ansicht im GmbH-Recht schließt diese Gesetzeslücke mit Hilfe einer Analogie zu § 115 Abs. 1 HGB und räumt den Geschäftsführern für den Fall der Einzelgeschäftsführungsbefugnis ohne nähere Argumentation ein Widerspruchsrecht ein.143 Anders ist das Meinungsbild im aktienrechtlichen Schrifttum. Hier ist es allgemein anerkannt, dass ein Widerspruchsrecht der Vorstandsmitglieder bei Einzelgeschäftsführungsbefugnis nur dann besteht, wenn es in der Satzung oder Geschäftsordnung vorgesehen ist;144 eine Analogie zu § 115 Abs. 1 HGB wird nicht erwogen.145 140 Für die AG statt aller Hüffer/J. Koch AktG § 77 Rn. 10; Spindler in MüKoAktG § 77 Rn. 31; für die GmbH Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 88; Leuering, FS Seibert, S. 543, 545. 141 Für die AG Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 41 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 77 Rn. 10; Kort in GK-AktG § 76 Rn. 193 f., § 77 Rn. 23. Für die GmbH Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 90. 142 Vgl. auch den Überblick bei Leuering, FS Seibert, S. 543, 544. 143 Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG §  37 Rn.  17; Jacoby in Bork/C. Schäfer ­GmbHG § 37 Rn. 5; Scholz/U.H. Schneider/S.H. Schneider GmbHG § 37 Rn. 30, 32; Marsch-Barner/H. Diekmann in MHdB GesR III § 44 Rn. 90. In diese Richtung auch Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 88 („auf die GmbH übertragbaren Regelung bei der OHG in § 115 Abs. 1 HGB“). Ohne Verweis auf § 115 HGB Wisskirchen/Kuhn in BeckOK GmbHG §  37 Rn.  45.  Die oft als abweichende Auffassung genannten Stimmen, die an Stelle des Widerspruchsrechts analog § 115 Abs. 1 HGB ein „Recht auf Befassung der Geschäftsführerversammlung“ vorschlagen, beschäf­ tigen sich nicht mit umfassender Einzelgeschäftsführungsbefugnis, sondern mit Ressortaufteilung, vgl. Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 37 Rn. 30; Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG §  37 Rn.  45.  Vgl. ferner die Bestandsaufnahme bei Leuering, FS Seibert, S. 543, 547 f., der auf S. 555 dem Widerspruch lediglich einen Suspensiveffekt beimessen will. 144 So Fleischer in BeckOGK AktG §  77 Rn.  19; Spindler in MüKoAktG §  77 Rn.  33; Hölters/M. Weber AktG §  77 Rn.  18.  Für die Ressortaufteilung auch Kort in GKAktG §  77 Rn.  39; Mertens/Cahn in KK-AktG §  77 Rn.  29; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV §  22 Rn.  7.  Zu den Unterschieden zwischen dem Widerspruchsrecht, Interventionsrecht und Vetorecht M. Seidel, Vetorecht, S. 11 f. 145 Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 19 weist lediglich darauf hin, dass eine Regelung entsprechend § 115 Abs. 1 HGB statthaft ist. Ähnlich Spindler in MüKoAktG § 77 Rn. 61: Vorbild des § 115 Abs. 1 HGB. 39

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Diese Diskrepanz zwischen dem Aktien- und GmbH-Recht ist eigentümlich, weil der Ausgangspunkt in beiden Gebieten gleich ist: Die Geschäftsleiter sind grundsätzlich gesamtgeschäftsführungsbefugt, es besteht aber die Möglichkeit, ihnen Einzelgeschäftsführungsbefugnis einzuräumen. Insoweit ist es kontraintuitiv, wenn im letztgenannten Fall den GmbH-Geschäftsführern ipso iure ein endgültiges Widerspruchsrecht zusteht, die Vorstandsmitglieder einer AG aber nur aufgrund einer Regelung in der Geschäftsordnung oder Satzung widersprechen können. Der erste Impuls spricht eher dafür, die Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft und die Geschäftsführer einer GmbH gleich zu behandeln. Setzt man sich mit den Stellungnahmen im Schrifttum näher auseinander, fällt weiter auf, dass sie nicht immer strikt zwischen der umfassenden Einzelgeschäftsführungsbefugnis einerseits und der Ressortaufteilung andererseits trennen. Es werden in einem Atemzug zwei unterschiedliche Gestaltungsvarianten der Binnenorganisation des Geschäftsleitungsorgans genannt, was dazu führt, dass die Aussagen zum Widerspruchsrecht nicht zweifelsfrei einer dieser Kategorien zugeordnet werden können.146 Deshalb wird hier zunächst der (einfachere) Fall behandelt, in dem alle Geschäftsleiter mit einer unbeschränkten Einzelgeschäftsführungsbefugnis ausgestattet sind, um sodann die Rechtslage bei der Ressortaufteilung zu beleuchten. bb) Umfassende Einzelgeschäftsführungsbefugnis Nähert man sich dem Problem aus der methodischen Perspektive, ist zunächst zu klären, ob das Kapitalgesellschaftsrecht planwidrig keine Vorschrift über das Widerspruchsrecht enthält. Dabei ist von § 77 Abs. 1 AktG auszugehen, mit dem der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 klären wollte, „ob für jede Geschäftsführungsmaßnahme die Zustimmung aller Vorstandsmitglieder notwendig ist oder ob ein mit Stimmenmehrheit gefaßter Beschluß genügt“.147 Er hat sich für die erstgenannte Option entschieden und in § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG Abweichungen in der Satzung und Geschäftsordnung zugelassen. Allerdings ist er bei der Klärung der Rechtslage auf halbem Weg stehen geblieben: Wie bereits erläutert, ist es unklar, ob die Vorstandsmitglieder bei Einzelgeschäftsführungsbefugnis ein Widerspruchsrecht haben. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass sich einzelgeschäftsführungsbefugte Geschäftsleiter über eine Maßnahme uneinig sind und weder die Satzung noch die Geschäftsordnung geeignete Lösungsinstrumente bereitstellen. In einer solchen Situati146 So etwa Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 19; Kort in GK-AktG § 77 Rn. 39; Hölters/M. Weber AktG § 77 Rn. 18; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 22 Rn. 7. 147 Kropff AktG S. 98 f. 40

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Willensbildungskontrolle

on enthält das Gesetz keine Antwort auf die Frage, welcher Geschäftsleiter sich durchsetzt: Derjenige, der die Maßnahme vornehmen will, oder derjenige, der widerspricht? Der Gesetzgeber hat also sein Ziel, mit § 77 Abs. 1 AktG für eindeutige Verhältnisse zu sorgen, nur teilweise erreicht, was die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke rechtfertigt. Diese Lücke lässt sich mit Hilfe der § 711 BGB, § 115 HGB schließen. Im Personengesellschaftsrecht hat der Gesetzgeber ein gesetzliches Grundgerüst geschaffen, der auch die Frage regelt, wie etwaige Meinungsdifferenzen zwischen einzelgeschäftsführungsbefugten Gesellschaftern zu beheben sind. Es setzt sich der widersprechende Gesellschafter durch. Dabei sind insbesondere die für die BGB-Gesellschaft geltenden Vorschriften aufschlussreich. Wie das Aktien- und GmbH-Recht geht die Organisationsverfassung der Gesellschaft bürgerlichen Recht im Ausgangspunkt davon aus, dass die Geschäftsleiter gesamtgeschäftsführungsbefugt sind; es herrscht das Einstimmigkeitsprinzip (§  709 BGB). Will nur ein Geschäftsleiter nicht mitziehen, muss die Maß­ nahme unterbleiben. Wird dieses Grundmodell zugunsten der Einzelgeschäftsführungsbefugnis abbedungen, kann ein Geschäftsleiter die Maßnahme grundsätzlich im Alleingang treffen. Es greift jedoch § 711 BGB ein, damit die gleichberechtigten Gesellschafter durch Erklärung des Widerspruchs weiterhin Einfluss auf die Geschäftsleitung ausüben können. Das Widerspruchsrecht gewährt den übrigen Geschäftsleitern die Möglichkeit, eine unliebsame Maßnahme zu unterbinden.148 Der maßgebliche Unterschied zwischen der Gesamtgeschäftsführungsbefugnis und Einzelgeschäftsführungsbefugnis mit Widerspruchsmöglichkeit liegt also im Ablauf der Entscheidungsfindung. Im ersten Fall nehmen alle Geschäftsleiter von vornherein am Entscheidungsprozess teil. Die geplante Geschäftsführungsmaßnahme muss unterbleiben, wenn ein Geschäftsleiter ihr nicht zustimmt. Im zweiten Fall wird die Gesamtheit der Geschäftsleiter nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen, sondern ein einzelner Geschäftsleiter kann im Ausgangspunkt auf eigene Hand handeln, wobei ein anderer Geschäftsleiter ihn durch einen Widerspruch ausbremsen kann.149 Die Zustimmung bei der Gesamtgeschäftsführungsbefugnis und der Widerspruch bei der Einzelgeschäftsführungsbefugnis erfüllen also dieselbe Funktion.150 Sie sollen verhindern, dass eine Maßnahme gegen den Willen eines Geschäftsleiters vorgenommen wird. Die Einzelgeschäftsführungsbefugnis befreit den Gesell148 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 128 bis 130. 149 Zu den Unterschieden s. auch Servatius in Henssler/Strohn GesR § 711 BGB Rn. 7. 150 Zutr. Rawert in MüKoHGB §  115 Rn.  9; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB §  115 Rn. 21. Zurückhaltend aber Servatius in Henssler/Strohn GesR § 711 BGB Rn. 6 f. 41

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Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle

schafter nur von der Notwendigkeit, sich im Vorfeld einer Maßnahme mit den anderen Gesellschaftern abzusprechen. Er muss aber nach wie vor damit rechnen, dass die Maßnahme wegen Widerspruchs unterbleiben soll.151 Das Widerspruchsrecht erlaubt eine Rückkehr zur Grundregel des § 709 BGB.152 Mit anderen Worten: Die Einzelgeschäftsführungsbefugnis ist wegen der Widerspruchsmöglichkeit nur eine „auflösend bedingte Gesamtgeschäftsführungsbefugnis“. Die Struktur der Entscheidungsfindung innerhalb des mehrköpfigen Geschäftsleitungsorgans ist in Kapitalgesellschaften im Ausgangspunkt gleich. Im gesetzlichen Regelfall sollen alle Geschäftsleiter am Entscheidungsprozess teilnehmen und es müssen alle Geschäftsleiter der Maßnahme zustimmen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AktG). Außerdem können die Satzung und Geschäftsordnung die Einzelgeschäftsführungsbefugnis vorschreiben (§ 77 Abs. 1 Satz 2 AktG), so dass ein Geschäftsleiter die Maßnahme im Alleingang treffen kann. Nur den letzten Schritt geht das geschriebene Kapitalgesellschaftsrecht nicht konsequent weiter: Anders als in § 711 BGB ist das Widerspruchsrecht nicht geregelt. Wenn man bedenkt, dass sich der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 bewusst für das Einstimmigkeitsprinzip als Regel in der Binnenorganisation des Vorstands entschieden hat und dieses Prinzip auf die GmbH übertragen wird, sollte man § 711 BGB auch in Kapitalgesellschaften beachten. Wie bereits erläutert, führt ein Widerspruch dazu, dass der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführungsbefugnis und das Einstimmigkeitsprinzip herrschen. Da die Vorstandsmitglieder nach dem Grundgedanken des Gesetzgebers des Aktiengesetzes 1965 gleichberechtigt sind, gewährleistet die Analogie zu § 711 BGB, dass das gesetzgeberische Konzept stimmig weitergedacht wird.153 Die Rechtsfortbildung ist ein Instrument, mit dem das Kollegialprinzip geschützt wird, ohne dass das Widerspruchsrecht in der Satzung oder Geschäftsordnung verankert ist. Freilich steht es den Gesellschaftern oder Geschäftsleitern frei, das Widerspruchsrecht auszuschließen. Wenn §  711 BGB in seinem originären 151 Pointiert im Zusammenhang mit einer GbR Schmidt-Rimpler, FS Knur, S. 235, 242: Ein Gesellschafter mit Einzelgeschäftsführungsbefugnis könne ohne den Willen der anderen Gesellschafter handeln, nicht aber gegen ihren Willen. Vgl. auch Soergel/ Hadding/Kießling BGB § 711 Rn. 2: Zustimmung muss ersetzt werden. 152 Treffend R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 7: „positives und negatives Konsensprinzip“. 153 Gegen einen solchen Gleichlauf lässt sich nicht einwenden, dass die Geschäftsleiter einer Kapitalgesellschaft – anders als die Gesellschafter einer Personengesellschaft – nicht nach außen persönlich haften (so aber augenscheinlich M. Seidel, Vetorecht, S. 42 f.). Wie schon in Fn. 129 erläutert, dient das Widerspruchsrecht nicht dazu, die Gesellschafter vor persönlicher Haftung zu schützen. 42

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Verzahnung der Kategorien

Anwendungsbereich disponibel ist,154 muss er erst recht abbedungen werden können, wenn das Widerspruchsrecht qua Analogie begründet ist.155 cc) Ressortaufteilung Ist geklärt, dass im mehrköpfigen Geschäftsleitungsorgan einer Kapitalgesellschaft, dessen Mitglieder einzelgeschäftsführungsbefugt sind, §  711 BGB, § 115 HGB analog gelten, ist die Frage nach dem Widerspruchsrecht bei Ressortaufteilung leicht zu beantworten. Sind die Zuständigkeiten der Organmitglieder inhaltlich begrenzt, besteht kein uneingeschränktes Widerspruchsrecht. Auch im Personengesellschaftsrecht ist es anerkannt, dass bei Ressortaufteilung ein Widerspruch nur insoweit erhoben werden kann, als das eigene Ressort durch eine Maßnahme betroffen ist.156 Dieser Grundsatz muss auch im Kapitalgesellschaftsrecht berücksichtigt werden. Sind die Geschäftsleiter mit einer Maßnahme eines Kollegen nicht einverstanden, können sie diese nicht mit Hilfe eines Widerspruchs endgültig verhindern, sondern sie müssen die Angelegenheit in das Gesamtgremium bringen.157 Auch hier besteht selbstredend die Möglichkeit, ein umfassendes Widerspruchsrecht der unzuständigen Geschäftsleiter in der Satzung oder Geschäftsordnung zu verankern.

VI. Verzahnung der Kategorien 1. Zusammenspiel zwischen Verhaltens- und Willensbildungskontrolle Die vorstehenden Ausführungen zu den unterschiedlichen Anknüpfungspunkten für die richterliche Kontrolle sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jeweiligen Kategorien eng miteinander verzahnt sind. So kann es vor154 BGH NJW-RR 1988, 995; C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 4; Wiedemann, GesR II, S. 636. 155 AA Leuering, FS Seibert, S.  543, 555  f., der aber davon ausgeht, dass der Widerspruch zur Befassung des Gesamtgremiums mit der streitigen Angelegenheit führt. Bei einem solchen (nicht überzeugenden) Verständnis des Widerspruchsrechts ist es in der Tat vorzugswürdig, die Möglichkeit der Abbedingung einzuschränken. 156 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 132. 157 Zu diesem „Recht auf Befassung der Geschäftsführerversammlung“ in der GmbH Roth/Altmeppen GmbHG §  37 Rn.  34; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG §  37 Rn.  30; Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG §  37 Rn.  45; Michalski/Lenz GmbHG § 37 Rn. 33; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 35 Rn. 187 (Rechtsgedanke des § 115 Abs. 1 HGB); Leuering, FS Seibert, S. 543, 550; Leuering/Dornhegge NZG 2010, 13, 15 (Analogie zu § 115 Abs. 1 HGB). Für die AG Spindler in MüKoAktG § 77 Rn. 60; Hölters/M. Weber AktG § 77 Rn. 37. 43

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Verbandsrechtliche Konfliktlagen und richterliche Kontrolle

kommen, dass in einem Gerichtsverfahren die Willensbildungs- und Verhaltenskontrolle aufeinander aufbauen. Deutlich kommt dies etwa zum Ausdruck, wenn Personalmaßnahmen auf dem Prüfstand stehen: Hat der Aufsichtsrat die Abberufung eines Vorstandsmitglieds nach § 84 Abs. 3 Satz 2 Var. 1 AktG beschlossen und setzt sich das Vorstandsmitglied gegen den Widerruf seiner Bestellung zur Wehr – sei es, weil es eine Gestaltungsklage nach § 84 Abs. 3 Satz 4 AktG erhebt, sei es, weil es gegen den Aufsichtsratsbeschluss vorgeht – ist die Personalmaßnahme des Aufsichtsrats Gegenstand des Gerichtsverfahrens; es handelt sich um einen Fall der Willensbildungskontrolle. Im Rahmen dieses Verfahrens wird zugleich das Verhalten des Vorstandsmitglieds inzident einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen. Der Richter muss entscheiden, ob sich das Vorstandsmitglied grob pflichtwidrig verhalten hat. Die Willensbildungsund Verhaltenskontrolle sind also miteinander verbunden. Zudem erstreckt sich die gerichtliche Prüfung auf zwei Akteure: Unmittelbar wird der Aufsichtsrat, mittelbar das Vorstandsmitglied kontrolliert. Ähnlich ist die Lage, wenn der Aufsichtsrat gegen die Stimmen einzelner seiner Mitglieder beschließt, Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder (§ 93 Abs. 2 AktG) im Namen der Gesellschaft nicht zu verfolgen. In einem solchen Fall kann ein überstimmtes Aufsichtsratsmitglied gegen den Beschluss eine Feststellungsklage erheben,158 so dass die Willensbildung innerhalb des Aufsichtsrats der gerichtlichen Kontrolle unterzogen wird. Mittelbar wird das Verhalten der Vorstandsmitglieder überprüft: Die Wirksamkeit des Aufsichtsratsbeschlusses hängt unter anderem davon ab, ob dem Geschäftsleiter eine schuldhafte Pflichtverletzung vorgeworfen werden kann.159 2. Richterliche Kontrolldichte und Corporate Governance Die Verzahnung zwischen den unterschiedlichen Kategorien der gerichtlichen Kontrolle führt dazu, dass die richterliche Prüfungsdichte nicht nur für Prozesssituationen maßgeblich ist. Ob und inwieweit ein Gericht eine Maßnahme überprüfen kann, wird zwar meist in einem Prozess relevant. Es darf jedoch nicht verkannt werden, dass die gerichtliche Kontrolldichte hinsichtlich einer Organentscheidung das Verhältnis zwischen den Gesellschaftsorganen beeinflusst. Besonders deutlich kommt dieses Zusammenspiel zwischen der richterlichen Prüfungsdichte und dem Verhältnis der Verwaltungsorgane im ARAG/ Garmenbeck-Urteil des BGH zum Ausdruck. Danach muss der Aufsichtsrat 158 Der Verfolgungsbeschluss des AR war der Gegenstand des ARAG/Garmenbeck-Urteils, s. BGHZ 135, 244, 245 ff. = NJW 1997, 1926.  159 Zur Kontrolle der AR-Beschlüsse s. noch § 14 I. 44

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Verzahnung der Kategorien

berücksichtigen, „daß dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte des Gesellschaftsunternehmens ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muß, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist.“160 Die Ermessensspielräume des Vorstands, die in einer Prozesssituation zur Lockerung der richterlichen Kontrolldichte führen, beeinflussen also die Intensität, mit der der Aufsichtsrat den Vorstand überwachen darf.161 Diese Wechselwirkung ist nicht auf die Frage der Vorstandshaftung und Verfolgung durch den Aufsichtsrat beschränkt. Vielmehr lässt sich die Aussage über das Zusammenspiel zwischen dem richterlichen Prüfungsauftrag und Verhältnis zwischen den Gesellschaftsorganen generalisieren. Darf ein Gericht eine bestimmte Maßnahme nicht oder nur grobmaschig überprüfen, sinkt die Intensität, mit der sich die Gesellschaftsorgane gegenseitig rechtlich kontrollieren können. Darf ein Gericht eine Maßnahme nicht beanstanden, sind auch die Einwirkungsmöglichkeiten der Verbandsrechtsakteure eingeschränkt.162 Die materiell-rechtlichen Positionen, die das Gesellschaftsrecht den Gesellschaftern und Organen einräumt, entfalten nur dann eine vollständige Wirkung, wenn sie vor Gericht durchgesetzt werden können. Auch wenn die konsensualen Konfliktlösungsmechanismen gerade im Gesellschaftsrecht eine maßgebliche Rolle spielen, weil die beteiligten Akteure die Probleme lieber im geschlossenen Kreis regeln wollen, statt sie an die Öffentlichkeit zu zerren, muss berücksichtigt werden, dass in einer Patt-Situation oft nur die Austragung der Streitigkeit vor einem Gericht zu einer Lösung führen kann. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, trägt die Erforschung der richterlichen Kontrolldichte zur Corporate-Governance-Debatte bei; das System der gesellschaftsrechtlichen checks and balances wird verfeinert. 160 Vgl. BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926. 161 Zu diesem Zusammenhang Lohse, Ermessen, S. 52 ff. So offenbar auch J. Vetter, FS Bergmann, S. 827, 843, der Überwachungsorgane in einem Atemzug mit Gerichten nennt. S.  ferner v.  Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar §  116 AktG Rn.  297; Kaulich, Haftung, S.  186.  AA Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 2069, der augenscheinlich davon ausgeht, dass der AR auch dann eine Vorstandsmaßnahme gem. § 111 Abs. 1 AktG inhaltlich kontrollieren darf, wenn die gerichtliche Inhaltskontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingeschränkt ist. 162 Zu den Auswirkungen der gerichtlichen Kontrolle auf die Prüfungsintensität anderer Akteure im bilanzrechtlichen Kontext: Hennrichs AG 2006, 698, 704; Merkt Der Konzern 2017, 353, 354; W. Müller, LA Happ, S. 179, 181. Zur Informationsbeschaffung durch den AR § 15 III 3. Die Verbindung zwischen der gerichtlichen Kontrolldichte und der Prüfungsintensität der Gesellschaftsorgane zieht aber Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 207 offenbar nicht in Betracht (am Beispiel des § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG). 45

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§ 3 Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht I. Bedeutung des Organstreits für die Untersuchung Ob ein Gericht die Verbandsrechtsakteure kontrollieren kann, hängt davon ab, inwieweit das Prozessrecht den Beteiligten verfahrensrechtliche Instrumente an die Hand gibt, mit denen sie einen Zivilprozess anstoßen können. So bereitet die Willensbildungskontrolle im Hinblick auf die Gesellschafter keine nennenswerten Probleme. Wie schon in § 2 V 2 b ausgeführt, sieht das Aktienrecht in §§ 241 ff. AktG besondere Vorschriften zur Behandlung von Beschlussmängeln vor. Bei anderen Gesellschaftsformen ist das Beschlussmängelrecht zwar nicht kodifiziert, die Rechtsprechung und das Schrifttum ermöglichen aber dennoch unter Rückgriff auf allgemeine Instrumente des Zivil- und Zivilverfahrensrechts die gerichtliche Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse. Geht es um die Kontrolle der individuellen Willensbildung, können die Gesellschafter auf die Feststellungs- und Unterlassungsklage zurückgreifen.1 Auch die Verhaltenskontrolle lässt sich prozessual leicht einkleiden, weil es um Außenrechtsbeziehungen zwischen den Gesellschaftern und Organmitgliedern einerseits und der Gesellschaft andererseits geht.2 Wie in § 2 IV erläutert, wird das Verhalten der Verbands- und Organmitglieder in erster Linie im Rahmen von Streitigkeiten über die Haftung und die Wirksamkeit von Personalmaßnahmen einer gerichtlichen Überprüfung unterzogen. Solche Streitigkeiten können klassisch im Wege einer Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsklage ausgefochten werden, so etwa wenn die Gesellschaft gegen einen Gesellschafter oder ein Organmitglied auf Zahlung von Schadensersatz klagt oder wenn sich ein Organmitglied gegen die Gesellschaft wendet, um eine Abberufung oder Kündigung zu verhindern. Größere Schwierigkeiten bereitet die Willensbildungskontrolle bei Verwaltungsorganen und ihren Mitgliedern, weil der Streit sich um eine Innenrechtsbeziehung dreht. Aus demselben Grund sind diejenigen Fälle problematisch, in denen ein Organ oder Organmitglied eine Klage erhebt und sich dabei auf eigenes Recht beruft oder in denen ein Organmitglied in Prozessstandschaft ein Recht des Gesamtorgans durchzusetzen versucht. Da das deutsche Zivilprozessrecht auf die Lösung von Streitigkeiten zwischen zwei Parteien zuge1 Beispiele in § 2 V 3 a. 2 Zur Unterscheidung zwischen Außen- und Innenstreitigkeiten s. schon § 2 I. 46

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Bedeutung des Organstreits für die Untersuchung

schnitten ist und zivilrechtliche Insichprozesse deshalb grundsätzlich nicht möglich sind,3 wird speziell im Aktienrecht seit Jahren kontrovers darüber diskutiert, ob solche Inter- und Intraorganstreitigkeiten zulässig sind.4 Dieser Streit soll an dieser Stelle nicht in allen Facetten beleuchtet werden.5 Dennoch ist es unabdingbar, sich ein Bild über die prozessualen Möglichkeiten der Organe und ihrer Mitglieder zu machen, bevor man sich der Frage der gerichtlichen Prüfungsdichte widmet. Nur wenn man herausgearbeitet hat, in welchen Konstellationen die richterliche Kontrolle von Verwaltungsmaßnahmen denkbar ist, kann man die Prüfungsintensität ausloten. Daher wird hier zunächst die aktienrechtliche Seite des Problems beleuchtet, also die Frage, ob und inwieweit die Entscheidungen des Vorstands und Aufsichtsrats mit einer Organklage beanstandet werden können.6 Sind die Voraussetzungen und Grenzen des aktienrechtlichen Organstreits geklärt, wird anschließend untersucht, ob die im Aktienrecht gewonnenen Erkenntnisse auf die GmbH übertragen werden können.7 3 Zum Zweiparteienprinzip vgl. etwa Lindacher/Hau in MüKoZPO Vor §  50 Rn.  4  ff.; Zöller/Althammer ZPO Vor § 50 Rn. 5. 4 Am deutlichsten sind die Kontroversen, wenn ein Organmitglied gegen das Gesamt­ organ oder ein Organ gegen ein anderes Organ klagen will, weil es der Meinung ist, dass sich das Organ rechtswidrig verhält. Zur allg. Rechtmäßigkeitskontrolle s. § 3 I 5 d. 5 Ausgespart werden etwa die Probleme der Kosten (hierzu etwa U. Bauer, Organklagen, S. 80 ff.; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 445 ff.; Peine, Organstreit, S. 172 ff.), der Rechtskraft (Peine aaO S.  175  f.), der Zwangsvollstreckung (vgl. U. Bauer aaO S. 83 ff.; Grobe aaO S. 447 f.; Peine aaO S. 177 ff.) und des einstweiligen Rechtsschutzes (OLG Celle NJW 1990, 582; LG Hannover ZIP 1989, 1330, 1333; Friedeborn NZG 2018, 770, 774 ff.). 6 Nicht behandelt wird die Aktionärsklage gegen rechtswidriges Verwaltungshandeln. Geht ein Aktionär gegen eine Maßnahme der Verwaltungsorgane vor, handelt es sich nicht um einen klassischen Organstreit, weil sich der Kläger meist auf die Mitgliedschaft beruft und damit die Verletzung eines eigenen subjektiven Rechts geltend macht. Paradigmatisch sind hier die Holzmüller/Gelatine-Fälle, in denen die Missachtung der (ungeschriebenen) HV-Kompetenzen im Wege einer Unterlassungs- oder Feststellungsklage beanstandet wird, die auf einen eigenen mitgliedschaftlichen Anspruch des Aktionärs gestützt wird, vgl. dazu Hüffer/J. Koch AktG § 119 Rn. 26. Auch die Unterlassungs- und Feststellungsklagen im Zusammenhang mit Ausnutzung des genehmigten Kapitals gehören in diese Kategorie, vgl. Hüffer/J. Koch AktG §  203 Rn. 37 ff. Generell zur Aktionärsklage K. Schmidt in GK-AktG, 4. Aufl., § 241 Rn. 5 (mit Kritik des Begriffs in Rn. 7); T. Raiser in AktR im Wandel Bd. II Kap. 14 Rn. 78 ff.; Ulmer in AktR im Wandel Bd. II Kap. 3 Rn. 57 ff. 7 Bei Personengesellschaften stellt sich die Frage nach dem Organstreit nicht mit derselben Schärfe, weil dort die (rechtsfähigen) Gesellschafter untereinander streiten, so dass nicht von einer reinen Innenrechtsbeziehung die Rede sein kann. 47

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Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht

II. Meinungsstand im Aktienrecht Bei der Aufarbeitung des Meinungsstands zum aktienrechtlichen Organstreit stößt man auf die Schwierigkeit, dass die Stellungnahmen teils aus einzelnen Vorschriften (wie die Berichtspflichten des Vorstands und Informationsrechte des Aufsichtsrats aus § 90 AktG) induktiv allgemeine Grundsätze abzuleiten versuchen,8 teils das Problem abstrakt fassen und die erarbeiteten Erkenntnisse auf konkrete Konfliktsituationen überblenden.9 Hinzu kommt, dass die Ausführungen häufig nicht an einzelne Sachurteilsvoraussetzungen anknüpfen und davon ausgehend die Zulässigkeit einer Organklage untersuchen, sondern unsortiert gesellschaftsrechtliche Besonderheiten hervorheben, um ihr Ergebnis zu untermauern; dies erschwert die dogmatische Einordnung der Argumente.10 Ungeachtet dieser Probleme lassen sich im Wesentlichen drei große Meinungsgruppen ausmachen, deren Vertreter sich freilich im Detail voneinander unterscheiden.11 Die wohl herrschende Ansicht steht dem Organstreit skeptisch gegenüber und betont, dass Streitigkeiten zwischen Organen in systematischer Hinsicht einen Fremdkörper im Aktienrecht darstellen, weil sie nicht in die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung passen und auch in der Sache nicht wünschenswert sind.12 Das Aktienrecht stelle Instrumente bereit, die die Austragung von ­Organstreitigkeiten vor Gerichten obsolet machen würden.13 Außerdem ziel 8 Treffend J. Koch in MHdB VII § 30 Rn. 93: „Ausfluss deutscher Kommentarliteratur“. Vgl. ferner Lewerenz, Leistungsklagen, S. 19 f.; Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 2 („paradigmatische Bedeutung“ des §  90 AktG). Dagegen Kort in GK-AktG §  90 Rn. 208 f.; zurückhaltend auch Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 17. 9 So die Vorgehensweise von Mertens/Cahn in KK-AktG Vor § 76 Rn. 3 ff.; Spindler in BeckOGK AktG § 108 Rn. 94; A. Teichmann, FS Mühl, S. 663 ff. Zu den beiden Methoden der Rechtsfindung im Kontext des Organstreits auch Baumann, Rechte, S. 92. 10 So insb. Mertens/Cahn in KK-AktG Vor § 76 Rn. 3 ff. 11 Ausf. Überblick über den Meinungsstand bei Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 308 ff. Zur Rspr. Grobe aaO S. 340 ff. 12 In diese Richtung Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 25; Mertens/Cahn in KK-AktG Vor § 76 Rn. 4 f.; Spindler in MüKoAktG Vor § 76 Rn. 60; Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 144; Brücher AG 1989, 190, 191 f.; W. Werner AG 1990, 1, 16. Im Ergebnis ferner Schütz in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 111 AktG Rn. 300. 13 So etwa Spindler in MüKoAktG Vor § 76 Rn. 60 und in BeckOGK AktG § 108 Rn. 94, der im Zusammenhang mit Streitigkeiten zwischen AR und Vorstand auf Schadensersatzansprüche, Zustimmungsvorbehalte und die Möglichkeit der Abberufung hinweist. Vgl. ferner BGHZ 122, 342, 344 ff. = NJW 1993, 2307; J. Koch in MHdB VII §  30 Rn.  95; Mertens/Cahn in KK-AktG Vor §  76 Rn.  5; Borgmann, Organstreit, S. 212. 48

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Meinungsstand im Aktienrecht

ten verfahrensrechtliche Regelungen auf die Durchsetzung subjektiver Rechte ab,14 die Gesellschaftsorgane würden aber nach tradierter Ansicht nicht über subjektive Rechte verfügen, weil sie nach dem gesetzlichen Leitbild nicht im Eigeninteresse agieren, sondern den Belangen der Gesellschaft verpflichtet seien.15 Darüber hinaus seien die Organe nicht rechtsfähig, so dass ihnen im Hinblick auf § 50 Abs. 1 ZPO auch die Parteifähigkeit abzusprechen sei;16 mit Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit seien nur die Organmitglieder als natürliche Personen (§  1 BGB)17 und die Gesellschaft ausgestattet.18 Bestehe ausnahmsweise das Bedürfnis nach gerichtlicher Klärung der Rechtslage, sei ein Organstreit entbehrlich, weil die Aktiengesellschaft und die Organmitglieder den Rechtsstreit austragen könnten. Eine solche Konstruktion sei etwa bei Ansprüchen auf Berichterstattung aus § 90 Abs. 3, 5 AktG oder bei Intraorganstreitigkeiten um die Rechtmäßigkeit der Organbeschlüsse denkbar.19 Manche Autoren stehen dagegen auf dem Standpunkt, dass die Organe zwar mangels Rechtsfähigkeit nicht ihre eigene Rechte durchsetzen können, jedoch die Rechte der Gesellschaft im eigenen Namen wahrnehmen. Dafür sprechen sich namentlich die Befürworter der sog. Parteilehre aus, die nicht nur auf die Person des Prozessführenden abstellt, sondern auch auf das Vermögen, für das der Prozess geführt wird:20 Die Organe würden in ihrer gesellschaftsnützigen 14 Zöller/Vollkommer ZPO Einl Rn. 46. 15 Mertens/Cahn in KK-AktG Vor § 76 Rn. 3; Spindler in BeckOGK AktG § 108 Rn. 94; Flume, BGB AT I/2, S.  406; Häsemeyer ZHR 144 (1980), 265, 272  f. AA Bork ZGR 1989, 1, 9 ff. 16 BGHZ 122, 342, 345 = NJW 1993, 2307; Mertens/Cahn in KK-AktG Vor § 76 Rn. 3; Schütz in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 108 AktG Rn. 282 mit Fn. 474; Flume, BGB AT I/2, S. 405; J. Wilhelm KapGesR Rn. 845 f., 856; Häsemeyer ZHR 144 (1980), 265, 271 f.; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 376. Zur fehlenden Organrechtsfähigkeit auch BGH NJW-RR 2018, 800 Rn. 15. 17 Anders als in manchen ausländischen Rechtsordnungen hält das deutsche Gesellschaftsrecht daran fest, dass Organwalter in Kapitalgesellschaften natürliche Personen sein müssen, vgl. § 76 Abs. 3 Satz 1, § 100 Abs. 1 AktG, § 6 Abs. 2 Satz 1 GmbHG. 18 Für Handelsgesellschaften ergibt sich dies aus dem Gesetz (vgl. § 1 Abs. 1 AktG, § 13 GmbHG, § 124 Abs. 1 [ggf. iVm § 161 Abs. 2] HGB). Für die Außen-GbR ist es seit der BGH-Entscheidung ARGE/Weißes Roß (BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056) allgemein anerkannt, vgl. nur C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 303 ff. 19 Zum Ersten vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 17, 22; Mertens/Cahn in KK-AktG Vor §  76 Rn.  6; Sailer-Coceani in K.  Schmidt/Lutter AktG §  90 Rn.  70  f.; Spindler in ­MüKoAktG Vor § 76 Rn. 63, § 90 Rn. 63 f.; dens. in BeckOGK AktG § 108 Rn. 94 ff.; Mehrbrey/Witte/Gossen § 9 Rn. 237, 241; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 8; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 378 ff. Zum Zweiten vgl. BGHZ 122, 342, 344 ff. = NJW 1993, 2307; Flume, BGB AT I/2, S. 406 f. 20 Hierzu allg. Henckel, Parteilehre, S. 41 ff.; Häsemeyer ZHR 144 (1980), 265, 268 ff. 49

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Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht

Funktion für das Vermögen streiten, das der Gesellschaft zugeordnet sei, so dass sie im Fall eines internen Streits als Prozessstandschafter der Gesellschaft auftreten würden.21 Die Auffassungen, die den Organen die Fähigkeit absprechen, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, werden im Schrifttum seit jeher kritisiert. Zahlreiche Autoren heben hervor, dass die Organe zwar nur fremdnützig tätig sind und deshalb keine subjektive Rechte im klassischen Sinne haben können, jedoch immerhin über innergesellschaftliche Kompetenzen und Befugnisse verfügen, die sie im Interesse der Gesellschaft ausüben, so dass man von Organrechten und Organpflichten sprechen kann, die gerichtlich geltend gemacht werden können.22 Erkenne man Organrechte und Organpflichten an, sei es konsequent, von der Rechts- und Parteifähigkeit der Organe auszugehen.23 Dementsprechend könnten Vorstand und Aufsichtsrat als Kläger oder Beklagte in einem Prozess auftreten.24

21 Häsemeyer ZHR 144 (1980), 265, 275 ff.; A. Teichmann, FS Mühl, S. 663, 667 ff. Gegen einen solchen Insichprozess H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 375 f. 22 Die Begriffe „Organrechte“ und „Organpflichten“ haben im Kontext der Organklagen Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 294 ff., 302 f. und K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 215 ff. geprägt. Vgl. ferner Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 71 f.; Kort in GKAktG § 90 Rn. 192 ff. (der aber die Passivlegitimation der Organe verneint und mit hA auf die AG abstellt); Lutter Information Rn.  235  ff.; U. Bauer, Organklagen, S. 36 ff., 57 ff.; Jacoby, Amt, S. 462 ff.; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 62 ff.; Peine, Organstreit, S.  69  ff.; Schürnbrand, Organschaft, S.  375  ff.; Schwab, Prozeßrecht, S. 590 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 121 ff.; Poseck DB 1996, 2165 f.; Säcker NJW 1979, 1521, 1526. In diese Richtung auch Zöller/Althammer ZPO § 50 Rn. 25a. Weitergehend aber Bork ZGR 1989, 1, 9 ff.: Organe würden über subjektive Rechte verfügen und könnten sie gerichtlich im eigenen Namen geltend machen. So auch Hölters/Müller-Michaels AktG §  90 Rn.  22; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 388 ff., 419 ff. Noch anders Pflugradt, Leistungsklagen, S. 49 ff., insb. 63 ff., der in Anlehnung an die Regelungen der Anfechtungsklage von einer prozessualen Befugnis eines Organ ausgeht, ein anderes Organ zur Einhaltung objektiven materiellen Rechts anzuhalten. 23 Lutter Information Rn. 236; U. Bauer, Organklagen, S. 32 ff., 49 ff., 69 ff.; Grobe, Interund Intraorganklagen, S. 442 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 173 ff. und die in Fn. 22 Genannten. 24 Vgl. die Nachw. in Fn. 22. So auch im Ergebnis T. Raiser AG 1989, 185, 187 ff., der aber sein Ergebnis unabhängig von der Frage begründet, ob Organe rechts- und parteifähig sind. Stattdessen knüpft er an die „konfliktträchtige Rechtsbeziehung“ zwischen Organen an, die für die Eröffnung des Gerichtswegs ausreichen soll. Für Zulässigkeit des Organstreits iE auch Becker, Verwaltungskontrolle, S. 505 ff. 50

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Unbeachtlichkeit rein rechtspolitischer Argumente

Doch darf die grundsätzliche Einstimmigkeit der vorgenannten Meinungsgruppe darüber, dass die Organe rechts- und parteifähig sind und deshalb eigene Rechte im eigenen Namen einklagen können, nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autoren im Detail stark voneinander abweichen, was die Reichweite der Klagebefugnisse angeht. Während unter den Befürwortern der Lehre von Organrechten anerkannt ist, dass die sog. Hilfsrechte25 (wie etwa das Auskunftsrecht gem. § 90 AktG) und die Zuständigkeitsordnung im Rahmen einer Organklage durchgesetzt werden können,26 wird die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle des Verwaltungshandelns nur zurückhaltend befürwortet.27 Teilweise wird danach unterschieden, ob die Klage die Zweckmäßigkeit des Beschlusses betrifft oder ob dessen Rechtmäßigkeit angezweifelt wird; nur im letztgenannten Fall soll ein Intraorganstreit zulässig sein.28

III. Unbeachtlichkeit rein rechtspolitischer Argumente Die von zahlreichen Autoren vorgebrachten Argumente gegen die Zulässigkeit von Organstreitigkeiten verfolgen einen pragmatischen Ansatz. Die Gerichte sollen sich in die Auseinandersetzungen zwischen und in Organen nicht einmischen, so dass etwaige Klagen von vornherein scheitern müssen. Aus einer dogmatischen Perspektive handelt es sich indes um bloße Scheinargumente, die in erster Linie die rechtspolitische Einstellung der Verfasser offenbaren,29 die sich aber nicht auf die Buchstaben des Gesetzes zurückführen lassen und deshalb de lege lata mit Vorsicht zu genießen sind. Diese Vorsicht ist auch deshalb geboten, weil es zwei unterschiedliche Fragen sind, ob eine Inter- oder Intraorganklage zulässig ist und ob diese Klage auch 25 Die Terminologie ist uneinheitlich: Einige Autoren sprechen von Hilfsrechten (Peine, Organstreit, S. 97) oder Hilfsbefugnissen (U. Bauer, Organklagen, S. 110 f.; Poseck DB 1996, 2165, 2166), andere – spiegelbildlich – von sekundären Organpflichten (so etwa K. Schmidt ZZP 92 [1979], 212, 215). Hierzu noch in § 3 V 2 mwN. 26 S. nur U. Bauer, Organklagen, S. 94 ff.; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 95 ff., 117 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 189 ff.; T. Raiser ZGR 1989, 44, 60 ff. Ausf. und mwN in § 3 V 3. 27 Dafür T. Raiser ZGR 1989, 44, 56 ff., 63 ff.; dagegen U. Bauer, Organklagen, S. 119 ff.; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 121 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 196 ff. Hierzu ausf. und mwN in § 3 V 4. 28 So Liebscher in BeckHdB AG § 6 Rn. 167; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 7 Rn. 328; T. Raiser ZGR 1989, 44, 67 f.; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 10 f. Sympathisierend J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 99. 29 Dies räumt auch Mertens ZHR 154 (1990), 24, 27 ein: „(…) bei der Zulassung des Organstreits geht es um Rechtspolitik (…)“. 51

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begründet ist. Lassen sich die Probleme um die Organstreitigkeiten auf der Ebene der Begründetheit sachgerecht lösen, erscheint es methodisch sauberer, die einzelnen Sachurteilsvoraussetzungen abzuarbeiten, statt die Möglichkeit der Inter- und Intraorganklagen mit einem Verweis auf allgemeine Erwägungen pauschal zu versagen. Insbesondere überzeugt es nicht, darauf hinzuweisen, dass die Organstreitigkeiten ein in der Sache nicht wünschenswertes „Schreckbild“ seien.30 Es obliegt allein den Organen und ihren Mitgliedern, darüber zu bestimmen, ob sie ihre Differenzen vor Gericht lösen wollen. Zwar mag es zutreffen, dass die Organe in vielen Fällen aus Praktikabilitätsgründen von einer Organklage absehen, weil sie andere Möglichkeiten der Konfliktlösung bevorzugen, doch erlauben solche Erwägung keine zwingenden Schlüsse auf die dogmatische Behandlung der Organstreitigkeiten. Die Rechtswissenschaft kann nicht entscheiden, ob die Erhebung einer Klage sinnvoll ist.31 Blendet man die rechtspolitisch angehauchten Stellungnahmen aus und versucht man, die Diskussion um die Zulässigkeit des Organstreits in dogma­ tische Bahnen zu lenken, wird deutlich, dass der Schlüssel zur Lösung des ­Problems im Zusammenspiel zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht liegt.32 Das Verfahrensrecht knüpft die Prozessfähigkeit in § 50 Abs. 1 ZPO an die Rechtsfähigkeit, so dass zunächst maßgeblich ist, ob die Organe und ihre Mitglieder Träger von Rechten und Pflichten sein können.33 Wer diese (abstrakte) Frage verneint, muss untersuchen, ob ein Organ etwaige Ansprüche der Gesellschaft geltend machen kann und gegen wen es die Klage zu richten hat.34 Wer sie bejaht, muss sodann die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen prüfen, namentlich die Prozessführungsbefugnis, das Rechtsschutzbedürfnis und – handelt es sich um eine Feststellungsklage35 – das Feststellungsinteresse. An dieser Stelle ist insbesondere zu klären, ob die allgemeinen 30 So Mertens/Cahn in KK-AktG Vor §  76 Rn.  4.  In die gleiche Kerbe schlagen Baumann, Rechte, S. 105 (der „eine drastische Wesensveränderung der aktienrechtlichen Kompetenzordnung“ befürchtet) und Brücher AG 1989, 190, 191 (der vor einer Zerstörung des Organisationsgefüges der AG warnt). Zu dieser Argumentationslinie vgl. ferner die Nachw. in Fn. 12. Wie hier Bork ZIP 1991, 137, 138.  31 So auch Schwab, Prozeßrecht, S. 601; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 186. 32 Vgl. Bork ZIP 1991, 137 f., 140; Hommelhoff/Timm AG 1976, 330. S. ferner Kort in GK-AktG § 90 Rn. 190; Kutscher, Organhaftung, S. 359 ff. Für eine prozessuale Betrachtung dagegen Häsemeyer ZHR 144 (1980), 265, 266 ff. 33 AA T. Raiser AG 1989, 185, 187  f., der einen von Rechtsfähigkeit und subjektiven Rechten der Organe losgelösten Ansatz verfolgt. 34 Gesellschaft, vertreten durch ein anderes Organ? Organmitglieder als notwendige Streitgenossen? Zu den insoweit vertretenen Ansätzen vgl. noch die Nachw. in § 3 VI. 35 Zu den statthaften Klagearten § 3 VII. 52

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verfahrensrechtlichen Grundsätze im Hinblick auf verbandsrechtliche Besonderheiten zu modifizieren sind. So reicht es für die Feststellung der Prozessführungsbefugnis aus, wenn der Kläger behauptet, ein eigenes Recht im eigenen Namen geltend zu machen, was bei natürlichen Personen und rechtsfähigen Verbänden in der Regel nicht weiter schwierig ist, im Rahmen der Organstreitigkeiten aber eine besondere Prüfung erforderlich machen kann.36 Hat man die Zulässigkeit bejaht, folgt die Prüfung der Begründetheit und damit die Auseinandersetzung mit materiell-rechtlichen Problemen des Gesellschaftsrechts.

IV. Partei- und Prozessfähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder 1. Anerkennung der Organrechte und Organpflichten als Ausgangspunkt Nähert man sich der ersten Frage – sind die Organe und ihre Mitglieder rechtsund parteifähig? – aus der Perspektive des Aktiengesetzes, ist zunächst fest­ zustellen, dass die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder der Gesellschaft verpflichtet sind, ihre Aufgaben zu erfüllen.37 So muss der Vorstand die Aktiengesellschaft gem. §  76 Abs.  1 AktG leiten. Seine Mitglieder müssen dabei gem. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters walten. Der Aufsichtsrat hat die Leitungs- und Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstands gem. § 111 Abs. 1 AktG zu überwachen. Die Leitungs- und Überwachungspflichten bestehen jeweils gegenüber der Gesellschaft. Im Hinblick darauf ist der tradierten Auffassung zuzustimmen, wenn sie die Organtätigkeit als eine fremdnützige qualifiziert. Die Organe handeln nicht, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen, sondern um die Belange der Gesellschaft zu fördern.38 Gleichwohl führt dieser Umstand nicht zwingend dazu, dass den Organen keine eigenen Rechte zustehen, die sie im Rahmen eines Zivilprozesses durchsetzen und verteidigen können. Vielmehr sorgt das Aktiengesetz dafür, dass die Organe ihre Aufgaben erfüllen können, indem es ihre Zuständigkeiten festlegt und sie sowie ihre Mitglieder mit Befugnissen ausstattet, auf die sie sich gegenüber anderen Organen berufen können. Im Hinblick darauf liegt es nahe, im

36 Hierzu § 3 V 1. 37 Zu Organaufgaben Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 292 ff. 38 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 15. 53

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Anschluss an die öffentlich-rechtliche Dogmatik39 von Organrechten und Organpflichten zu sprechen. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass das Or­ ganhandeln der Gesellschaft zugerechnet wird und die Streitigkeiten in einer Gesellschaft aus einer Außenperspektive als reines Internum erscheinen. Vielmehr sollte das Problem aus einer Innenperspektive betrachtet werden:40 Die Beziehungen innerhalb der Gesellschaft, namentlich die Zusammenarbeit und etwaige Meinungsdifferenzen zwischen den Organen, sind mit Verhältnissen zwischen natürlichen und/oder juristischen Personen vergleichbar. Wie natürliche und juristische Personen um vertragliche und gesetzliche Ansprüche streiten, so ringen die Organe und ihre Mitglieder um ihre Organrechte und Kompetenzen. Dass die Anerkennung von Organrechten für das Aktienrecht nicht völlig ungewöhnlich ist, zeigt § 245 Nr. 4 AktG, der dem Vorstand als solchen das Anfechtungsrecht im Beschlussmängelprozess einräumt.41 Es würde also keinen Systembruch nach sich ziehen, wenn man die Existenz von Organrechten auch in anderen Konstellationen anerkennt.42 Dies gilt umso mehr, als einige Vorschriften des Aktiengesetzes wie typische Anspruchsgrundlagen formuliert sind, die den Organen oder ihren Mitgliedern explizit Rechte einräumen bzw. Pflichten gegenüber anderen Organen auferlegen. So sieht § 90 Abs. 3 AktG vor, dass der Aufsichtsrat und auch ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied vom Vorstand die Erstattung von Berichten verlangen kann. Damit korrespondiert die Pflicht des Vorstands, Berichte über Umstände zu erstatten, die auf die Lage der Gesellschaft von erheblichem Einfluss sein können.43 Außerdem spricht § 90 Abs. 5 Satz 1 AktG von einem „Recht“ eines jeden Aufsichtsratsmitglieds, von den Vorstandsberichten Kenntnis zu nehmen. Wie eine Anspruchsgrundlage ist auch § 125 Abs. 3, 4 AktG formuliert, wonach ein Aufsichtsratsmitglied bestimmte Mitteilungen über die Hauptversammlung und die Versammlungsbeschlüsse verlangen kann.

39 Vgl. etwa Wahl/Schütz in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 42 Abs. 2 Rn. 91: organschaftliche Rechte. Für eine Orientierung an verwaltungsrechtlicher Dogmatik im aktienrechtlichen Kontext Becker, Verwaltungskontrolle, S. 508 ff.; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 172 ff.; Peine, Organstreit, S. 38 ff., 63 f. 40 So zutreffend U. Bauer, Organklagen, S. 29 ff.; Schürnbrand, Organschaft, S. 376 f. 41 C. Schäfer in MüKoAktG § 245 Rn. 67; Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 143. Zurückhaltend aber etwa H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 376. 42 So auch K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 220 f.; vgl. ferner Jacoby, Amt, S. 462, 464; Peine, Organstreit, S. 63. 43 Lewerenz, Leistungsklagen, S. 95 ff. 54

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Partei- und Prozessfähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder

Diese Vorschriften dahingehend zu lesen, dass die Gesellschaft die Inhaberin der Ansprüche bzw. die Adressatin der Pflichten ist und dabei im Prozess durch die Organe vertreten ist,44 erweist sich als ein Kunstgriff, der die Rechtslage unnötig verkompliziert. Wenn der Wortlaut einer Vorschrift nahelegt, dass ein Organ oder ein Organmitglied selbst einen Anspruch geltend machen kann oder eine Pflicht erfüllen muss, bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass es die Organe und ihre Mitglieder wie Subjekte behandeln will, die mit Rechten und Pflichten ausgestattet sind.45 Deshalb erscheint es konsequent, im Ausgangspunkt anzuerkennen, dass Organe und ihre Mitglieder über Organrechte verfügen und Organpflichten beachten müssen. Ob man insoweit von Rechtsfähigkeit46 oder Teilrechtsfähigkeit der Organe, Organrechtsfähigkeit47 oder relativer Rechtsfähigkeit48 sprechen möchte, ist eine bloß terminologische Frage.49 Entscheidend ist der Umstand, dass Organe als solche Träger von Organrechten und Organpflichten sein können. 2. Folgerungen für das Verfahrensrecht Die materiell-rechtliche Anerkennung der Organrechte und Organpflichten ist für die prozessuale Behandlung des Organstreits entscheidend. Das Verfahrensrecht knüpft die Prozessvoraussetzungen in §§ 50 ff. ZPO, namentlich die Partei- und Prozessfähigkeit, an das materielle Recht an. So erklärt § 50 Abs. 1 ZPO alle Personen für parteifähig, die rechtsfähig sind. Die Prozessfähigkeit wird in § 51 Abs. 1 ZPO umschrieben als die Fähigkeit, vor Gericht zu stehen. Rechtsprechung und Schrifttum präzisieren diese Umschreibung dahingehend, dass damit die Fähigkeit gemeint ist, Prozesshandlungen selbst oder durch Vertreter vorzunehmen oder entgegenzunehmen.50 Schließlich bestimmt § 52 ZPO, dass eine Person insoweit prozessfähig ist, als sie sich durch

44 In diese Richtung aber die hM, vgl. noch in § 3 VI 2. 45 Auf das Wortlautargument abstellend Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 72; G ­ robe, Inter- und Intraorganklagen, S. 459; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 291; Poseck DB 1996, 2165, 2166. Dagegen J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 95 (der die Anerkennung des Organstreits als ein Akt der Rechtsfortbildung ansieht); Flume, BGB AT I/2, S. 406; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 377. 46 Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 403 ff., 419 ff.; Bork ZGR 1989, 1, 12 ff. 47 So die Vorschläge von Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 303 f. 48 Vgl. U. Bauer, Organklagen, S. 33 ff., 49 ff. 49 Zutreffend Steinbeck, Überwachungspflicht, S.  176.  In diese Richtung auch Jacoby, Amt, S. 463; Kutscher, Organhaftung, S. 359 mit Fn. 1342. 50 Statt aller Zöller/Althammer ZPO § 52 Rn. 1. Vgl. ferner die Nachw. in Fn. 22 und 23. 55

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Verträge verpflichten kann; das Gesetz koppelt den Umfang der Prozessfähigkeit also an die Geschäftsfähigkeit.51 Überträgt man die materiell-rechtlichen Erkenntnisse zu den Organrechten und Organpflichten auf den zivilverfahrensrechtlichen Normenbestand, ist es folgerichtig, die Parteifähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder zu bejahen. Sind Organe und ihre Mitglieder Träger von Rechten und Pflichten, sind sie rechtsfähig und damit nach § 50 Abs. 1 ZPO auch parteifähig, soweit es um die Durchsetzung von Organrechten und Organpflichten geht.52 Auch können Organe am Zivilprozess teilnehmen. Zwar spricht § 52 ZPO – der darauf abstellt, ob sich eine Person vertraglich binden kann – bei vordergründiger Betrachtung gegen die Anerkennung der Prozessfähigkeit der Organe. Diese schließen keine Verträge für sich selbst ab, sondern sind an der Willensbildung des Verbands beteiligt und treten im Außenverhältnis als Vertreter der Gesellschaft auf (§§ 78, 112 AktG). Doch weisen namentlich Walter F. Lindacher und Wolfgang Hau im Zusammenhang mit juristischen Personen und „sonstigen parteifähigen Personifikationen“ zutreffend darauf hin, dass die Unterscheidung „prozessfähig – prozessunfähig“ auf natürliche Personen zugeschnitten ist. Bei rechtlichen Gebilden – und um solche handelt es sich bei Organen – steht die Frage nach ordnungsgemäßer Vertretung im Vordergrund.53 Wie noch ausführlich erläutert wird, können Organe durch ihre Mitglieder im Prozess vertreten werden. Auch spricht der Zweck der Regelungen über die Prozessfähigkeit dafür, die Beteiligung der Organe an einem Zivilverfahren nicht an § 52 ZPO scheitern zu lassen: §§ 51, 52 ZPO sollen in erster Linie die Interessen der Parteien absichern. Steht eine prozessunfähige Person auf der Kläger- oder Beklagtenseite, kann es vorkommen, dass sie den Prozess nicht sachgemäß führt und dadurch ihre eigenen Interessen beeinträchtigt. Dies kann den Fortgang des Prozesses ausbremsen, was für den Gegner und das Gericht hinderlich ist.54 Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass §  52 ZPO die Prozessfähigkeit bei Lichte besehen an die Geschäftsfähigkeit anknüpft.55 Eine Person, die nach §§  104  ff. BGB selbst keine Willenserklärungen abgeben kann, soll auch den Prozess nur mit Hilfe gesetzlicher Vertre51 Zu diesem Zusammenhang Weth in Musielak/Voit ZPO § 52 Rn. 1. 52 Konsequent U. Bauer, Organklagen, S. 69 ff., 79 f. und Poseck DB 1996, 2165, 2166: relative Parteifähigkeit; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 305: Organparteifähigkeit. Vgl. ferner Peine, Organstreit, S. 170 ff.; Bork ZIP 1991, 137, 139 f.; K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 219 ff. 53 Lindacher/Hau in MüKoZPO §§ 51, 52 Rn. 23. 54 Vgl. nur Lindacher in MüKoZPO §§ 51, 52 Rn. 2. 55 S. bereits die Nachw. in Fn. 51. 56

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Partei- und Prozessfähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder

ter führen können. Diese teleologischen Erwägungen greifen bei Organen nicht durch: § 76 Abs. 3 Satz 1 und § 100 Abs. 1 Satz 1 AktG stellen sicher, dass der Vorstand und der Aufsichtsrat mit geschäftsfähigen Personen besetzt werden. Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass die Organe und ihre Mitglieder die Organrechte als Kläger geltend machen können; sie können auch als Beklagte auf Einhaltung der Organpflichten in Anspruch genommen werden.56 Die Rechte der Einzelmitglieder werden von natürlichen Personen – die teils als Organwalter bezeichnet werden – wahrgenommen. Geht es um Rechte und Pflichten des Gesamtorgans, wird dieses durch seine Mitglieder vertreten.57 Wie die Vertretungsbefugnis im Organstreit im Einzelnen ausgestaltet ist, wurde aber im Schrifttum bislang nicht ausführlich problematisiert. Die meisten Autoren begnügen sich mit der Feststellung, dass die Organe ihre Rechte im Zivilprozess verteidigen können, und wenden sich der Reichweite der Organrechte und Organpflichten zu. Auch das Aktiengesetz beantwortet die Frage nach der Vertretungsbefugnis im Organstreit nicht ausdrücklich. Um diese Lücke zu schließen, bietet es sich an, auf Vorschriften zurückzugreifen, die sich mit der Vertretung der Aktiengesellschaft befassen.58 Bestimmt das Aktiengesetz, welche Personen tätig sein müssen, um die Gesellschaft zu vertreten, liegt es nahe, die Art und Weise der Vertretung von Organen parallel auszugestalten. So ist beim Vorstand auf § 78 Abs. 2 Satz 1 AktG zurückzugreifen, der im gesetzlichen Regelfall die Gesamtvertretung anordnet. Der Vorstand wird also im Organstreit durch alle Vorstandsmitglieder gemeinschaftlich vertreten.59 Schwieriger ist die Frage nach der Vertretungsbefugnis 56 Auf einem anderen Blatt steht freilich die Frage, wie weit die Organrechte und Organpflichten reichen; dies ist erst im Rahmen der Klagebefugnis und in der Begründetheit zu prüfen. Zutr. Schürnbrand, Organschaft, S.  382: Rechts- und Parteifähigkeit der Organe sei kein Freibrief für die schrankenlose Einführung gesellschaftsinterner Klagemöglichkeiten. Ähnlich Peine, Organstreit, S. 97: Trotz Anerkennung der Teilrechtsfähigkeit der Organe und Organmitglieder könne nicht davon ausgegangen werden, dass nun jeder gegen jeden um alles streiten könne. S. ferner Poseck DB 1996, 2165, 2166. 57 Vgl. auch Jacoby, Amt, S. 465: Zurechnung des Handelns der jeweiligen Amtswalter. 58 In diese Richtung auch Bork ZGR 1989, 1, 26, der aber nur auf die Willensbildung innerhalb der Organe eingeht. Deutlicher Bork ZIP 1991, 137, 140: Vertretungsregeln für das Außenrecht seien analog anzuwenden. 59 S. Flume, BGB AT I/2, S. 406 (der aber die Lehre von Organrechten ablehnt). Treffen die Satzung oder der AR (aufgrund einer Satzungsermächtigung) eine anderweitige Regelung über die Vertretungsbefugnis, etwa indem sie eine Einzelvertretung zulassen (zu den Gestaltungsmöglichkeiten Hüffer/J. Koch AktG § 78 Rn. 14 ff.), fällt es 57

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hinsichtlich des Aufsichtsrats: Zwar bestimmt § 112 Satz 1 AktG, in welchen Fällen der Aufsichtsrat die Gesellschaft vertreten kann, er trifft aber – anders als § 78 Abs. 2 Satz 1 AktG – keine Regelung über die Ausübung der Vertretungsmacht. Rechtsprechung und Schrifttum gehen dabei im Ausgangspunkt davon aus, dass §  78 Abs.  2 Satz  1 AktG nicht verallgemeinerungsfähig ist. Vielmehr knüpfen sie an § 108 Abs. 1 AktG an mit der Folge, dass der Gesamtaufsichtsrat zunächst einen Beschluss über die Angelegenheit fassen muss;60 unter den Voraussetzungen des § 107 Abs. 3 AktG kann die Beschlussfassung an einen Ausschuss delegiert werden.61 Der im Gesamtaufsichtsrat oder Ausschuss gebildete Wille muss sodann nach außen kundgetan werden.62 Dieser Mechanismus lässt sich auf den Organstreit übertragen, an dem der Aufsichtsrat als Gesamtorgan beteiligt ist. Die Entscheidungen im Rahmen des Or­ ganstreits müssen also vom Gesamtaufsichtsrat (§ 108 Abs. 1 AktG) oder von einem Ausschuss (§ 107 Abs. 3 AktG) getragen und (etwa durch den Vorsitzenden) nach außen kundgetan werden.

V. Klagebefugnis 1. Bedeutung der Klagebefugnis für den Organstreit Erkennt man die Parteifähigkeit der Organe und ihrer Mitglieder im Ausgangspunkt an und arbeitet man heraus, wie die Organe im Prozess vertreten werden, ist weiter zu prüfen, ob das Organ oder sein Mitglied klagebefugt ist. In herkömmlichen Prozessen zwischen natürlichen Personen und/oder rechtsfähigen Verbänden wird der Klagebefugnis in der Regel keine eigenständige Bedeutung beigemessen.63 Meist wird lediglich nach der Prozessführungsbeallerdings schwer, den einzelnen Vorstandsmitgliedern auch für den Organstreit die Vertretungsmacht einzuräumen (so auch im Kontext des § 245 Nr. 4 AktG K. Schmidt in GK-AktG, 4.  Aufl., §  245 Rn.  33). Anderenfalls hätten einzelne Mitglieder die Möglichkeit, das Gesamtorgan in den (ggf. ungewollten) Prozess hineinzuziehen. Deshalb spricht mehr dafür, immer von der Gesamtvertretung auszugehen, wobei für die kollegialen Willensbildung § 77 AktG entsprechend heranzuziehen ist (für § 245 Nr. 4 AktG etwa OLG Düsseldorf ZIP 1997, 1153, 1155 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 245 Rn. 36). Freilich behält das Gesamtorgan die Möglichkeit, ein Mitglied mit der Führung des Prozesses auf Grundlage der Vorstandsbeschlüsse zu beauftragen. 60 Hierzu BGH NZG 2013, 792 Rn. 22; BGH NZG 2013, 297 Rn. 11; BGH NZG 2009, 466 Rn. 12. 61 Habersack in MüKoAktG § 112 Rn. 23. 62 Vgl. Habersack in MüKoAktG § 112 Rn. 21 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 112 Rn. 7. 63 Vgl. J. Wilhelm KapGesR Rn.  855: Begriff der Klagebefugnis wird im Zivilprozess nicht verwendet. 58

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Klagebefugnis

fugnis gefragt, das heißt, ob die klagende Partei in eigenem Namen ein eigenes Recht geltend macht oder berechtigt ist, ein fremdes Recht gerichtlich durchzusetzen (Prozessstandschaft).64 Der erstgenannte Fall bereitet keine große Schwierigkeiten: Auf der Ebene der Zulässigkeit reicht es aus, dass die klagende Person einen eigenen Anspruch behauptet; die Anspruchsvoraussetzungen und die Inhaberschaft sind erst in der Begründetheit relevant.65 Die Prüfung der Prozessstandschaft kann unter Umständen schwieriger sein, doch haben Rechtsprechung und Lehre inzwischen Kriterien herausgearbeitet und Fallgruppen gebildet, an denen sich der Rechtsanwender orientieren kann.66 Im Vergleich zu den klassischen Außenrechtsprozessen sind die Fälle des Organstreits anders gelagert. Am Streit sind Personen beteiligt, deren (partielle) Rechts- und Prozessfähigkeit – wie in § 3 I 2 dargestellt wurde – nach wie vor umstritten sind. Selbst wenn man Organrechte und Organpflichten abstrakt anerkennt, bleibt man zunächst darüber im Unklaren, in welchen Fällen klagbare Rechtsbeziehungen zwischen den Organen als solchen bestehen könnten. Anders als in herkömmlichen Zivilprozessen, in denen natürliche Personen oder rechtsfähige Verbände auf Kläger- und Beklagtenseite stehen, erfordert ein Organstreit also eine eingehende Prüfung der Klagebefugnis als allgemeine Sachurteilsvoraussetzung.67 Untersucht wird dabei zunächst, ob ein Organ ein Recht gegenüber einem anderen Organ geltend machen könnte.68 Am deutlichsten tritt eine solche Si­ tuation zutage, wenn ein Organ einen Anspruch gegen ein anderes Organ erheben kann. Dabei ist zu beachten, dass der (potentielle) Anspruch nicht ausdrücklich im Wortlaut einer aktienrechtlichen Vorschrift verankert sein muss. Vielmehr reicht es aus, wenn die Norm eine Organpflicht statuiert, die nicht (nur) gegenüber der Gesellschaft, sondern (auch) gegenüber dem anderen Organ gilt; eine solche Norm lässt sich gedanklich in einen Anspruch um64 Dazu Weth in Musielak/Voit ZPO § 51 Rn. 14 ff. 65 Zu den Unterschieden vgl. Becker-Eberhard in MüKoZPO Vor § 253 Rn. 8 f. 66 Überblick bei Weth in Musielak/Voit ZPO § 51 Rn. 19 ff. 67 So auch im Ausgangspunkt Pflugradt, Leistungsklagen, S. 110 ff. AA U. Bauer, Organklagen, S. 41, der die Klagebefugnis aus dem Umstand herleitet, dass die Organe eigene Interorganrechte geltend machen. 68 Erst in der Begründetheit wird geprüft, ob dem klagewilligen Organ oder Organmitglied tatsächlich ein Recht zusteht, das sein Klagebegehren trägt, vgl. OLG Stuttgart AG 2007, 873, 877; Bork ZGR 1989, 1, 37 f. Zum Gedankenweg auf materiell-rechtlicher Ebene vgl. auch Jacoby, Amt, S. 459. In der Grundkonzeption anders Pflugradt, Leistungsklagen, S.  110  f., der nach der selbständigen Befugnis sucht, objektives Recht in einem Prozess durchzusetzen. 59

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formulieren.69 Außerdem ist die Klagebefugnis auch dann zu bejahen, wenn das Aktiengesetz einem Organ ein Klagerecht einräumt, ohne dass von einer klassischen Anspruchsbeziehung gesprochen werden kann.70 2. Gesetzlich zugewiesene Organansprüche Was mit dieser abstrakten Beschreibung gemeint ist, wird greifbarer, wenn man zwischen drei Konstellationen unterscheidet: den gesetzlich zugewiesenen Organansprüchen, der Kompetenzüberschreitung und der allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle. Ohne weitere Schwierigkeiten ist die Klagebefugnis im erstgenannten Fall zu bejahen, also wenn das Aktienrecht einem Organ oder einem Mitglied ausdrücklich einen Anspruch zuweist.71 So ist es etwa in den in § 3 I 4 a genannten Fällen. Da der Aufsichtsrat und seine Mitglieder vom Vorstand gem. § 90 Abs. 3 AktG einen Bericht über die Angelegenheiten der Gesellschaft verlangen können, sind sie als solche klagebefugt. Sie machen ihren eigenen Anspruch im eigenen Namen geltend.72 Ferner hat der Gesamtaufsichtsrat gem. § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG einen Anspruch auf Urkundenvorlage und Einsicht, den er gerichtlich durchsetzen kann;73 dasselbe gilt im Zusammenhang mit der Vorlage des Sonderprüfungsberichts nach § 145 Abs. 6 69 Zutr. Bork ZGR 1989, 1, 16: Es sei unerheblich, ob das Gesetz die Pflichtenseite oder die Berechtigung betone. 70 Als Beispiel mag an dieser Stelle § 245 AktG dienen, der nach hM den dort genannten Personen auf materiell-rechtlicher Ebene ein subjektives Recht auf Anfechtung eines HV-Beschlusses einräumt. Mit einem Verweis auf § 245 AktG lässt sich die Klagebefugnis in Anfechtungsprozessen begründen. Ob der Kläger tatsächlich zu den in § 245 AktG genannten Personen gehört, wird erst in der Begründetheit geprüft. Zum materiell-rechtlichen Charakter des § 245 AktG statt aller C. Schäfer in MüKoAktG § 245 Rn. 3 mwN. 71 Zum Folgenden s. auch den Überblick bei Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 421 f., 429 ff. 72 OLG Stuttgart AG 2007, 873, 877; Peine, Organstreit, S. 98 ff., 135 f.; Bork ZGR 1989, 1, 16, 33; ders. ZIP 1991, 137, 140 f.; Poseck DB 1996, 2165, 2167, 2169. AA Lewerenz, Leistungsklagen, S. 101 ff.; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 378 f.: § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG regele ein Recht der AG, die durch den AR vertreten wird, während § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG ein individuelles Recht des AR-Mitglieds vorsehe. Noch anders Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 8, 14: § 90 Abs. 3 AktG statuiere ein kollektives Informationsrecht der AG, die nach § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG durch den AR vertreten werde; bei § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG handele sich um einen Fall gesetzlicher Prozessstandschaft. Vgl. ferner Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 315: §  90 Abs.  3 Satz  2 AktG sei eine im Gesetz ausgeformte actio pro societate. 73 Peine, Organstreit, S. 102 ff.; Poseck DB 1996, 2165, 2167. So wohl auch OLG Stuttgart AG  2007, 873, 877.  Dagegen wohl Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  76, Hopt/​ 60

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Satz 5 AktG.74 Außerdem sind die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder klagebefugt, wenn sie das Recht, von den Berichten Kenntnis zu nehmen (§ 90 Abs. 5 AktG), gerichtlich durchsetzen wollen.75 Auch § 125 Abs. 3 und 4 AktG, der sich mit Mitteilungen im Zusammenhang mit der Hauptversammlung befasst, statuiert Ansprüche der Aufsichtsratsmitglieder, die man heranziehen kann, um die Klagebefugnis zu begründen: Ist ein Aufsichtsratsmitglied der Auffassung, dass es entgegen § 125 Abs. 3 oder 4 AktG über die Einberufung der Hauptversammlung oder die Beschlussfassung in der Hauptversammlung nicht ordnungsgemäß informiert wurde, ist es befugt, sich an ein Gericht wenden, um seine Auskunftsansprüche durchzusetzen76 – was wohl ein bloß theoretisches Szenario bleibt.77 Dasselbe gilt für Aufsichtsratsmitglieder, die gem. § 170 Abs. 3 Satz 1 AktG von den Vorlagen und Berichten im Sinne des § 170 Abs. 1 und 2 AktG Kenntnis nehmen wollen.78 Schließlich können alle Aufsichtsratsmitglieder und der Vorstand gem. § 110 Abs. 1 AktG vom Aufsichtsratsvorsitzenden verlangen, dass dieser den Aufsichtsrat einberuft; auch auf diesen Anspruch lässt sich die Klagebefugnis stützen.79 Die Klagebefugnis ist auch dann zu bejahen, wenn eine Vorschrift des Aktiengesetzes zwar nicht wie eine klassische Anspruchsgrundlage formuliert ist, sondern einem Organ die Pflicht auferlegt, zugunsten eines anderen Organs oder eines Organmitglieds eine Handlung vorzunehmen. So bestimmt § 170 Abs. 1 und 2 AktG, dass der Vorstand den Jahresabschluss, den Lagebericht, den nichtfinanziellen Bericht und den Vorschlag für die Verwendung des Bilanzgewinns dem Aufsichtsrat vorzulegen hat. Die Vorschrift ließe sich ohne inhaltliche Änderungen dahingehend umformulieren, dass der Aufsichtsrat M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 405 und Mertens/Cahn in KK-AktG § 111 Rn. 57, die nur auf Durchsetzung gem. § 407 Abs. 1 Satz 1 AktG hinweisen. 74 Rieckers/J. Vetter in KK-AktG § 145 Rn. 158. 75 Statt vieler Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 838; Bork ZGR 1989, 1, 32; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 315; Poseck DB 1996, 2165, 2169; Säcker NJW 1979, 1521, 1526; K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 226 f.; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 15 f.; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 380. 76 Siehe nur Noack/Zetzsche in KK-AktG §  125 Rn.  176; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 130 f.; Bork ZGR 1989, 1, 32; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 323 f. 77 Vgl. W. Werner in GK-AktG, 4. Aufl., § 125 Rn. 102. 78 Ekkenga in KK-AktG § 170 Rn. 42; E. Vetter in GK-AktG § 170 Rn. 192; Bork ZGR 1989, 1, 32. Zu einem solchen Fall etwa LG Düsseldorf AG 1995, 333 f. 79 Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 110 Rn. 22; J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn.  99.  AA Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG §  110 Rn.  29; Hopt/M. Roth in GK-AktG §  110 Rn.  39; Mertens/Cahn in KK-AktG §  110 Rn.  17.  Zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf § 110 Abs. 2 AktG vgl. noch in § 3 VIII 3. 61

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einen Anspruch gegen den Vorstand auf Vorlage der entsprechenden Dokumente hat; den Vorlageanspruch kann er im Zivilprozess durchsetzen.80 Dasselbe gilt für die Vorlage des Abhängigkeitsberichts: Nach § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG muss der Vorstand den Abhängigkeitsbericht dem Aufsichtsrat vorlegen. Da diese Pflicht gegenüber dem Aufsichtsrat als solchen besteht, ist dieser befugt, auf Vorlage des Berichts zu klagen.81 Zudem lässt sich die Befugnis der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, die Übermittlung der Berichte und Vorlagen einzuklagen, auf ihre Individualrechte aus § 170 Abs. 3 Satz 2, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG stützen.82 Schließlich kann die Klagebefugnis der Aufsichtsratsmitglieder, die eine Abschrift des Aufsichtsratsprotokolls verlangen, mit Verweis auf § 107 Abs. 2 Satz 4 AktG begründet werden.83 3. Kompetenzüberschreitung Schwieriger gestaltet sich die Rechtslage, wenn die Organe wegen Missachtung ihrer Kompetenzen vor Gericht ziehen wollen. Als Beispiele einer Kompetenz­ überschreitung werden im Schrifttum genannt die Wahl des Vorstandsvor­ sitzenden durch den Vorstand, obwohl die Zuständigkeit nach §  84 Abs.  2 AktG beim Aufsichtsrat liegt, oder die Verletzung eines Zustimmungsvorbehalts nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG.84 Außerdem folgt aus § 112 AktG, dass der Vorstand außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs handelt, wenn die Gesellschaft einen Vertrag mit einem Vorstandsmitglied abschließt oder eine Rechtsstreitigkeit gegen diesen führt.85 Ein Interorganstreit kommt insoweit namentlich dann in Betracht, wenn es sich um einen Sachverhalt handelt, der zwar nicht unter den Wortlaut des § 112 AktG fällt – etwa weil es sich um einen 80 Zutr. Bork ZGR 1989, 1, 16; Poseck DB 1996, 2165, 2167. AA Brönner in GK-AktG, 4. Aufl., § 170 Rn. 25: Klage der AG, vertreten durch den AR. Gegen zivilrechtliche Durchsetzung der Vorlagepflicht Ekkenga in KK-AktG § 170 Rn. 11; E. Vetter in GKAktG § 170 Rn. 95. 81 Anders wohl die hM, die auf Durchsetzung nach §  407 Abs.  1 AktG verweist, vgl. Altmeppen in MüKoAktG § 314 Rn. 13; Koppensteiner in KK-AktG § 314 Rn. 3; H.-F. Müller in BeckOGK AktG § 314 Rn. 4; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 314 Rn. 5. 82 AllgM, s. nur Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 170 Rn. 20; Ekkenga in KK-AktG § 170 Rn. 42; Säcker NJW 1979, 1521, 1526. 83 Statt aller Hüffer/J. Koch AktG § 107 Rn. 16 und Spindler in BeckOGK AktG § 107 Rn. 82, jeweils mwN. 84 Vgl. (auch zu weiteren Beispielen) Schürnbrand, Organschaft, S. 384. Zur Behandlung von ad hoc verhängten Zustimmungsvorbehalten s. noch § 3 V 4 b. 85 Zum Gleichlauf zwischen Vertretungsmacht und Zuständigkeit Hüffer/J. Koch AktG § 112 Rn. 7: Geschäftsführungsbefugnis des AR sei von § 112 AktG implizit vorausgesetzt. 62

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Vertrag oder eine Rechtsstreitigkeit mit einem Dritten handelt – bei dem aber eine Analogie in Betracht kommt.86 Als Beispiel aufgeführt seien an dieser Stelle die Fälle der „wirtschaftlichen Identität“87 oder Beraterverträge mit einem Dritten, in denen die Vergütung für die Vorstandstätigkeit geregelt wird und die durch den Vorstand abgeschlossen werden, obwohl die Vergütungsentscheidung nach §§ 84, 87 AktG dem Aufsichtsrat obliegt.88 Umgekehrt kann ein Interorganstreit auch dann entflammen, wenn der Aufsichtsrat die Kompetenzen des Vorstands missachtet, etwa wenn er sich entgegen §§ 76, 77, 111 Abs. 4 Satz 1 AktG in die Geschäftsführung einmischt.89 Auch der Aufsichtsratsvorsitzende kann einen Streit um die Kompetenzen provozieren, zum Beispiel wenn er mit Investoren über einen Sachverhalt kommuniziert, der im Zuständigkeitsbereich des Vorstands liegt.90 Schließlich ist ein Intraorganstreit denkbar, wenn ein Organmitglied oder ein Ausschuss eine Maßnahme treffen will, für die das Gesamtgremium die Zuständigkeit beansprucht. Als Beispiel können auch an dieser Stelle die Investorenkontakte des Aufsichtsratsvorsitzenden dienen, der das Aufsichtsratsplenum nicht konsultiert hat.91 Die soeben aufgezählten Vorschriften, auf denen die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung beruht, unterscheiden sich von §§ 90, 125, 170, 314 AktG da­ rin, dass sie – jedenfalls dem Wortsinn nach – keine Ansprüche der Organe statuieren. Aus dem Wortlaut der §§ 76, 77, 84, 87, 111 Abs. 4 und 112 AktG ergibt sich lediglich, welche Maßnahmen der Vorstand und Aufsichtsrat ergreifen dürfen, nicht aber, dass sie auch von dem jeweils anderen Organ verlangen dürfen, einen Eingriff in den eigenen Kompetenzbereich zu unterlassen. Außerdem regelt das Aktienrecht nicht explizit eine allgemeine Kompetenzwahrungspflicht, die die Organe untereinander beachten müssen: Zwar sieht § 82 Abs. 2 AktG vor, dass die Vorstandsmitglieder die Beschränkungen einhalten müssen, die aus der aktienrechtlichen Organisationsverfassung folgen, doch besteht diese Pflicht nur gegenüber der Gesellschaft, nicht auch gegenüber dem Aufsichtsrat.92 86 Zum Anwendungsbereich des § 112 AktG vgl. nur Hüffer/J. Koch AktG § 112 Rn. 2 ff. 87 S. nur BGH NJW 2019, 1677 Rn. 11 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 112 Rn. 4. 88 Statt vieler BGH NZG 2015, 792 Rn. 24 ff. 89 Siehe nur Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 108 Rn. 46; Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  70; J. Koch in MHdB GesR VII §  30 Rn.  96; Schürnbrand, Organschaft, S. 386; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 308. 90 Zu Kompetenzüberschreitungen des AR-Vorsitzenden J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 96; Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 722 ff. Speziell zu Investorenkontakten Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 34b. 91 Vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 34b. 92 Zum Unterlassungsanspruch der Gesellschaft wegen Verletzung des § 82 Abs. 2 AktG s. bereits in § 2 IV 2. Hierzu auch Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 9. 63

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Indes verschafft die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft den Organen einen abgegrenzten Raum, innerhalb dessen sie ihren Aufgaben nachgehen können und der dem Zugriff anderer Organe entzogen ist.93 Die Zuweisung einer solchen Sphäre reicht aus, um einem Organ einen Abwehranspruch für den Fall zu gewähren, dass ein anderes Organ eine Maßnahme ergreift, für die es nicht zuständig ist, und damit in einen fremden Kompetenzbereich ­eindringt.94 Auf diesen Unterlassungsanspruch lässt sich die Klagebefugnis der  Organe bei kompetenzwidrigem Verhalten anderer Organe stützen. Der Anspruch reicht allerdings nur so weit wie der eigene Zuständigkeitsbereich: ­Missachtet etwa der Vorstand (geschriebene oder ungeschriebene) Hauptversammlungskompetenzen, ist der Aufsichtsrat nicht befugt, dagegen eine Klage zu erheben, weil er selbst nicht betroffen ist.95 4. Rechtmäßigkeit des Organhandelns als Gegenstand des Organstreits a) Kontrolle des Gesamtorgans durch ein Organmitglied Die rechtliche Beurteilung der Klagebefugnis fällt am schwierigsten aus, wenn die Organe darüber streiten, ob ihr Verhalten rechtmäßig ist, ohne dass ein gesetzlich zugewiesener Anspruch geltend gemacht wird oder ein Eingriff in 93 Pointiert Schürnbrand, Organschaft, S. 385 f.: fremdnützig auszuübendes Organrecht auf störungsfreie Ausübung des zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung zugewiesenen Aufgabenbereichs. Vgl. ferner Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S.  422  ff., 432 f.; Bork ZGR 1989, 1, 18 f. 94 So auch Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 70 (Kompetenzverstöße des AR); Ihrig/​ C.  Schäfer Vorstand Rn.  1012; Jacoby, Amt, S.  468  f.; Peine, Organstreit, S.  115  ff. (Analogie zu § 1004 BGB); Schürnbrand, Organschaft, S. 384 ff.; Bork ZGR 1989, 1, 17  ff.; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 307  ff.; Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 723; Poseck DB 1996, 2165, 2167; A. Teichmann, FS Mühl, S. 663, 671 ff. Differenzierend Spindler in MüKoAktG Vor § 76 Rn. 61: Nur Kompetenzschutzklagen des Vorstands seien zulässig. Einschränkend auch Friedeborn NZG 2018, 770, 773 f.: Unterlassungsklagen seien bei Intraorganstreitigkeiten im AR, nicht aber als Interorganklagen des AR gegen den Vorstand zulässig. AA Grigoleit/Tomasic AktG § 90 Rn. 35; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 451, 454 (im Kontext der Zustimmungsvorbehalte). Zu den Einschränkungen unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses s. noch § 3 VIII. 95 Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S.  474  ff.; Peine, Organstreit, S.  118; Mertens ZHR 154 (1990), 24, 35; Poseck DB 1996, 2165, 2168. In diese Richtung auch Jacoby, Amt, S.  472.  Vgl. aber U. Bauer, Organklagen, S.  105; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 193 ff.: Klage des AR als Vertreter der HV, die wiederum die AG vertritt. Für eine solche Klage fehlt allerdings das Rechtsschutzbedürfnis, weil jeder Aktionär die Verletzung seines Mitgliedschaftsrechts geltend machen kann. 64

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den Kompetenzbereich behauptet wird, der mit Hilfe eines Unterlassungsanspruchs abgewehrt werden kann. Anders als in den letztgenannten Fällen lässt sich die Befugnis zur allgemeinen Verhaltenskontrolle weder auf eine konkrete Vorschrift (wie bei § 90 Abs. 3 und 5, § 107 Abs. 2 Satz 4, § 125 Abs. 3 und 4, § 170, § 314 Abs. 1 AktG) noch auf die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft stützen. Weder die Leitungs- und Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands (§§ 76 f. AktG) noch die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats (§ 111 Abs. 1 AktG) können herangezogen werden, um einen Anspruch eines Organs zu begründen, der auf rechtmäßiges Verhalten eines anderen Organs gerichtet ist und im eigenen Namen gerichtlich verfolgt werden kann.96 Trotz dieser Schwierigkeiten ist es in Rechtsprechung und Schrifttum inzwischen weitgehend anerkannt, dass Organmitglieder im Rahmen eines Intraorganstreits gegen Beschlüsse des Gesamtorgans klagen können, wenn sie dem Organ zugehören und dessen Beschlüsse für rechtswidrig halten. Namentlich im Zusammenhang mit Aufsichtsratsbeschlüssen hat der BGH eine Klage der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder für zulässig erklärt, die auf die Feststellung gerichtet war, dass ein Beschluss des Gesamtaufsichtsrats nichtig ist. Dabei hat der II. Zivilsenat das Feststellungsinteresse der Einzelmitglieder aus ihrer Stellung im Organ hergeleitet: Die Aufsichtsratsmitglieder seien durch die Entscheidung des Gesamtorgans und ihre Folgen berechtig und verpflichtet; sie seien gemeinsam für die Rechtmäßigkeit der von ihnen gefassten Beschlüsse verantwortlich. Deshalb hätten sie das Recht, darauf hinzuwirken, dass die Entscheidung des Gesamtgremiums nicht im Widerspruch zum Gesetzes- und Satzungsrecht stünden.97 Die Instanzgerichte und die meisten Autoren im Schrifttum schließen sich dieser Begründung an.98 Manche stellen ergänzend auf das schützenswerte Interesse der Aufsichtsräte ab, sich von rechtswidrigen

96 So auch im Ergebnis Bork ZGR 1989, 1, 21. 97 BGHZ 122, 342, 344, 351 = NJW 1993, 2307; BGHZ 135, 244, 247 ff. = NJW 1997, 1926; BGH NZG 2012, 1027 Rn. 10 ff. (zum Beschluss, das vor Zugehörigkeit des klagenden AR-Mitglieds zum AR gefasst wurde). Vgl. ferner bereits BGHZ 83, 144, 146 = NJW 1982, 1528. Für die Zulässigkeit einer solchen Klage implizit auch BGHZ 64, 325 = NJW 1975, 1412. 98 S.  OLG Stuttgart AG  2007, 873, 875  f.; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  108 Rn. 45; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 193; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 837; Fleischer DB 2013, 217, 219. Vgl. ferner Axhausen, Aufsichtsratsbeschlüsse, S. 219 ff.; Bayer, 50 Jahre AktG, S. 199, 216; Baums ZGR 1983, 300, 339; Götz, FS Lüke, S. 167, 187; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 314; T. Raiser ZGR 1989, 44, 67 f. In Anlehnung an § 245 AktG einschränkend Lemke, Aufsichtsratsbeschluß, S. 179 ff. AA Kutscher, Organhaftung, S. 379 ff. im Zusammenhang mit der Verfolgungspflicht des AR. 65

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Aufsichtsratsbeschlüssen zu distanzieren, um Regressansprüchen aus §§ 116, 93 Abs. 2 AktG vorzubeugen.99 Auch wenn sich die Argumentation des BGH und des Schrifttums auf das Feststellungsinteresse der Aufsichtsratsmitglieder bezieht, kann sie im Rahmen der Klagebefugnis aufgegriffen werden: Halten Rechtsprechung und Literatur eine Feststellungsklage der Aufsichtsratsmitglieder für zulässig, gehen sie implizit davon aus, dass die Mitglieder klagebefugt sind.100 Wie das Feststellungsinteresse lässt sich die Klagebefugnis mit der Stellung der Aufsichtsratsmitglieder im Gesamtorgan begründen. Die Einzelmitglieder tragen in ihrer Gesamtheit die Verantwortung für rechtmäßiges Verhalten des Aufsichtsrats. Sie sind jedenfalls befugt, rechtswidrige Entscheidungen des Organs mit außerprozessualen Instrumenten zu verhindern, etwa indem sie sich an der Diskussion beteiligen und Anträge stellen.101 Dabei können sie erwarten, dass ihre Kollegen das Aufsichtsratsmandat so ausüben, dass sich das Gremium gesetzes- und satzungskonform verhält. Greift man auf Begrifflichkeiten des allgemeinen Zivilrechts zurück, kann man von einem Anspruch der Aufsichtsratsmitglieder auf rechtskonformes Verhalten der anderen Mitglieder und des Gesamtorgans sprechen. Diesen Anspruch können sie gerichtlich durchsetzen. Gelingt es den Aufsichtsratsmitgliedern nicht, die rechtswidrige Beschlussfassung mit außerprozessualen Instrumenten zu verhindern, können sie einen Schritt weiter gehen und ein Gericht anrufen, um die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu klären. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die gesteigerten Haftungsgefahren, die mit der fortschreitenden Professionalisierung der Aufsichtsratstätigkeit einhergehen. Diese Erwägungen lassen sich auf Intraorganstreitigkeiten im Vorstand übertragen.102 Auch hier gilt der Grundsatz der Gesamtverantwortung: Die Vorstandsmitglieder müssen nach allgemeiner Auffassung für regelkonformes Verhalten des Organs sorgen; dabei ist die Vorstandstätigkeit im größeren Ausmaß haftungsgeneigt als das Aufsichtsratsmandat. Insoweit haben Vorstandsmitglieder wie Aufsichtsratsmitglieder aufgrund ihrer Stellung im Gesamtorgan einen Anspruch auf regelkonformes Verhalten des Organs und sind daher befugt, gegen Entscheidungen des Vorstands gerichtlich vorzugehen, wenn sie diese für rechtswidrig halten. 99 So etwa Bork ZIP 1991, 137, 146; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 18. 100 Vgl. Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 17. 101 Zum Antragsrecht der AR-Mitglieder statt vieler Habersack in MüKoAktG §  108 Rn. 17. 102 Wettich, Vorstandsorganisation, S. 287 ff. 66

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b) Kontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat Wie soeben dargestellt, lässt sich aus der Stellung der einzelnen Organmitglieder im Gesamtorgan ein Anspruch auf rechtmäßiges Verhalten des Organs herleiten. Indes kann die Stellung im „eigenen“ Organ nicht herangezogen werden, um einen Anspruch auf regelkonformes Verhalten eines „fremden“ Organs zu begründen: Ein Aufsichtsratsmitglied trägt aufgrund seiner Posi­ tion die Verantwortung dafür, dass der Gesamtaufsichtsrat gesetzes- und satzungskonforme Entscheidungen trifft, nicht aber für die Rechtmäßigkeit des Vorstandshandelns. Umgekehrt kann ein Vorstandsmitglied nicht an der Beschlussfassung im Aufsichtsrat teilnehmen, so dass er für die Rechtmäßigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse nicht verantwortlich ist. Ein Einzelmitglied kann nur für das Gremium verantwortlich sein, dem es angehört.103 Der Gedanke der Verantwortlichkeit kann auch nicht aufgegriffen werden, um einen Anspruch eines Organs gegen ein anderes Organ zu begründen, der auf Rechtmäßigkeit der Organentscheidungen gerichtet ist.104 Im Binnenverhältnis der Aktiengesellschaft sind die Organmitglieder im Ausgangspunkt nur für eigenes Verhalten verantwortlich. Deshalb muss nach anderen Anknüpfungspunkten gesucht werden, die eine Klagebefugnis hinsichtlich der allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle stützen. Ein Teil des Schrifttums hält dabei den Aufsichtsrat befugt, gegen Rechtsbrüche des Vorstands gerichtlich vorzugehen, und verweist dabei auf die Kontrollpflicht des Aufsichtsrats aus §§ 111 Abs. 1, 116 AktG und den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsatz, dass neben (repressiven) Schadensersatzansprüchen (vorbeugende) Unterlassungsansprüche stehen.105 Die herrschende Auffassung sieht dagegen keine Möglichkeit für eine solche Klage des Aufsichtsrats vor: Der Vorstand leite die Gesellschaft gem. § 76 AktG autonom. Räume man dem Aufsichtsrat – der gem. § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG von der Geschäftsführung ausgeschlossen sei – die Möglichkeit ein, gegen (vermeintlich) rechtswidrige Vorstandsentscheidungen zu klagen, schränke man die Leitungsautonomie

103 So auch im Ergebnis OLG Celle NJW 1990, 582, 583; Bork ZGR 1989, 1, 35. 104 Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob die Gesellschaft selbst einen Anspruch auf rechtmäßiges Verhalten der Organmitglieder hat, den ein Organ oder Organmitglied als Vertreter geltend machen kann, vgl. dazu in § 2 IV 2. 105 T. Raiser/Veil KapGesR § 14 Rn. 109; T. Raiser ZGR 1989, 44, 56 ff., 63 ff. Im Ergebnis auch v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 7 Rn. 334; Becker, Verwaltungskontrolle, S. 504 f. S. ferner Peine, Organstreit, S. 122 ff., die aber das Eingriffsrecht des AR auf schwerwiegende Rechtsverstöße des Vorstands beschränkt. Für Anlehnung an § 245 Nr. 5, § 249 AktG Rellermeyer ZGR 1993, 77, 94 ff. 67

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des Vorstands bereits dadurch ein, dass dieser seine Geschäftsführungsmaßnahmen vor Gericht verteidigen müsse.106 Im Ergebnis ist der letztgenannten Auffassung zu folgen: Die Vorstandsmitglieder sind gem. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nur der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, sich sorgfaltskonform zu verhalten. Eine solche Verpflichtung auch gegenüber dem Aufsichtsrat lässt sich dem Aktiengesetz nicht entnehmen. Spiegelbildlich hat der Aufsichtsrat als Organ keinen Anspruch auf sorgfaltskonformes Verhalten der Vorstandsmitglieder.107 Vor diesem Hintergrund lässt sich der Unterlassungsanspruch des Aufsichtsrats nicht mit einem Verweis auf die Schadensersatzhaftung der Vorstandsmitglieder gem. § 93 Abs. 2 AktG begründen: Der Anspruch aus § 93 Abs. 2 AktG steht nur der Gesellschaft zu, nicht dem Aufsichtsrat als Organ. Deshalb kann nur die Gesellschaft den Unterlassungsanspruch analog § 93 Abs. 2 AktG geltend machen. Freilich wird die Gesellschaft nach § 112 AktG durch den Aufsichtsrat vertreten, der aber nicht aus eigenem Recht klagt, sondern ein Recht der Gesellschaft durchsetzt.108 Indes könnte der Aufsichtsrat die oben genannten Hürden überwinden, indem er eine (vermeintlich) rechtswidrige Vorstandsmaßnahme unter einen ad hoc erlassenen Zustimmungsvorbehalt stellt und die Zustimmung versagt.109 Führt der Vorstand die Maßnahme dennoch durch, verletzt er auf den ersten Blick die Zuständigkeit des Aufsichtsrats, so dass dieser nach dem in § 3 V 3 Gesagten eine Kompetenzschutzklage erheben kann. 110 Damit könnte sich der Aufsichtsrat auf dem Umweg des §  111 Abs.  4 Satz  2 AktG die Klagebefugnis 106 Kort in GK-AktG § 90 Rn. 210; U. Bauer, Organklagen, S. 119 ff.; Borgmann, Organstreit, S. 245 ff.; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 427 f.; Jacoby, Amt, S. 471 f.; Kutscher, Organhaftung, S.  374  ff.; Lewerenz, Leistungsklagen, S.  126  ff.; Schürnbrand, Organschaft, S.  389  ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S.  204  ff.; Mertens ZHR 154 (1990), 24, 29  f.; Poseck DB 1996, 2165, 2168.  Zurückhaltend auch K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 227 ff. Offen gelassen von BGHZ 106, 54, 62 = NJW 1989, 979.  Soweit Klagen wegen Verstöße gegen das Wettbewerbsverbot und die Verschwiegenheitspflicht für zulässig gehalten werden, werden sie nicht auf ein Organrecht des AR gestützt, sondern auf einen Unterlassungsanspruch der Gesellschaft, die durch den AR vertreten wird (vgl. etwa Lewerenz, Leistungsklagen, S. 126 ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 207 ff.); hierzu bereits in § 2 IV 2. 107 Vgl. Geißler GmbHR 1998, 1114, 1120. 108 Dazu bereits in § 2 IV 2 b. 109 Zur Zulässigkeit von Zustimmungsvorbehalten, die ad hoc erlassen werden, um rechtswidrige Vorstandsmaßnahmen zu verhindern, vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 39. 110 Dafür augenscheinlich Peine, Organstreit, S.  113  ff.; Schürnbrand, Organschaft, S. 391 f. So wohl auch T. Raiser ZGR 1989, 44, 60 f. 68

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­ eschaffen. Ein solches Ergebnis erscheint widersprüchlich: Wenn das Aktienb gesetz dem Aufsichtsrat keinen Anspruch auf rechtmäßiges Verhalten des Vorstands gewährt, kann der Aufsichtsrat einen solchen Anspruch nicht auslösen. Dieser Widerspruch ist dahingehend aufzulösen, dass man zwischen unterschiedlichen Arten der Zustimmungsvorbehalte differenziert: Ist der Zustimmungsvorbehalt in der Satzung vorgesehen, hat der Satzungsgeber die Kompetenzordnung der konkreten Aktiengesellschaft gezielt ausgestaltet, so dass ein etwaiger Verstoß des Vorstands eine Klagebefugnis des Aufsichtsrats begründet. Auch ein vom Aufsichtsrat beschlossener, genereller Zustimmungsvorbehalt dient der (abstrakten) Abgrenzung der Kompetenzsphären, so dass er zur Begründung der Befugnis für eine Kompetenzschutzklage herangezogen werden kann. Hat der Aufsichtsrat aber den Zustimmungsvorbehalt ad hoc für eine konkrete Vorstandsmaßnahme erlassen, um rechtmäßiges Verhalten des Vorstands sicherzustellen, geht es in erster Linie nicht um die aktienrechtliche Kompetenzordnung. Setzt sich der Vorstand über den Vorbehalt hinweg, ist der Aufsichtsrat nicht befugt, im eigenen Namen eine Kompetenzschutzklage zu erheben. Freilich bleibt zu prüfen, ob er – entsprechend den Ausführungen in § 2 IV 2 b – als Vertreter der Gesellschaft eine Klage gegen die pflichtvergessenen Vorstandsmitglieder erheben kann. c) Kontrolle des Aufsichtsrats durch den Vorstand Lehnt man die Befugnis des Aufsichtsrats ab, die Rechtmäßigkeit der Vorstandsmaßnahmen gerichtlich kontrollieren zu lassen, liegt es bei vordergründiger Betrachtung nahe, insoweit auch die Befugnis des Vorstands abzulehnen, gegen (vermeintlich) rechtswidrige Aufsichtsratsmaßnahmen zu klagen. Wenn schon das Überwachungsorgan keine Klage erheben kann, die eine effektive Geschäftsleiterkontrolle ermöglichen würde, kann der Überwachte erst recht nicht mit dem Argument klagen, das Überwachungsorgan sei seinen Pflichten nicht nachgekommen. Dieser Standpunkt wird in der Tat in Rechtsprechung und Schrifttum verbreitet vertreten, wobei nicht immer klargestellt wird, ob sich die Ausführungen auf Klagen des Vorstands als solchen aus eigenem Organrecht oder als Vertreter der Gesellschaft beziehen.111 So hat das BayObLG 1968 entschieden, dass es nicht zu den Aufgaben des Vorstands gehört, die Geschäftsführung des Aufsichtsrats zu überwachen und über die Begründetheit seiner Beschlüsse zu entscheiden.112 Auch ein großer Teil des Schrifttums 111 Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. bereits in § 2 IV 2 mit Fn. 30 hinsichtlich der Unterlassungsansprüche der Gesellschaft. 112 BayObLG AG 1968, 329, 330. 69

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steht einer Klagebefugnis des Vorstands ablehnend gegenüber.113 Dagegen nehmen einige Autoren an, dass der Vorstand befugt ist, die Rechtmäßigkeit der Aufsichtsratsbeschlüsse gerichtlich kontrollieren zu lassen,114 wobei die Auffassungen im Detail divergieren: Manche halten Klagen des Vorstands und der einzelnen Mitglieder, die sich auf Feststellung der Nichtigkeit von Aufsichtsratsbeschlüssen richten, generell für zulässig.115 Andere wollen die Klagebefugnis auf Beschlüsse beschränken, die in die Position des Vorstands und seiner Mitglieder eingreifen, etwa bei einem Abberufungsbeschluss oder beim Erlass eines Zustimmungsvorbehalts.116 Will man in diesem Meinungsdickicht den Überblick bewahren, muss man sich die Bedeutung der Klagebefugnis für Organstreitigkeiten vor Augen halten: Wie bereits in § 3 I 2 d aa dargestellt, müssen im Rahmen der Klagebefugnis etwaige Anspruchsbeziehungen identifiziert werden, die zwischen den Organen bestehen könnten. Es ist nach Pflichten zu suchen, die ein Organ nicht nur gegenüber der Gesellschaft erfüllen muss, sondern (auch) gegenüber einem anderen Organ. Die Klagebefugnis ist nur dann zu bejahen, wenn der Aufsichtsrat gegenüber dem Vorstand verpflichtet ist, rechtskonform zu handeln. Eine solche Pflicht kann jedenfalls nicht auf §§  116, 93 AktG gestützt werden, weil diese Normen lediglich das Verhältnis zwischen den Aufsichtsratsmitgliedern und der Gesellschaft regeln.117 113 Vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 108 Rn. 46; Grigoleit/Tomasic AktG § 90 Rn.  33; Axhausen, Aufsichtsratsbeschlüsse, S.  221  f.; U. Bauer, Organklagen, S. 119 ff.; Lemke, Aufsichtsratsbeschluß, S. 182; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 135 ff.; Peine, Organstreit, S.  133  f.; Schürnbrand, Organschaft, S.  388; Baums ZGR 1983, 300, 341; Lieder NZG 2018, 1321, 1333.  In diese Richtung auch Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 175 ff.; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 68. Zurückhaltend ferner Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 70; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 116. 114 Wie im Zusammenhang mit Intraorganstreitigkeiten fokussieren sich die Autoren meist auf das Feststellungsinteresse, vgl. etwa J. Koch in MHdB GesR VII §  30 Rn. 100. 115 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 193; Hüffer/J. Koch AktG § 108 Rn. 30; ders. ZHR 180 (2016), 578, 609 ff.; Liebscher in BeckHdB AG § 6 Rn. 165; Götz, FS Lüke, S. 167, 187. Sympathisierend Bayer, 50 Jahre AktG, S. 199, 217; Bayer/Möller NZG 2018, 801, 809.  Für die „Geltendmachungsbefugnis“ des Gesamtvorstands Becker, Verwaltungskontrolle, S. 494 f. 116 So Fleischer DB 2013, 217, 220. Für eingeschränkte Klagebefugnis des Vorstands je nach Inhalt des AR-Beschlusses auch Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  108 Rn. 46; Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 85; Spindler in BeckOGK AktG § 108 Rn. 85; Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 152. 117 So auch im Ergebnis Schürnbrand, Organschaft, S. 388 f. Zur parallelen Argumentation im Zusammenhang mit der Kontrolle des Vorstands durch den AR vgl. bereits in § 3 V 4 b. Zum Unterlassungsanspruch der Gesellschaft in § 2 IV 2. 70

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Auch können die Legalitätspflicht und die Legalitätskontrollpflicht des Vorstands nicht herangezogen werden, um dessen Klagebefugnis in Streitigkeiten mit dem Kontrollorgan zu begründen.118 Nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG muss der Vorstand rechtskonformes Verhalten der Gesellschaft sicherstellen,119 wozu auch die Sorge um die Regeltreue der Unternehmensangehörigen gehört.120 Wollte man die Legalitätskontrollpflicht auf Handlungen des Aufsichtsrats erstrecken, könnte man die Befugnis des Vorstands anerkennen, gegen rechtswidrige Maßnahmen des Aufsichtsrats gerichtlich vorzugehen. Indes ist zu beachten, dass die Legalitätskontrollpflicht eine Folge der Delegation von Vorstandsaufgaben auf untergeordnete Leitungsebenen ist.121 Die Vorstandspflicht zur Kontrolle der Aufsichtsratsaktivitäten lässt sich aber nicht mit dem Delegationsgedanken begründen, weil der Aufsichtsrat seine Entscheidungen aufgrund eigener originärer Kompetenzen trifft. Nicht der Vorstand, sondern das Aktiengesetz weist dem Aufsichtsrat seine Aufgaben zu. Deshalb kann die Legalitätskontrollpflicht nicht herangezogen werden, um die Klagebefugnis des Vorstands zu begründen. Gleichwohl deutet die Systematik des Aktiengesetzes auf die Klagebefugnis des Vorstands hin: Nach § 245 Nr. 4 AktG kann der Gesamtvorstand rechtswidrige Hauptversammlungsbeschlüsse anfechten. Daraus ließe sich der Schluss ziehen, dass der Vorstand auch gegen rechtswidrige Aufsichtsratsbeschlüsse vorgehen kann. Wenn der Vorstand veranlassen kann, dass ein Gericht die Entscheidungen der Aktionäre überprüft, muss sich seine Kontrollbefugnis erst recht auf Maßnahmen erstrecken, die der Aufsichtsrat als Aktionärsausschuss122 getroffen hat.123 Diesen Schritt geht die herrschende Ansicht im Zusammenhang mit Interorganstreitigkeiten jedoch nicht mit: § 245 Abs. 4 AktG sei eine nicht verallgemeinerungsfähige Regelung,124 die es 118 AA Bachmann ZHR 180 (2016), 563, 574: „Sicherlich ist auch der Vorstand im Rahmen seiner Legalitätskontrollpflicht gehalten, einen Blick auf den Aufsichtsrat zu richten.“ 119 Hierzu statt aller Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 6 ff. mwN auch zu Gegenauffassung. 120 Verse ZHR 175 (2011), 401, 403 ff. 121 Treffend Verse ZHR 175 (2011), 401, 404: „Verlängerung der Legalitätspflicht, die sich auf den Grundgedanken der Delegation zurückführen lässt“. Zum Zusammenhang zwischen Delegation und Legalitätskontrolle vgl. ferner Holle, Legalitätskon­ trolle, S. 59 ff. 122 Zum AR als Aktionärsausschuss vgl. J. Koch GesR § 30 Rn. 24; J. Wilhelm KapGesR Rn. 946. 123 So auch Becker, Verwaltungskontrolle, S. 494 f. Vorsichtig in diese Richtung J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 610. Zustimmend Bayer/Möller NZG 2018, 801, 809. 124 So etwa Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 16 (der aber in Kontext der Überwachung des AR durch den Vorstand mit § 245 Nr. 4 AktG in die gegenteilige Richtung argumen71

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der Gesellschaft ermögliche, mit Hilfe ihres Verwaltungsorgans im öffentlichen Interesse die Rechtmäßigkeit der Hauptversammlungsbeschlüsse zu kontrollieren. In der Sache gehe es um ein staatliches Kontrollverfahren, das dem Zivilprozess unterstellt und als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet sei.125 Diese Einordnung der Anfechtungsbefugnis greift allerdings zu kurz. Der Anfechtungsprozess ist kein objektives Beanstandungsverfahren, was darin deutlich wird, dass §  245 AktG den Kreis anfechtungsberechtigter Personen beschränkt und den Berechtigten die Anfechtungsbefugnis als subjektives Recht gewährt.126 Zudem ist zu beachten, dass dem Vorstand im Beschlussmängelrecht eine Anfechtungsbefugnis gem. § 245 Nr. 4 AktG zusteht, weil er als Leitungsorgan gem. § 76 Abs. 1 AktG die Aufgabe hat, für die Rechtmäßigkeit des Korporationshandelns zu sorgen.127 Die Kontrollmöglichkeit beruht – anders als die Legalitätskontrollpflicht – nicht auf dem Delegationsgedanken, sondern auf der Entscheidung des Gesetzgebers, den Vorstand als Organ mit einem fremdnützigen, subjektiven Beanstandungsrecht auszustatten. Dieses Gestaltungsrecht verdichtet sich sogar zu einer Anfechtungspflicht, wenn aus dem Beschluss ein Gesellschaftsschaden resultieren kann.128 Berücksichtigt man das Anfechtungsrecht des Gesamtvorstands in Beschlussmängelprozessen, spricht viel dafür, dass der Vorstand auch gegenüber dem Aufsichtsrat zur Rechtmäßigkeitskontrolle befugt ist und diese Befugnis mit prozessualen Mitteln durchsetzen kann. Wenn es zu den Leitungsaufgaben des Vorstands gehört, für rechtskonformes Korporationshandeln zu sorgen, muss dies auch hinsichtlich Aufsichtsratsentscheidungen gelten, die  – wie auch Hauptversammlungsbeschlüsse  – der Gesellschaft zugerechnet werden.129 Freilich ist damit noch nicht gesagt, wie weit das Kontrollrecht des Vorstands

tiert, s. J. Koch ZHR 180 [2016], 578, 610); Liebscher in BeckHdB AG § 6 Rn. 163. Vgl. ferner Flume, BGB AT I/2, S. 407. 125 Vgl. Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 3 f. Zurückhaltend auch Schürnbrand, Organschaft, S. 388: Vorstand sei kein umfassender Rechtmäßigkeitsgarant. 126 Vgl. C. Schäfer in MüKoAktG § 245 Rn. 2; Hüffer/J. Koch AktG § 245 Rn. 1; Vatter in BeckOGK AktG § 245 Rn. 3. 127 BGHZ 206, 143 Rn. 45 = NZG 2015, 1227; Hüffer/J. Koch AktG § 245 Rn. 36.  128 Vgl. statt vieler C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 131. 129 Ähnlich Bayer/Möller NZG 2018, 801, 809: umfassende Verantwortlichkeit des Vorstands für die AG. Zur Zurechnung des AR-Handelns vgl. Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 293. Gegen Ableitung des Klagerechts aus § 245 Nr. 4 AktG aber Harbarth, FS Seibert, S. 291, 305. 72

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gegenüber dem Aufsichtsrat auf materiell-rechtlicher Ebene reicht; diese Frage wird erst in der Begründetheit beantwortet.130 5. Durchsetzung der Rechte des Gesamtorgans durch Einzelmitglieder a) Überblick und Meinungsstand Bejaht man die Klagebefugnis des Gesamtorgans, steht lediglich fest, dass dieses eine Klage erheben kann. Im Schrifttum wird zusätzlich erwogen, ob einzelne Organmitglieder in einer Art actio pro societate131 die Rechte des Gesamt­ organs gerichtlich geltend machen können, wenn dieses trotz bestehender Klagebefugnis untätig bleibt, weil sich die Mehrheit gegen die Durchsetzung der Organrechte entscheidet.132 Eine solche Situation ist in allen drei Fällen denkbar, in denen die Klagebefugnis des Organs besteht. So kann es vorkommen, dass der Vorstand die Berichte im Sinne des § 170 Abs. 1, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG und den Gewinnverwendungsvorschlag nach § 170 Abs. 2 AktG nicht dem Aufsichtsrat vorlegt und dieser seine Informationsrechte nicht geltend macht, so dass die Ansprüche der Aufsichtsratsmitglieder aus § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG leer laufen. Die Individualrechte der Aufsichtsratsmitglieder entstehen erst dann, wenn der Vorstand seinen Pflichten aus § 170 Abs. 1 und 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG nachgekommen ist.133 Darüber hinaus könnte ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied die Informationsrechte aus § 111 Abs. 2 AktG geltend machen. Außerdem kann ein Organmitglied gegen Eingriffe in die Kompetenzen des eigenen, untätigen Gesamtorgans einschreiten wollen. Schließlich ist es denkbar, dass Vorstandsmitglieder gegen (vermeintlich) rechtswidriges Handeln des Aufsichtsrats vorgehen wollen, obwohl sich die Mehrheit im Vorstand gegen ein solches Einschreiten ausspricht.134 Wie solche Fälle zu behandeln sind, ist bis heute unklar: Während 130 Siehe hierzu etwa J. Koch ZHR 180 (2016), 578 ff. Zur Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle von AR-Entscheidungen vgl. noch §§ 14, 15. 131 Zur Einordnung solcher Klagen als eine Ausprägung der actio pro societate vgl. Schürnbrand, Organschaft, S. 393 f.; Bork ZGR 1989, 1, 39; Hommelhoff/Timm AG 1976, 330, 333. 132 Dafür namentlich Hommelhoff/Timm AG 1976, 330, 333. 133 Dies folgt daraus, dass die Vorlagen idR zunächst an den AR-Vorsitzenden geliefert werden, der über sie disponiert (s. nur Altmeppen in MüKoAktG § 314 Rn. 14). Zur Passivlegitimation des Vorstands vgl. noch in § 3 VI 3 mit Nachw. in Fn. 167. 134 Für Klagebefugnis der Vorstandsmitglieder etwa Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn.  193; Hüffer/J. Koch AktG §  108 Rn.  30; Mertens/Cahn in KK-AktG §  108 73

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zahlreiche Autoren auch ohne eine spezielle gesetzliche Regelung die Befugnis der Organmitglieder bejahen, die Rechte des Gesamtorgans gerichtlich geltend zu machen,135 wollen die Rechtsprechung und ein Teil des Schrifttums solche Klagen nicht zulassen.136 b) Analoge Anwendung des § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG Was die Durchsetzung von Informationsrechten des Gesamtaufsichtsrats aus § 170 Abs. 1 und 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG angeht, hilft ein Blick auf § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG, der einen Anspruch der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder auf Berichterstattung durch den Vorstand regelt. Eine solche Regelung fehlt im Zusammenhang mit §§ 170, 314 AktG, was die Frage provoziert, ob der Gesetzgeber eine bewusste Entscheidung über die nähere Ausgestaltung der Informationsrechte der Aufsichtsratsmitglieder getroffen hat oder §§  170, 314 AktG planwidrig lückenhaft sind und im Wege der Analogie zu § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG ergänzt werden können. Ausweislich der Regierungsbegründung zum TransPuG,137 auf das die geltende Fassung des § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG zurückgeht, soll das individuelle Informationsrecht der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder ihre Stellung stärken. Nach § 90 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 AktG aF konnte ein Aufsichtsratsmitglied – wie auch heute – einen Vorstandsbericht an den Gesamtaufsichtsrat verlangen. Lehnte der Vorstand die Berichterstattung ab, bestand der Anspruch gem. § 90 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 AktG aber nur dann, wenn ein anderes Aufsichtsratsmitglied das Verlangen unterstützt.138 Diese Rn.  112; Spindler in BeckOGK AktG §  108 Rn.  85.  Einschränkend Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 108 Rn. 46: nur bei Eingriffen in rechtliche Positionen der Vorstandsmitglieder. Die Befugnis eines AR-Mitglieds, gegen (vermeintlich) rechtswidrige Vorstandsmaßnahmen zu klagen, lässt sich dagegen nicht begründen, weil schon dem Gesamt-AR die Klagebefugnis fehlt, s. bereits in § 3 V 4 b. 135 Umstritten ist innerhalb dieser Meinungsgruppe, ob die Organmitglieder unmittelbar gegen ein fremdes Organ vorgehen können oder ob sie zunächst ihre inneror­ ganisatorischen Rechte erschöpfen müssen. Für das Erste Borgmann, Organstreit, S. 230 ff. Für das Zweite Schürnbrand, Organschaft, S. 393 ff. (mit sehr zurückhaltender Tendenz); Schwab, Prozeßrecht, S. 602 ff.; Bork ZGR 1989, 1, 40 ff.; T. Raiser ZGR 1989, 44, 69 f.; so wohl auch Hommelhoff/Timm AG 1976, 330, 333. 136 BGHZ 106, 54, 62 ff. = NJW 1989, 979; OLG Celle NJW 1990, 582; Grigoleit/Tomasic AktG § 90 Rn. 36; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 131; Peine, Organstreit, S. 142 ff.; Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S. 365 ff.; Poseck DB 1996, 2165, 2169; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 18 ff. 137 Gesetz zur weiteren Reform des Aktien- und Bilanzrechts, zu Transparenz und Pu­ blizität v. 19. Juli 2002, BGBl. I, S. 2681. 138 Zu den Beweggründen für eine solche Ausgestaltung des individuellen Informationsrechts Kropff AktG S. 118 f. 74

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Einschränkung des Informationsrechts wurde nach Ansicht der Regierungsbegründung der gleichen Verantwortung und Verantwortlichkeit aller Aufsichtsratsmitglieder nicht gerecht, so dass § 90 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 AktG im Zuge des TransPuG gestrichen wurde.139 Im Zusammenhang mit §§ 170, 314 AktG ist ein individuelles Informationsrecht der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder nicht vorgesehen, obwohl die ­Gesetzesmaterialien zum Aktiengesetz 1965 die Bedeutung der Vorstandsvorlagen und Berichte ausdrücklich unterstreichen; gerade deshalb hat der Gesetzgeber 1965 den Anspruch der Aufsichtsratsmitglieder auf Kenntnisnahme und Übermittlung der Vorlagen und Berichte eingeführt.140 Kann ein Aufsichtsratsmitglied aber nicht verlangen, dass der Vorstand die Dokumente im Sinne des § 170 Abs. 1 und 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG dem Gesamtaufsichtsrat vorlegt, laufen seine Ansprüche aus § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG leer. Aus dem Wortlaut und systematischer Stellung der § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG folgt, dass ein Aufsichtsratsmitglied die Einsicht und Übermittlung der Vorlagen und Berichte erst dann verlangen kann, wenn der Vorstand seinen Pflichten gegenüber dem Gesamtaufsichtsrat nachgekommen ist. Im Hinblick auf diese Achillesferse der § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt es nahe, den Aufsichtsratsmitgliedern auch im Zusammenhang mit den Vorlagen und Berichten nach § 170 Abs. 1 und 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG einen fremdnützigen Informationsanspruch analog § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG einzuräumen. Sowohl die in §  90 AktG geregelte Berichterstattung durch den Vorstand als auch die Informationsrechte aus §§ 170, 314 AktG dienen dazu, dem Aufsichtsrat und seinen Mitgliedern die Erfüllung seiner Aufgaben zu ermöglichen. Ohne eine ausreichende Informationsversorgung kann der Aufsichtsrat seiner Überwachungspflicht aus § 111 Abs. 1 AktG nicht nachkommen, was zur Schadensersatzhaftung der Mitglieder nach §§  116, 93 AktG führen kann. Hat der Aufsichtsrat keinen Einblick in den Jahresabschluss, den Lagebericht, den Gewinnverwendungsbeschluss und den Abhängigkeitsbericht, kann er zum einen seine Prüfungs- und Berichtspflichten aus §§ 171, 314 Abs. 2 bis 4 AktG nicht erfüllen – was ebenfalls haftungsrechtliche Folgen für seine Mitglieder nach sich ziehen kann – und zum anderen den Vorstand nicht effektiv überwachen.141 Die Informationsrechte in §§ 90, 170, 314 AktG dienen also gleichermaßen einer effektiven Vorstandskontrolle, was eine Analogie zu 139 Vgl. RegBegr TransPuG BT-Drucks. 14/8769, S. 14. 140 Kropff AktG S. 276 f. 141 Zum Zusammenhang zwischen den Information und Überwachung vgl. nur LG Düsseldorf AG 1995, 333, 334; Hüffer/J. Koch AktG § 170 Rn. 1, § 171 Rn. 1; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 314 Rn. 1 f. 75

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§ 90 Abs. 3 Satz 2 AktG erlaubt. Demnach können die Aufsichtsratsmitglieder vom Vorstand verlangen, dass dieser die in § 170 Abs. 1 und 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG genannten Dokumente dem Gesamtaufsichtsrat vorlegt.142 Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine Spielart der actio pro societate, sondern die Aufsichtsratsmitglieder können – wie bei unmittelbarer Anwendung des § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG – ein eigenes, fremdnütziges Informationsrecht geltend machen. Ein ähnliches Problem wie bei §§ 170, 314 AktG tritt in Fällen des § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG auf. Nach dem Gesetzeswortlaut kann auch hier nur der Gesamtaufsichtsrat die Bücher, Schriften und Vermögensgegenstände der Gesellschaft einsehen und prüfen. Die Ausübung dieses Rechts setzt nach allgemeiner Auffassung einen Aufsichtsratsbeschluss voraus, so dass ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied die Einsichtnahme nicht verlangen kann.143 Die Frage, ob §  90 Abs. 3 Satz 2 AktG analog herangezogen werden kann, um Informationsrechte der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder zu stärken, wird nur vereinzelt aufgeworfen und dabei stiefmütterlich behandelt.144 Sie könnte mit derselben Argumentation bejaht werden wie bei §§ 170, 314 AktG: Die Einsichtnahme- und Prüfungsrechte nach § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG sind Instrumente, mit denen der Aufsichtsrat seiner Überwachungsaufgabe nachkommen kann. Namentlich wenn der Vorstand die Berichte nicht oder nur unzureichend erstattet, soll der Aufsichtsrat ein Mittel haben, mit dem er die Geschäftsführung effektiv überwachen kann.145 Im Hinblick auf die Effektuierung der Überwachung erscheint es also nicht gänzlich unplausibel, einem einzelnen Aufsichtsratsmitglied analog § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG das Recht zu gewähren, die Einsichtnahme zu verlangen, zumal die rechtsvergleichende Analyse zeigt, dass ein solches individuelles Einsichtsrecht nicht ungewöhnlich ist.146

142 AA E. Vetter in GK-AktG § 170 Rn. 96, was aber konsequent ist, weil E. Vetter bereits den Anspruch des Gesamt-AR aus § 170 Abs. 1 AktG verneint. 143 BayObLG AG 1968, 329, 330; OLG Stuttgart AG  2007, 873, 877; Habersack in ­MüKoAktG § 111 Rn. 73; Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 20; Mertens/Cahn in KKAktG § 90 Rn. 51; Spindler in BeckOGK AktG § 111 Rn. 44.  144 Gegen eine Analogie ohne nähere Begründung: Hopt/M. Roth in GK-AktG §  111 Rn. 397; Mertens/Cahn in KK-AktG § 111 Rn. 56; Lutter Information Rn. 284. Ein Einsichtsrecht des einzelnen AR-Mitglieds lehnen auch ab: Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 73; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 241; Peine, Organstreit, S. 138 ff. 145 Vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  111 Rn.  32; Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  72; Hopt/M.  Roth in GK-AktG §  111 Rn.  394  f.; Spindler in BeckOGK AktG § 111 Rn. 42; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 241. 146 Zur Rechtsvergleichung Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 398 mwN. 76

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Allerdings sprechen gewichtige systematische und teleologische Argumente gegen die Fortbildung des § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG über die Wortsinngrenze hinaus. In § 111 Abs. 2 AktG fehlt eine Regelung, die – wie § 90 Abs. 5, § 170 Abs.  3, §  314 Abs.  1 Satz  2 AktG  – den Aufsichtsratsmitgliedern einen Anspruch darauf gibt, von den Ergebnissen der Einsichtnahme und Prüfung Kenntnis zu erlangen. Das Informationsrecht aus § 111 Abs. 2 AktG ist also von vornherein als ein kollektives Recht des Gesamtaufsichtsrats konzipiert. Zudem ermöglicht § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG dem Aufsichtsrat, einzelne Mitglieder mit der Einsichtnahme und Prüfung zu beauftragen; auch dafür ist ein Aufsichtsratsbeschluss erforderlich.147 Der Gesetzgeber hat also erkannt, dass die Einsichtnahme durch ein Aufsichtsratsmitglied im Einzelfall wünschenswert sein kann; dennoch hat er keinen Individualanspruch der einzelnen Mitglieder vorgesehen. Diese Ausgestaltung ist im Hinblick auf die erhebliche Sprengkraft der Regelung sinnvoll. Anders als in §§ 90, 170, 314 AktG ist der Aufsichtsrat nicht nur ein passiver Empfänger der Berichte.148 Vielmehr er kann den Sachverhalt aktiv erforschen, was aus der Perspektive des Vorstands eine höhere Eingriffsintensität bedingt. Im Hinblick darauf ist es sinnvoll, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht zu Alleingängen befugt ist, sondern der Gesamtaufsichtsrat die Entscheidung über die Ausübung der Informationsrechte aus §  111 Abs.  2 AktG treffen muss.149 Demnach ist eine Analogie zu §  90 Abs. 3 Satz 2 AktG abzulehnen.150 c) Seitenblick auf das Beschlussmängelrecht der Hauptversammlung Wie bei §  111 Abs.  2 AktG fehlt im Zusammenhang mit Kompetenzüberschreitungen und der Aufsichtsratskontrolle durch den Vorstand eine Regelung, die wie §  90 Abs.  3 Satz  2 AktG im Wege der Analogie herangezogen 147 Statt aller Hüffer/J. Koch AktG §  111 Rn.  22; Spindler in BeckOGK AktG §  111 Rn. 49. Unzutreffend ist es allerdings, aus § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG ein eigenes Einsichtsrecht des beauftragten AR-Mitglieds herzuleiten (so aber Peine, Organstreit, S. 138 f.). Die Möglichkeit, ein AR-Mitglied mit der Einsichtnahme zu beauftragen, soll nicht die Position des Mitglieds stärken, sondern die Aufgabenverteilung innerhalb des Kollegialorgans erleichtern. §  111 Abs.  2 Satz  2 AktG ist eine gesetzliche Ausprägung des Grundsatzes, dass der AR manche Aufgaben an die Mitglieder delegieren darf. 148 Freilich darf der AR nicht lediglich auf die Berichterstattung warten, sondern er muss darauf hinwirken, dass ihn der Vorstand mit den nötigen Informationen versorgt, vgl. Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 90 Rn. 72 f.; Lutter Information Rn. 246. 149 Zutr. Peine, Organstreit, S. 139: „Schritt zurück“ zum Gesamt-AR. 150 Vgl. die Nachw. in Fn. 144. 77

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werden könnte, um eine Individualklage der Organmitglieder zu begründen. Namentlich lässt sich § 249 Abs. 1 Satz 1 AktG, der die Aktivlegitimation der Organmitglieder bei Nichtigkeitsklagen voraussetzt,151 nicht heranziehen, um die Klagebefugnis in Organstreitigkeiten zu begründen.152 Vielmehr liegt es näher, die Klagebefugnis der Organmitglieder in Fällen der Organstreitigkeiten am Maßstab des § 245 Nr. 5 AktG zu beurteilen, der in Anfechtungsprozessen den Organmitgliedern nur dann die Anfechtungsbefugnis einräumt, wenn das Mitglied durch die Ausführung des Beschlusses eine straf- oder bußgeldbewehrte Handlung begehen oder sich ersatzpflichtig machen würde. Die Anfechtungsbefugnis dient dazu, die Mitglieder der Verwaltungsorgane aus einer Zwangslage zu befreien, die aus der Bindung an die Hauptversammlungsbeschlüsse resultiert.153 In eine solche Lage geraten die Verwaltungsmitglieder aber nicht, wenn es um Kompetenzüberschreitung oder rechtswidrige Beschlüsse des anderen Organs geht.154 d) Gedanke der actio pro societate? Auch die Versuche des Schrifttums, den Organmitgliedern im Rahmen einer actio pro societate die Befugnis einzuräumen, das Recht des Gesamtorgans gerichtlich geltend zu machen,155 sind nicht überzeugend. Die einzelnen Organmitglieder können die Einleitung eines Interorganstreits zum Gegenstand der Beschlussfassung im Gesamtorgan machen. Für den Vorstand folgt dies aus dem Grundsatz der Gesamtverantwortung (§ 77 Abs. 1 AktG),156 für den Aufsichtsrat aus § 110 Abs. 1 AktG. Unterlässt das Organ eine solche Klage, ist es ein Zeichen dafür, dass ein Konflikt innerhalb des Organs schwelt, in dem sich die Mehrheit gegen das klagewillige Organmitglied durchgesetzt hat. Kommt das Gesamtorgan dem Petitum des Einzelmitglieds nicht nach, kann dieses – wie bereits in § 3 I 5 d aa erläutert – gegen die ablehnende Entscheidung einen 151 Vgl. C. Schäfer in MüKoAktG § 249 Rn. 14 f. 152 So aber im Zusammenhang mit Kompetenzschutzklagen der Vorstandsmitglieder Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 13, was aber im Hinblick auf dessen Ausführungen zu § 245 AktG (aaO, S. 3 f.) und fehlenden Klagerechten der AR-Mitglieder (aaO, S. 18 ff.) widersprüchlich erscheint. 153 Zum Zweck des § 245 Nr. 5 AktG K. Schmidt in GK-AktG, 4. Aufl., § 245 Rn. 38. 154 Zutr. T. Raiser ZGR 1989, 44, 54  f. Im Zusammenhang mit Klagen gegen AR-Beschlüsse Axhausen, Aufsichtsratsbeschlüsse, S.  222; Lemke, Aufsichtsratsbeschluß, S. 182; Baums ZGR 1983, 300, 341. In eine andere Richtung aber Hommelhoff/Timm AG 1976, 330, 332 f., die eine Klagebefugnis der einzelnen AR-Mitglieder aus § 245 Nr. 5 AktG ableiten wollen; so auch Rellermeyer ZGR 1993, 77, 94 ff. 155 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 131. 156 Vgl. Spindler in MüKoAktG § 77 Rn. 33. 78

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Klagebefugnis

Intraorganstreit einleiten. Das Organmitglied kann also mit gerichtlicher Hilfe das Gesamtorgan zur Klageerhebung zwingen. Wollte man die Klagebefugnis des Einzelmitglieds aus dem Recht des Gesamtorgans herleiten, würde man den Konflikt innerhalb eines Organs auf dem Rücken des anderen Organs austragen. Deshalb muss sich das klagewillige Mitglied zunächst gegen den Beschluss des eigenen Organs wenden.157 e) Eingriffe in die individuelle Position der Organmitglieder Etwas anderes ist in Fällen erwägenswert, in denen der Beschluss eines Organs in individuelle Positionen der Mitglieder eines anderen Organs eingreift. Dies kann etwa vorkommen, wenn der Aufsichtsrat die Kürzung der Vorstandsbezüge (§ 87 Abs. 2 AktG) oder die Abberufung eines Vorstandsmitglieds (§ 84 Abs. 3 AktG) beschließt. Solche Beschlüsse betreffen nicht nur das Verhältnis zwischen den Organen als teilrechtfähige Subjekte, sondern wirken sich auf die Außenrechtsbeziehung zwischen der Gesellschaft und dem Organmitglied aus, weil sie als (gesellschaftsinterne) Maßnahmen die Rechtshandlungen der Gesellschaft gegenüber den Vorstandsmitgliedern vorbereiten. Vor diesem Hintergrund kann den Organmitgliedern nicht zugemutet werden, dass sie die Kürzung der Bezüge oder die Abberufung seitens der Gesellschaft abwarten, um dagegen klagen zu können.158 Deshalb sind sie befugt, eine Klage zu erheben, die sich gegen den Aufsichtsratsbeschluss als solchen richtet.159 Dies bedeutet aber nicht, dass die einzelnen Mitglieder das Recht des Gesamtorgans geltend machen. Vielmehr wehren sie aus eigenem Recht einen Eingriff in eine individuelle Rechtsposition ab.160

157 Zu § 111 Abs. 2 AktG Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 73. Im Zusammenhang mit Klagen einzelner AR-Mitglieder gegen Maßnahmen des Vorstands BGHZ 106, 54, 62 ff. = NJW 1989, 979; OLG Celle NJW 1990, 582, 583; OLG Stuttgart AG 2007, 873, 874 f.; LG Hannover ZIP 1989, 1330, 1331; v. Schenck in Semler/v. Schenck ARHdB § 7 Rn. 319, 335; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 29.87; Schürnbrand, Organschaft, S. 392 ff. AA Rellermeyer ZGR 1993, 77, 97 f. 158 Allerdings wird im Schrifttum im Kontext der Vergütungsherabsetzung das Feststellungsinteresse der Vorstandsmitglieder bezweifelt, weil diese eine Leistungsklage auf Weitergewährung bisheriger Bezüge erheben können, s. Hüffer/J. Koch AktG § 87 Rn. 61. 159 Zur (zulässigen und begründeten) Klage eines Vorstandsmitglieds gegen Abberufungsbeschluss OLG München AG 2016, 592 ff. 160 Dabei sind Klagen gegen Abberufungsbeschlüsse des AR als ein Fall der Willensbildungskontrolle einzustufen (s. § 2 V 2); im Beschlussmängelprozess wird zugleich das Verhalten der Vorstandsmitglieder kontrolliert (s. § 2 V 3 a und § 2 VI 1). 79

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VI. Klagegegner 1. Lehre von Organrechten als Ausgangspunkt Eng mit der Klagebefugnis ist die Frage nach dem Klagegegner verbunden. Zwar handelt es sich bei der Bestimmung des Klagegegners in erster Linie um ein materiell-rechtliches Problem, nämlich um die Passivlegitimation, doch ist zu beachten, dass der Anspruchsinhaber schon aus Kostengründen daran interessiert ist, die Klage gegen die tatsächlich passivlegitimierte Person zu richten.161 Deshalb ist bereits hier ein Blick auf den Klagegegner in den Inter- und Intraorganstreitigkeiten zu werfen. Versucht man, eine Lösung eng am Gesetz zu entwickeln, ist zunächst an eine Analogie zu §  246 Abs.  2 AktG zu denken.162 Ein solcher Weg bietet sich namentlich dann an, wenn man das Beschlussmängelrecht der Verwaltungsorgane am Vorbild der §§  241  ff. AktG ausgestalten will.163 Wendet man §  246 Abs.  2 Satz  1 AktG im Rahmen des Organstreits entsprechend heran, ist die Organklage gegen die Gesellschaft zu richten, die nach Maßgabe des § 246 Abs. 2 Satz 3 AktG vertreten wird. Klagt also der Vorstand oder ein Vorstandsmitglied, tritt der Aufsichtsrat als Vertreter der Gesellschaft auf.164 Umgekehrt ist bei Klagen aus dem Aufsichtsrat der Vorstand vertretungsbefugt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine Analogie zu § 246 Abs. 2 AktG beim Organstreit nicht erforderlich ist, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung der Lehre von der Organrechtsfähigkeit folgt. Sind Vorstand und Aufsichtsrat rechts- und damit parteifähig, ist es nur konsequent, dies auch bei der Bestimmung des Klagegegners zu berücksichtigen. Anders als die Hauptversammlung sind Vorstand und Aufsichtsrat in der Lage, ihre Beschlüsse selbst zu verteidigen, ohne dass die Gesellschaft in den Prozess ein­ bezogen werden muss. Folgt man dem, bietet es sich an, in systematischer ­Hinsicht – wie im Rahmen der Klagebefugnis – zwischen den gesetzlich zugewiesenen Organrechten, Kompetenzschutzklagen und der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Organhandelns zu unterscheiden. 161 Da die Bestimmung des Klagegegners äußerst umstritten ist, empfiehlt es sich in der Praxis, vorsorglich Hilfsanträge zu stellen, vgl. für die GmbH Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 52 Rn. 552. 162 So für Klagen gegen Vorstandsbeschlüsse Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 32 (obwohl Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 72 im Kontext der Vorstandsberichte die Organrechte anerkennt, was dafür spräche, bei einer Klage gegen einen Vorstandsbeschluss konsequent den Vorstand als den richtigen Klagegegner anzusehen). 163 Eine solche Lösung erwägt de lege ferenda J. Koch, DJT-Gutachten, S. 98. 164 Dies entspricht auch dem Gedanken des § 112 AktG. 80

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Klagegegner

2. Gesetzlich zugewiesene Organansprüche Geht es um die Durchsetzung der Organansprüche, ergibt sich aus der konkreten Anspruchsgrundlage, wer der richtige Klagegegner ist.165 So folgt aus § 90 Abs. 3 AktG, dass sich der Anspruch des Aufsichtsrats (Satz 1) und eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds (Satz  2) auf Berichterstattung gegen den Vorstand richtet; demnach ist der Vorstand als solcher der richtige Klagegegner.166 Dies gilt auch in den Fällen der § 125 Abs. 3, § 170 Abs. 1, 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG, bei denen sich die Verpflichtung des Vorstands aus dem Wortlaut ergibt.167 Bei §  125 Abs.  4 AktG folgt der Adressat der Pflicht zwar nicht un­ mittelbar aus dem Wortlaut, doch spricht die systematische Stellung dieser Vorschrift dafür, dass – wie in § 125 Abs. 3 AktG – der Vorstand den Aufsichtsratsmitgliedern die Hauptversammlungsbeschlüsse mitteilen muss.168 Schließlich wird der Vorstand nach allgemeiner Auffassung in §  111 Abs.  2 Satz  1 AktG adressiert, obwohl sich dies nicht unmittelbar aus dem Wortlaut ergibt;169 der Aufsichtsrat hat also die Klage auf Einsichtnahme und Prüfung der 165 Vgl. Schwab, Prozeßrecht, S. 594 f.: Die Verteilung der Parteirollen folge exakt der materiell-rechtlichen Zuweisung von Rechten und Pflichten. Ähnlich Bork ZGR 1989, 1, 36 f.; Säcker NJW 1979, 1521, 1526. 166 So auch Lutter Information Rn. 236 f.; U. Bauer, Organklagen, S. 117; Grobe, Interund Intraorganklagen, S. 459 f.; Schürnbrand, Organschaft, S. 383; Schwab, Prozeßrecht, S. 595; Bork ZGR 1989, 1, 16, 32 f.; ders. ZIP 1991, 137, 141; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 300 f. Die Gegenansicht differenziert zwischen der Klage der Gesellschaft, vertreten durch den AR (§ 112 AktG), gegen die Vorstandsmitglieder als notwendige Streitgenossen (Anspruch aus § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG) und der Klage eines einzelnen AR-Mitglieds gegen die Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand gem. § 78 AktG (Anspruch aus § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG), vgl. Grigoleit/Tomasic AktG § 90 Rn. 36 ff.; Spindler in MüKoAktG § 90 Rn. 61 ff.; J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 98; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 7 Rn. 321; Borgmann, Organstreit, S.  215.  Zu konstruktiven Schwächen dieses Ansatzes vgl. noch §  3 IX 2. Noch anders Lewerenz, Leistungsklagen, S. 105 f.; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 8, 15; H. Westermann, FS  Bötticher, S.  369, 379  f.: Schuldner des Berichtsanspruchs seien immer Vorstandsmitglieder. 167 Vgl. Brönner in GK-AktG, 4. Aufl., § 170 Rn. 25; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  29.84; Bork ZGR 1989, 1, 16.  Anders konsequent die Auffassung, die Organpflichten ablehnt, vgl. etwa Grigoleit/Herrler AktG § 125 Rn. 12; Noack/Zetzsche in KK-AktG § 125 Rn. 102: Verpflichtung der AG. Noch anders Lewerenz, Leistungsklagen, S. 131: Klage gegen Vorstandsmitglieder. 168 So im Ergebnis Schwab, Prozeßrecht, S. 595. AA konsequent Noack/Zetzsche in KKAktG § 125 Rn. 180: AG, vertreten durch den Vorstand. 169 Vgl. Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 76; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG § 111 Rn. 47; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 404; Mertens/Cahn in KK-AktG § 111 Rn. 57; Spindler in BeckOGK AktG § 111 Rn. 42 ff. 81

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Bücher, Schriften und Vermögensgegenstände der Gesellschaft gegen den Vorstand zu richten. Als komplizierter erweist sich die Bestimmung des Klagegegners bei §  90 Abs. 5 AktG: Geht es um Sonderberichte nach § 90 Abs. 1 Satz 3 AktG, adressiert § 90 Abs. 5 Satz 3 AktG ausdrücklich den Aufsichtsratsvorsitzenden, so dass die Klage gegen den Vorsitzenden zu erheben ist.170 Dagegen ist §  90 Abs. 5 AktG, der die Unterrichtung der Aufsichtsratsmitglieder über die Regel- und Anforderungsberichte nach § 90 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 AktG vorschreibt, weniger klar formuliert: So spricht Satz 1 vom Recht eines jeden Aufsichtsratsmitglieds, von den Berichten Kenntnis zu nehmen. Satz  2 bestimmt, dass die Aufsichtsratsmitglieder verlangen können, ihnen die in Schriftform erstatteten Berichte zu übermitteln. Der Verpflichtete ist also nicht klar adressiert, so dass auf Grundlage der Lehre von Organpflichten drei Klagegegner in Betracht kommen:171 der Vorstand, der Gesamtaufsichtsrat und der Aufsichtsratsvorsitzende. Die Systematik des § 90 AktG deutet darauf hin, dass sich der Anspruch jedenfalls nicht gegen den Vorstand richtet: Nach § 90 Abs. 5 Satz 2 AktG können die Aufsichtsratsmitglieder die Übermittlung verlangen, „[s]oweit die Berichte in Textform erstattet worden sind“. Das Gesetz geht also augenscheinlich davon aus, dass der Vorstand seinen Pflichten nachgekommen ist und nicht mehr nach § 90 Abs. 5 AktG in Anspruch genommen werden kann.172 Vielmehr richtet sich der Anspruch aus § 90 Abs. 5 AktG gegen diejenige Person, 170 Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 462 f.; Peine, Organstreit, S. 150 f.; Schürnbrand, Organschaft, S. 383 f.; Friedeborn NZG 2018, 770, 773. AA Lutter Information Rn. 237; Bork ZIP 1991, 137, 143: Klage gegen den AR, vertreten durch den Vorsitzenden. Zu einem anderen Ergebnis gelangt auch die Auffassung, die Organrechte und Organpflichten nicht anerkennt: Klage gegen die AG, vertreten durch den Vorstand, vgl. Grigoleit/Tomasic AktG § 90 Rn. 38; Spindler in MüKoAktG § 90 Rn. 64. 171 Autoren, die Organrechte und Organpflichten nicht anerkennen, halten konsequent die Gesellschaft für den richtigen Klagegegner, wobei keine Einigkeit darüber besteht, ob die AG gem. § 78 AktG durch den Vorstand (so Mertens/Cahn in KK-AktG §  90 Rn.  66; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG §  90 Rn.  71; Spindler in MüKo­AktG § 90 Rn. 64; J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 98; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 7 Rn. 322) oder analog § 112 AktG durch den AR vertreten wird (so Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 839; Stodolkowitz ZHR 154 [1990], 1, 15 ff.). Für Klage gegen die vom Vorstand vertretene AG auch Lutter Information Rn. 243 ff., obwohl er Organpflichten anerkennt. 172 Zutr. BayObLG AG 1968, 329, 330; Lutter Information Rn. 236; Borgmann, Organstreit, S. 216 f.; Schwab, Prozeßrecht, S. 595; Bork ZGR 1989, 1, 33; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 380.  82

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Klagegegner

die die Vorstandsberichte tatsächlich erhält. In der Regel erstattet der Vorstand die Berichte in Textform (§ 90 Abs. 4 Satz 2 AktG) zu Händen des Aufsichtsratsvorsitzenden,173 so dass dieser – und nicht der Gesamtaufsichtsrat174 – der richtige Klagegegner ist.175 Damit ist nicht diejenige natürliche Person gemeint, die die Vorstandsberichte tatsächlich erhalten hat, sondern der Aufsichtsratsvorsitzende als hervorgehobener Teil des Kollegialorgans. Wechselt also der Vorsitz im Aufsichtsrat und ist der neue Vorsitzende im Besitz der Vorstandsberichte, kann ein rechtshängiger Prozess fortgeführt werden, ohne dass das Aufsichtsratsmitglied eine Klage gegen den neuen Vorsitzenden erheben muss.176 Dieselben Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Klagegegners treten im Zusammenhang mit sonstigen Berichten auf, deren Übermittlung einzelne Aufsichtsratsmitglieder verlangen können. So bestimmt §  170 Abs.  3 Satz  1 AktG, dass jedes Aufsichtsratsmitglied das Recht hat, von den Vorlagen und Prüfungsberichten im Sinne des § 170 Abs. 1 und 2 AktG Kenntnis zu nehmen, während § 170 Abs. 3 Satz 2 AktG vorsieht, dass Vorlagen und Prüfungsberichte jedem Aufsichtsratsmitglied zu übermitteln sind; der Anspruchsgegner wird aber in § 170 Abs. 3 AktG nicht explizit genannt. Nach allgemeiner Auffassung muss der Vorstand die Vorlagen und Berichte nach § 170 Abs. 1, 2 AktG grundsätzlich an den Aufsichtsrat als Organ übermitteln, der durch seinen Vorsitzenden repräsentiert wird.177 Wie bei § 90 Abs. 5 AktG richtet sich 173 Vgl. Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 11; Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 14; Mertens/Cahn in KK-AktG § 90 Rn. 24; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 25 Rn. 80. 174 So aber Bork ZIP 1991, 137, 143.  175 BayObLG AG 1968, 329, 330; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 29.84; Borgmann, Organstreit, S. 216 f.; Lewerenz, Leistungsklagen, S. 98 ff.; Schürnbrand, Organschaft, S. 383 f.; Schwab, Prozeßrecht, S. 595 f.; Friedeborn NZG 2018, 770, 773; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 315; K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 226  f.; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 380 f. 176 Zutr. Schürnbrand, Organschaft, S. 372 und Schwab, Prozeßrecht, S. 598 f., die von Organteilen mit abgrenzbarer Funktion sprechen. Weitergehend Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 315: AR-Vorsitzender als Organ innerhalb des Organs; so auch E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 29.84. Für die Einordnung des AR-Vorsitzenden als Unterorgan Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 144. Für die Einordnung als Organ LG  München I NZG 2008, 348, 349 (das aber von der Passivle­ gitimation der AG ausgeht). Ausf. Harnos, FS Seibert, S. 309, 319 f. AA Lewerenz, Leistungsklagen, S.  100  f.: Klage gegen den konkreten AR-Vorsitzenden; so wohl auch Borgmann, Organstreit, S. 216 f.: AR-Vorsitzende als Einzelperson; H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 381: AR-Vorsitzende als Person. 177 Vgl. Euler/Klein in BeckOGK AktG § 170 Rn. 26; Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG §  170 Rn.  32, 44; Hüffer/J. Koch AktG §  170 Rn.  4  f.; Suchan/Gerdes in Semler/​ v. Schenck AR-Kommentar § 170 AktG Rn. 39. 83

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der Anspruch des Aufsichtsratsmitglieds aus § 170 Abs. 3 AktG also gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden.178 Dasselbe gilt für § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG: Der Vorstand hat den Abhängigkeitsbericht dem Aufsichtsratsvorsitzenden vorzulegen,179 so dass dieser verpflichtet ist, den Bericht den einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern zu übermitteln. Schließlich ist der Aufsichtsratsvorsitzende gem. § 107 Abs. 2 Satz 4 AktG verpflichtet, den Aufsichtsratsmitgliedern die Abschrift der Sitzungsniederschriften auszuhändigen. Zwar folgt diese Pflicht nicht aus dem Wortlaut, doch zeigt die Systematik des § 107 Abs. 2 AktG, dass sich die Aufsichtsratsprotokolle in den Händen des Vorsitzenden befinden. Gem. § 107 Abs. 2 Satz 1 AktG muss der Vorsitzende die Sitzungsniederschrift unterzeichnen, so dass er in der Regel über das Dokument – wie auch über die Berichte und Vorlagen in Fällen der § 90 Abs. 5, § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG – als Besitzorgan der Gesellschaft verfügen kann;180 deshalb ist die Klage auf Aushändigung des ­Aufsichtsratsprotokolls gegen ihn zu richten.181 Dies gilt auch dann, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende die Verwahrung der Protokolle dem Vorstand über178 Peine, Organstreit, S. 155; Schwab, Prozeßrecht, S. 596. Ausdifferenzierter E. Vetter in GK-AktG § 170 Rn. 192: AR oder AR-Vorsitzende. AA die hM, die Organpflichten nicht anerkennt und die AG, vertreten durch den Vorstand, als den richtigen Klagegegner ansieht, vgl. BGHZ 85, 293, 295 = NJW 1983, 991; Ekkenga in KKAktG § 170 Rn. 42; Euler/Klein in BeckOGK AktG § 170 Rn. 58; Grigoleit/Zellner AktG § 170 Rn. 17; Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG § 170 Rn. 112; Hüffer/J. Koch AktG § 170 Rn. 15; Hölters/Waclawik AktG § 170 Rn. 28, 34; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 45 Rn. 12. Noch anders Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 15 ff.: AG, vertreten durch den AR. 179 Statt aller Altmeppen in MüKoAktG § 314 Rn. 14; Hüffer/J. Koch AktG § 314 Rn. 2. 180 Zur Stellung des AR als Organbesitzer Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  107 Rn. 34; Hüffer/J. Koch AktG § 107 Rn. 16; Spindler in BeckOGK AktG § 107 Rn. 76; Brinkschmidt, Protokolle, S.  120  ff.; E. Peus, Aufsichtsratsvorsitzende, S.  133; ders. ZGR 1987, 545, 547 f.. AA die wohl noch hM: AR als Besitzdiener, vgl. etwa Habersack in MüKoAktG § 107 Rn. 90; Mutter in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 107 AktG Rn. 218.  181 Spindler in BeckOGK AktG §  107 Rn.  82; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  29.84; Lutter/Krieger/Verse AR Rn.  714; Brinkschmidt, Protokolle, S.  136, 138 (zur Vorlage gegenüber dem Abschlussprüfer und den Finanzbehörden); Lewerenz, Leistungsklagen, S.  133; E. Peus ZGR 1987, 545, 547.  AA die hM, vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 107 Rn. 34; Habersack in MüKoAktG § 107 Rn. 89; Henssler in Henssler/Strohn GesR § 107 AktG Rn. 20; Hüffer/J. Koch AktG § 107 Rn. 16; Mertens/Cahn in KK-AktG § 107 Rn. 54, 86; Mutter in Semler/v. Schenck AR-Kom­ mentar § 107 AktG Rn. 214; Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 21: Klage gegen AG, vertreten durch den Vorstand. Noch anders zur Vorlage gegenüber dem Abschlussprüfer und staatlichen Stellen Hopt/M. Roth in GK-AktG § 107 Rn. 263: Klage gegen 84

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Klagegegner

lässt:182 Der Vorsitzende bleibt für die Sitzungsniederschrift verantwortlich, während der Vorstand keine Befugnisse im Hinblick auf die Protokolle hat.183 3. Kompetenzschutzklagen und Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Organhandelns Auch in Fällen der Kompetenzschutzklage und allgemeiner Rechtmäßigkeitskontrolle ist entscheidend, wie man zu der Lehre von Organrechten und Organpflichten steht: Wer sie mit der noch überwiegenden Auffassung ablehnt, sieht die einzelnen, kompetenzwidrig handelnden Organmitglieder auf der Beklagtenseite.184 Intraorganstreitigkeiten sollen zwischen dem klagenden Organmitglied und der Gesellschaft ausgetragen werden,185 wobei namentlich bei fehlerhaften Aufsichtsratsbeschlüssen umstritten ist, ob die Beklagte durch den Aufsichtsrat oder durch den Vorstand vertreten werden soll.186 Bei fehlerhaften Vorstandsbeschlüssen wird die Vertretung der Gesellschaft nicht mit gleicher Intensität diskutiert. Die meisten Autoren schweigen, vereinzelte Stimmen befürworten eine Analogie zu § 112 AktG, so dass der Aufsichtsrat im Prozess den Vorstandsbeschluss zu verteidigen hat.187 Einfacher ist die Ermittlung des Klagegegners, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung anerkennt, dass Organe und ihre Mitglieder Träger von Rechten und Pflichten sein können. Greift ein Organ oder Organmitglied in AG, vertreten durch den AR. Beide Modelle kombinierend v. Schenck in Semler/​ v. Schenck AR-HdB § 5 Rn. 166. 182 Die Zulässigkeit dieser Praxis ist allgemein anerkannt, vgl. nur Habersack in MüKo­ AktG § 107 Rn. 90 und Spindler in BeckOGK AktG § 107 Rn. 76, jeweils mwN. 183 Brinkschmidt, Protokolle, S. 122 ff.; E. Peus ZGR 1987, 545, 548. Vgl. auch Lutter/ Krieger/Verse AR Rn.  713: kein Anspruch des Vorstands auf Überlassung der AR-Protokolle. 184 So wohl Friedeborn NZG 2018, 770, 774. In diese Richtung auch Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 9, der aber vom Unterlassungsanspruch der Gesellschaft ausgeht. 185 Vgl. BGHZ 83, 144, 146 = NJW 1982, 1528, BGHZ 83, 151, 152 = NJW 1982, 1530 (implizit) und die Nachw. in Fn. 186 und 187. 186 Für Vertretung durch den Vorstand BGHZ 122, 342, 345  f. = NJW 1993, 2307; BGHZ 64, 325 = NJW 1975, 1412 (implizit); OLG Stuttgart AG 2007, 873, 875 f.; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 33 Rn. 91; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 7 Rn. 355; Borgmann, Organstreit, S. 223 f.; Bayer/Möller NZG 2018, 801, 810.  Für Vertretung durch den AR Lutter/Krieger/Verse AR Rn.  837; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 18. 187 Fleischer in BeckOGK AktG §  77 Rn.  32 (zur Inkonsequenz dieses Vorschlags Fn. 162); Wettich, Vorstandsorganisation, S. 290. Für Klage gegen die Gesellschaft ohne Aussage zur Vertretung etwa Mertens/Cahn in KK-AktG §  77 Rn.  38; Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 521. 85

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den fremden Kompetenzbereich, ist die Klage gegen dieses zu richten.188 Dasselbe gilt für die allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle: Geht es um einen Intraorganstreitigkeit, muss das Mitglied gegen das eigene Organ klagen.189 Trifft der Gesamtaufsichtsrat rechtswidrige Entscheidungen, kann der Vorstand die Klage gegen ihn erheben. Geht es um ein rechtswidriges Verhalten des Aufsichtsratsvorsitzenden, ist dieser der richtige Anspruchs- und Klagegegner.190 Wurde eine Entscheidung auf einen Aufsichtsratsausschuss delegiert (§  107 Abs. 3 AktG), wird sie dem Gesamtaufsichtsrat als eigenes Handeln zugerechnet,191 so dass dieser zu verklagen ist.

VII. Klagearten Wurde der richtige Klagegegner identifiziert, ist zu prüfen, welche Klageart für die Lösung eines Organstreits statthaft ist. Bei Klagen, die auf Durchsetzung der gesetzlich zugewiesenen Ansprüche der Organe oder ihrer Mitglieder abzielen, handelt es sich um Leistungsklagen.192 Will ein Organ einen Eingriff in den eigenen Zuständigkeitsbereich abwehren, kann er eine Unterlassungsklage erheben.193 Geht es um die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle, ist die Feststellungsklage das Mittel der Wahl. Das hierfür erforderliche Feststellungsinteresse (§ 256 ZPO) lässt sich mit denselben Argumenten begründen wie die Klagebefugnis.194 Dagegen steht den Organen und ihren Mitgliedern keine Unterlassungsklage zur Verfügung,195 die als eine Spielart der Leistungs188 So auch E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 29.83; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 465 ff.; Schwab, Prozeßrecht, S. 604; Bork ZGR 1989, 1, 19, 23 ff., 36 f.; Friedeborn NZG 2018, 770, 774 (für das Organmitglied, nicht aber für die Kompetenzüberschreitung des Gesamtorgans). AA Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 722: Handeln des Vorsitzenden werde dem AR zugerechnet, so dass dieser Pflichten­ adressat und damit richtiger Beklagte sei. 189 Vgl. Schürnbrand, Organschaft, S. 384; Schwab, Prozeßrecht, S. 604; Bork ZIP 1991, 137, 144 f. AA konsequent die hM: Klage gegen die AG, vgl. statt aller Hoffmann-­ Becking in MHdB GesR IV § 33 Rn. 91. 190 Friedeborn NZG 2018, 770, 774.  191 S. nur Habersack in MüKoAktG § 107 Rn. 94 f., 168; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-HdB § 6 Rn. 13. 192 Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 306. 193 Friedeborn NZG 2018, 770, 773  f. AA Borgmann, Organstreit, S.  243  f.: Feststellungsklage nach § 256 ZPO. 194 Vgl. bereits oben in § 3 V 4. 195 Erkennt man mit der hier vertretenen Auffassung (§ 2 IV 2) einen Unterlassungsanspruch analog § 93 Abs. 2, § 116 AktG an, ist die AG aktivlegitimiert und nicht das Organ oder die Organmitglieder. 86

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Rechtsschutzbedürfnis

klage196 nach allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen der Feststellungsklage vorrangig ist.197

VIII. Rechtsschutzbedürfnis 1. Kein Vorrang des § 407 Abs. 1 AktG Wollen die Organe oder ihre Mitglieder zivilprozessualen Rechtsschutz er­ greifen, müssen sie das Rechtsschutzbedürfnis, das nach unbestrittener Auffassung zu den Prozessvoraussetzungen gehört,198 als letzte Hürde über­winden. Im aktienrechtlichen Kontext ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, ob das Aktiengesetz außerprozessuale Instrumente bereitstellt, um etwaige Konflikte zwischen den Organen zu lösen.199 Geht es etwa um Informationsansprüche des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder (§§ 90, 111, 170, 314 AktG), könnte § 407 Abs. 1 AktG als ein solches Instrument einer zivilrechtlichen Leistungsklage im Weg stehen.200 Nach § 407 Abs. 1 AktG kann das Registergericht die Vorstandsmitglieder mit einem Zwangsgeld dazu anhalten, dass sie ihren Informationspflichten nachkommen. Im Hinblick darauf ließe sich argumentieren, dass der Aufsichtsrat und seine Mitglieder keiner flankierenden zivilrechtlichen Instrumente bedürfen, um die Rechte aus §§  90, 111, 170, 314 AktG durchzusetzen. Gleichwohl greift eine solche Argumentation zu kurz: Das Verfahren nach § 407 Abs. 1 AktG dient allein dem öffentlichen Interesse, nicht aber der Durchsetzung individueller Rechte.201 Insoweit kann dem Aufsichtsrat und seinen Mitgliedern nicht mit einem Verweis auf §  407 Abs.  1 AktG verwehrt werden, zivilprozessualen Rechtsschutz zu ergreifen.

196 Statt vieler Becker-Eberhard in MüKoZPO Vor § 253 Rn. 23. 197 Zur Subsidiarität der Feststellungsklage statt aller Becker-Eberhard in MüKoZPO § 256 Rn. 54 ff. Im Zusammenhang mit Organstreit J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 601 Fn. 76, 608. 198 Statt aller Becker-Eberhard in MüKoZPO Vor § 253 Rn. 11. 199 Vgl. Bork ZGR 1989, 1, 20; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 312.  Umfassender Überblick über die Konfliktlösungsmechanismen bei Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 70 ff. 200 Dafür hinsichtlich der Informationsrechte der AR-Mitglieder Baumann, Rechte, S. 231 f. 201 So bereits H. Westermann, FS Bötticher, S. 369, 371 ff. Dem folgend die ganz hM, vgl. Spindler in MüKoAktG § 90 Rn. 62; U. Bauer, Organklagen, S. 113 ff.; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S.  80; Lewerenz, Leistungsklagen, S.  41  ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 181 f. Speziell zu Vorlagepflichten aus § 170 AktG Brönner in GK-AktG, 4. Aufl., § 170 Rn. 25. 87

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2. Kein Vorrang der Personalkompetenz und des Haftungsregimes Zahlreiche Autoren im Schrifttum bestreiten die Zulässigkeit einer Aufsichtsratsklage mit dem Argument, der Aufsichtsrat habe die Möglichkeit, von seiner Personalkompetenz Gebrauch zu machen und Vorstandsmitglieder gem. § 84 Abs. 3 AktG abzuberufen, wenn diese ihre Pflichten grob verletzen. Außerdem stehe dem Aufsichtsrat offen, als Vertreter der Gesellschaft etwaige Schadensersatzansprüche gegen pflichtvergessene Vorstandsmitglieder geltend zu machen, so dass insoweit ein Bedürfnis nach präventiver Kontrolle nicht bestehe. Der Interorganstreit sei gegenüber diesen Instrumenten ultima ratio.202 Diese Argumente vermögen nicht zu überzeugen.203 Zunächst ist zu berücksichtigen, dass die Abberufung und Haftung nicht am Gesamtvorstand als Or­ gan ansetzen, sondern sich gegen die einzelnen Vorstandsmitglieder richten, denen ein sorgfaltswidriges Verhalten vorgeworfen wird. Der Anknüpfungspunkt bei Organstreitigkeiten ist also ein anderer. Im Vordergrund steht die Verfolgung von Leistungs- und Unterlassungsansprüchen des Aufsichtsrats gegen den Gesamtvorstand, nicht die Sanktionierung vergangenen Fehlverhaltens einzelner Vorstandsmitglieder.204 Hinzu kommt, dass der Aufsichtsrat über das Ziel hinaus schießen wird, wenn er auf seine Personalkompetenz oder die Schadensersatzklage zurückgreift, obwohl es nur um die Durchsetzung von Informationsrechten oder der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung geht. 202 So etwa Liebscher in BeckHdB AG § 6 Rn. 165; v. Schenck in Semler/v. Schenck ARHdB §  7 Rn.  314.  In diese Richtung auch Grigoleit/Tomasic AktG §  90 Rn.  30  f.; Spindler in MüKoAktG Vor § 76 Rn. 60; J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 95; Borgmann, Organstreit, S. 237 f.; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 386, 451, 454 (im Kontext der Zustimmungsvorbehalte). Dem Vorstand stehen solche Optionen nur eingeschränkt offen. Er hat keinerlei Kompetenzen hinsichtlich der AR-Besetzung und kann insoweit lediglich die Aktionäre anregen, AR- Mitglieder auszutauschen (vgl. Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 722), was sich aber  – wie sogleich erläutert wird – als wenig effektiv erweist. Was Schadensersatzansprüche gegen AR-Mitglieder angeht, wird der Vorstand, der nach §§ 116, 78 AktG für die Verfolgung zuständig ist, idR erhebliche Beißhemmungen gegenüber seinem eigenen Anstellungsund Überwachungsorgan haben, vgl. Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 8; J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 607; Lutter ZHR 159 (1995), 287, 304. Für Zulässigkeit von Kompetenzschutzklagen des Vorstands auch Spindler aaO § 76 Rn. 55; Liebscher aaO § 6 Rn. 165; Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 723. 203 Vgl. Kutscher, Organhaftung, S.  365  ff.; Steinbeck, Überwachungspflicht, S.  172  f., 183 f. Zur Abberufung auch Peine, Organstreit, S. 22 f.; Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S. 364 f.; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 309; Poseck DB 1996, 2165, 2167; K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 229 f. (Organstreit als „Verfeinerung“). Im Ergebnis auch Brönner in GK-AktG, 4. Aufl., § 170 Rn. 25. 204 Zu diesem Gesichtspunkt auch Kutscher, Organhaftung, S. 371 f. 88

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Rechtsschutzbedürfnis

Dadurch erreicht er eine öffentlichkeitswirksame Eskalationsstufe, die in der Regel den Interessen der Gesellschaft weniger dienen wird als ein gegenständlich begrenzter Streit um die Informationsansprüche und Zuständigkeitsordnung.205 Damit erscheinen die Abberufung und Schadensersatzklage als ultima ratio gegenüber dem Interorganstreit. Schließlich ziehen die Verletzung von Informationspflichten und Kompetenzüberschreitungen oft keine Vermögens­ einbuße der Gesellschaft nach sich, so dass zumindest der Schadensersatzanspruch praktisch kein Druckmittel gegen die Vorstandsmitglieder sein wird.206 3. Selbsthilferecht nach § 110 Abs. 2 AktG Einen außergerichtlichen Konfliktlösungsmechanismus, der einen Zivilprozess entbehrlich macht, stellt allerdings § 110 Abs. 2 AktG für den Fall zur Verfügung, dass der Aufsichtsratsvorsitzende entgegen § 110 Abs. 1 AktG der Forderung eines Aufsichtsratsmitglieds oder des Vorstands nicht entspricht, den Aufsichtsrat einzuberufen. In dieser Situation können die Einzelmitglieder und der Vorstand gem. § 110 Abs. 2 AktG die Sitzung selbst einberufen. Sie bedürfen also keiner gerichtlichen Hilfe, um ihre Rechte aus § 110 Abs. 1 AktG durchzusetzen, so dass eine etwaige Klage auf Einberufung des Aufsichtsrats wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist.207 4. Aufsichtsrat als Streitschlichter beim Intraorganstreit im Vorstand Handelt es sich um einen Streit innerhalb des Vorstands, fehlt einem Geschäftsleiter das Rechtsschutzbedürfnis, wenn er vor der Klageerhebung nicht versucht hat, den Konflikt mit verbandsinternen Instrumenten zu lösen.208 Das Gesellschaftsinteresse wird in der Regel dafür sprechen, dass die Organe und ihre Mitglieder etwaige Meinungsverschiedenheiten zunächst intern klären, statt sofort öffentlichkeitswirksam den Streit nach außen zu tragen. Als ein internes Konfliktlösungsinstrument kommt namentlich die Einschaltung des Aufsichtsrats in Betracht, der als Streitschlichter beim Intraorganstreit inner205 So auch Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 309. S. ferner Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 78 ff. AA Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 60. 206 Zu Kompetenzüberschreitungen des AR auch J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 607 f. 207 So auch Habersack in MüKoAktG §  110 Rn.  28; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG §  110 Rn.  29; Spindler in BeckOGK AktG §  110 Rn.  55; Grigoleit/Tomasic AktG § 110 Rn. 6; J. Koch in MHdB GesR VII § 30 Rn. 99 Fn. 523; Baumann, Rechte, S. 244. AA Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 110 Rn. 22. 208 Dies entspricht der hA, s. nur Seyfarth VorstandsR § 2 Rn. 30; Wettich, Vorstandsorganisation, S. 280 f. 89

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halb des Vorstands agieren kann. Nur wenn diese Schlichtung scheitert, hat das Vorstandsmitglied ein Rechtsschutzbedürfnis und kann gegen das Gesamt­ organ eine Klage erheben. 5. Hauptversammlung als Streitschlichter? Ein verbandsinternes Schlichtungsinstrument besteht auch für den Fall, dass der Aufsichtsrat seine Zustimmung zu einer gem. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG zustimmungspflichtigen Maßnahme verweigert. In einer solchen Situation fehlt dem Vorstand ein schutzwürdiges Interesse an der Erhebung einer Kompetenzschutzklage, weil aus § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG folgt, dass der Kompetenzkonflikt zwischen den Verwaltungsorganen durch die Hauptversammlung gelöst wird; insoweit müssen (und dürfen) die Gerichte nicht bemüht werden.209 Etwas anderes gilt allerdings, wenn der Vorstand meint, der Aufsichtsrat habe einen Zustimmungsvorbehalt begründet, obwohl er hierzu nicht befugt gewesen sei. In einem solchen Fall greift § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht ein, so dass der Vorstand eine Kompetenzschutzklage erheben kann.210 Außerdem kann das Rechtsschutzinteresse des Aufsichtsrats nicht mit einem Verweis auf § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG bestritten werden, wenn dieser einen Unterlassungsanspruch gegen den Vorstand mit dem Argument gerichtlich geltend machen will, jener habe einen Zustimmungsvorbehalt missachtet.211 Jenseits des § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG kann die Hauptversammlung nicht als eine Art Schlichtungsstelle zwischen den Verwaltungsorganen fungieren.212 Die Entscheidungsabläufe in der Hauptversammlung sind zu schwerfällig, um den anschwellenden Konflikt zeitnah zu lösen.213 Will die Verwaltung eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen, muss sie die Hürde des Gesellschaftswohls überwinden (§ 111 Abs. 3 Satz 1, § 121 Abs. 1 AktG). Gelingt ihr dies, ist die Hauptversammlung meist kostspielig und ihr Instrumentarium begrenzt: Die Aktionäre können von ihrer Personalkompetenz Gebrauch machen und die Aufsichtsratsmitglieder gem. § 103 Abs. 1 AktG mit qualifizierter Mehrheit abberufen. Auch wenn das nötige Quorum erreicht wird, was sich je 209 Zutr. Liebscher in BeckHdB AG § 6 Rn. 165; Borgmann, Organstreit, S. 244; Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S.  368  ff.; Schürnbrand, Organschaft, S.  386; Bork ZGR 1989, 1, 20; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 319. 210 Vgl. Steinbeck, Überwachungspflicht, S. 180 f. 211 Zutr. Peine, Organstreit, S.  114.  Zu den Einschränkungen des Unterlassungsanspruchs s. § 3 V 4 b aE. 212 Vgl. Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 82 ff.; Kutscher, Organhaftung, S. 366 f.; Bork ZGR 1989, 1, 20; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 312. 213 Zur Kontrolle des AR durch den Vorstand J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 586 f. 90

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Vorteile gegenüber den anderen Lösungen

nach Beteiligungsstruktur in der Gesellschaft als schwierig erweisen kann, schießt die Abberufung im Hinblick auf die Bedeutung der Streitigkeit über das Ziel hinaus.214 Außerdem können die Aktionäre beschließen, dass etwaige Schadensersatzansprüche gegen die Organmitglieder geltend gemacht werden (§ 147 AktG) oder unter dem Eindruck der Hauptversammlung die Klagezulassung gem. § 148 AktG erzwingen, was aber – wie die Abberufung – eine überschießende Tendenz aufweist und zudem voraussetzt, dass die Gesellschaft einen Schaden erlitten hat. Darüber hinaus verfügt die Hauptversammlung nicht über Instrumente, mit denen sie den Konflikt zwischen den Verwaltungsorganen so lösen kann, dass ein Gerichtsverfahren entbehrlich erscheint. Namentlich die Beschränkung der Hauptversammlungskompetenzen auf grundlegende Angelegenheiten zeigt deutlich, dass sie nicht geeignet ist, um Organstreitigkeiten zu lösen.215

IX. Vorteile gegenüber den anderen Lösungen 1. Kein Dammbruch nach Anerkennung der Organklagen Schaut man auf das Gesamtbild der vorstehenden Ausführungen, wird klar, dass die Lehre von Organrechten und Organpflichten gegenüber Alternativkonzepten einige Vorteile mit sich bringt. Insbesondere ist mit der Anerkennung der Organrechtsfähigkeit kein Dammbruch zu befürchten,216 weil mit der Klagebefugnis, dem Feststellungsinteresse und dem allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis ausreichende Filter zur Verfügung stehen, mit denen sich Hyperaktivität der Organe und ihrer Mitglieder vermeiden lässt. Auch führt die Zulässigkeit der Organstreitigkeiten – entgegen mancherorts geäußerten Befürchtungen217  – nicht zu einer Pflicht der Organe, ihre Organansprüche durchzusetzen.218 So ist im Zusammenhang mit § 245 Nr. 4 AktG anerkannt, dass der Vorstand nicht jeden rechtswidrigen Hauptversammlungsbeschluss anfechten muss, sondern nur dann zur Erhebung der Anfechtungsklage ver214 Vgl. hierzu J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 587. 215 So auch Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 14. Zur Bedeutung der Gesellschafterversammlung einer GmbH für das Rechtsschutzbedürfnis vgl. noch in § 3 X 4. 216 Vgl. insb. die Befürchtungen bei J. Koch ZHR 180 (2016), 578, 610 und Mertens ZHR 154 (1990), 24, 26 ff. 217 Vgl. J. Koch ZHR 180 (2016), 578: Wer neue Überwachungsbefugnisse formuliere, der müsse sich immer bewusst sein, dass er damit über kurz oder lang auch neue Überwachungspflichten formuliere. 218 Zutr. Leyendecker-Langner NZG 2012, 721, 724. Zu Ermessensspielräumen der Organe bei der Entscheidung über die Klageerhebung vgl. noch in § 15 III 4. 91

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Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht

pflichtet ist, wenn der Beschluss zu einem Schaden der Gesellschaft führt.219 Dies lässt sich auf Organstreitigkeiten übertragen, so dass eine generelle Klagepflicht nicht besteht. Im Gegenteil: Ein Organ kann von der Einleitung eines Prozesses absehen, wenn es einen informellen Weg für sinnvoller hält, um den Konflikt zu lösen.220 Diese Möglichkeit kann sich im Einzelfall zu einer Pflicht verdichten, wenn das Gesellschaftsinteresse für eine informelle Konfliktlösung spricht und die gerichtliche Auseinandersetzung erhebliche Nachteile für die Gesellschaft nach sich zöge. Sinnlose Gerichtsverfahren, die dem Gesellschaftsinteresse widersprechen, können sorgfaltswidrig sein und somit zu einer Schadensersatzhaftung nach §§ 93, 116 AktG führen. Das mit der Einleitung von Organstreitigkeiten verbundene Haftungsrisiko kann sich also bremsend auswirken.221 2. Vermeidung konstruktiver Schwierigkeiten Zudem lassen sich mit Hilfe der Lehre von Organrechten und Organpflichten einige konstruktive Schwierigkeiten, die die abweichenden Auffassungen bewältigen müssen, ohne dogmatische Brüche lösen. So vermeidet man Inkonsistenzen im Rahmen des § 90 Abs. 3 AktG, wenn man Organrechte und Organpflichten anerkennt. Die herrschende Auffassung sieht in Fällen des § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG die Gesellschaft auf der Aktiv- und die Vorstandsmitglieder als notwendige Streitgenossen auf der Passivseite; in Fällen des §  90 Abs.  3 Satz  2 AktG soll dagegen das Aufsichtsratsmitglied einen Prozess gegen die Gesellschaft führen.222 Wieso die Gesellschaft mal als Kläger, mal als Beklagter auftreten soll, wird aber nicht plausibel erklärt.223 In diese Erklärungsnot gerät man nicht, wenn man auf der Kläger- und Beklagtenseite das Organ als solches akzeptiert. Hinzu kommt, dass es sich bei einem Organstreit um einen echten Zweiparteienprozess handelt, so dass man  – anders als die Befürworter der Prozessstandschaft224 – die allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätze beachtet.225 219 C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 131; Hüffer/J. Koch AktG § 245 Rn. 36. 220 Gegen das Dammbruch-Argument schon Harnos, FS Seibert, S. 309, 315 ff. 221 Steinbeck, Überwachungspflicht, S.  186  f. Zu parallelen Überlegungen im Kontext der Unterlassungsansprüche gegen Vorstandsmitglieder s. § 2 IV 2 b. 222 Siehe bereits die Nachw. in Fn. 166. 223 Vgl. Schürnbrand, Organschaft, S.  369  f.; Schwab, Prozeßrecht, S.  582  ff. Krit. auf abstrakter Ebene auch Jacoby, Amt, S. 460 f. 224 Vgl. bereits in § 3 II mit Nachw. in Fn. 21. 225 Zum Zweiparteienprinzip s. die Nachw. in Fn. 3. Zur weitergehenden Kritik Schürnbrand, Organschaft, S. 373 f.; Schwab, Prozeßrecht, S. 586 ff. 92

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Innenrechtsstreitigkeiten in der GmbH

Schließlich bereiten etwaige Wechsel der Organmitglieder keine Probleme, wenn der Vorstand oder der Aufsichtsrat als solcher auf Kläger- oder Beklagtenseite stehen. Vielmehr bleibt das klagende oder beklagte Organ weiterhin am Prozess beteiligt, auch wenn sich dessen Zusammensetzung geändert hat; Mitgliederwechsel lassen die Organrechte und Organpflichten unberührt.226 Für die einzelnen Organmitglieder gilt diese Aussage nur eingeschränkt, wobei es schwer fällt, eine abstrakte Regel für die Behandlung des Mitgliederwechsels aufzustellen. Jedenfalls können sich die Organmitglieder auf ihre Organrechte nur so lange berufen, wie sie dem Organ angehören. Scheiden sie aus dem Amt aus, geht ihr individueller Anspruch unter.227 Bei Organpflichten ist nach der Art der Pflicht zu differenzieren: Geht es um Kompetenzüberschreitung der Einzelmitglieder oder um die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle, kann ein ehemaliges Organmitglied nicht mehr innerhalb der Korporation handeln, so dass ein gegen ihn gerichteter Anspruch auf Unterlassung der Zuständigkeitsverletzung bzw. auf rechtmäßiges Handeln untergeht.228 Wollen aber die Aufsichtsratsmitglieder ihre Informationsrechte aus § 90 Abs. 5, § 170 Abs. 3, § 314 Abs. 1 Satz 2 AktG gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden gerichtlich durchsetzen, gehen ihre Ansprüche nicht unter, wenn der Vorsitzende aus dem Aufsichtsrat ausscheidet, weil sich der Anspruch nicht gegen die konkrete Person (den Organwalter) richtet, sondern gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden als hervorgehobenen Teil des Gesamtorgans.229

X. Innenrechtsstreitigkeiten in der GmbH 1. Allgemeines In den vorstehenden Abschnitten wurde dargelegt, dass Organe, Organmitglieder und sonstige Organisationssubjekte einer Aktiengesellschaft – entgegen der wohl herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum  – einen ­Innenrechtsstreit führen können, obwohl sie nicht unbeschränkt rechts- und prozessfähig sind. Die Zulässigkeit einer Inter- oder Intraorganklage hängt 226 Vgl. Jacoby, Amt, S. 465; Schürnbrand, Organschaft, S. 371 f.; Schwab, Prozeßrecht, S. 596 ff.; Bork ZGR 1989, 1, 17, 26 f.; ders. ZIP 1991, 137, 140; Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 306.  227 Vgl. Schürnbrand, Organschaft, S. 372; Schwab, Prozeßrecht, S. 598 f. 228 Prozessual kann der Kläger mit der einseitigen Erledigterklärung reagieren, dh seinen Antrag dahin ändern, dass er auf Feststellung gerichtet ist, dass die Klage begründet war, sich aber erledigt hat. Vgl. auch Jacoby, Amt, S.  465; Schwab, Prozeßrecht, S. 599. 229 S. bereits die Nachw. in Fn. 176.  93

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Innenrechtsstreitigkeiten im Kapitalgesellschaftsrecht

maßgeblich davon ab, ob sich die Klagebefugnis begründen lässt und ob das Aktienrecht Instrumente vorsieht, die eine gerichtliche Konfliktlösung entbehrlich machen. Obwohl die Diskussion um den Organstreit in der GmbH nicht mit einer vergleichbaren Intensität geführt wird wie im Aktienrecht, sind gewisse Parallelen erkennbar: Auch im GmbH-Recht steht die überwiegende Auffassung auf dem Standpunkt, dass Organe nicht rechts- und prozessfähig sind und ein Bedürfnis nach einem Organstreit fehlt.230 Demgegenüber sprechen sich einige Autoren für die Zulässigkeit eines Organstreits aus.231 Wie bereits im aktienrechtlichen Kontext erläutert, überzeugt eine pauschale Ablehnung des Organstreits nicht: Auch in der GmbH sind Organe und ihre Mitglieder mit Befugnissen ausgestattet, die wie innerverbandliche Ansprüche ausgestaltet sind und es daher erlauben, von der Rechts- und Parteifähigkeit der Organe auszugehen. Ob die Organe einen Prozess um ihre Rechte anstoßen können, hängt wie im Aktienrecht in der ersten Linie von der Klagebefugnis ab. Auch im GmbH-Recht ist also nach potentiellen Ansprüchen zu suchen, die einem Organ als solchem zustehen und die sich gegen ein anderes Organ richten.232 Zudem ist im Rahmen des Rechtsschutzbedürfnisses die Organisationsstruktur der GmbH, namentlich die starke Stellung der Gesellschafterversammlung, zu beachten. 2. Organansprüche des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder Am deutlichsten treten die Parallelen zwischen der Aktiengesellschaft und GmbH zutage, wenn in der GmbH aufgrund mitbestimmungsrechtlicher Vorgaben ein obligatorischer Aufsichtsrat installiert ist: Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG gelten im GmbH-Recht insbesondere die aktienrechtlichen Vorschriften, die dem Aufsichtsrat und seinen Mit-

230 Vgl. Roth/Altmeppen GmbHG § 52 Rn. 77 f.; Michalski/Giedinghagen GmbHG § 52 Rn.  299  ff.; C. Jaeger in BeckOK GmbHG §  52 Rn.  57  ff.; Scholz/U.H. Schneider ­GmbHG § 52 Rn. 561 ff; Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG § 45 Rn. 25 f., § 52 Rn. 129; Vollmer GmbHR 1984, 5, 8. Differenzierend Spindler in MüKo­GmbHG § 52 Rn. 704 ff., der einen Interorganstreit für unzulässig, einen Intraorganstreit im AR aber für zulässig hält. 231 Peine, Organstreit, S. 185 ff.; Schürnbrand, Organschaft, S. 397 f.; Geißler GmbHR 1998, 1114, 1116 ff. S. auch zu Klagen einzelner Gesellschafter K. Schmidt ZZP 92 (1979), 212, 230.  Für Zulässigkeit des Organstreits bei obligatorischem AR auch Heermann in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 52 Rn. 245 ff., der aber in Rn. 114 den Organstreit unter Beteiligung eines fakultativen AR für unzulässig hält. 232 Vgl. hierzu Geißler GmbHR 1998, 1114, 1117. 94

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gliedern ausdrücklich Ansprüche zuweisen.233 So kann der GmbH-Aufsichtsrat als Gesamtorgan vom Geschäftsführer gem. § 90 Abs. 3 Satz 1 AktG Berichte über die Angelegenheiten der Gesellschaft verlangen und nach § 170 Abs. 1, 2 AktG weitere Berichte und Vorlagen fordern. Ebenfalls gilt das Einsichts- und Prüfungsrecht des Gesamtaufsichtsrats aus §  111 Abs.  2 AktG. In all diesen Fällen ist der Aufsichtsrat als Organ befugt, eine Klage gegen die Geschäfts­ führung zu erheben, um seine Hilfsrechte durchzusetzen. Wie in der Aktiengesellschaft ist es auch im GmbH-Recht aber nicht möglich, dass die Organmitglieder die Rechte des Organs im Rahmen einer actio pro societate geltend machen.234 Die Klagebefugnis der Einzelmitglieder ist jedoch zu bejahen, wenn das Gesetz ihnen eine individuelle Rechtsposition einräumt,235 so etwa die Informa­ tionsansprüche aus §  90 Abs.  3 Satz  2, §  125 Abs.  3 und 4 AktG gegen den ­Geschäftsführer und aus § 90 Abs. 5, § 170 Abs. 3 AktG gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden.236 Ebenfalls können die Aufsichtsratsmitglieder gegen den Vorsitzenden auf Erteilung einer Abschrift des Aufsichtsratsprotokolls klagen (§ 107 Abs. 2 Satz 4 AktG). Dagegen ist eine Klage auf Einberufung einer Aufsichtsratssitzung (§ 110 Abs. 1 AktG) unzulässig, weil den Aufsichtsratsmitgliedern ein Selbsthilferecht nach § 110 Abs. 2 AktG zusteht.237 Ist der Aufsichtsrat lediglich fakultativ, hängt die Klagebefugnis von der konkreten Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags ab. Sieht die Satzung einen Aufsichtsrat vor, ohne seine Rechte im Einzelnen zu bestimmen, folgt aus den Verweisen in § 52 Abs. 1 GmbHG, dass das Gesamtorgan und seine Mitglieder im Wesentlichen dieselben Befugnisse haben wie der mitbestimmte Aufsichtsrat.238 Werden die Befugnisse des Aufsichtsrats in der Satzung erweitert oder beschränkt, ist in jedem Einzelfall im Wege der Satzungsauslegung zu bestim233 Hierzu bereits oben, in § 3 V 2. Zum Klagegegner ausf. in § 3 VI 2. 234 So auch Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 52 Rn. 439, 557, 559; Peine, Organstreit, S. 191. Für Zulässigkeit einer actio pro societate in engen Ausnahmefällen Heermann in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 52 Rn. 247. 235 Vgl. hierzu bereits in § 3 V 5 a und b. 236 So auch Spindler in MüKoGmbHG §  52 Rn.  706; Peine, Organstreit, S.  191. AA ­Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 52 Rn. 557: Klage gegen die Gesellschaft, vertreten durch den AR (zu § 90 Abs. 5 AktG). 237 Auch im GmbH-Recht lässt sich die Klagebefugnis der AR-Mitglieder bejahen (vgl. Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 706), doch scheitert die Zulässigkeit am Rechtsschutzbedürfnis, vgl. in § 3 VIII 3. 238 Wie § 25 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MitbestG, § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG verweist § 52 Abs. 1 GmbHG auf § 90 Abs. 3, 4, 5 Satz 1 und 2, §§ 110, 111, 170 AktG. Allein ein Verweis auf § 125 Abs. 3, 4 AktG fehlt. 95

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men, inwieweit die Satzungsgeber dem Aufsichtsrat klagbare Ansprüche gewähren wollten.239 3. Kompetenzschutzklagen und allgemeine Verhaltenskontrolle Die Organe der GmbH sind überdies im Ausgangspunkt klagebefugt, wenn sie sich gegen Eingriffe in ihren Zuständigkeitsbereich wehren wollen, wobei die Kompetenzschutzklage, die eine Art der Unterlassungsklage ist,240 gegen den jeweiligen Störer zu richten ist.241 Auch hier ist zu beachten, dass ein Organmitglied nicht klagebefugt ist, wenn die Kompetenzen des Gesamtorgans beeinträchtigt werden.242 Was die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle angeht, sind die einzelnen Organmitglieder berechtigt, die Beschlüsse des eigenen Organs im Rahmen einer Feststellungsklage anzugreifen.243 Die umstrittene Frage nach dem richtigen Klagegegner ist wie im Aktienrecht zu beantworten: Die Feststellungsklage ist gegen das Gesamtorgan zu richten, nicht gegen die Gesellschaft.244 Eine weitere Parallele zum Aktienrecht ist darin zu sehen, dass ein Anspruch des Aufsichtsrats auf rechtmäßiges Verhalten der Geschäftsführer nicht besteht, so dass dem Überwachungsorgan insoweit die Klagebefugnis fehlt.245 4. Gesellschafter als Streitschlichtungsinstanz Die vorstehenden Ausführungen erwecken den Eindruck, dass die Unterschiede zwischen dem Aktienrecht und GmbH-Recht hinsichtlich des Organstreits gering sind. Dieser Eindruck wird aber relativiert, wenn man sich mit dem Rechtsschutzbedürfnis beschäftigt. An dieser Stelle ist nämlich ein Unter239 Zur Herleitung der Organansprüche aus der Satzung Peine, Organstreit, S. 187. 240 S. § 3 VII. 241 Peine, Organstreit, S. 187 f. Vgl. bereits in § 3 VI 3. 242 Großzügiger aber Peine, Organstreit, S. 192. 243 S.  nur Spindler in MüKoGmbHG §  53 Rn.  580  ff. Gegen die Klagebefugnis der ­Beiratsmitglieder gegen Beiratsbeschlüsse aber Binz/Sorg GmbH & Co. KG §  10 Rn. 31 ff. 244 Für Klage gegen GmbH, vertreten durch die Geschäftsführer aber Michalski/­ Giedinghagen GmbHG §  52 Rn.  383; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff ­GmbHG § 52 Rn. 29; Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 582 (trotz Anerkennung des Intraorganstreits in Rn. 706). Für Klage gegen GmbH, vertreten durch den AR Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 52 Rn. 440. 245 Theoretisch denkbar, aber wegen des Weisungsrechts der Gesellschafter praktisch ohne Bedeutung ist der Unterlassungsanspruch der GmbH gegen pflichtwidrig handelnde Organmitglieder, s. dazu bereits § 2 IV 2.  96

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Innenrechtsstreitigkeiten in der GmbH

schied in der Organisationsverfassung der GmbH zu beachten: die starke ­Position der Gesellschafterversammlung im Vergleich zur aktienrechtlichen Hauptversammlung. Während die Hauptversammlung nur punktuell in die Streitschlichtung eingebunden werden kann, weil sie als ein schwerfälliges Gremium mit beschränkten Kompetenzen ausgestaltet ist,246 fungiert die Gesellschafterversammlung als oberstes Organ der GmbH, das gem. § 37 Abs. 1 GmbHG mit Weisungsrechten ausgestattet ist und deshalb die Konflikte zwischen den Verwaltungsorganen effektiv außergerichtlich lösen kann. Deshalb sind die GmbH-Organe gehalten, vor der Einleitung eines Gerichtsverfahrens die Gesellschafterversammlung mit dem Streit zu befassen; anderenfalls fehlt ihnen das Rechtsschutzbedürfnis.

246 Hierzu bereits § 3 VIII 5. 97

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Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung § 4 Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht I. Sprachliche Anknüpfungspunkte für den intradisziplinären Vergleich Im Teil 1 wurde herausgearbeitet, dass die Verbandsrechtsakteure in unterschiedlichsten Konstellationen die Gerichte anrufen können, um etwaige Ansprüche der Gesellschaft durchzusetzen oder die Innenrechtsbeziehungen zu klären. Damit ist aber noch nicht gesagt, mit welcher Intensität die gerichtliche Kontrolle erfolgen darf. Dieses Problem ist in Rechtsprechung und Schrifttum zum Verbandsrecht nicht ausgeleuchtet. Der Begriff der Prüfungsdichte wird im Gesellschaftsrecht nicht flächendeckend aufgegriffen, um die Gesamtintensität des gerichtlichen Kontrollzugriffs auf verbandsrechtliche Entscheidungen zu beschreiben. Die gesellschaftsrechtliche Rechtsprechung und das Schrifttum konzentrieren sich auf den Sorgfaltsmaßstab der Organmitglieder und die mitgliedschaftlichen Treuebindungen, statt Energie in die Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte zu investieren. Gänzlich anders ist der Forschungsstand im Verwaltungsrecht. Dort ist die Kontrolldichte ein Schlüsselbegriff, der aufgegriffen wird, um das Spannungsverhältnis zwischen dem Rechtsschutzinteresse des Bürgers und dem Gestaltungsbedürfnis der Exekutive aufzulösen sowie um die Beziehungen zwischen den Staatsgewalten zu konkretisieren.1 Die Intensität der gerichtlichen Kon­ trolle ist Gegenstand einer schier endlosen Diskussion, die durch Gesetzgebung und Rechtsprechung immer wieder aufs Neue befeuert wird.2 Vor diesem 1 Treffend Gärditz, DJT-Gutachten, S. 54: „Proprium funktionaler Verwaltungsgerichtsbarkeit“. S. ferner Schmidt-Aßmann DVBl 1997, 281. 2 Ebenfalls kontrovers diskutiert ist die Intensität, mit der das BVerfG die Verfassungsorgane kontrolliert, vgl. statt vieler Schlaich/Korioth BVerfG Rn. 506 ff. Um ein klares Referenzmodell für die gesellschaftsrechtliche Untersuchung zu haben, das nicht durch Besonderheiten verfassungsgerichtlicher Kontrolle überlagert wird, werden die99

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

Hintergrund liegt es nahe, den Stand der verwaltungsrechtlichen Entwicklung nachzuzeichnen, um auf dieser Grundlage Erkenntnisse für die gesellschaftsrechtliche Dogmatik zu gewinnen. Für einen solchen intradisziplinären Ansatz spricht der Umstand, dass die Debatten im Gesellschafts- und Verwaltungsrecht mit verwandten Begrifflichkeiten geführt werden. Rechtsprechung und Schrifttum greifen schon seit langem auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurück, um Konflikte zwischen den Gesellschaftern zu lösen.3 Dieser Grundsatz ist seit jeher im öffentlichen Recht fest verankert4 und wird herangezogen, um die Eingriffe des Staats in die Individualpositionen der Bürger einzuschränken.5 In beiden Rechtsgebieten gleichermaßen präsent sind zudem die Ermessens- und Beurteilungsspielräume. Während die verwaltungsrechtliche Diskussion einen hohen Systematisierungsgrad erreicht und die Verbindungen mit der gerichtlichen Kontrolldichte erkannt hat,6 werden die Figuren des Ermessens und Beurteilungsspielraums im Gesellschaftsrecht häufig unreflektiert verwendet.7 Freilich sind solche rein begrifflichen Parallelen allein nicht ausreichend, um einen Wertungstransfer zwischen Rechtsgebieten zu rechtfertigen, die zumindest bei unbefangener Betrachtung unterschiedliche Probleme zu bewältigen haben. Gleichwohl haben manche Autoren versucht, das Gesellschaftsrecht mit einem Blick auf das Verwaltungsrecht zu systematisieren und fortzuentwickeln. Einige dieser Versuche werden zunächst skizziert, um sodann zu zeigen, dass sich das Gesellschaftsrecht und Verwaltungsrecht in der Sache ähnlicher sind, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag.

se Probleme im Folgenden ausgeklammert. Zu den Parallelen zwischen Gesellschaftsrecht und Verfassungsrecht im Hinblick auf die Kontrolldichte s. § 8 I 2 Fn. 29 und § 10 I Fn. 1. 3 Vgl. im Einzelnen in § 17 VI. 4 Zu den Ursprüngen s. etwa Tischbirek JZ 2018, 421 f. 5 Zu dieser Verwandtschaft der Rechtsgebiete bereits Zöllner, Schranken, S.  351  f.; im Kontext der Treuepflicht auch etwa Immenga, FS GmbHG, S. 189, 201. Mit Blick auf das gesamte Privatrecht Tischbirek JZ 2018, 421, 422  ff. Gegen die Übertragung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ins Privatrecht aber Bieder, Verhältnismäßigkeits­ prinzip, S. 27 ff. mwN in Fn. 185 bis 187 auf S. 39. 6 Zur verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik im Einzelnen in § 5. 7 S. schon die Darstellung in § 1 II. 100

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Bisherige Transferversuche

II. Bisherige Transferversuche 1. Befürworter eines intradisziplinären Ansatzes a) Kontrolle der Gesellschafter Die Idee, die verwaltungsrechtlichen Erkenntnisse im Verbandsrecht fruchtbar zu machen, ist nicht neu.8 Dass im Verwaltungsrecht und Gesellschaftsrecht vergleichbare Probleme mit ähnlichen Instrumenten zu lösen sind, deutete bereits Wolfgang Zöllner in seiner Habilitationsschrift zu den Schranken der mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht aus dem Jahr 1963 an. Er wies zutreffend darauf hin, dass die Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit sowohl im öffentlichen Recht als auch im Zusammenhang mit der Stimmrechtsausübung in privatrechtlichen Personenverbänden demselben Zweck dienen: Das Ermessen, das einem Machtträger – der öffentlichen Gewalt einerseits, dem Gesellschafter aufgrund seiner Stimmrechtsmacht andererseits  – zur Verfolgung eines übergeordneten Interessens eingeräumt sei, werde durch diese Grundsätze von innen her kontrolliert.9 Folgt man Zöllner und berücksichtigt man zugleich, dass die Gerichte das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf den konkreten Einzelfall anwenden, liegt es nicht fern, dass die Intensität der gerichtlichen Willensbildungskontrolle der Gesellschafter nach ähnlichen Grundsätzen erfolgen kann wie im Verwaltungsrecht. Die Rechtsprechung greift die aus dem öffentlichen Recht bekannten Figuren auf10 und auch das Schrifttum ist einem Wertungstransfer nicht gänzlich abge 8 Die folgende Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will nur skizzenhaft zeigen, dass die Anleihen im öffentlichen Recht für das verbandsrechtliche Schrifttum nicht völlig fernliegend sind. Zum umgekehrten Wertungstransfer vom Unternehmensrecht ins Planungsrecht s. Brohm JZ 1995, 369, 372. 9 Zöllner, Schranken, S. 351 f. 10 So griff der BGH im Rahmen der aktienrechtlichen Beschlusskontrolle die aus dem Verwaltungsrecht bekannten Figuren der Verhältnismäßigkeitsprüfung (BGHZ 71, 40, 43 ff. = NJW 1978, 1316 – s. dazu etwa Wiedemann ZGR 1980, 147, 158) und der Ermessensreduktion (BGHZ 83, 122, 131 = NJW 1982, 1703 im Zusammenhang mit dem Ermessen hinsichtlich der Vorlage nach § 119 Abs. 2 AktG) auf; zur Verhältnismäßigkeitsprüfung im Kapitalgesellschaftsrecht s. noch ausf. in § 17 VI 1. Auch im Personengesellschaftsrecht arbeitet der II. Zivilsenat seit jeher mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, s. nur BGH NJW 1985, 972, 973 und BGH NJW 1995, 194, 195; hierzu ausf. in § 17 VI 2. Das OLG Düsseldorf kontrollierte im ARAG/Garmenbeck-Streit einen GmbH-Gesellschafterbeschluss, der die Geltendmachung von Schadensersatz­ ansprüchen gegen Vorstandsmitglieder einer Tochtergesellschaft zum Gegenstand hatte, entsprechend der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre (§ 114 VwGO), vgl. OLG Düsseldorf ZIP 1996, 1083, 1088 f. 101

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neigt.11 So vergleicht etwa Heribert Hirte im Anschluss an Marcus Lutter12 den Bezugsrechtsausschluss mit einem belastenden Verwaltungsakt.13 b) Kontrolle der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder Die Parallelen und Unterschiede zwischen Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht wurden aber insbesondere am Beispiel der Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft vor der Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG diskutiert. So hat Adolf Großmann bereits 1980 die Sorgfaltspflichten des Vorstands und seiner Mitglieder im Lichte der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre ausbuchstabiert:14 Jenseits strikter Gebote und Verbote, die sich aus dem ­Gesetz und der Satzung ergäben, müsse der Vorstand seine Entscheidungen sorgfältig vorbereiten und durchführen. Es handele sich um Ermessensentscheidungen, deren materielle Richtigkeit nicht gerichtlich überprüfbar sei. Vielmehr unterliege nur die formal richtige Ausübung des Ermessens einer gerichtlichen Kontrolle. Maßgeblich sei, ob der Vorstand sein Ermessen überhaupt erkannt und ausgeübt habe, ob er die Ermessensgrenzen überschritten habe, ob er bei der Entscheidung die betroffenen Belange berücksichtigt habe und ob er die widerstreitenden Interessen am Maßstab des Übermaßverbots abgewogen habe. Im Jahr 1991 ging Manfred Kessler auf die Figur des verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraums anlässlich einer Untersuchung der Leitungsmacht des Vorstands ein:15 Geschäftspolitische Entscheidungen des Vorstands würden eine deutliche Ähnlichkeit zu den Fällen prognostischer Entscheidungen wertenden Charakters mit wirtschaftspolitischem Einschlag aufweisen, bei denen die Verwaltungsbehörden anerkanntermaßen einen Beurteilungsspielraum genießen würden.16 In beiden Fällen habe der Gesetzgeber die Letztentscheidungskompetenz dem Vorstand bzw. der Behörde eingeräumt. 11 Deutliche Anlehnung an das verwaltungsrechtliche Prüfungsprogramm etwa bei Liebert, Bezugsrechtsausschluss, S.  94.  S.  ferner Böttcher in BeckOGK HGB §  119 Rn. 137, der sich im Kontext der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Beschlusskontrolle an die öffentlich-rechtliche Ermessensfehlerlehre anlehnen will. 12 Lutter ZGR 1979, 401, 413 Fn. 24; ders. ZGR 1981, 171, 173. 13 Hirte, Bezugsrechtsausschluß, S. 223. Zu den Parallelen zwischen Aktien- und Verwaltungsrecht vgl. auch bereits Füchsel, Bezugsrechtsausschluß, S. 147 ff. Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Personengesellschaftsrecht etwa Born in EBJS §  109 Rn. 26 f.; Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 109 Rn. 17. 14 Großmann, Unternehmensziele, S. 165 ff., 169 ff. 15 Zum Folgenden Kessler, Leitungsmacht, S. 247 ff., insb. 254 f. 16 Zum Beurteilungsspielraum noch ausf. in § 5 II. 102

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Bisherige Transferversuche

Auch Uwe Hüffer griff bei der Bestimmung des aktienrechtlichen Leitungsermessens auf die öffentlich-rechtlichen Erkenntnisse zurück:17 Dem privaten Korporationsrecht sei der Zugang zur verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre zu eröffnen, weil keine grundsätzlichen Unterschiede in der Entscheidungsfindung oder in der rechtlichen Struktur der Organbeziehungen zu verzeichnen seien. Namentlich die Abwägungsfehlerlehre beruhe im Kern nicht auf verwaltungsrechtlichen Eigenheiten, sondern entspreche der Sachstruktur von Ermessensentscheidungen, gebe also das dabei zu beachtende Verfahren und die typischen Fehler in verallgemeinerungsfähiger Weise wieder. Schließlich stellte sich Johannes Semler auf den Standpunkt, dass Beurteilungsentscheidungen des Vorstands entsprechend der verwaltungsrechtlichen Doktrin zu überprüfen seien.18 Der Ansatz, das Gesellschaftsrecht im Lichte des öffentlichen Rechts fortzuentwickeln, wurde auch im Zusammenhang mit Maßnahmen des Aufsichtsrats verfolgt. So wies Gerd Krieger 1981 in einer Untersuchung der Perso­ nalentscheidungen des Aufsichtsrats darauf hin, dass es aus der Natur von zukunftsorientierten Entscheidungen mit wertendem und planerischem Einschlag folgt, dass die Gerichte nicht das Entscheidungsergebnis, sondern nur das Entscheidungsverfahren überprüfen dürfen. Dies gelte unabhängig davon, ob es sich um eine Behördenentscheidung oder eine Personalentscheidung des Aufsichtsrats handele. In beiden Fällen stehe man vor einer identischen Situation, die zu identischen rechtlichen Ergebnissen nötige.19 Den Gedanken, verwaltungsrechtliche Erkenntnisse auf den Aufsichtsrat zu übertragen, griffen andere Autoren in einer generalisierenden Form auf: 1994 stellte Stefan Mutter im Ausgangspunkt fest, dass unternehmerische Entscheidungen des Aufsichtsrats mit den Entscheidungen öffentlicher Verwaltung – insbesondere mit der hoheitlicher Planung20  – vergleichbar sind. Dennoch war er der Ansicht, dass verwaltungsrechtliche Erwägungen keine Konkretisierung der gesellschaftsrechtlichen Kategorien ermöglichen: Ein Seitenblick auf die öffentlich-rechtlichen Entwicklungen schaffe keinen Mehrwert für die aktienrechtliche Diskussion.21 17 Hüffer, FS Raiser, S. 163, 174 f. 18 Semler, FS Ulmer, S. 627, 633 ff. 19 Krieger, Personalentscheidungen, S. 28 ff. 20 Zur gerichtlichen Kontrolle der Planungsentscheidungen vgl. noch in § 5 III. 21 Im Einzelnen Mutter, Entscheidungen, S. 230 ff.; dem folgend Katsas, Inhaltskontrolle, S. 128 f.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 154. Im Hinblick auf seine zurückhaltende Stellungnahme kann Mutter durchaus als eine kritische Stimme (dazu noch unter § 4 II 2) eingeordnet werden. 103

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

Einen Schritt weiter ging das OLG Düsseldorf im ARAG/Garmenbeck-Urteil aus dem Jahr 1995. In Anlehnung an § 114 VwGO entzog es die Aufsichtsratsbeschlüsse hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Unternehmensführung einer gerichtlichen Kontrolle: Die Gerichte hätten unternehmerischen Entscheidungen nur darauf zu kontrollieren, ob diese mit dem Gesetz und ggf. der Unternehmensverfassung im Einklang stünden und ob das Ermessen in einer rechtlich nicht zu beanstandenden Weise ausgeübt worden sei. Die Prüfung beziehe sich darauf, ob das eingeräumte Ermessen überhaupt ausgeübt worden sei, die Grenzen des Ermessens eingehalten worden seien und von dem Ermessen zweckentsprechender Gebrauch gemacht worden sei. Ins Aktienrecht zu übertragen sei auch die Figur der „Ermessensreduktion auf Null“, so dass sich Handlungsspielräume des Aufsichtsrats zu einer Pflicht verdichten könnten.22 Im Anschluss daran schlug Christiane Hoerdemann 1999 vor, die verwaltungsrechtliche Ermessenslehre auf die gerichtliche Kontrolle der Aufsichtsratsbeschlüsse im Wege der Analogie zu übertragen: Das behördliche Ermessen sei dem Aufsichtsratsermessen wesensgleich, so dass die Erkenntnisse der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre ins Aktienrecht transponiert werden könnten.23 Einen breiteren Ansatz als die vorgenannten Autoren verfolgten Herbert Wiedemann, Sabine Lüpkemann und Andrea Lohse. Sie fokussierten sich nicht nur punktuell auf bestimmte Entscheidungstypen oder einzelne Organe, sondern bezogen den Vorstand und Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft gleicher­ maßen in die Betrachtung ein. So führte Wiedemann 1989 aus, dass glücklos handelnde Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder nicht zur Verantwortung gezogen werden können:24 Die Realstruktur des Unternehmens und die Gegebenheiten des Wirtschaftslebens würden den Amtsträgern einen richterlich nicht nachprüfbaren Ermessensspielraum gewähren, zu dessen Begründung 22 OLG Düsseldorf NJW-RR 1995, 1371, 1375 f. Der II. Zivilsenat des BGH setzte sich im Revisionsurteil (BGHZ 135, 244 = NJW 1997, 1926) mit diesem intradisziplinären Vorschlag nicht explizit auseinander, jedoch sprach sich Volker Röhricht – damals der Vorsitzende des II. Senats – in Bezug auf den Vorstand dezidiert gegen die Übertragung öffentlich-rechtlicher Kategorien aus, vgl. Röhricht, RWS-Forum GesR 1997, S. 191, 204 f.; s. dazu noch in § 4 II 2. Dem OLG Düsseldorf im Grundsatz zustimmend etwa Hoerdemann ZRP 1997, 44, 45 f.; Nirk, FS Boujong, S. 393, 406 ff. (der aber einer Ermessensreduktion auf Null skeptisch gegenübersteht). S. ferner Dreher ZHR 158 (1994), 614, 630, 634; Heermann AG 1998, 201, 211 (der sich an öffentlich-rechtliches Vokabular anlehnt und vom Ermessensnichtgebrauch, Ermessensfehlgebrauch und Ermessensmissbrauch spricht). 23 Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 83 ff. S. auch bereits knapp Hoerdemann ZRP 1997, 44, 45 f. 24 Zum Folgenden Wiedemann, Organverantwortung, S. 13 f. 104

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Bisherige Transferversuche

eine Anleihe im öffentlichen Recht naheliege. Planungsrechtliche Entscheidungen, die eine prognostische Einschätzung erfordern würden, seien hinsichtlich ihrer Prognose rechtmäßig, wenn sie unter Berücksichtigung aller verfügbaren Daten in einer methodisch einwandfreien Weise und ohne Abwägungsdefizite erarbeitet worden seien.25 Entsprechend genüge ein Organmitglied seiner Sorgfaltspflicht, wenn es darlege, dass es eine Maßnahme in einem angemessenen Verfahren vorbereitet und die einschlägigen Gesichtspunkte vollständig und rational gewichtet habe. Lüpkemann wies im Ausgangspunkt auf die strukturellen Gegensätze hin zwischen dem Verwaltungsrecht, das von der Gesetzesbindung des Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG geprägt ist, und dem Aktienrecht, das Vorstand und Aufsichtsrat als Träger der privatautonomen Gestaltungsfreiheit adressiert. Dennoch sprach sie sich dafür aus, die verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerkategorien heranzuziehen, um die treuhänderische Pflichtenbindung der Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft zu konkretisieren.26 Einen Schritt weiter als Wiedemann und Lüpkemann ging Lohse in ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2005. Sie arbeitete in einer organübergreifenden Untersuchung in Anlehnung an eine verwaltungsrechtliche Entscheidungsfehlerlehre27 heraus, wie weit die Entscheidungsspielräume des Vorstands und des Aufsichtsrats reichen:28 Im Aktien- wie im Verwaltungsrecht stünde gleichermaßen die Kompetenzverteilung zwischen den Organen bzw. Behörden und Gerichten im Vordergrund. Deshalb könnte das im verwaltungsrechtlichen Schrifttum entwickelte Konzept der negativen Kontrolle auf das Aktienrecht übertragen werden. Die denkbaren Entscheidungsfehler des Vorstands und Aufsichtsrats seien zunächst in Anlehnung an die öffentlich-rechtliche Ermessensfehlerlehre zu kategorisieren. Sodann sei im Einzelfall zu überprüfen, ob die konkreten Entscheidungen der Verwaltungsorgane einer der Fehlerkategorien zugeordnet werden könnten. 2. Kritische Stimmen Auch wenn der Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht von vielen Autoren befürwortet oder zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen wird, ist dieser 25 Zum Planungsermessen noch unter § 5 III. 26 Lüpkemann, Ermessen, S. 79 f. 27 Referenzpunkt der Untersuchung war die Ermessensfehlerlehre von Alexy (JZ 1986, 701, 705 ff.). 28 Vgl. Lohse, Ermessen, S. 51 ff. 105

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

Lösungsweg nicht flächendeckend konsentiert. Einige Stimmen aus dem gesellschaftsrechtlichen Schrifttum stehen der Übernahme verwaltungsrechtlicher Konzeptionen skeptisch gegenüber. Im Zusammenhang mit dem Vorstandsermessen führte Volker Röhricht – der als Vorsitzende des II. Zivilsenats an der wegweisenden ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH beteiligt war  – aus, dass der verwaltungsrechtliche Ermessensbegriff nicht taugt, um den weiten Gestaltungsspielraum des Vorstands zu umschreiben. Der Ermessensbegriff diene als eine Zweckschöpfung des öffentlichen Rechts dazu, den hoheitlich handelnden Staat zum Schutz der seiner Gewalt unterworfenen Bürger selbst dort noch gerichtlich überprüfbaren Bindungen zu unterwerfen, wo ihm zur Erhaltung der notwendigen Handlungsfreiheit gewisse gesetzlich umschriebene und eingegrenzte Handlungsspielräume offengehalten werden müssten. Er sei ein Produkt einer weit fortgeschrittenen Verrechtlichung staatlichen Handelns. Dagegen müsse unternehmerisches Handeln vor Verrecht­ lichung und gerichtlicher Nachprüfbarkeit bewahrt werden.29 Auch Walter Paefgen verband mit der Übernahme verwaltungsrechtlicher Figuren die Gefahr einer zu starken Verrechtlichung der judiziellen Entscheidungskontrolle und stand deshalb etwaigen Transferversuchen ablehnend gegenüber.30 Einen Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht lehnt überdies Markus Roth ab. Er ist der Ansicht, dass die verwaltungsrechtlichen Grundsätze allenfalls sehr eingeschränkt auf das unternehmerische Ermessen übertragen werden könnten, weil dem Verwaltungsrecht das dem Zivilrecht unbekannte Subordinationsprinzip zugrunde liege, das zum Schutz des Bürgers eine hohe Kontrolldichte bedinge.31 Dabei stünden jedenfalls einem Mehrheitsaktionär stärkere Einflussmöglichkeiten auf bedeutsame unternehmerische Entscheidungen zur Verfügung als dem Bürger im Verhältnis zur Verwaltung.32 Au29 Röhricht, RWS-Forum GesR 1997, S. 191, 204 f. Dem folgend Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG Rn. 18; Winnen, Innenhaftung, S. 178. 30 Paefgen, Entscheidungen, S. 136 f. mit Fn. 369. In eine ähnliche Richtung Thümmel DB 1997, 1117, 1118. Allerdings stützt sich Paefgen auf S. 125 ff. im Zusammenhang mit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht auf die öffentlich-rechtlichen Entwicklungen, um die Lockerung der materiellen Beschlusskontrolle zu begründen. 31 Zum Folgenden Roth, Ermessen, S. 13 f. Auf das Über-/Unterordnungsverhältnis abstellend auch Katsas, Inhaltskontrolle, S.  128; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 263 f.; Winnen, Innenhaftung, S. 177. Die Wertungen des Art. 19 Abs. 4 GG betonend Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S. 365. 32 So auch Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 164. S. ferner Möslein, Leitungsmacht, S.  292  f. und Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317, 346  f., die zusätzlich auf externe Kontrollmechanismen verweisen. Zugleich betonen Grundmann/Möslein, dass die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane nicht immer kaufmännisch motiviert sind, sondern auch anderen – etwa öffentlichen – Zwecken dienen können. In 106

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Bisherige Transferversuche

ßerdem übe der Vorstand einer Aktiengesellschaft eine Leitungsfunktion aus, während der öffentlichen Verwaltung lediglich eine ausführende Funktion zukomme. Dem unternehmerischen Ermessen stehe zwar das planerische Ermessen im baurechtlichen Bereich nahe, konkrete Ableitungen daraus seien aber nicht möglich; dem Verwaltungsrecht könnten keine Kriterien für die Grenzen des Vorstandsermessens entnommen werden. Anders als dem Vorstand stehe der Verwaltung bei der Ermittlung des Sachverhalts kein Ermessen zu.33 Thomas Raiser meint ebenfalls, dass Anleihen aus dem öffentlichen Recht nicht möglich seien, seine Argumentation geht aber in eine entgegengesetzte Richtung als die vorgenannten Stellungnahmen. Er ist der Auffassung, dass die Leitungsorgane keine Ermessens- oder Beurteilungsspielräume genießen dürften, weil dadurch der Aktionärsschutz ausgehebelt werde.34 Im Vordergrund stehe rechtlich nicht das freie Ermessen der Unternehmensleitung, sondern die Frage, wie weit die Aktionäre auf die Wahrnehmung ihre Eigentumsrechte zugunsten der Unternehmensleitung verzichtet hätten und verzichten müssten, um das von ihnen angestrebte Ziel zu erreichen, ihr Vermögen gewinnbringend anzulegen. In den Kategorien von Regel und Ausnahme sei rechtlich die Bindung an die Interessen der Aktionäre also die Regel und das unternehmerische Ermessen die Ausnahme.35 3. Diskussion nach dem UMAG Diese skizzenhafte Darstellung des Meinungsstandes ist durch die Beobachtung zu ergänzen, dass die Diskussion um etwaige Transferleistungen aus dem öffentlichen Recht im Kontext der Verwaltungskontrolle nach der Kodifizierung der Business Judgment Rule im Zuge des UMAG weitgehend verklungen ist. Kommentierungen, Monographien und sonstige Beiträge setzen sich nur noch selten ausführlich mit der Frage auseinander, ob das Verwaltungsrecht

einem solchen Fall soll eine engmaschigere gerichtliche Kontrolle nach verwaltungsrechtlichem Vorbild möglich sein (ZGR 2003, 317, 347 f.). 33 Auf die unterschiedlichen Anforderungen an die Informationsbeschaffung stellt außerdem Martin Oltmanns ab, um einen Wertungstransfer aus dem öffentlichen Recht abzulehnen, s. M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 285. Vgl. ferner Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn.  212; S.  Binder, Vorstandshaftung, S.  135; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 258 f., 262. 34 S. T. Raiser NJW 1996, 552, 553. 35 Ob das durch Thomas Raiser aufgestellte Regel-Ausnahme-Verhältnis tatsächlich zutrifft, wird noch in § 7 IV 1 näher beleuchtet. 107

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als Erkenntnisquelle im Gesellschaftsrecht dienen kann.36 Soweit Anleihen aus dem öffentlichen Recht erwogen werden, sind die Ausführungen meist stichwortartig.37 Sucht man nach positiven Transferversuchen, ist einzig Victoria Anna Berger hervorzuheben, die in Anlehnung an die öffentlich-rechtlichen Kategorien das Ermessen dem Handlungsbereich und die Beurteilungsspielräume dem Erkenntnisbereich zuordnet.38 Untersuchen die Autoren die richterliche Kontrolldichte aus einer intradiszi­ plinären Perspektive ausführlicher, sind die Stellungnahmen deutlich kritischer als vor dem UMAG. So ist Ferit Schnieders der Ansicht, dass das unternehmerische Ermessen als Rechtsfigur mit dem verwaltungsrechtlichen Ermessen nicht mehr gemein hat als den Begriff und die Grundstruktur: Zwar sei für das Ermessen im Verwaltungsrecht wie im Gesellschaftsrecht die Entscheidungsfreiheit zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten kennzeichnend, es bestünden aber erhebliche Unterschiede in Struktur und Maß dieser Freiheit. Unternehmen seien nicht staatliche Behörden, die Bestehendes und Vor­ geschriebenes verwalten oder durchführen würden, sondern Organisationen, die im Wettbewerbsumfeld auf Veränderung, Fortentwicklung und Umge­ staltung zu Neuem gerichtet seien. Während hoheitliche Eingriffe mit Überordnung und Zwang gegenüber dem Bürger zu tun hätten und deshalb einer intensiveren gerichtlichen Kontrolle unterlägen, solle das unternehmerische 36 Dezidiert dagegen Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  119: „Die aus dem öffent­ lichen Recht bekannte Unterscheidung von Beurteilungs- und Ermessensspielraum ist für das Kapitalgesellschaftsrecht hingegen unbrauchbar“. Dem folgend Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  213.  Skeptisch auch Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG Rn. 18: Ermessensbegriff werde der Eigenart unternehmerischer Tätigkeit nicht gerecht (in Fortführung von Dauner-Lieb, FS Röhricht, S. 83, 97 und in wörtlicher Anlehnung an Röhricht, RWS-Forum GesR 1997, S. 191, 204). Vgl. ferner Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 54: Transferfrage bedürfe keiner Entscheidung; dem folgend Schrage, Steuergestaltungen, S. 214. 37 Im Zusammenhang mit dem Bezugsrechtsausschluss etwa Hüffer/J. Koch AktG § 186 Rn.  36: „Vergleichbar ist Sachlage allenfalls mit verwaltungsrechtl. Beurteilungsermächtigung“. Im Vorstandsrecht lehnt Miriam Parmentier eine Übertragung der öffentlich-rechtlichen Ermessensfehlerlehre ab, spricht sich aber für eine Anlehnung an den verwaltungsrechtlichen Beurteilungsspielraum aus, vgl. Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn.  211  f.; s. auch Grigoleit AktG §  76 Rn.  30 Fn.  74.  Im Kontext des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG greift Katja Schönberger die verwaltungsrechtliche Unterscheidung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum auf, s. Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S.  192  ff. Einen Vergleich mit verwaltungsrechtlichem Ermessen zieht ferner Kutscher, Organhaftung, S. 54. Stichwortartiger Vergleich mit dem Planungsermessen bei Barry, Gleichbehandlung, S. 235 f. mit Fn. 969. 38 V. Berger, Vorstandshaftung, S. 323 ff. 108

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Bisherige Transferversuche

Ermessen einer übermäßigen Verrechtlichung des unternehmerischen Handelns entgegenwirken.39 In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen von Bernd Pfertner, der die unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands untersucht: Im Aktienrecht gehe es nicht um grundrechtlich abgesicherte Anspruchspositionen der zu schützenden Bürger gegenüber der staatlichen Verwaltung. Zudem bestehe im Verwaltungsrecht kein vergleichbar großes Bedürfnis, die Exekutive vor einer Verrechtlichung ihrer Handlungsspielräume und vor risikoaversem Verhalten zu bewahren. Vielmehr könne dort davon ausgegangen werden, dass die sachkompetente, eigene Gerichtsbarkeit nicht mit sachfremder Materie – wie im Fall von unternehmerischen-betriebswirtschaftlichen Vorstandsentscheidungen – betraut werde.40 Auch Busso Peus steht einer Anlehnung an öffentlich-rechtliche Grundsätze skeptisch gegenüber: Zwar bestehe zwischen Behördenermessen und Vorstandsermessen eine Parallelität insoweit, als in beiden Fällen die Rechtsprechung an ihre Funktionsgrenzen stoße und die handelnden Akteure nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten entscheiden dürften. Die Entscheidungsspielräume der Verwaltung und des Vorstands beträfen aber unterschiedliche Konstellationen. Im öffentlichen Recht stehe die Frage im Vordergrund, ob ein Gericht eine behördliche Maßnahme aufheben könne; im Aktienrecht gehe es  in erster Linie um die Haftung.41 Während die verwaltungsrechtliche Er­ messenslehre der Behörde einen Bereich zuteilen wolle, der der gerichtlichen Kontrolle entzogen sei, liege das Ziel der Business Judgment Rule darin, die Entschlussfreudigkeit des handelnden Vorstandsmitglieds zu stärken; um die Entschlussfreudigkeit des Beamten gehe es aber im öffentlichen Recht nicht.42 In die gleiche Kerbe schlägt Sabrina Binder, die betont, dass die Exekutive einer umfassenden Gesetzesbindung unterliege und Verwaltungshandeln deshalb Rechtsanwendung sei. Auch der Vorstand sei zwar rechtlichen Vorgaben unterworfen, seine Stellung unterscheide sich aber maßgeblich von der Position der Verwaltung. Während zwischen der Exekutive und den Bürgern ein umfassendes Subordinationsverhältnis bestehe, dem sich die Bürger nicht ohne weiteres entziehen könnten, sei die Einwirkungsmacht des Vorstands auf das investierte Vermögen der Aktionäre beschränkt. Überdies könnten sich 39 Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 81 f. 40 Pfertner, Entscheidungen, S. 123 f. 41 Auf diese – vermeintliche – Diskrepanz weist auch von Falkenhausen NZG 2012, 644, 650 hin. 42 B. Peus, Haftung, S. 100 ff. 109

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diese der „Gewalt“ des Vorstands entziehen, indem sie ihre Anteile abstoßen würden. Da die Handlungsspielräume der Verwaltung im Gesetz angelegt sein müssten, während die Handlungsspielräume des Vorstands durch das Gesetz beschränkt seien, verbiete sich eine Übertragung der verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeiten auf das „unternehmerische Ermessen“ eines Geschäftsleiters.43 Der Grund für die ablehnende Haltung nach dem UMAG dürfte darin liegen, dass die Kodifizierung der Business Judgment Rule die Debatte kanalisiert hat. Das Gesellschaftsrecht hat mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einen neuen Orien­ tierungspunkt. Das verbandsrechtliche Schrifttum beschäftigt sich seit dem UMAG mit den Tatbestandsmerkmalen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und der Übertragbarkeit dieser Regelung auf andere Rechtsformen und Organe.44

III. Rolle der Verwaltungsgerichte 1. Voraussetzungen für einen Wertungstransfer Die vorstehend skizzierte Entwicklung – weg von dem intradisziplinären Ansatz und den verwaltungsrechtlichen Inspirationen, hin zur Auslegung und analogen Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – ist aus methodischen Gesichtspunkten verständlich. Schafft der Gesetzgeber eine aktienrechtliche Vorschrift, liegt es nahe, zunächst ihre Grenzen auszuloten und ihre Eignung als allgemeines Institut des Verbandsrechts unter Beweis zu stellen, statt sich einem fremden Rechtsgebiet zuzuwenden, dessen Wertungen und Strukturen mit dem eigenen Rechtsgebiet inkompatibel und dem Rechtsanwender überdies nicht immer vertraut sind. Das methodische Instrumentarium des Gesellschaftsrechts ist vielfältig und flexibel genug,45 um den deutungsoffenen Tatbestand des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG in unterschiedlichen Konstellationen aufzugreifen und die verbandsrechtliche Kontrolldogmatik losgelöst von verwaltungsrechtlichen Wertungen fortzuschreiben. Aus dieser Perspektive ist ein intradisziplinärer Ansatz überflüssig und muss deshalb nicht weiter verfolgt werden. Gleichwohl ist zu beachten, dass viele Probleme, die bei der Auslegung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auftreten, in einer vergleichbaren Form im Verwal43 S. Binder, Vorstandshaftung, S. 131. 44 Vgl. noch die umfassende Darstellung des Meinungsstands zur Übertragbarkeit des 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in § 12 II 1 (mit Nachw. in Fn. 13 bis 21), § 13 I (mit Nachw. in Fn. 7) und § 18 I 1 (mit Nachw. in Fn. 7 bis 12). 45 Ausf. dazu Mülbert AcP 214 (2014), 188, 203 ff. 110

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Rolle der Verwaltungsgerichte

tungsrecht bekannt sind und dort einer systematisch stimmigen Lösung zugeführt wurden. Daher soll im Folgenden die These auf den Prüfstand gestellt werden, dass das Verwaltungsrecht nach wie vor eine Erkenntnisquelle für das Gesellschaftsrecht sein kann. In § 1 I wurde bereits erläutert, dass die gesellschaftsrechtliche Diskussion im Hinblick auf die Festlegung der richterlichen Kontrolldichte und die Bestimmung der Ermessensgrenzen oft oberflächlich bleibt und mit unklaren Begriffen operiert. Ein Blick auf das Verwaltungsrecht kann neue Impulse setzen und dabei helfen, handhabbare Kriterien für die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte und der Ermessensgrenzen zu entwickeln. Doch bevor das Dickicht der verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik beleuchtet wird, soll der Frage nachgegangen werden, ob die Aufgaben eines Zivilrichters, der sich mit verbandsrechtlichen Streitigkeiten befasst, unter dem Gesichtspunkt der Prüfungsdichte mit den Aufgaben eines Verwaltungsrichters vergleichbar sind. Erfüllen Verwaltungsgerichte eine gänzlich andere Funktion als Zivilgerichte auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, ist ein intradisziplinärer Gedanken- und Wertungstransfer schwierig. Die rein begrifflichen Berührungspunkte, die in § 4 I angedeutet wurden, reichen alleine nicht aus, um die öffentlich-rechtlichen Entwicklungen als Bezugspunkt für die Bestimmung richterlicher Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht zu nutzen. Ist die Rolle der Rechtsprechung im Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht aber zumindest im Ansatz vergleichbar, kann es gelingen, die gesellschaftsrechtliche Dogmatik im Lichte verwaltungsrechtlicher Erkenntnisse fortzuentwickeln. 2. Individualrechtsschutz und Institutionenschutz durch Verwaltungsgerichte Will man zunächst die Aufgaben der Verwaltungsgerichte umschreiben, findet man den rechtlichen Ausgangspunkt in Art. 19 Abs. 4 GG. Dieses Verfahrensgrundrecht räumt dem Einzelnen bei einem Eingriff der öffentlichen Gewalt in eine rechtlich geschützte Position einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ein. Aus dieser verfassungsrechtlich untermauerten Garantie leiten die Rechtsprechung und herrschende Ansicht im Schrifttum den Grundsatz her, dass ein Verwaltungsgericht alle Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung auf ihre Rechtmäßigkeit vollständig überprüft.46 Damit werden die materi46 Statt vieler BVerfGE 61, 82, 111 = NJW 1982, 2173; BVerfGE 64, 261, 279 = NJW 1984, 33; BVerfGE 84, 34, 49 = NJW 1991, 2005; BVerfGE 84, 59, 77 = NJW 1991, 2008; BVerfGE 88, 40, 45 = NVwZ 1993, 666; BVerfGE 129, 1, 20 = NVwZ 2011, 1062; BVerwG DVBl 1993, 842; BVerwGE 94, 307, 309 = NVwZ 1995, 707; BVerwG NVwZ 111

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

ell-rechtlichen Grundrechte auf verfahrensrechtlicher Ebene flankiert.47 Dieser umfassende Schutz des Bürgers ist namentlich deshalb geboten, weil die Behörden selbst Vollstreckungstitel in Gestalt der Verwaltungsakte schaffen und auf dieser Grundlage in die Grundrechte eingreifen können. Vor diesem  Hintergrund führt jede Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle dazu, dass die grundrechtlich relevanten Positionen der Bürger abgeschwächt werden. Zügelt man die Judikative bei der Kontrolle der Exekutive, nimmt man in Kauf, dass die staatliche Gewalt die Grundrechte beeinträchtigt, ohne dass der betroffene Bürger durch eine unabhängige Instanz geschützt wird. Insoweit ist es konsequent, wenn die gerichtliche Prüfungsdichte im Verwaltungsrecht hoch ist. Die Bürger sind grundsätzlich dann vor staatlichen Maßnahmen wirksam geschützt, wenn eine hinreichende gerichtliche Kon­ trolle der Verwaltung gewährleistet ist.48 Die Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur einen effektiven Individualrechtsschutz, sondern sie hat mittelbar auch eine institutionelle Bedeutung. Sie hilft nämlich dabei, das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen der Legislative, Exekutive und Judikative zu verwirklichen.49 Nach der Lehre vom Wesentlichkeitsvorbehalt werden alle grundlegenden Entscheidungen durch den parlamentarischen Gesetzgeber auf einer abstrakt-generellen Ebene getroffen; die Verwaltung setzt diese Entscheidung im konkreten Einzelfall um.50 Innerhalb dieses Systems kommt den Verwaltungsgerichten die Aufgabe zu, die Rechtmäßigkeit des behördlichen Gesetzesvollzugs zu überwachen.51 Sie kontrollieren, ob sich die Exekutive im Rahmen ihres gesetzlich festgelegten Handlungsauftrags bewegt. Auch unter dem Gesichtspunkt des Institutionenschutzes ist es konsequent, dass der Verwaltung grundsätzlich keine diskretionären Spielräume zustehen, die gerichtlich nicht oder nur eingeschränkt überprüfbar sind.52 Freilich gilt dieser Grundsatz nicht absolut. Wie noch in § 5 zu zeigen 2004, 991, 993; BVerwGE 129, 27 Rn. 26 = NJW 2007, 2790; BVerwG N&R 2015, 173 Rn.  36; BVerwGE 153, 36 Rn.  15 = NVwZ 2016, 327; Dreier/Schulze-Fielitz GG Art. 19 IV Rn. 116. 47 Zur Verwaltungskontrolle als Individualrechtsschutz Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 59 ff. 48 Zum Eigenwert hoher gerichtlicher Kontrolldichte ausf. Gärditz, DJT-Gutachten, S. 63 ff. 49 Zu dieser Dimension anschaulich Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art.  19 Abs. 4 Rn. 180. 50 Statt vieler Grzeszick in Maunz/Dürig GG Art. 20 Rn. 97 ff.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 15 ff. 51 Ausf. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 58 ff. 52 Dieser Gedanke liegt auch der BVerfG-Rspr. zugrunde, s. nur BVerfGE 129, 1, 22 = NVwZ 2011, 1062. 112

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Zivilgerichte zwischen Privatautonomie und Materialisierung des Zivilrechts

sein wird, sind sich Rechtsprechung und Schrifttum darüber einig, dass die Kontrollintensität gelockert werden kann.53

IV. Zivilgerichte zwischen Privatautonomie und Materialisierung des Zivilrechts 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben Während die Aufgabe der Verwaltungsgerichte in erster Linie darin besteht, den Bürger vor staatlichen Eingriffen in dessen Rechtspositionen zu schützen, müssen die Zivilgerichte nach klassischem Verständnis  – jedenfalls im Vertragsrecht  – keinen Schutzschirm über die Privatrechtakteure aufspannen.54 Die in § 4 III 2 skizzierte Argumentation, wonach die hohe gerichtliche Kon­ trollintensität im öffentlichen Recht aus den Vorgaben des Art. 19 Abs. 4 GG resultiert, kann im Zivilrecht nicht aufgegriffen werden. Art.  19 Abs.  4 GG spricht von einer Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt, die im Zivilrecht, das von dem Bild der gleichberechtigten Privatrechtssubjekte geprägt ist, idealiter nicht auftreten kann. Auch wenn die Zivilgerichte ein Teil des Staatsapparats sind und durch fehlerhafte Entscheidungen in die Rechtspositionen der Privatrechtssubjekte eingreifen können, sind sie nach herrschender, wenn auch umstrittener Auffassung keine „öffentliche Gewalt“ im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG.55 Selbst wenn man sich auf den Standpunkt stellen sollte, dass zivilgerichtliche Entscheidungen in den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG fallen, kann auf dieser Grundlage lediglich eine verfassungsrechtliche ­Vorgabe für einen Instanzenzug entwickelt werden.56 Ein Argument für die Bestimmung der Intensität, mit der die Zivilgerichte die Entscheidungen der 53 Zum Zusammenhang zwischen dem Grundsatz der Gewaltenteilung und der richterlichen Kontrolldichte vgl. auch M. Redeker in K. Redeker/von Oertzen VwGO § 114 Rn. 1; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 16; Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 24; Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 120 f. 54 Zu den Unterschieden vgl. auch P. Huber, FS M. Schröder, S. 335, 338 f.; Maurer, FS Bethge, S. 535, 540. 55 BVerfGE 15, 275, 280 = NJW 1963, 803; BVerfGE 107, 395, 403 ff. = NJW 2003, 1924; BVerfGE 138, 33 Rn. 17 = NJW 2015, 610: Art. 19 Abs. 4 gewähre Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter. Vgl. ferner Jarass/Pieroth GG Art. 19 Rn. 45; Enders in BeckOK GG Art.  19 Rn.  57.  AA etwa P. Huber in v. Mangoldt/Klein/Strack GG Art. 19 Rn. 442; Maurer, FS Bethge, S. 353, 343 ff. Zur Diskussion Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 96 ff. 56 Dazu ausf. Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 255 ff. Dagegen aber etwa BVerfGE 107, 395, 402 = NJW 2003, 1924: „Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen nicht garantiert.“; s. auch P. Huber in v. Mangoldt/Klein/Strack GG Art. 19 Rn. 475.  113

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

Privatrechtssubjekte kontrollieren können, lässt sich daraus noch nicht herleiten.57 Dennoch macht das Verfassungsrecht Vorgaben für die Ausgestaltung des zivilrechtlichen Rechtsschutzes. Rechtsprechung und Schrifttum leiten aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und den einzelnen Grundrechten eine allgemeine Justizgewährungspflicht des Staates her, mit der ein über Art.  2 Abs.  1 GG begründeter Justizgewährungsanspruch des Bürgers korrespondiert.58 Danach muss der Staat den Zugang zu einem Gericht, eine vollständige gerichtliche Überprüfung des Streitgegenstandes und eine verbindliche richterliche Entscheidung gewährleisten.59 Der Grund für den allgemeinen Justizgewährungsanspruch liegt im Gewaltmonopol des Staates. Da es Privatpersonen verwehrt ist, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen,60 was plakativ als Selbsthilfeverbot und Friedenspflicht der Bürger umschrieben wird, muss der Staat für ausreichende Mechanismen sorgen, um rechtliche Streitigkeiten unter Privaten zu lösen.61 In diesem Kontext spielt die Zivilgerichtsbarkeit eine zentrale Rolle. Der Bürger kann im Rahmen des Zivilprozesses seine Interessen schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei ausdrücklich hervorgehoben, dass der Zivilrichter den Streitgegenstand umfassend in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu prüfen hat.62 Eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte führt also im Zivilrecht zur Beeinträchtigung des grundrechtlich relevanten Justizgewährungsanspruchs. Das Problem erhält dadurch eine verfassungsrechtliche Dimension, die bei der Frage nach der Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolldichte berücksichtigt werden muss.63

57 Weitergehend Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 122, die – auf Grundlage des Rechtsstaatsprinzips – die verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Gewährung von Rechtsschutz durch Verwaltungs- und Zivilgerichte für gleich hält. 58 Vgl. dazu Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 16; P. Huber, FS M. Schröder, S. 335, 339. Krit. aber Maurer, FS Bethge, S. 535, 536 f., der darauf hinweist, dass Art. 2 Abs. 1 GG ein Freiheitsgrundrecht sei, das nicht ohne weiteres zur Begründung eines Leistungsanspruchs herangezogen werden könne. 59 S. etwa BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39; BVerfGE 85, 337, 345 = NJW 1992, 1673; BVerfGE 97, 169, 185 = NJW 1998, 1475; BVerfGE 107, 395, 401 = NJW 2003, 1924. 60 Freilich mit Ausnahme der Selbsthilfetatbestände wie etwa § 229 BGB; hierzu monographisch etwa Beurskens, Selbsthilfe, S. 30 ff. 61 Vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 16. Zur historischen Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols Maurer, FS Bethge, S. 535, 537 f. 62 BVerfGE 54, 277, 291 = NJW 1981, 39. Siehe auch Maurer, FS Bethge, S. 535, 541. 63 Im aktienrechtlichen Kontext auf Art. 20 Abs. 3 GG abstellend V. Berger, Vorstandshaftung, S. 323. 114

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Zivilgerichte zwischen Privatautonomie und Materialisierung des Zivilrechts

Dieser Befund führt jedoch nicht dazu, dass der Zivilrichter ausnahmslos zur vollständigen Kontrolle zivilrechtlicher Beziehungen verpflichtet ist. Dies ergibt sich bereits aus Art. 2 Abs. 1 GG, der das Prinzip der Privatautonomie auf verfassungsrechtlicher Ebene festschreibt64 und dadurch die Dispositionsfreiheit der Bürger vor richterlichem Zugriff wahrt.65 Darüber hinaus obliegt es dem Gesetzgeber, die Ausgestaltung des zivilrechtlichen Rechtsschutzes einfachgesetzlich festzulegen. Die Art und Weise, in der der Gesetzgeber die staatliche Justizgewährungspflicht erfüllt, ist ihm nicht detailliert vorgeschrieben.66 Er muss aber die Vorgaben des BVerfG berücksichtigen, das einen wirkungsvollen Rechtsschutz verlangt, der nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf.67 Die Lockerung der Kontrollintensität kann aus einer materiell-rechtlichen oder prozessualen Norm durch Auslegung ermittelt werden.68 Ob eine solche Einschränkung verfassungsrechtlich zulässig ist, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern ist im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist zu beachten, dass Privatrechtssubjekte nicht in einem Subordinationsverhältnis stehen und es grundsätzlich in der Hand haben, ihre Interessen zu wahren. Damit dürfte die Begrenzung der richterlichen Kontrolldichte an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft werden als im öffentlichen Recht.69 2. Formelle Privatautonomie, Vertragsfreiheit und Richtigkeitsgewähr Eine wesentliche Einschränkung des zivilgerichtlichen Kontrollintensität, die verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden ist,70 resultiert aus einem zentralen zivilrechtlichen Grundsatz: der Privatautonomie. Die Privatrechtssubjekte dürfen selbstbestimmt entscheiden, ob und mit wem sie vertragliche Verbindungen eingehen und mit welchem Inhalt sie die Verträge füllen. Haben gleichberechtigte Personen ohne Willensmängel und Zwang ei64 Zur Herleitung der Privatautonomie aus Art. 2 Abs. 1 GG s. nur Jarass/Pieroth GG Art. 2 Rn. 22 ff. 65 Zur Bedeutung der Privatautonomie im Hinblick auf die richterliche Kontrolle s. noch in § 4 IV 2. 66 Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 17. Im gesellschaftsrechtlichen Kontext Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 123 ff. 67 Vgl. dazu BVerfGE 54, 277, 291  ff. = NJW 1981, 39; BVerfGE 85, 337, 345 = NJW 1992, 1673; BVerfGE 107, 395, 401 ff. = NJW 2003, 1924. 68 Ein ähnliches Argumentationsmuster begegnet im Verwaltungsrecht unter dem Stichwort der „normativen Ermächtigungslehre“, s. noch in § 5 II 1. 69 Zutr. Tischbirek JZ 2018, 421, 429. 70 Wie schon soeben in § 4 IV 1 festgestellt, wird die Privatautonomie auf verfassungsrechtlicher Ebene aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet. 115

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Richterliche Kontrolle im Verwaltungs- und Verbandsrecht

nen Vertrag abgeschlossen, hat die Rechtsordnung dies hinzunehmen; einer klassischen Lehre zufolge findet der Vertrag seine Rechtfertigung allein im Willen der Parteien.71 Will man die Vertragsgeltung nicht nur auf das (formelle) Argument der Willensübereinstimmung stützen, kann man im Anschluss an Walter Schmidt-Rimpler ergänzend auf den Gedanken der Richtigkeitsgewähr abstellen, um dem Vertrag eine inhaltliche Legitimationsgrundlage zu verleihen. Der Umstand, dass die Vertragsparteien den Vertragsinhalt frei ausgehandelt haben, lässt den Schluss darauf zu, dass das Verhandlungsergebnis sachlich richtig ist; anderenfalls hätten die Parteien den Geschäftsabschluss verweigert.72 Auch wenn der Begriff der Richtigkeitsgewähr nicht unumstritten ist – manche wollen von der Richtigkeitschance, der Richtigkeitsvermutung oder der Richtigkeitswahrscheinlichkeit sprechen73  – sticht doch ins Auge, dass das geltende Vertragsrecht nach wie vor vom prozeduralen Gerechtigkeitsdenken geprägt ist: Es gilt, worauf sich die Parteien privatautonom geeinigt haben.74 Der prozedurale Charakter des materiellen Privatrechts korreliert mit dem Verständnis des Zivilrichters und der gerichtlichen Kontrolldichte im Zivilrecht. Das Vertrauen in das Selbstbestimmungsrecht der Parteien führt dazu, dass der Vertragsinhalt nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Eine Korrektur des vertraglichen Pflichtenkanons durch die Gerichte ist im Regelfall unzulässig, auch wenn die Richter den Vertrag für inhaltlich unausgewogen halten. Vielmehr haben die Zivilgerichte die privatautonome Willensbetätigung der Vertragsparteien zu respektieren.75 Anders als im Verwaltungsrecht befinden sich die Privatrechtsakteure nicht in einem Subordinationsverhältnis, sondern sie stehen sich gleichberechtigt gegenüber und können ihre Inte71 S. nur Flume AcP 161 (1962), 52 ff.; in diese Richtung auch M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S.  31  ff.; Finkenauer, FS H.P. Westermann, S.  183, 206.  AA etwa Andreas Bergmann, Rechtsfolgen, S.  62: „Allein der Wille der Parteien bringt noch keine Rechtfertigung hervor. Der Vertrag bedarf der Anerkennung durch die Rechtsordnung“. Krit. auch Köndgen, Selbstbindung, S. 156 ff. 72 Schmidt-Rimpler AcP 147 (1941), 130 ff.; dem im Grundsatz folgend etwa Säcker in MüKoBGB Einl Band 1 Rn. 37 f.; Fastrich, Inhaltskontrolle, S. 51 ff.; Canaris AcP 200 (2000), 273, 284 f. Krit. zu diesem Begründungsansatz aber Flume, BGB AT II, S. 7 f.; Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 300 ff. 73 So die Vorschläge bei Canaris, iustitia distributiva, S.  49; Köndgen, Selbstbindung, S. 161; M. Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 73 f.; Fleischer/Bong NZG 2013, 881. 74 Zum prozeduralen Ansatz des Vertragsrechts ausf. Canaris, iustitia distributiva, S. 46 ff.; ders. AcP 200 (2000), 273, 282 ff. S. ferner Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 35 ff. 75 Deutlich Flume AcP 161 (1962), 52, 55  f. Im gesellschaftsrechtlichen Kontext etwa Hoerdemann, Ermessenslehre, S. 123 ff. 116

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ressen – damit auch die grundrechtlich abgesicherten Positionen – eigenverantwortlich wahrnehmen, so dass ihr Schutzbedürfnis geringer ist.76 Anders als eine Verwaltungsbehörde kann ein Privatrechtsakteur im Regelfall nicht einseitig über die Belange anderer disponieren. Ihm fehlt die Macht, sich selbst Vollstreckungstitel zu beschaffen. Vor diesem Hintergrund muss ein Zivilrichter die Bürger im Ausgangspunkt nicht voreinander schützen, sondern dem Vertragsinhalt zum Durchbruch verhelfen. Dieser Grundsatz hat zwar keinen ausdrücklichen Niederschlag im Gesetzestext gefunden, ist jedoch weitgehend anerkannt. Bereits in den Gesetzesmaterialien zum BGB haben die Entwurfsverfasser die Bedeutung der Privatautonomie für das Zivilrecht hervorgehoben.77 Mittelbar lässt sich der Gedanke dem §  307 Abs.  3 BGB entnehmen, wonach nur solche AGB-Klauseln einer Angemessenheitskontrolle unterliegen, die von Rechtsvorschriften abweichen oder diese ergänzen. Daraus zieht die ganz herrschende Auffassung den Schluss, dass Leistungs- und Preisbeschreibungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen kontrollfest sind und der gerichtlichen Angemessenheitsprüfung nicht unterliegen.78 Eine richterliche Kontrolle scheidet erst recht aus, wenn es sich nicht um eine vorformulierte Klausel handelt, sondern um einen individuell vereinbarten Vertragsbestandteil. Die Privatautonomie der Vertragsparteien genießt Vorrang vor den Vorstellungen der Richter. Die richterliche Kontrolltätigkeit beschränkt sich nach diesem Modell auf die Frage, ob die Parteien sich überhaupt geeinigt, ihren Willen fehlerfrei gebildet und im Rahmen des Vertragsschlusses die gesetzlichen Vorgaben eingehalten haben. Der Schwerpunkt der gerichtlichen Kontrolle liegt auf den prozeduralen Voraussetzungen des Vertragsschlusses.79 Die (formell verstandene) Privat­ autonomie tritt lediglich dort in den Hintergrund, wo das Gesetz zwingende 76 So im Ausgangspunkt zutreffend Grundmann/Möslein ZGR 2003, 317, 346 f. 77 S. Mugdan, Bd. 2, Einleitung (S. 2): „Vermöge des Prinzips der Vertragsfreiheit, von welchem das Recht des Schuldverhältnisse beherrscht wird, können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne abso­ lute Gesetzesvorschriften entgegenstehen“. Vgl. dazu auch Bork BGB AT Rn.  101: Privat­autonomie als Selbstverständlichkeit. S. ferner Sanders, Vertrag, S. 92. 78 Pointiert H. Schmidt in BeckOK BGB § 307 Rn. 71: Es sei nicht die Aufgabe der Inhaltskontrolle, den „gerechten Preis“ durch Angemessenheitsprüfung des von den Parteien definierten Austauschs von Leistung und Gegenleistung zu ermitteln. Vgl. ferner RegBegr AGB-Gesetz BT-Drucks. 7/3919, S. 22; Wurmnest in MüKoBGB § 307 Rn. 12 ff. 79 Dazu Canaris AcP 200 (2000), 273, 283 ff. Pointiert Andreas Bergmann, Rechtsfolgen, S. 2: prozedurale Vertragsgerechtigkeit. 117

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Anforderungen an den Vertragsschluss und Vertragsinhalt stellt, wie etwa bei den Normen über den Schutz nicht oder beschränkt geschäftsfähiger Personen, im Recht der Willensmängel oder bei unabdingbaren Formvorschriften. Im Rahmen dieser Grenzen genießen die Vertragsparteien einen Freiraum, den sie mit eigenen Vorstellungen ausfüllen dürfen. 3. Anknüpfungspunkte für richterliche Inhaltskontrolle im BGB a) Richterliche Inhaltskontrolle bei nachträglicher Leistungsbestimmung Dieses traditionelle Verständnis der Privatautonomie ist im 20.  Jahrhundert schrittweise erodiert.80 Das klare Bild des Zivilrechts als Instrument des Interessenausgleichs zwischen gleichberechtigten Rechtsverkehrsteilnehmern wird zunehmend verwässert, was sich konsequent auf das Verständnis des Zivilrichters auswirkt. Es hat sich die Erkenntnis verbreitet, dass privatrechtliche Verhältnisse häufig nicht ausschließlich unter Berufung auf die (formell verstandene) Privatautonomie hingenommen werden können, sondern in zahlreichen Fällen einer inhaltlichen Rechtfertigung bedürfen und einer materiellen Kontrolle durch den Richter unterliegen.81 Die Kontrolle kann an zwei Punkten ansetzen: Zum einen kann der Vertrag (an sich) als Ausdruck der privatautonomen Willensbetätigung kontrolliert werden (Vertragsinhaltkon­ trolle). Zum anderen kann die Ausübung der aus dem Vertrag fließenden Befugnisse kontrolliert werden (Vertragsausübungskontrolle).82 Freilich war der Gedanke der richterlichen Inhaltskontrolle dem Bürgerlichen Gesetzbuch schon in seiner Ursprungsfassung nicht gänzlich fremd. Seit jeher sehen § 315 Abs. 3 Satz 1, § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB vor, dass ein Gericht die vertraglichen Leistungspflichten kontrollieren darf, wenn die Pflichten nicht von vornherein im Vertrag festgelegt wurden, sondern erst nachträglich durch einen der Vertragspartner (§ 315 Abs. 1 BGB) oder gar durch einen Dritten 80 Zur Materialisierung des Zivilrechts ausf. Canaris AcP 200 (2000), 273, 295 ff. S. ferner den Überblick bei Sanders, Vertrag, S.  96  ff. Zu den historischen Wurzeln des Konzepts der materiellen Vertragsgerechtigkeit Andreas Bergmann, Rechtsfolgen, S.  3  ff.; hierzu auch ein aufschlussreicher Überblick bei Fastrich, Inhaltskontrolle, S. 44 ff. Zu den gegenläufigen Tendenzen hin zur Stärkung der Privatautonomie Coester-Waltjen JZ 2017, 1073, 1075 f. 81 Beispiele für BGB-Korrekturen durch die Gerichte bei Säcker in MüKoBGB Band 1 Einl Rn. 40 ff. 82 Zu dieser Differenzierung Busche in MüKoBGB Vor § 145 Rn. 25; Coester-Waltjen JZ 2017, 1073, 1076. 118

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(§ 317 BGB) bestimmt werden sollen. In einem solchen Fall soll die Leistungspflicht nach billigem Ermessen bestimmt werden. Entspricht die Bestimmung nicht der Billigkeit, wird die Leistungspflicht durch gerichtliches Urteil festgelegt. Damit reagieren §  315 Abs.  3 Satz  1, §  319 Abs.  1 Satz  2 BGB auf den Umstand, dass der Vertragsinhalt nicht zwischen den Parteien ausverhandelt wurde und sich deshalb nicht durch den Gedanken der privatautonomen Disposition rechtfertigen lässt.83 Kontrolliert ein Zivilgericht die Leistungsbestimmung am Maßstab der § 315 Abs. 3 Satz 1, § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB, übt es eine ähnliche Funktion aus wie ein Verwaltungsgericht: Es beschränkt die Macht einer Person, die einseitig über die Pflichten einer anderen Person bestimmen kann. b) Materialisierung durch Generalklausel Weitere Einfallstore für die richterliche Kontrolle, die schon im ursprünglichen BGB enthalten waren, sind namentlich die Generalklauseln in §  138 Abs. 1, § 242 BGB. Ein Verstoß gegen die guten Sitten führt zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts; missbräuchliches Verhalten hat zur Folge, dass eine formelle Rechtsposition aus einem Vertrag nicht durchgesetzt werden kann. Greift das Gericht auf eine der Generalklauseln zurück, erschöpft sich seine Tätigkeit nicht in einer schlichten Subsumtion des Sachverhalts unter die Tatbestandsvoraussetzungen, sondern die Anwendung der § 138 Abs. 1, § 242 BGB erfordert eine eigenständige Wertung, die den Vertragsinhalt oder die Art und Weise der Rechteausübung betrifft. Da die Generalklauseln unscharf formuliert sind und eine wertende Betrachtung durch das Gericht erfordern, können sie als Vehikel benutzt werden, mit dem die Gerechtigkeitsvorstellungen der Richter den privatautonomen Willensentschluss der Vertragsparteien überspielen. Nicht die prozeduralen Voraussetzungen des Vertragsschlusses entscheiden über die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts, sondern die Gerechtigkeitsvorstellungen des Gerichts.84 Besonders deutlich zeigt sich diese Akzentverschiebung am Beispiel des § 138 Abs. 1 BGB, der sich im Laufe der Zeit zum beliebten Instrument einer engeren richterlichen Kontrolle des Vertragsinhalts entwickelte, mit dem die Idee 83 Pointiert Würdinger in MüKoBGB § 315 Rn. 4: Der einseitigen Leistungsbestimmung fehle die Richtigkeitsgewähr des Vertrages. 84 Mit krit. Zungenschlag Flume AcP 161 (1962), 52, 53  f.: Der Richter werde „zum Herrn über das Rechtsgeschäft in dem Sinne, daß er nicht mehr die rechtsgeschäftliche Regelung im Richterspruch zur Geltung bringt, sondern sie seinen Wertungen unterwirft und damit an die Stelle der privatautonomen die richterliche Gestaltung der Rechtsverhältnisse setzt“. 119

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der materiellen Vertragsgerechtigkeit verwirklicht werden kann.85 So hat die Rechtsprechung schrittweise die Figur des wucherähnlichen Geschäfts geschaffen und ausdifferenziert, um die engen Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB zu umgehen. Nach § 138 Abs. 2 BGB ist ein Rechtsgeschäft nichtig, wenn (objektiv) ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt und eine Vertragspartei (subjektiv) eine Schwäche des Vertragspartners ausgenutzt hat.86 Während das objektive Kriterium meist festgestellt werden kann, ist der Umgang mit der subjektiven Seite des §  138 Abs.  2 BGB ­mühsam. Da der übervorteilte Vertragspartner in vielen Fällen nicht wird beweisen können, dass die andere Partei seine Unterlegenheit bewusst ausgenutzt hat, bleibt der Vertrag – nimmt man das Gesetz beim Wort und wendet man die allgemeinen Beweislastgrundsätze an – trotz eines auffälligen Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bestehen. Diese tatbestandlichen Schwächen des § 138 Abs. 2 BGB versucht die Rechtsprechung zu korrigieren, indem sie auf die Generalklausel zurückgreift und mit ungeschriebenen Vermutungstatbeständen arbeitet, um einem übervorteilten Vertragspartner zu helfen. Namentlich im Bereich des Verbraucherkreditrechts nimmt sie bei Zinsen, die doppelt so hoch sind wie der übliche Marktzins oder den Marktzins um 12% überstiegen, einen Verstoß gegen die guten Sitten an, um die Zinsabrede zu Fall zu bringen. Dabei stellt sie eine widerlegbare Vermutung auf, dass ein objektives Missverhältnis zwischen der Leistung (Darlehensgewährung) und Gegenleistung (Zinsen) auf eine missbräuchliche Ausnutzung der Zwangslage schließen lässt.87 c) Materialisierung durch AGB-Recht Zivilrechtliche Materialisierungstendenzen kommen schließlich in einer schrittweisen Einführung und Ausdifferenzierung des AGB-Rechts zum Ausdruck. Auch in diesem Zusammenhang spielt die richterliche Prüfungsdichte eine zentrale Rolle, wenn man bedenkt, dass die Ursprünge der AGB-Kontrolle nicht auf eine gesetzgeberische Entscheidung zurückgehen, sondern dass bereits das Reichsgericht und sodann der BGH im Wege einer offenen Inhaltskontrolle am Maßstab der § 138, § 242 BGB unbillige Geschäftsbedingungen 85 Überblick bei Coester-Waltjen JZ 2017, 1073, 1077.  Aus historischer Perspektive Andreas Bergmann, Rechtsfolgen, S. 32 ff. 86 Vgl. Armbrüster in MüKoBGB §  138 Rn.  143  ff. Zu dieser Entwicklung auch ­Finkenauer, FS H.P. Westermann, S. 183 ff. 87 Aus neuerer Zeit etwa BGH NJW-RR 2012, 416 Rn. 10 mwN. Vgl. ferner Armbrüster in MüKoBGB § 138 Rn. 119 f. Zur Übertragung auf das Kaufrecht (krit.) Finkenauer, FS H.P. Westermann, S. 183, 191 ff. 120

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verwarf.88 Erst in den 1970er Jahren schuf der Gesetzgeber mit dem AGB-Gesetz89 eine gesetzliche Grundlage für die AGB-Kontrolle, die er auf europäischen Anpassungsdruck änderte90 und schließlich 2002 in §§  305  ff. BGB überführte.91 Namentlich räumte er in § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB den Gerichten die Befugnis ein, eine Angemessenheitskontrolle der Geschäftsbedingungen durchzuführen, und schuf damit ein Instrument, das die gerichtliche Kontrolldichte erhöhte und das den Vorstellungen des historischen BGB-Gesetzgebers fremd war.92 Über den Hebel des AGB-Rechts können die Gerichte die privat­ autonom getroffenen Vertragsinhalte einer intensiveren Prüfung unterziehen. Die damit verbundene fortschreitende Materialisierung des Zivilrechts zeigt, dass es auch für die Zivilgerichte nicht unüblich ist, zu einer inhaltlichen Kontrolle privatrechtlicher Beziehungen zu schreiten, um auf diesem Wege die strukturell unterlegenen Vertragsparteien zu schützen.93 Aus einer solchen Perspektive erfüllen die Verwaltungs- und Zivilgerichte eine ähnliche Funktion – auch wenn die Unterschiede zwischen den Rechtsgebieten freilich weiterhin berücksichtigt werden müssen.

V. Verbandsrechtliche Konfliktlagen 1. Verband als lebender Organismus Der Befund, dass einige Berührungspunkte zwischen dem Rechtsschutzsystem im Verwaltungs- und Zivilrecht bestehen, wird bekräftigt, wenn man das Gebiet des allgemeinen Privatrechts verlässt und sich dem Gesellschaftsrecht 88 Zur Rspr.-Entwicklung vgl. Basedow in MüKoBGB Vor § 305 Rn. 11 f. 89 Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen v. 9.12.1976, BGBl. I, S. 3317. 90 Vgl. die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95/29) und Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung v. 19.7.1996, BGBl. I, S. 1013. 91 S. Art. 1 Nr. 12 (Einführung der §§ 305 ff. BGB) und Art. 6 Nr. 4 (Außerkrafttreten des AGBG) des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26.11.2001, BGBl. I, S. 3138. 92 Zum Zusammenhang zwischen AGB-Recht und Materialisierung vgl. etwa Canaris AcP 200 (2000), 273, 320 ff.; Coester-Waltjen JZ 2017, 1073, 1077 f. 93 Ähnliche Materialisierungstendenzen sind im Gesellschaftsrecht im Kontext der Kon­ trolle von Gesellschafterbeschlüssen in Kapitalgesellschaften zu beobachten. Während das RG (und ursprünglich auch der BGH) zu einer rein formellen Beschlusskontrolle tendierte, ging der BGH seit den 1970er Jahren zu einer materiellen Beschlusskon­ trolle am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht und des Grundsatzes sachlicher Rechtfertigung über; s. dazu noch ausf. in § 17 II. 121

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zuwendet. Der Ausgangspunkt bei der Untersuchung des richterlichen Kon­ trollauftrags ist im Gesellschaftsrecht wie im Zivilrecht gleich: Es gilt das in § 4 IV 2 skizzierte Verhältnis zwischen der Privatautonomie der Gesellschafter und der richterlichen Kontrolle.94 Gründen zwei oder mehrere Personen eine Gesellschaft, schließen sie einen Vertrag, der auf einem privatautonomen Willensentschluss beruht. Die Rechtsformwahl und die Festlegung des Vertragsinhalts95 sind mit der herkömmlichen Situation im Zivilrecht vergleichbar. In dieser Phase geht es wie bei sonstigen Vertragstypen um die Ausübung der Privatautonomie.96 Dies gilt auch für den Beitritt zu einer bestehenden Gesellschaft, der – unabhängig von der rechtstechnischen Abwicklung – auf einem privatautonomen Willensentschluss beruht. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass die Parallelen zwischen dem allgemeinen Zivilrecht und dem Verbandsrecht nur teilweise bestehen, weil ein Gesellschaftsverhältnis anders strukturiert ist als ein herkömmliches zivilrechtliches Rechtsverhältnis, das allein auf den (punktuellen oder langfristigen) Austausch von Gütern oder Dienstleistungen in einer Zwei-Personen-Beziehung ausgerichtet ist. Mit dem Abschluss des Gesellschaftsvertrags schaffen die Gesellschafter eine neue rechtliche Einheit, die  – zumindest wenn sie keine reine Innengesellschaft ist  – als solche am Rechtsverkehr teilnimmt. Dies tritt bei juristischen Personen besonders deutlich zutage, weil sie qua Gesetzes mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet und von ihren Mitgliedern zu trennen sind (vgl. §§ 21, 22 BGB, § 1 Abs. 1 AktG, § 13 Abs. 1, 2 GmbHG). Aber auch Gesamthandsgemeinschaften können inzwischen als Einheiten angesehen werden, die neben ihren Gesellschaftern tätig sind. Für Personenhandelsge­ sellschaften folgt dies aus § 124 Abs. 1, § 161 Abs. 3 HGB. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts war zwar nach der Konzeption des historischen Gesetzgebers ein bloßes Schuldverhältnis mit einem Gesamthandsvermögen,97 doch ist dieses Verständnis spätestens seit dem „Weißes Ross“-Urteil des BGH aus dem Jahr 200198 überwunden: Nachdem der II. Zivilsenat die beschränkte Rechtsfähigkeit der Außen-GbR anerkannt hat, ist sie als eine Organisation zu verstehen, die neben ihren Gesellschaftern am Rechtsverkehr teilnimmt.99 94 Zur Privatautonomie im Gesellschaftsrecht statt vieler Hey, Gestaltung, S. 1 ff. 95 Soweit den Gesellschaftern dabei ein Spielraum verbleibt, was namentlich im Aktienrecht im Hinblick auf den in § 23 Abs. 5 AktG verankerten Grundsatz der Satzungsstrenge nicht selbstverständlich ist. 96 Dies betont etwa Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 117. Zu den Unterschieden s. aber noch § 4 V 5 b. 97 Zur Entwicklung der Diskussion statt vieler C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 296 ff. 98 BGHZ 146, 341, 344 ff. = NJW 2001, 1056. 99 Statt vieler C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 301 ff. 122

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Die Gesellschafter einer Außengesellschaft müssen eine Organisation schaffen, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist und mit Dritten in Berührung kommt. Während der gesamten Vertragsdauer führt die Gesellschaft ein Innenleben und ist Einflüssen von außen ausgesetzt. Ihre Gesellschafter müssen sich dabei nicht zwingend darüber einig sein, in welche Richtung sich die Organisation entwickeln soll. Vielmehr kann das dauerhafte Miteinander der Gesellschafter zu internen Spannungen führen, die eine Änderung der Organisationsstruktur und der internen Regeln erforderlich machen können. Auch der Druck der Außenwelt – so etwa veränderte Rechts- oder Wettbewerbsbedingungen oder technologische Entwicklungen  – können solche Anpassungen notwendig machen. Anne Sanders umschreibt diese Situation treffend als „statischer Vertrag und dynamische Vertragsbeziehung“.100 2. Verselbständigung der Geschäftsleitung – Leitungsautonomie Die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Austausch- und Gesellschaftsverträgen werden durch rechtliche Besonderheiten verstärkt: In zahlreichen Gesellschaften sind nicht alle Gesellschafter für die Leitung zuständig, sondern die Führung der Geschäfte obliegt einzelnen Gesellschaftern oder verbandsfremden Personen. Die Trennung zwischen Mitgliedschaft und Leitung ist im Aktienrecht besonders deutlich. Hier verlieren die Aktionäre im Regelfall den Einfluss auf das Verhalten der Gesellschaft im Rechtsverkehr; die eigenverantwortliche Leitung obliegt nach § 76 Abs. 1 AktG dem Vorstand, der gem. § 77 Abs. 1 AktG zur Geschäftsführung und gem. § 78 Abs. 1 AktG zur Vertretung berufen ist.101 Auch in einer GmbH kann eine solche Situation entstehen. Der Geschäftsführer ist zwar als Leitungsorgan nicht im gleichen Maße unabhängig wie der Vorstand, weil er nach dem gesetzlichen Leitbild den Weisungen der Gesellschafterversammlung unterworfen ist (§ 37 Abs. 1 GmbHG), doch kann sich aus der Satzung ergeben, dass er eigenverantwortlich agieren darf.102 Auch in Personengesellschaften ist es denkbar, dass die Geschäftsführung in die Hände 100 So der Titel ihrer Dissertation. 101 Ausnahmen sind im Vertragskonzern möglich, wenn das herrschende Unternehmen nach § 308 AktG der abhängigen AG Weisungen erteilen darf. Auch bleibt die Möglichkeit des faktischen Einflusses in den Grenzen der §§ 117, 311 ff. AktG weiterhin möglich. 102 Roth/Altmeppen GmbHG §  37 Rn.  14.  Zu den Besonderheiten bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer, der mit einem Sonderrecht zur Geschäftsführung ausgestattet ist, vgl. Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 116. 123

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ausgewählter Gesellschafter gelegt wird (vgl. § 710 Satz 1 BGB, § 114 Abs. 2 HGB),103 was die Praxis von Publikumsgesellschaften beherrscht.104 Damit können Geschäftsleiter Entscheidungen treffen, die den Vorstellungen der Gesellschafter widersprechen. Diejenigen Gesellschafter, die nicht an der Geschäftsführung beteiligt sind, können ihre Ideen über den Einsatz der Mittel, die im Gesellschaftsvermögen gebunden sind, nicht privatautonom verwirklichen. Dadurch entsteht im Gesellschaftsrecht ein Spannungsverhältnis, das für das sonstige Zivilrecht unüblich ist. Der Verband verselbständigt sich und bildet seinen Willen unabhängig vom Willen der Einzelmitglieder. Die gesetzlich oder vertraglich begründete Leitungsautonomie der Geschäftsleiter kann mit der Privatautonomie der Anteilseigner kollidieren. 3. Beschlüsse als Mittel der Willensbildung im Verband Eine weitere Besonderheit des Gesellschaftsrechts gegenüber dem allgemeinen Zivilrecht ist die Art und Weise der Willensbildung durch die Gesellschafter. Sind nicht die Geschäftsleiter für eine Maßnahme zuständig, sondern obliegt die Entscheidung den Gesellschaftern, müssen diese einen Beschluss fassen.105 Auch in der Beschlusssituation wird deutlich, dass die dem Zivilrecht zugrunde liegende Vorstellung von privatautonomen Willensentschlüssen im Verbandsrecht nur eingeschränkt Gültigkeit beansprucht. Sind sich die Gesellschafter über eine Entscheidung nicht einig, wird der Wille mindestens eines Gesellschafters ignoriert.106 Dies gilt unabhängig davon, welches Mehrheitserfordernis für den konkreten Beschluss gilt – also die einfache oder qualifizierte Mehrheit oder gar das Einstimmigkeitsprinzip – und ob die Gesellschafter einen positiven oder negativen Beschluss107 gefasst haben.108 Gilt das Mehrheitsprinzip, das dem gesetzlichen Regelfall im Recht der Körperschaften entspricht (§ 32 Abs. 1 Satz 3 BGB, § 133 Abs. 1 AktG, § 47 Abs. 1 GmbHG) und das im Gesellschaftsvertrag einer Personengesellschaften ver103 Zur BGB-Gesellschaft vgl. C. Schäfer in MüKoBGB §  710 Rn.  2  ff.; zur OHG ­Drescher in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn HGB § 114 Rn. 12 ff. 104 Besonders deutlich ist dies in der Publikums-KG, s. etwa Henze/Notz in EBJS HGB § 177 Anh. B Rn. 132 ff. 105 Freilich ist der Beschluss auch in einem mehrköpfigen Geschäftsleitungsorgan das Instrument der Willensbildung, s. schon in § 2 V 2 c. 106 Auch im Zusammenhang mit den Gesellschafterbeschlüssen kann eine gedankliche Parallele zu §§ 315 ff. BGB gezogen werden: 107 Zu dieser Unterscheidung vgl. bereits unter § 2 V 2 a. 108 Dazu anschaulich Leenen, FS Larenz II, S. 371, 382 f. 124

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ankert werden kann,109 muss die Minderheit das Votum der Mehrheit grundsätzlich als den geltenden Verbandswillen akzeptieren, auch wenn der Beschlussinhalt nicht ihren Vorstellungen entspricht. Im Schrifttum wird diese Folge des Mehrheitsprinzips zum Teil als eine Einschränkung der Privatautonomie verstanden: Die Bindung an die Kollektiventscheidung sei immer auch Aufgabe der Privatautonomie.110 Daran wird deutlich, dass die Argumentationsmuster des allgemeinen Zivilrechts im Verhältnis zwischen den Gesellschaftern nicht ohne weiteres herangezogen werden können, um die Begrenzung der richterlichen Kontrolle zu rechtfertigen. Die individuelle Privatautonomie der einzelnen Gesellschafter muss sich der Mehrheitsmacht beugen.111 Kann ein Beschluss nur mit einer qualifizierten Mehrheit oder einstimmig112 gefasst werden, stellt sich das Problem mit umgekehrten Vorzeichen.113 Erreicht ein Antrag nicht die erforderliche Stimmenzahl, können Gesellschafter mit Sperrminorität verhindern, dass der privatautonom gebildete Wille der (einfachen) Mehrheit zum Verbandswillen wird. Unter Geltung des Einstimmigkeitsprinzips kann ein einzelner Gesellschafter die Willensbildung unterbinden. Die Minderheit oder ein Einzelmitglied verfügen also über eine Machtposition: Die Mehrheit muss sich ihrem Willen beugen; die Privatautonomie der Mehrheit wird eingeschränkt. 4. Ökonomische Umschreibung gesellschaftsrechtlicher Machtungleichgewichte Die vorstehenden Überlegungen sollen gezeigt haben, dass die Beziehungen innerhalb eines Verbands für Abhängigkeitslagen anfällig sind. Schon aus diesem Grund lässt sich das Idealbild des Zivilrechts, das auf der Privatautonomie 109 Für die GbR folgt dies aus § 709 Abs. 2 BGB, für die OHG und KG aus § 119 Abs. 2 HGB. Zu den Einschränkungen der Mehrheitsmacht im Personengesellschaftsrecht vgl. noch in § 17 III. 110 So Weipert in MHdB GesR II § 14 Rn. 35. 111 Zu den begrenzten Möglichkeiten, das Problem auf kautelarjuristischem Wege zu lösen, s. § 4 V 5 b. Zur eingeschränkten Richtigkeitsgewähr der Mehrheitsentscheidung s. nur Fastrich, Rechtsdenken, S. 20; Immenga, FS GmbHG, S. 189, 206 f. 112 Dies ist gem. § 709 Abs. 1 BGB, § 119 Abs. 1 HGB der gesetzliche Regelfall im Personengesellschaftsrecht. Im Recht der Körperschaften kann das Einstimmigkeitsprinzip in der Satzung verankert werden, vgl. für die GmbH Drescher in MüKoGmbHG § 47 Rn. 50; für die AG Hüffer/J. Koch AktG § 133 Rn. 15. 113 Treffend Klöhn AcP 216 (2016), 281, 299: „Das Einstimmigkeitsprinzip eliminiert also die Gefahr des Mehrheits-Opportunismus (majority opportunitism), schafft jedoch das Risiko des Minderheits-Opportunismus (minority opportunitism).“ S. ferner Böttcher in BeckOGK HGB § 119 Rn. 4. 125

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und Gleichberechtigung der Akteure basiert, nicht ohne weiteres auf das ­Gesellschaftsrecht übertragen. Der Gesellschafter gibt die Macht, über seine (Vermögens)Interessen selbständig zu bestimmen, zum Teil aus der Hand und ordnet sich dem Willen der Leitungsorgane oder der anderen Gesellschafter unter. Dieser Befund kann aus einem ökonomischen Blickwinkel als eine Ausprägung der Prinzipal-Agent-Theorie verstanden werden.114 Diese Theorie beschäftigt sich mit vertraglichen Beziehungen, in denen eine Partei (der Prinzipal) die andere Partei (den Agenten) mit Erledigung von Aufgaben betraut.115 Dabei erhofft sich der Prinzipal, dass der Agent aufgrund besonderer Sachkunde die Aufgabe besser meistern wird als er selbst. Um dieses Ziel zu erreichen, räumt er dem Agenten einen Entscheidungsspielraum ein. Außerdem nimmt er regelmäßig in Kauf, dass der Agent ihm gegenüber einen Informationsvorsprung hat. Diese Rahmenbedingungen ziehen für den Prinzipal im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und während der Vertragsdurchführung Gefahren nach sich. Ist die Gruppe der potentiellen Agenten groß, weiß der Prinzipal aufgrund der Informationsasymmetrie nicht, mit welchem Agent er die vertragliche Beziehung eingehen soll, weil er dessen Kompetenzen nicht zuverlässig einschätzen kann. Selbst wenn er einen sachkundigen Agenten auswählt, muss er damit rechnen, dass sich der Agent opportunistisch verhält (sog. moral hazard).116 Das Agency-Modell tritt am deutlichsten am Beispiel der Verwaltungskontrolle zutage.117 Die Gesellschafter wollen als Unternehmensinhaber das Unternehmen nicht selbst führen, sondern setzten die Verwaltungsorgane ein, die sich um die Angelegenheiten des Verbands kümmern. Sie statten die Geschäftsleiter118 mit Leitungsmacht aus, um ihnen eine selbständige Führung des Unternehmens zu ermöglichen. Dies ruft die Gefahr eines moral hazard 114 Zum Folgenden vgl. etwa die ausf. Umschreibungen bei A. Arnold, Steuerung, S. 13 ff.; Kumpan, Interessenkonflikt, S. 59 ff.; Meyer, Vorstandsvergütung, S. 42 ff.; Richter/Furubotn, Institutionenökonomik, S. 173 ff.; Schmolke in Towfigh/Petersen Rn. 304 ff.; Fleischer ZGR 2001, 1, 7 f.; Kuhner zfwu 2005, 138, 142 f. 115 Freilich begegnet das Prinzipal-Agent-Problem nicht nur im gesellschaftsrechtlichen Gewand, sondern kann sich immer dann zeigen, wenn eine Vertragspartei einen Informationsvorsprung hat und eine vollständige Kontrolle durch die andere Partei unmöglich oder unzweckmäßig ist, so etwa bei Geschäftsbesorgungs- (Fleischer ZGR 2001, 1, 7; Schmolke in Towfigh/Petersen Rn. 304) oder Kaufverträgen (s. das plastische Beispiel bei Schmolke aaO Rn. 274 f.). 116 Speziell zum moral hazard Schmolke in Towfigh/Petersen Rn. 302 f. 117 Zur Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Mitgliederkontrolle s. bereits § 2 II 1. 118 Zur Unterscheidung innerhalb der Verwaltungsorgane § 2 II 2. 126

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hervor. Die Geschäftsleiter haben in der Regel einen Informationsvorsprung und können Entscheidungen treffen, die zwar dem Interesse der Gesellschafter nicht entsprechen, jedoch ihre eigene Position verbessern. Da die Inhaberschaft und Leitung auseinanderfallen, was Agency-Konflikte provoziert, ist es aus einer ökonomischen Perspektive erforderlich, dass die Gesellschafter über Instrumente verfügen, mit denen sie das Verhalten der Geschäftsleiter beeinflussen können. Hierzu gehören etwa Informationsrechte der Gesellschafter, die die Informationsasymmetrie beseitigen sollen,119 oder Vergütungsregelungen, die optimale Anreize für die Geschäftsleiter schaffen können, damit sich diese nicht opportunistisch verhalten.120 Ein anderes Instrument, das opportunistisches Verhalten der Geschäftsleiter begrenzen kann, ist die gerichtliche Kontrolle. Entscheidet ein Gericht einen Schadensersatz- oder Abberufungsprozess, fällt er inzident ein Urteil über die Qualität der Geschäftsleitermaßnahmen.121 Die Instrumente zur Einschränkung des moral-hazard-Risikos sind auch dann nicht entbehrlich, wenn die Gesellschafter ein Aufsichtsorgan installieren, das die Geschäftsleiter überwacht. In einem solchen Fall wird das Prinzipal-­AgentProblem nicht gelöst, sondern auf eine weitere Ebene verlagert.122 Zum einen haben die Geschäftsleiter auch gegenüber dem Aufsichtsorgan einen Informationsvorsprung,123 zum anderen können die Gesellschafter – insbesondere in großen Verbänden ohne einen Ankergesellschafter – die Mitglieder der Aufsichtsorgane nicht vollständig kontrollieren.124 Auch diese können also zum moral hazard tendieren: Zwar soll ein Aufsichtsorgan im Interesse der Gesell119 Dazu gehören etwa § 130 AktG, § 51a GmbHG oder §§ 118, 166 HGB. 120 So insb. im Aktienrecht § 87 Abs. 1 AktG, der besondere Anforderungen an die Angemessenheit der Vorstandsvergütung aufstellt. Vgl. hierzu A. Arnold, Steuerung, S. 115 ff.; Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 20 ff.; Meyer, Vorstandsvergütung, S. 56, 68 ff.; Schmolke in Towfigh/Petersen Rn. 309, 311; Fleischer ZGR 2001, 1, 9. Zurückhaltend aber Thüsing ZGR 2003, 457, 475 ff. Zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte im Kontext des § 87 Abs. 1 AktG s. noch § 15 I 2 b. 121 Dazu der Überblick in § 2 IV. 122 Treffend Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 30: doppelstöckiges Prinzipal-­ Agent-Problem. Vgl. ferner A. Arnold, Steuerung, S.  75; Drygala/Staake/Szalai KapGesR § 21 Rn. 6 f.; G.H. Roth/Wörle ZGR 2004, 565, 566. 123 Allerdings ist zu konzedieren, dass die Aufsichtsorgane in der Regel bessere Informationsmöglichkeiten haben, wie ein Vergleich zwischen dem Auskunftsrecht der Aktionäre (§ 131 AktG) und den Informations- und Einsichtsrechten des AR (§§ 90, 111 Abs. 2 AktG) zeigt. 124 Schon die Wahl der AR-Mitglieder zeigt die begrenzten Möglichkeiten der Aktionäre: Formell werden die Kontrolleure auf Vorschlag des AR durch die HV gewählt. In der Praxis wird allerdings beobachtet, dass der Vorstand zumindest die Vorauswahl 127

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schafter auf opportunistisches Verhalten der Geschäftsleiter reagieren, jedoch zeigt namentlich die aktienrechtliche Diskussion, dass die Verwaltungsorgane dazu neigen, mehr auf die Eintracht im Unternehmen zu achten als auf funktionierende Governance-Strukturen. Vor diesem Hintergrund ist die gerichtliche Kontrolle auch in diesem Zusammenhang ein Instrument, um opportunistisches Verhalten der Aufsichtsorgane zu beschränken. Nichts anderes gilt für die Beziehungen zwischen den Gesellschaftern. Auch in diesem Kontext können Agency-Probleme zutage treten. Geht es um die Beschlussfassung, stehen die Gesellschafter formell auf einer Ebene und wirken zusammen, um den Gesellschaftszweck zu erreichen. Ein klassisches Auftragsverhältnis besteht nicht, so dass Gefahren, die typischerweise mit Informations­ asymmetrien und Entscheidungsspielräumen des Agenten einhergehen, nicht bewältigt werden müssen. Betrachtet man aber die Beschlusssituation näher, wird deutlich, dass auch hier manche Agency-Probleme auftreten können. Dies lässt sich am einfachen Beispiel einer Gesellschaft verdeutlichen, die aus zwei Gesellschaftern besteht, die 60% und 40% der Anteile halten und die Beschlüsse mit einer einfachen Kapitalmehrheit fassen. Der Mehrheitsgesellschafter kann die Entscheidungen alleine treffen. Der Minderheitsgesellschafter hat sein Kapital in der Gesellschaft gebunden und kann darüber wegen der konkreten Gesellschaftsstruktur nicht mehr bestimmen. Er hat seine Mittel in die Hände des Mehrheitsgesellschafters gelegt, der über die Mittelverwendung entscheiden kann. Aus dieser Perspektive ist der Minderheitsgesellschafter der Prinzipal, der Mehrheitsgesellschafter sein Agent. Dabei kann sich der Mehrheitsgesellschafter im Rahmen der Beschlussfassung opportunistisch verhalten, so dass der Minderheitsgesellschafter der Gefahr des moral hazard ausgesetzt ist.125 Die Erkenntnisse des Agency-Models lassen sich auf die Beschlusssituation auch dann übertragen, wenn die Gesellschafterstruktur komplizierter ist, etwa wenn kein Gesellschafter allein eine stabile Mehrheit hat, sondern die jeweiligen Stimmverhältnisse vom konkreten Beschlussgegenstand abweichen können. In einer solchen Konstellation können die Gesellschafter, die beim jeweiligen Beschluss die Mehrheit bilden, in ihrer Gesamtheit als Agenten angesehen werden, die über das Kapital der Minderheit (Prinzipal) entscheiden. Auch hier besteht die Gefahr, dass die Mehrheit ihren Entscheidungsspielraum opportunistisch ausnutzt und die Minderheit diesem Verhalten ausgesetzt ist. der Kandidaten beeinflusst, s. Lutter ZHR 159 (1995), 287, 301; G.H. Roth/Wörle ZGR 2004, 565, 578 ff.; Ulmer AcP 202 (2002), 143, 161.  125 Vgl. Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 276; Kraakman u.a., Anatomy, S. 36. Am Beispiel der Gewinnverwendung auch Strothotte, Gewinnverwendung, S. 163 ff. 128

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Umgekehrt kann die Minderheit, die über Sperrminorität verfügt oder mit Vetorechten ausgestattet ist, aus ökonomischer Perspektive ein Agent der Mehrheit sein. In diesem Fall ist die Mehrheit dem Risiko des moral hazard ausgesetzt, wenn die Minderheit die Beschlussfassung blockiert.126 Die richterliche Kontrolle kann also auch in Bezug auf Gesellschafter dazu führen, dass die Agency-Probleme zwischen den Gesellschaftern zumindest gemildert werden.127 5. Gesellschaftsvertrag als Instrument der Machtbegrenzung? a) Gesellschaftsvertrag in einer idealen Welt Das in § 4 V 2 bis 4 dargestellte Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Gesellschafter einerseits und der machtvollen Position der Verbandsleitung sowie der anderen Gesellschafter andererseits kann theoretisch mit einem Verweis auf den Gesellschaftsvertrag aufgelöst werden. Es liegt in der Hand der künftigen Gesellschafter, die Rechtsform des Verbands auszuwählen und den Inhalt des Gesellschaftsvertrags – etwa die Regelungen über die Verteilung der Geschäftsführungsbefugnis, die Gewinnverwendung oder die Vo­ raussetzungen sowie Folgen des Austritts aus der Gesellschaft – festzulegen.128 Sind sich die Gesellschafter über diese Punkte nicht einig, können sie vom Vertragsschluss Abstand nehmen. Diese Überlegungen gelten auch für den Beitritt. Tritt eine Person einer Gesellschaft bei, die über ein starkes Geschäftsleitungsorgan verfügt, ist sie sich darüber im Klaren, dass ihre Ideen von der künftigen Tätigkeit und Ausrichtung des Verbands nicht immer Realität werden können. Auch kann sie sich über das in der Gesellschaft geltende Beschlussverfahren informieren. Entspricht die Ausgestaltung des Verbands nicht den Vorstellungen des (potentiellen) Gesellschafters, kann dieser darauf hinwirken, dass die Organisationsverfassung in gesetzlich zugelassenen Grenzen angepasst wird, etwa indem die 126 Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 276; Kraakman u.a., Anatomy, S. 36; Klöhn AcP 216 (2016), 281, 299. 127 So im Grunde auch Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 285 ff. (ohne explizit auf das Agency-Problem einzugehen). In geschlossenen Gesellschaften ist dieses Pro­ blem besonders virulent, weil die Austrittsmöglichkeiten der Anteilseigner eingeschränkt sind, vgl. im Einzelnen Fleischer ZHR 179 (2015), 404, 431 ff., 439. 128 Die Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter betonend Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 112 ff. Von diesen Annahmen ließ sich wohl die ältere Rspr. leiten, als sie im Personengesellschaftsrecht den Bestimmtheitsgrundsatz entwickelte: Die Gesellschafter sollten bereits beim Vertragsschluss festlegen, welche außergewöhnlichen Maßnahmen einer Mehrheitsklausel unterliegen; s. dazu noch § 17 III 1. 129

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Leitungsmacht des Geschäftsleitungsorgans begrenzt, die Verwaltungsorgane durch Vergütungsanreize zu einem fremdnützigen Verhalten bewegt oder In­ strumente zum Schutz der Minderheit vertraglich verankert werden.129 Gelingt dies nicht, kann er vom Beitritt Abstand nehmen: Niemand ist gezwungen, das eigene Geld in die Hände eines unabhängigen Managers zu legen, der sich nur begrenzt kontrollieren lässt. Niemand ist gezwungen, einer Gesellschaft beizutreten, in der das Mehrheitsprinzip herrscht, so dass im Konfliktfall die Minderheit das Nachsehen hat. Beteiligt sich eine Person an einer Gesellschaft, akzeptiert sie die Ausgestaltung der konkreten Organisationsverfassung. Etwaige Einschränkungen der Privatautonomie, die ein Gesellschafter künftig hinnehmen muss, beruhen ihrerseits auf einem privatautonomen Willensentschluss. Diese theoretischen Überlegungen deuten darauf hin, dass die gerichtliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht nach denselben Maßstäben bestimmt werden kann wie die Prüfungsintensität im allgemeinen Zivilrecht. Wenn die Gesellschafter es in der Hand haben, die Organisationsverfassung ihrer Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen oder dem Verband fernzubleiben, kann der Gedanke der Richtigkeitsgewähr130 auch hier fruchtbar gemacht werden. Haben sich die Gesellschafter auf eine Rechtsform und einen bestimmten Vertragsinhalt eingelassen, muss ein Gericht diese Entscheidung hinnehmen und darf nicht korrigierend eingreifen, auch wenn es die vertraglich festgelegten Schutzmechanismen nicht für optimal hält. Da die Gesellschafter ihre Interessen selbst wahren können, bedürfen sie keines flankierenden staatlichen Schutzes, der über das zivilrechtliche Niveau hinausgeht.131 Dieser Befund dürfte dem idealtypischen Bild der klassischen Ökonomie entsprechen, wonach sich Gesellschafter – wie sonstige Menschen auch – rational verhalten. Zahlreichen klassisch-ökonomischen Modellen liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen über alle Informationen verfügen, die sie für den Abschluss des Vertrags und die inhaltliche Ausgestaltung ihrer Beziehungen benötigen, und stabile Präferenzen haben, die sie durch ein in sich stimmiges Verhalten verfolgen.132 Folgt man diesem Modell, besteht kein Anlass, von der zivilrechtlichen Dogmatik abzuweichen und das Verwaltungsrecht als Orien129 Zur GmbH vgl. Cziupka, GS Unberath, S. 51, 53. Freilich ist die Möglichkeit einer vertraglich begründeten Minderheitsmacht bei einer AG wegen des Grundsatzes der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) eingeschränkt. 130 Nachw. in Fn. 72 und 73. 131 Dies dürfte dem Ansatz von Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 476 ff. entsprechen. 132 Zum Bild des homo oeconomicus aus dem juristischen Schrifttum etwa Schmolke, Selbstbindung S. 107 ff. 130

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tierungspunkt zu wählen. Die Gesellschafter haben es grundsätzlich in der Hand, auf potentielle Konflikte im Vorfeld zu reagieren und präventive Vertragsregelungen zu schaffen, die als Instrumente der Konfliktlösung in der Zukunft zur Verfügung stehen. Wenn sie als rational handelnde Akteure keine vertraglichen Instrumente vorgesehen haben, die konkrete Probleme lösen, ist dies hinzunehmen, ohne dass ein Gericht korrigierend eingreifen darf. b) Gesellschaftsvertrag in der Wirklichkeit Indes dürften die vorstehenden Erwägungen nicht der Wirklichkeit entsprechen. Zweifelhaft ist bereits die Annahme, dass die Gesellschafter über alle nötigen Informationen verfügen, um wirksame vertragliche Instrumente zu gestalten, mit denen sich künftige Streitigkeiten angemessen lösen lassen. Potentielle Konfliktherde können selbst bei einer sorgfältigen Vorbereitung un­ erkannt bleiben.133 Selbst wenn man eine optimale Informationsversorgung unterstellt, können die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie nicht außer Betracht bleiben. Zahlreiche empirische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass Menschen nicht immer in rational handeln. Vielmehr dürfte das Gegenteil der Regelfall sein. Das Verhalten vieler Menschen weicht systematisch von den Annahmen der Rationalitätsmodelle ab. Sie werden Opfer von Wahrnehmungsverzerrungen, die es unmöglich machen, vertragliche Regel nur anhand von in sich stimmigen Überlegungen aufzustellen.134 Dies gilt auch für das Gesellschaftsrecht.135 Die Ausblendung von Risiken bei Gestaltung der Gesellschaftsverträge lässt sich mit dem systematischen Überoptimismus der Gesellschafter erklären, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eher an den Erfolg des gemeinsamen Unternehmens denken als an das Scheitern.136 Diese Tendenz ist durchaus verständlich, weil ein überbordender Pessimismus den Geschäftsabschluss letztlich verhindern könnte. Welcher Unternehmer lässt sich auf eine gemeinsame Investition mit übervorsichtigen Partnern ein, die in erster Linie an Krisenszenarien und Konflikte denken, statt sich auf die unternehmerischen Chancen zu fokussieren? Selbst wenn die (potentiellen) Gesellschafter nicht an etwaigen Rationalitätsdefiziten leiden und in der Lage sind, in den Vertragsverhandlungen die po133 Cziupka, GS Unberath, S. 51, 54. 134 S. nur Korch, Haftung, S. 29 ff.; Richter/Furubotn, Institutionenökonomik, S. 192 ff. 135 Speziell in diesem Kontext Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 279; Wedemann, Gesellschafterkonflikte, S.  63  ff.; Cziupka, GS Unberath, S.  51, 55  f.; Klöhn AcP 216 (2016), 281, 305 ff. 136 So die Beobachtung bei Cziupka, GS Unberath, S. 51, 56. 131

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tentiellen Konfliktquellen zu identifizieren und auf künftige Streitigkeiten auf kautelarjuristischer Ebene zu reagieren, kann es vorkommen, dass der Gesellschaftsvertrag keine Problemlösungsmechanismen vorsieht. Dies hängt damit zusammen, dass die Vertragsgestaltung erhöhte Transaktionskosten generiert. Die Gesellschafter müssen Zeit und Geld investieren, um einen perfekten Vertrag zu entwerfen. Schon die Suche nach Konfliktherden kann Investitions­ mittel binden, die nicht in das eigentliche Projekt fließen; die Kosten der Rechtsberatung kommen hinzu. Insoweit ist ein rechtlich einwandfreier Vertrag nicht automatisch effizient.137 Vor diesem Hintergrund kann es durchaus rational sein, auf eine optimale kautelarjuristische Lösung zu verzichten und damit Transaktionskosten zu sparen, wenn die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass sich ein denkbares Problem tatsächlich verwirklicht. Übersteigen die Kosten der Vertragsgestaltung den durch die Regelung intendierten Nutzen, ist die planvolle Unvollständigkeit des Gesellschaftsvertrags aus Sicht der Vertragsparteien effizient.138 In der Sprache der Ökonomen schließen die Gesellschafter in einem solchen Fall einen relationalen Vertrag.139

VI. Rolle der Gerichte im Gesellschaftsrecht 1. Machtbegrenzung durch richterliche Kontrolle Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass sich das Gesellschaftsrecht vom allgemeinen Zivilrecht maßgeblich unterscheidet. Das Leitbild des Zivilrichters, der die Durchsetzung der privatautonomen Vereinbarungen ermöglicht, lässt sich zwar im Ausgangspunkt auf das Gesellschaftsrecht übertragen, es erfordert aber im Hinblick auf spezifische gesellschaftsrechtliche Konfliktlagen einige Modifikationen. Richterliche Eingriffe in das Verbandsleben können nicht ohne weiteres als unzulässige Eingriffe in die Privatautonomie gebrandmarkt werden, sondern sie dienen dem Ausgleich von Abhängigkeitslagen, die in einem lebenden Verband omnipräsent sind. Verwaltungsorgane und Gesellschafter können ihre machtvolle Position ausnutzen und sich op-

137 Zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Effizienz in der Vertragsgestaltung Schuhmann ZfBR 2012, 9, 11 ff. 138 S. nur Wedemann, Gesellschafterkonflikte, S. 75 f. 139 Vgl. dazu Richter/Furubotn, Institutionenökonomik, S. 184 ff.; Ruffner, Grundlagen, S. 211 ff.; Schmolke, Selbstbindung S. 605 ff.; Cziupka, GS Unberath, S. 51, 56 f.; Fleischer ZGR 2001, 1, 4 f.; Klöhn AcP 216 (2016), 281, 298 f. Zur Unterscheidung zwischen klassischen Austauschverträgen, neoklassischen Langzeitverträgen und relationalen Verträgen Schuhmann ZfBR 2012, 9 f. 132

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portunistisch verhalten;140 diese Möglichkeit kann ihnen durch Vertragsgestaltung nicht völlig abgeschnitten werden.141 Zwar trifft ein Gesellschafter, der einen neuen Verband gründet oder einem bestehenden Verband beitritt, eine privatautonome Entscheidung, diese ist jedoch im Hinblick auf die Dauer der vertraglichen Bindung, die unzureichenden kautelarjuristischen Instrumente der Machtbeschränkung, den relationalen Charakter des Gesellschaftsvertrags und die Rationalitätsdefizite der Gesellschafter nicht mit dem Abschluss eines schlichten Austauschvertrags vergleichbar. Vor diesem Hintergrund ist die Aufgabe der Gerichte im Gesellschaftsrecht eine andere als im allgemeinen Zivilrecht. Sie sollen nicht nur die Durchsetzung des Vertragsinhalts ermöglichen, sondern darüber hinaus die an der Gesellschaft beteiligten Personen vor opportunistischem Verhalten der anderen Verbandsrechtsakteure schützen.142 Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber die Mitglieder der Verwaltungsorgane auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verpflichtet und Sanktionsinstrumente für den Fall geschaffen, dass die Organmitglieder ihren Sorgfaltspflichten nicht nachkommen. Ein ähnliches Schutzanliegen liegt auch der Rechtsprechung zugrunde, die mit Hilfe ungeschriebener Grundsätze des Gesellschaftsrechts – etwa der mitgliedschaftlichen Treuepflicht und des Grundsatzes der sachlichen Rechtfertigung – versucht, opportunistisches Verhalten der Mehrheit oder der Minderheit zu unterbinden.143 Der Gedanke, dass die richterliche Kontrolle im Gesellschaftsrecht der Machtbegrenzung dient, legt es nahe, bei der Bestimmung der Prüfungsintensität auf ein Rechtsgebiet zu blicken, in dem die Hauptaufgabe der Gerichte im Schutz strukturell unterlegener Personen liegt: das Verwaltungsrecht. Es wurde bereits in § 4 III 2 erläutert, dass das Verfahrensgrundrecht in Art. 19 Abs. 4 GG 140 Hierzu ausf. § 4 V 2 bis 4. 141 Zu den Grenzen der kautelarjuristischen Instrumente im Gesellschaftsrecht § 4 V 5. 142 Am ehesten ist die Situation im Gesellschaftsrecht mit Fällen vergleichbar, in denen ein Vertragspartner oder ein Dritter die Vertragspflichten einseitig festlegt (s. dazu in §  4 IV 3 a). Wie der Vertragspartner, der die Bestimmung der Leistungspflicht dem anderen Vertragspartner oder einem Dritten privatautonom überlassen hat, hat sich der Gesellschafter privatautonom dafür entschieden, einen Teil seines Vermögens in einem Verband zu bündeln und das Bestimmungsrecht über das Vermögen zumindest teilweise aufzugeben. In beiden Konstellationen ist die gerichtliche Kon­ trolle ein Korrektiv einer überschießenden Machtposition. Zu den Parallelen zwischen §§ 315 ff. BGB und dem Vorstandsrecht s. auch M. Roth, Ermessen, S. 46 ff. 143 Zur rechtsökonomischen Bedeutung des Minderheitenschutzes namentlich im Personengesellschaftsrecht Klöhn AcP 216 (2016), 281, 298 ff. Zu den Schutzmechanismen s. noch § 17 III. Krit. dazu aber Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 290 ff., 297 ff. 133

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einen Individualschutz der Bürger vor dem Staat bezweckt; das Gerichtsverfahren ist ein „Forum der Interessenklärung auf neutralem Boden.“144 Diesen Gedanken kann man auch im Gesellschaftsrecht fruchtbar machen: Hat ein Akteur des Gesellschaftsrechts ein Gericht angerufen, wird dieses mit der Aufgabe betraut, die innerhalb des Verbands entflammten Konflikte in einem geordneten, auf Verobjektivierung der betroffenen Belange ausgerichteten Verfahren zu lösen. Wie im Verwaltungsprozess können im Zivilprozess die im Streit verwickelten Parteien ihre Argumente vor einer unbefangenen Stelle vortragen.145 Diese Aufgabe der Zivilgerichte kann man auch als „Individualrechtsschutz“ bezeichnen – wohl wissend, dass dieses Etikett nicht zu 100% auf gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten passt, weil dort häufig Rechtspositionen eines Kollektivs im Zentrum stehen werden.146 2. Stärkung der Entscheidungsrationalität Die vorstehenden Überlegungen haben den Blick auf die Belange der Personen gelenkt, die der Richter vor einer opportunistischen Machtausübung des Stärkeren schützen soll; im Vordergrund stand die Korrektur der Machtungleichgewichte, die dem Gesellschaftsrecht immanent sind. Gleichwohl liegt der ­Eigenwert der gerichtlichen Kontrolle nicht nur in ihrer Individualschutzfunktion. Vielmehr kann eine richterliche Inhaltskontrolle verbandsrechtlicher Maßnahmen ihre materielle Legitimationsbasis stärken. In § 4 IV 2 wurde erläutert, dass im allgemeinen Zivilrecht der Gedanke der Richtigkeitsgewähr aufgegriffen wird, um dem Vertrag eine materielle Rechtfertigung zu verleihen. Der Verhandlungsprozess, der zum Abschluss eines Vertrags zwischen gleichberechtigten Personen führt, lässt darauf schließen, dass der Vertragsinhalt ausgewogen ist. Die Maßnahmen der Verwaltungsorgane und die Gesellschafterbeschlüsse können nicht mit der gleichen Argumentation materiell legitimiert werden, weil sie sich nicht auf einen Verhandlungsprozess zwischen gleichberechtigten Parteien zurückführen lassen. Vielmehr werden sie auf Grundlage einer einseitigen Einwirkungsbefugnis getroffen und sind deshalb nur formell legi­ timiert. Sind die Verwaltungsorgane mit der Leitungs- oder Überwachungs­ 144 So für den Verwaltungsprozess Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 81. 145 Zu diesem Aspekt als Eigenwert der gerichtlichen Verwaltungskontrolle vgl. Gärditz, DJT-Gutachten, S. 63 f. 146 Besonders deutlich kommt dies in Prozessen zum Ausdruck, in denen einzelne Gesellschafter als Vertreter der Gesellschaftergesamtheit auftreten, etwa bei einer actio pro societate oder in Beschlussmängelstreitigkeiten. 134

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autonomie ausgestattet, müssen sie mit den Gesellschaftern nicht verhandeln, bevor sie eine Maßnahme treffen. Will ein Mehrheitsgesellschafter seinen Willen durchsetzen, muss er  – geht man vom rein formellen Mehrheitsprinzip aus – auf die Minderheit keine Rücksicht nehmen.147 Will sich ein Gesellschafter, der über eine Sperrminorität verfügt, quer stellen, muss er mit der Mehrheit nicht verhandeln. In all diesen Fällen fehlt ein Verhandlungsprozess, innerhalb dessen die gegenseitigen Interessen der beteiligten Parteien in den Konsens einfließen können. Vielmehr können Akteure, die eine machtvolle Position innehaben, einseitig bestimmen, in welche Richtung sich der Verband bewegt. Eine materielle Legitimation kommt nur in Betracht, wenn die Rechtsordnung hinreichend bestimmte inhaltliche Kriterien aufstellt, an denen sich die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane messen lassen müssen. Solche Kriterien sind aber nur selten gesetzlich verankert. Meistens enthält das Gesetz über die formelle Handlungsberechtigung hinaus keine konkreten gesetzlichen Vorgaben an den handelnden Akteur, sondern der Gesetzgeber bedient sich Generalklauseln, um die Gesellschafter und Organmitglieder zu steuern. Auch die in der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Grundsätze des Gesellschaftsrechts haben einen generalklauselartigen Charakter. Da eine klare Richtschnur fehlt, kann der handelnde Akteur seine Entscheidung an Zweckmäßigkeitserwägungen ausrichten und seine Vorstellungen gegen den Willen der anderen Akteure durchsetzen. In einem solchen Fall entsteht aus einer materiellen Perspektive ein Legitimationsvakuum, das dazu führen kann, dass die Entscheidungen an sachlichen Gesichtspunkten vorbei getroffen werden. Die Richtigkeitsvermutung, mit der die privatrechtlichen Bindungen gerechtfertigt werden, greift nicht ein. Deshalb bedarf es anderer Instrumente, um das Handeln der Verbandsrechtsakteure zu legitimieren. Die Richtigkeitsvermutung muss auf einem anderen Wege begründet werden. Auch in dieser Hinsicht ist das Gesellschaftsrecht mit dem Verwaltungsrecht vergleichbar: Ist das Verhalten der Exekutive gesetzlich vollständig determi147 Jedenfalls in Publikumsgesellschaften mit einem Ankergesellschafter kann man nicht von einem „Verhandlungsdiskurs“ sprechen. S. insb. Wiedemann JZ 1976, 392, 394: „Der herrschende Gesellschafter stimmt nicht ab, sondern ordnet an“. Vgl. ferner etwa Immenga, FS GmbHG, S. 189, 206; Timm JZ 1980, 665, 670. Von der Richtigkeitsvermutung kann nur die Rede sein, wenn die Gesellschafter aufgrund der realen Verbandsstruktur auf einen Kompromiss angewiesen sind, etwa wenn die Mehrheit in der Zukunft die Stimmen der Minderheit benötigt, um ein Vorhaben zu realisieren. Es wird in § 18 V 6 gezeigt, wie sich die Realstruktur der Gesellschaft auf die gerichtliche Kontrolldichte auswirkt. 135

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niert, verleiht das Gesetz dem behördlichen Handeln die materielle Rechtfertigung. Die Verwaltung vollzieht die Anordnungen der Legislative. Verfügt die Exekutive aber über Handlungsspielräume, die sie mit Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausfüllen darf, ist die Legitimationsgrundlage ihrer Entscheidungen schwächer, weil sie sich nicht auf die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers berufen kann und die politischen Folgen ihrer Maßnahmen tragen muss. In einer solchen Lage kann die gerichtliche Kontrolle die materielle Legitimation des behördlichen Handelns stärken.148 Dieser Befund hängt mit der Erkenntnis zusammen, dass die Gerichte dazu beitragen können, die Qualität und Rationalität der Entscheidung der kontrollierten Personen zu verbessern. Während diese Erkenntnis im öffentlich-rechtlichen Diskurs häufig hervorgehoben wird,149 ist der Gedanke, dass die gerichtliche Kontrolle zur Verbesserung der Entscheidungsrationalität führen kann, nicht gleichermaßen stark ins Bewusstsein des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums durchgedrungen.150 Bei der Lektüre verbandsrechtlicher Abhandlungen entsteht der Eindruck, dass der Richter als ein Störenfried angesehen wird, der sich in die unternehmerischen Prozesse einmischt, ohne hierzu etwas Substantielles beitragen zu können. So schwingt in den Stimmen, die mit den gedanklichen Anleihen an die verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik die Gefahr einer übermäßigen Verrechtlichung des Unternehmertums verbinden,151 ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten mit.152 In eine ähnliche Richtung geht ein der Standardargumente, mit dem die Business Judgment Rule 148 S. nur Gärditz, DJT-Gutachten, S. 65 f. Zur Rationalisierungsfunktion der Kontrolle ferner Voßkuhle, Rechtsschutz, S. 275 f. 149 Besonders deutlich Krebs, Kontrolle, S. 50: „Die Kontrolle ist darauf gerichtet, durch Rationalisierung des Entscheidungsprozesses die inhaltliche Sachrichtigkeit der Entscheidung zu erhöhen.“; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  57: „Kontrolle hat wie die Gewaltenteilung insgesamt die Aufgaben der Machtbegrenzung und der Gewährleistung von Rationalität“; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 454: „Die Hintergrundannahme der Freiheitssicherung durch Gerichtskontrolle besteht nicht nur in formaler Machtbegrenzung, sondern vor allem in der erhöhten Richtigkeitsgewähr von richterlicher Unabhängigkeit, Neutralität und Distanz in einem homogenisierenden Instanzenzug, die aber nicht gleichermaßen für alle Sachlagen trägt.“ Ausf. Gärditz, DJT-Gutachten, S. 63 ff. 150 S. aber im Zusammenhang mit der BJR Hemeling ZHR 175 (2011), 368, 377 f., der die Verbesserung der Entscheidungsqualität konzediert. 151 Dazu die Nachw. in § 4 II 2 Fn. 29. 152 Im Grundsatz zutr., wenn auch übermäßig scharf Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 207: „im Wirtschaftsrecht mitunter wohlfeile Justizschelte“ (dagegen wiederum Paefgen ZHR 179 [2015], 527  f.). S.  ferner A. Arnold, Steuerung, S. 175. 136

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gerechtfertigt wird: Der unternehmerische Bereich wird mit der Behauptung, der Richter sei kein besserer Unternehmer als der Vorstand, vom richterlichen Zugriff abgeschottet.153 Die Verwaltungsrechtswissenschaft greift auf so einfach gestrickte Argumentationsmuster nicht mehr zurück.154 Sie ist darüber hinweggegangen, eine Kampflinie zwischen den Gerichten und Behörden zu ziehen. Diese werden nicht als Gegenspieler betrachtet, die darauf erpicht sind, ihre Machtbereiche zu verteidigen, sondern als Akteure, die sich gegenseitig ergänzen. Die Überlegungen der Wissenschaft und Praxis gehen dahin, wie die politischen Handlungsspielräume der Exekutive so mit dem auf Rechtskontrolle gepolten Prüfungsauftrag der Judikative verschränkt werden können, dass die Qualität des staatlichen Handelns insgesamt erhöht werden kann. In den Worten von Eberhard Schmidt-Aßmann kann die Justiz der Verwaltung „ein Helfer bei der Stabilisierung komplexer Verwaltungsverfahren und bei der Ordnung des oft zunächst ziemlich ungeordneten rechtlichen Entscheidungsprogramms“ sein.155 Deshalb überrascht es nicht, dass behördliche Letztentscheidungskompetenzen nur selten mit einem Hinweis darauf begründet werden, dass die Gerichte keine besseren Regulatoren sind als die Bundesnetzagentur156 oder dass sie ein Gebiet nicht besser gestalten können als die zuständige Planungsbehörde;157 die wirtschaftliche oder technische Komplexität einer Materie reicht allein nicht aus, um die gerichtliche Kontrolldichte zu lockern.158 3. Richterliche Kontrolle und Institutionenschutz Neben der Machtbegrenzung durch Individualschutz und der Stärkung der Legitimationsbasis für behördliche bzw. verbandsrechtliche Entscheidungen besteht ein drittes gedankliches Bindeglied zwischen der gerichtlichen Kon­ trolle im Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht: der Institutionenschutz. Wie bereits in § 4 III 2 erläutert, dient Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur dem Schutz der Bürger vor staatlichen Eingriffen in ihre Rechtspositionen, sondern er hilft darüber hinaus dabei, das Prinzip der Gewaltenteilung zu gewährleisten. Die Ju153 Statt vieler Paefgen AG 2004, 245, 247. 154 Pointiert Gärditz, DJT-Gutachten, S. 63: kein schlichtes Primat administrativer Professionalität. 155 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 71. 156 So noch Trute, FG BVerwG, S. 857, 867 f. Zutr. dagegen etwa Proelß AöR 136 (2011), 402, 414. Zur diffizilen regulierungsrechtlichen Rspr. s. noch in § 5 IV. 157 Zum Planungsermessen unter § 5 III. 158 Hierzu noch unter § 5 II 1 mit Nachw. in Fn. 22. 137

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dikative kontrolliert, ob sich die Exekutive an die Vorgaben der Legislative hält. Ein vergleichbarer Mechanismus lässt sich im Gesellschaftsrecht beobachten: Wie schon in § 2 VI 2 dargelegt, wirkt sich die richterliche Kontrolle verbandsrechtlicher Entscheidungen auf das Governance-Gefüge der privaten Verbände aus. Überschreiten die Verbandsrechtsrechtsakteure ihre Befugnisse, stören sie den institutionellen Rahmen, innerhalb dessen sie nach den Vorgaben des Gesellschaftsvertrags oder des Gesetzes agieren sollen. Diese Störungen können unterbunden werden, indem die Gerichte die Maßnahmen der Gesellschaftsorgane überprüfen und die Organe dazu anhalten, die „Gewaltenteilung“ innerhalb der Gesellschaft zu wahren. Vor diesem Hintergrund dient die gerichtliche Kontrolle im Gesellschaftsrecht auch dem Institutionenschutz.159 4. Reflexion über die Rolle des Richters Die vorstehenden Überlegungen zu den Funktionen der gerichtlichen Kon­ trolle gehören zu den zentralen Themen in der öffentlich-rechtlichen Diskussion, während sie im Gesellschaftsrecht nur am Rande aufgegriffen werden. Die tiefere Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel zwischen der Legislative, Exekutive und Judikative im staats- und verwaltungsrechtlichen Schrifttum dürfte damit zusammenhängen, dass die Rolle des Richters im öffentlichen Recht generell stärker reflektiert wird als im Zivilrecht.160 Die Richter sind sich ihrer Stellung im verfassungsrechtlichen System bewusst und hinterfragen selbst das Leitbild ihrer Tätigkeit als Kontrolleur der Exekutive.161 Auch 159 So auch im Kontext der Aktionärsklagen T. Raiser in AktR im Wandel Bd. II Kap. 14 Rn.  8.  Zur Schaffung und Stabilisierung der Privatrechtsordnung als Aufgabe des Privatrechts Fastrich, Rechtsdenken, S. 37 f. 160 Treffend Wißmann, FS R. Schmidt, S. 627, 641: Die Verwaltungsgerichte seien traditionell auf eine Verschränkung ihrer Kontrollaufgabe mit der Behördenentscheidung ausgerichtet; die Reflexion über das Verhältnis von Gesetzgeber, Exekutive und Judikative gehöre zur Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit. 161 Zahlreiche Beiträge zur gerichtlichen Kontrolldichte – namentlich die Kommentierungen der § 40 VwVfG und §§ 113, 114 VwGO, in denen die Grundsätze der richterlichen Verwaltungskontrolle festgeschrieben sind – stammen aus der Feder der Verfassungs- und Verwaltungsrichter. So ist Michael Gerhardt, der im Standardwerk von Schoch/Schneider/Bier die §§ 113, 114 VwGO kommentiert hat, ein ehemaliger BVerwG- und BVerfG-Richter. Sein Nachfolger, Kai-Uwe Riese, ist Vorsitzender Richter am OVG Berlin-Brandenburg. Andreas Decker, der für die Kommentierung des § 114 VwGO im BeckOK verantwortlich zeichnet, ist am BVerwG tätig; Manfred Aschke (§ 40 VwVfG im BeckOK) ist Präsident des Thüringer VGH und war davor Vorsitzender Richter am Thüringer OVG. 138

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Rolle der Gerichte im Gesellschaftsrecht

im Schrifttum wird die Verknüpfung zwischen den administrativen Spielräumen und dem gerichtlichen Kontrollauftrag nicht nur beiläufig erkannt, sondern verstärkt akzentuiert und als Ausgangspunkt für die Überlegung gesetzt, welche Rolle die Verwaltungsgerichte ausüben sollen.162 Die Schwerpunkte der gesellschaftsrechtlichen Diskussion sind anders gesetzt. Die Diskussion dreht sich in erster Linie um die Gesellschaftsorgane; der Richter wird nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit als Akteur wahrgenommen wie im Verwaltungsrecht.163 Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass er kein Teil des Systems ist, sondern von außen in das System eindringt. Gleichwohl wurde bereits in § 2 VI 2 ausgeführt, dass die gerichtliche Mitglieder- und Verwaltungskontrolle das Governance-Gefüge der privaten Verbände beeinflusst. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Rolle der Zivilgerichte stärker zu betonen und sie in die verbandsrechtliche Organisationsverfassung zu integrieren. Das Ziel dieser Aufgabe liegt darin, das Bild der ordentlichen Gerichtsbarkeit als einen strengen Polizisten, der die Entfaltung unternehmerischer Kreativität hindert, zu korrigieren. Die Gerichte sollten zu einem Begleiter der Wirtschaft werden, der dabei hilft, die Qualität der Entscheidungsprozesse in einem Verband zu verbessern. Diese Qualitätsverbesserung trägt dazu bei, die materielle Legitimationsbasis verbandsrechtlicher Maßnahmen zu stärken. Die Ausarbeitung eines strukturierten und vorhersehbaren Prüfungsprogramms mit konkreten Aussagen zur gerichtlichen Kontrolldichte ist umso wichtiger, als das Gesellschaftsrecht durch eine Vielzahl von Generalklauseln und ungeschriebenen Grundsätzen durchsetzt ist, die nicht im Wege der klassischen juristischen Subsumtion angewendet werden können, sondern die Wertungen erfordern, die sich nicht unmittelbar aus dem Gesetzestext ableiten lassen. In einem solchen regulatorischen Umfeld ist es angezeigt, die Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle stetig fortzuentwickeln. Die verwaltungsrechtliche Diskussion macht deutlich, dass die gerichtlichen Schritte im Rahmen der Ver162 Dies dürfte damit zusammenhängen, dass zahlreiche Wissenschaftler, die sich mit der Verwaltungskontrolle beschäftigen (wie etwa der mehrfach zitierte Eberhard Schmidt-Aßmann), an den Verwaltungsgerichten der Länder aktiv sind bzw. waren. 163 Freilich gilt dieser Befund nicht uneingeschränkt. Auf die Rolle der Richter des II. Zivilsenats in der „Berliner Republik“ geht etwa Thiessen (Rg 25 [2017], 46, 64 ff.) vertieft ein, wobei er sich auf das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative und die damit verbundenen Grenzen der Rechtsfortbildung fokussiert; hierzu auch die früheren Vorsitzenden des II. Zivilsenats, Alfred Bergmann, FS Seibert, S. 59 f., 69 f. und Wulf Goette ZGR 2008, 451 ff. Zum Verhältnis zwischen Rspr. und Rechtswissenschaft aufschlussreich ein weiterer Senatsvorsitzende, Volker Röhricht ZGR 1999, 445 ff. (mit Ausführungen zur Rolle des Revisionsgerichts auf S. 453 ff.). 139

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waltungskontrolle strukturiert werden können. Diese Strukturierung erfüllt eine Rationalisierungsfunktion. Zum einen macht sie den etwaigen Prozess berechenbar, was die Rechtssicherheit erhöht, zum einen kann sie der Exekutive als ein Orientierungsmittel dienen, um eine gerichtsfeste Entscheidung vorzubereiten. Dieser Rationalisierungseffekt kann auch im Gesellschaftsrecht eintreten, wenn die Zivilgerichte – im Schulterschluss mit der Wissenschaft und der anwaltlichen wie unternehmerischen Praxis – Prüfungsprogramme entwickeln, an denen sich die Akteure des Verbandsrechts orientieren können.164 Die gerichtliche Kontrolle zwingt Akteure, die in der jeweiligen Situation die Zügel in der Hand halten, zum rationalen Verhalten. Unabhängig davon, ob es sich dabei um die Geschäftsleiter, Aufsichtspersonen, Mehrheits- oder Minderheitsgesellschafter handelt: Kann die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung gerichtlich beanstandet und gegebenenfalls sanktioniert werden, sind die zuständigen Personen zum sorgfältigen Verhalten gehalten. 5. Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht zwischen Gesetzesvollzug und Gestaltung Erkennt man die Parallelen zwischen Gesellschafts- und Verwaltungsrecht an und ist man bei der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte einem intradisziplinären Ansatz gegenüber aufgeschlossen, ist ein vollständiger Wertungstransfer freilich nicht angebracht, sondern man muss die Unterschiede zwischen dem Verbandsrecht und öffentlichen Recht beachten. Die gesellschaftsrechtlichen Konfliktlagen beruhen im Ausgangspunkt doch auf einem privatautonomen Willensentschluss des Gesellschafters, der die Möglichkeit, über einen Teil seiner Rechtssphäre allein zu entscheiden, freiwillig aus der Hand gegeben hat. Eine Person, die staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt ist, hatte eine solche Wahlfreiheit meistens nicht. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Staates folgen nicht aus einer privatautonomen Entscheidung, sondern aus einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Trotz dieser Unterschiede kann es sinnvoll sein, als Gesellschaftsrechtler eine Inspirationsquelle im Verwaltungsrecht zu suchen. Dagegen werden – im Zusammenhang mit dem Ermessen der Gesellschaftsorgane – im Wesentlichen zwei Argumente vorgebracht: Zum einen führe die Übernahme verwaltungsrechtlicher Figuren zu einer übermäßigen Verrechtlichung unternehmeri-

164 Darauf weist zutr. Ruffner, Grundlagen, S. 330 ff. hin. 140

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schen Handelns.165 Zum anderen liege die Aufgabe der öffentlichen Verwaltung im Gesetzesvollzug, während die Gesellschaftsorgane gestaltend tätig seien.166 Beide Argumente greifen zu kurz. Es ist zwar einerseits intuitiv richtig, einer zunehmenden Gängelung des Unternehmertums dadurch vorzubeugen, dass man den Blick auf das Verwaltungsrecht als Inspirationsquelle versperrt und die richterliche Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht allein aus verbandsrechtlichen Erwägungen heraus bestimmt. Andererseits darf man aber nicht verschweigen, dass die unternehmerische Tätigkeit nicht im rechtsfreien Raum stattfindet. Selbst diejenigen, die das Unternehmertum vor einer übermäßigen Verrechtlichung schützen wollen, leugnen nicht, dass Gesellschaftsorgane einer rechtlichen Kontrolle unterworfen werden müssen. So warnt Volker Röhricht vor der Übernahme öffentlich-rechtlicher Figuren, um im gleichen Atemzug eine Reihe von rechtlichen Kriterien zu nennen, an denen unternehmerisches Handeln des Vorstands zu messen ist: Es müsse gesetz- und satzungsmäßig, vom Verantwortungsbewusstsein getragen und ausschließlich am Gesellschaftswohl ausgerichtet sein sowie auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhen.167 Wer diese Vorgaben168 mit den Anforderungen vergleicht, die an die Ausfüllung behördlicher Handlungsspielräume gestellt werden – die Einhaltung der Verfahrensvorschriften, die Sachverhaltsermittlung, die Beachtung allgemeingültiger Wertungsmaßstäbe, das Verbot sachfremder Erwägungen, die sachgerechte Abwägung169 – merkt schnell, dass die Unterschiede zwischen Gesellschafts- und Verwaltungsrecht nicht so gravierend sind, wie es vielerorts im verbandsrechtlichen Schrifttum behauptet wird. Vielmehr ist die Stoßrichtung in beiden Fällen gleich: Es geht jeweils um die richtige Balance zwischen rechtlicher Bindung und Freiheit; in beiden Rechtsgebieten können die Schrauben enger oder locker gedreht werden. Der Grundsatz, dass die behördlichen Handlungsspielräume wegen fortschreitender Verrechtlichung enger sind als 165 So Röhricht, RWS-Forum GesR 1997, S. 191, 204 f.; dem folgend etwa Dauner-Lieb, FS Röhricht, S. 83, 93; Paefgen, Entscheidungen, S. 136 f. mit Fn. 369; Pfertner, Entscheidungen, S.  123; Schnieders, Haftungsfreiräume, S.  81  f. In entgegengesetzte Richtung aber Raiser NJW 1996, 552, 553. 166 So S. Binder, Vorstandshaftung, S. 135; M. Roth, Ermessen, S. 13 f.; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 81 f. 167 Röhricht, RWS-Forum GesR 1997, S. 191, 204 f. 168 Freilich sind die Ausführungen Röhrichts inzwischen durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG überholt. 169 Dazu noch ausf. unter § 5 I, II 1, III 2 und (zusammenfassend) V 4. 141

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die Grenzen unternehmerischen Handelns, folgt nicht aus der Natur der Sache.170 Insbesondere ergibt sich nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG, dass verwaltungsgerichtliche Kontrolle per se intensiver sein muss als die Kontrolle der Gesellschaftsorgane. Vielmehr wird die Analyse in § 5 zeigen, dass die Freiräume der öffentlichen Verwaltung nur im Einzelfall ermittelt werden können und oft vom Zeitgeist abhängig sind. Die Zurückhaltung des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums hinsichtlich der Anleihen aus der öffentlich-rechtlichen Kontrolldogmatik dürfte auf einem fehlerhaften Verständnis der Behördentätigkeit beruhen. Es trifft nämlich nicht zu, dass die Aufgabe der Verwaltungsbehörden im schlichten Gesetzesvollzug liegt. Das Bild der Eingriffs- und Leistungsverwaltung, die wie eine reine Subsumtions- und Vollzugsmaschine qua Verwaltungsakts in die Rechtspositionen der Bürger eingreift oder genehmigungsbedürftige Vorhaben im Einzelfall gestattet, gehört der Vergangenheit an  – wenn es jemals in dieser Allgemeinheit zutreffend war. Die zentralen Aufgaben der modernen Behörden liegen darin, die Nutzung der Gemeinschaftsgüter, etwa der Umwelt, und die Entwicklung der Wirtschaft zu steuern und zu begleiten. Die Herausforderungen des behördlichen Handelns sind nicht mehr Gefahrenabwehr und punktuelle Interventionen, sondern eine aktive Gestaltung des Gemeinwesens.171 Dieses erweiterte Anforderungsprofil erhöht die Komplexität der Verwaltungstätigkeit, die im Gerichtssaal fortwirkt. Die Verwaltungsgerichte müssen nicht nur über einfach gestrickte Fälle urteilen, in denen die Behörden klar umrissene Tatbestände anwenden, sondern sie müssen sich mit Sachver­ halten  auseinandersetzen, die vielschichtige außerrechtliche Implikationen bergen. So wie in gesellschaftsrechtlichen Streitigkeiten oft betriebswirtschaft170 Aus demselben Grund trifft die Behauptung Markus Roths nicht zu, der öffentlichen Verwaltung stehe – anders als dem Vorstand – kein Ermessen bei der Sachverhaltsermittlung zu (M. Roth, Ermessen, S.  14; so auch S.  Binder, Vorstandshaftung, S.  135; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S.  258  f., 262; M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 285). Zum einen ist die gerichtliche Kontrolldichte hinsichtlich der behördlichen Sachverhaltsermittlung äußerst umstritten (s. dazu insb. § 5 III 2), zum anderen ist die Argumentation Roths eine petitio principii: Ob der Vorstand ein Ermessen hinsichtlich der Entscheidungsgrundlagen hat, gilt es gerade zu beweisen (vgl. dazu noch unter § 8 III 2). 171 Der Wandel der Verwaltung weg vom reinen Gesetzesvollzug hin zu gestalterischer Tätigkeit wurde bereits in 1970er Jahren beobachtet und diskutiert, s. nur Badura, FS BayVerfGH, S. 157, 164 ff.; K. Redeker DÖV 1971, 757, 761 f. (am Beispiel des Planungsrechts). Zum gewandelten Bild der Verwaltungsaufgaben im modernen Zeitalter Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 3 Rn. 2 ff. 142

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Rolle der Gerichte im Gesellschaftsrecht

liche Fragestellungen entschieden werden müssen, so müssen in Verwaltungsrechtsprozessen naturwissenschaftliche172 oder gesamtwirtschaftliche173 Zusammenhänge erörtert werden.174 In einer solchen Gemengelage ist die Frage nach der Abgrenzung der behördlichen Entscheidungsspielräume und des gerichtlichen Kontrollauftrags schwieriger zu beantworten als in den klassischen Fällen der Eingriffs- und Leistungsverwaltung. Je mehr außerrechtliche Aspekte in die Entscheidungsfindung einfließen, desto eindringlicher äußert die Verwaltung einen Wunsch nach diskretionären Spielräumen. Zugleich neigen die Gerichte zu einer weniger intensiven Inhaltskontrolle behördlichen Handelns, auch wenn das Verfahrensgrundrecht in Art. 19 Abs. 4 GG im Bereich der gestaltenden Verwaltungstätigkeit nicht vorschnell beiseitegeschoben werden kann. Geht man von derart veränderten Rahmenbedingungen der verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik aus, wird deutlich, dass die gesellschaftsrechtlichen Probleme der gerichtlichen Prüfungsdichte ähnlich gelagert sind. Auch das Handeln der Verbandsrechtsakteure steht zwischen einem am Unternehmenswohl ausgerichteten Gestaltungsauftrag einerseits und einer immer engeren gesetzlichen Bindung, namentlich in regulierten Branchen, andererseits. Die Grenze zwischen diesen Bereichen lässt sich im Vorhinein nicht immer verlässlich ziehen. Damit ist es unklar, wie intensiv die gerichtliche Kontrolle sein darf. Die Abgrenzungsschwierigkeiten treten besonders deutlich zutage in der Diskussion um den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Rechtsprechung und Schrifttum sind sich in Grenzfällen immer noch nicht einig, welche Entscheidungen der Vorstandsmitglieder unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sind und wann die strikte Legalitätsbindung eingreift.175 Im Verwaltungsrecht wird eine ähnlich gelagerte Debatte über die Gestaltungsfreiräume und rechtliche Bindung der Behörden seit den 1950er Jahren geführt; die öffentlich-rechtliche Kontrolldogmatik hat einen entsprechend hohen Ausdifferenzierungsgrad erreicht. Vor diesem Hintergrund ist es auch für einen Gesellschaftsrechtler ratsam, die im Verwaltungsrecht unterbreiteten Lösungsvorschläge zu analysieren, um daraus Schlüsse für die Bestimmung 172 So etwa im Atom-, Gentechnik und Naturschutzrecht, vgl. noch in § 5 II 4. 173 Insbesondere im Regulierungsrecht, s. dazu § 5 IV. 174 Vor diesem Hintergrund ist die Feststellung Bernd Pfertners naiv, im Verwaltungsrecht bestehe eine sachkompetente, eigene Gerichtsbarkeit, bei der nicht davon auszugehen sei, dass Richter mit sachfremder Materie betraut würden (Pfertner, Entscheidungen, S. 123 f.). 175 Dazu noch in § 8 II. 143

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der richterlichen Kontrollintensität zu ziehen. Lehnt man einen solchen intradisziplinären Ansatz kategorisch ab, verzichtet man ohne Not auf einen Orientierungspunkt. Im Folgenden wird deshalb die öffentlich-rechtliche Diskussion zur gerichtlichen Kontrolldichte skizziert, um sodann herauszufiltern, welche Erkenntnisse einen Einfluss auf die verbandsrechtliche Dogmatik haben können. Die einzelnen Aspekte aus dem Bereich des öffentlichen Rechts werden auch punktuell im späteren Verlauf der Untersuchung aufgegriffen, um an konkreten Problemen zu zeigen, wie das Verbandsrecht aus der öffentlich-rechtlichen Diskussion lernen kann.

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§ 5 Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik I. Rechtsfolgenermessen (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO) Setzt man sich mit der verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts auseinander, erweist sich schon die Wahl der Darstellungsmethode als schwierig: Zahlreiche Autoren im öffentlich-rechtlichen Schrifttum versuchen, zunächst eine allgemeine Aussage zur richterlichen Prüfungsdichte zu treffen, um auf dieser Grundlage die einzelnen Fälle zu lösen. Da das Ziel der vorliegenden Untersuchung nicht in der Fortentwicklung der verwaltungsrechtlichen Lehre liegt, sondern in der Fortbildung des Gesellschaftsrechts, maßt sich der Autor nicht an, eine neue Lehre vom Verwaltungsermessen auszubuchstabieren. Vielmehr nimmt er die Positionen eines Beobachters ein, der die Debatte im „fremden“ Rechtsgebiet analysiert und beschreibt, um auf dieser Grundlage Schlussfolgerungen für sein „eigenes“ Rechtsgebiet zu ziehen. Deshalb geht die folgende Darstellung induktiv vor: Zunächst wird die Rechtsentwicklung beschrieben. Sodann wird auf dieser Grundlage der Versuch unternommen, aus den einzelnen Aussagen in Rechtsprechung und Schrifttum allgemeine Grundsätze herzuleiten, um in einem letzten Schritt die im Verwaltungsrecht gewonnenen Erkenntnisse im Gesellschaftsrecht aufzugreifen. Will man sich der öffentlich-rechtlichen Kontrolldogmatik unter Geltung des Grundgesetzes nähern, ist zunächst an die zentrale Rolle des Art. 19 Abs. 4 GG bei der Bestimmung der Aufgaben der Verwaltungsgerichte zu erinnern, die bereits in § 4 III 2 skizziert wurde. Dieses Verfahrensgrundrecht steht auch am Ausgangspunkt der Überlegungen zur gerichtlichen Kontrolldichte im Verwaltungsrecht.1 Liegt die Aufgabe der Verwaltungsgerichte darin, für einen effektiven Rechtsschutz der Bürger vor rechtswidrigem Verwaltungshandeln zu sorgen, ist es geboten, dass die behördlichen Maßnahmen einer vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Allerdings kann die richterliche Prüfungsintensität nach einhelliger Auffassung gelockert werden, ohne mit Art. 19 Abs. 4 1 AA Herdegen JZ 1991, 747, 751, der den gedanklichen Ausgangspunkt in Art. 20 Abs. 3 GG verortet. Für einen grundrechtszentrierten Ansatz Brohm JZ 1995, 369 (zur Bedeutung der Grundrechte ferner Jarass/Pieroth GG Art. 19 Rn. 73; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art.  19 Abs.  4 Rn.  180a; Dreier/Schulze-Fielitz GG Art.  19 IV Rn. 131). Krit. auch Eifert ZHR 174 (2010), 449, 452 ff.; Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 714 ff. 145

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

GG in einen Konflikt zu geraten: Die materiell-rechtlichen Positionen der Bürger ergeben sich nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG, sondern werden dort vorausgesetzt. Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzgeber befugt, die geschützten Rechtspositionen unter Berücksichtigung der Grundrechte sowie des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips und den hieraus folgenden Grundsätzen der Bestimmtheit und Normenklarheit inhaltlich auszugestalten. Hierzu gehört es auch, die richterliche Kontrolle der Verwaltung einzuschränken.2 Eine solche Ausnahme vom Grundsatz der vollen gerichtlichen Überprüfung staatlichen Handelns ist in § 40 VwVfG,3 § 114 Satz 1 VwGO normiert. Gem. § 40 VwVfG kann die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen handeln, wenn sie dazu gesetzlich ermächtigt ist. Nach der traditionellen Lesart geht der Gesetzgeber von der konditionalen Struktur verwaltungsrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen4 aus und räumt der Behörde einen Entscheidungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite ein.5 Wendet die Behörde eine Ermessensvorschrift an, muss sie nur die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten und ihre Maßnahmen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung treffen.6 In diesem Rahmen kann sie aus einer Vielzahl möglicher Optionen diejenige wählen, die aus ihrer Sicht am besten geeignet ist, den durch die Ermächtigungsgrundlage 2 Vgl. BVerfGE 88, 40, 45 = NVwZ 1993, 666; BVerfGE 129, 1, 20 ff. = NVwZ 2011, 1062; BVerwGE 151, 56 Rn. 31 = NVwZ 2015, 967; BVerwGE 153, 36 Rn. 16 f. = NVwZ 2016, 327; Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 242; Ramsauer, FG BVerwG, S.  699, 715.  Pointiert Schmidt-Aßmann/Schenk in Schoch/Schneider/Bier VwGO Einl Rn.  182: „Der von Art.  19 Abs.  4 GG geforderte lückenlose Rechtsschutz bleibt Rechtsschutz; er zielt nicht auf eine totale Kontrolle des Verwaltungshandelns.“ 3 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird auf gleichlautende oder entsprechende Vorschriften in den Landesverwaltungsverfahrensgesetzen nicht eingegangen; s. dazu Ruffert in Knack/Henneke VwVfG § 40 Rn. 15. 4 Vgl. dazu M. Redeker in K. Redeker/von Oertzen VwGO § 114 Rn. 4 ff.; Eyermann/ Rennert VwGO § 114 Rn. 4; Ruffert in Knack/Henneke VwVfG § 40 Rn. 3 ff.; Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 11 ff.; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 2 Krit. zu diesem Verständnis Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 30. S. auch Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, 8. Aufl., § 40 Rn. 34: „Vereinfachung der normativen Detailstruktur“. 5 Zur Verortung des Ermessens auf der Rechtsfolgenseite Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 32; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 7 f. Zur Kritik dieses herkömmlichen Verständnisses Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 27. 6 Freilich kann der Gesetzgeber die Verwaltung zwingen, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Eine solche gebundene Entscheidung trifft etwa die Baurechtsbehörde bei der Erteilung der Baugenehmigung: Liegen die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vor (zB § 58 Abs. 1 Satz 1 LBO BW oder § 74 Abs. 1 LBO NRW), muss die Baurechtsbehörde eine Baugenehmigung erteilen; einen Ermessensspielraum genießt sie insoweit nicht. 146

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Rechtsfolgenermessen (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO)

verfolgten Zweck zu erreichen.7 Dabei wird zwischen Entschließungs- und Auswahlermessen unterschieden: Die Behörde kann zum einen entscheiden, ob sie überhaupt handelt. Hat sie sich zum Handeln entschieden, kann sie zum anderen zwischen mehreren Handlungsformen auswählen.8 Gleichwohl kann der Gesetzgeber die behördliche Entscheidung lenken, indem er der Behörde ein gebundenes9 oder intendiertes10 Ermessen einräumt. Die materiell-rechtliche Bestimmung des §  40 VwVfG wird in §  114 Satz  1 VwGO auf der prozessualen Ebene ergänzt.11 Hat der Gesetzgeber der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eingeräumt, überprüft das Gericht gem. § 114 Satz 1 VwGO, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die Behörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Aus dem Blickwinkel der Judikative haben § 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO zur Folge, dass die gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns auf die Frage beschränkt ist, ob der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage erfüllt ist und ob der Behörde bei der Auswahl der konkreten Maßnahme keine Ermessensfehler unterlaufen sind. Dabei unterscheiden die Rechtsprechung und Wissenschaft zwischen vier Arten von Ermessensfehlern: Die Judikative darf kon­ trollieren, ob die Verwaltungsbehörde das Ermessen überhaupt ausgeübt hat (Ermessensausfall), ob sie die gesetzlichen Ermessensgrenzen eingehalten hat (Ermessensüberschreitung), ob sie die Entscheidung auf hinreichender Tatsachengrundlage getroffen hat (Ermessensdefizit) und ob sie sich von sachfrem 7 Vgl. Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 11; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 13 ff. 8 Decker in BeckOK VwGO §  114 Rn.  5; Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, § 114 Rn. 16. 9 Es handelt sich um Soll-Vorschriften, die im Regelfall die Behörde binden, in atypischen Fällen aber eine Ausnahme zulassen, vgl. BVerwG NVwZ-RR 2005, 399, 401; Decker in BeckOK VwGO §  114 Rn.  7; Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, § 114 Rn. 16; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 26 ff. 10 Die Praxis versteht darunter allgemeine Ermessensvorschriften, deren Auslegung die Ermessensausübung in eine bestimmte Richtung lenkt, vgl. BVerwGE 72, 1, 6 = NJW 1986, 738; BVerwGE 105, 55, 57 f. = NJW 1998, 2233. Die Wissenschaft steht der Kategorie zurückhaltend gegenüber, s. Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 8; Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, § 114 Rn. 20; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 27 ff.; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 30; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 12. 11 Zur Verknüpfung zwischen § 40 VwVfG und § 114 Satz 1 VwGO M. Redeker in K. Redeker/von Oertzen VwGO §  114 Rn.  3; Ruffert in Knack/Henneke VwVfG §  40 Rn. 17. 147

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

den Erwägungen hat leiten lassen (Ermessensfehlgebrauch).12 Der Kontrollauftrag erstreckt sich auch auf die Frage, ob die Verwaltung die Grundrechte und die allgemeinen Verwaltungsgrundsätze  – etwa das Verhältnismäßigkeitsprinzip  – als objektive Ermessensschranken beachtet hat.13 Dagegen ­dürfen Gerichte nicht darüber entscheiden, ob die konkrete behördliche Maßnahme zweckmäßig war. Hinsichtlich dieser Frage liegt die Letztentscheidungskompetenz bei der Verwaltung.14 Die Rechtsprechung darf also das fehlerfrei ausgeübte Ermessen nicht durch eine eigene Ermessensentscheidung ersetzen.15

II. Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene 1. Grundlagen Weder im Verwaltungsverfahrensgesetz noch in der Verwaltungsgerichtsordnung geregelt ist die Frage, ob staatlichen Behörden auch auf der Tatbestands­ ebene eine Letztentscheidungskompetenz zustehen kann16 und die Gerichte deshalb die Entscheidung nur eingeschränkt revidieren dürfen. Eine mit § 40 VwVfG, § 114 VwGO vergleichbare Norm fehlt: Weder ist auf der materiell-­ rechtlichen Ebene ausdrücklich vorgesehen, dass die Verwaltung auf der Tatbestandsseite ein Ermessen genießt, noch sieht das Prozessrecht vor, dass die Gerichte nur eingeschränkt überprüfen dürfen, ob ein gesetzlicher Tatbestand erfüllt ist.17 Vielmehr entspricht es der herrschenden Auffassung, dass Art. 19 Abs. 4 GG und das Rechtsstaatsprinzip – wie bereits in § 4 III 2 ausgeführt – im Ausgangspunkt eine volle gerichtliche Kontrolle der Tatbestandsvoraussetzungen gebieten; die Regelungen zur gelockerten Prüfungsdichte bei Ermessens­ entscheidungen gelten hier nicht.18 12 Zu dieser Systematisierung vgl. Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 13 ff.; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 57 ff. 13 Vgl. Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 23. 14 S. nur Ruffert in Knack/Henneke VwVfG § 40 Rn. 18; Brohm JZ 1995, 369, 373; krit. zur Gegenüberstellung von Recht- und Zweckmäßigkeit aber Badura, FS BayVerfGH, S. 157, 171. 15 Decker in BeckOK VwGO §  114 Rn.  26.  Allerdings begrenzt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich der Zweckmäßigkeit, s. Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 15. 16 Krit. zur kategorischen Unterscheidung zwischen der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite aber Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 27. 17 Zu § 4a Abs. 2 UmwRG aF vgl. noch in § 5 V 4 a. 18 Vgl. nur BVerfGE 7, 129, 154 = NJW 1957, 1757; BVerfGE 64, 261, 279 = NJW 1984, 33; BVerfGE 84, 34, 49 f. = NJW 1991, 2005; BVerfG NVwZ 2011, 1062 Rn. 68. Auch 148

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

Dennoch ist in der Rechtsprechung und Lehre weitgehend anerkannt, dass die Reduzierung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte auch dann nicht von vornherein ausgeschlossen ist, wenn es um die Anwendung einzelner Tatbestandsmerkmale geht.19 Wie beim Rechtsfolgenermessen spielt auch hier die Erkenntnis eine Rolle, dass Art. 19 Abs. 4 GG die materiell-rechtlichen Positionen der Bürger nicht schafft, sondern sie voraussetzt. Die Diskussion dreht sich um die Begriffe „Beurteilungsermächtigungen“, „Beurteilungsspielräume“ und „Einschätzungsprärogativen“.20 Die Gerichtsentscheidungen und Stellungnahmen im Schrifttum divergieren stark im Detail, so dass die Grenzen der exekutiven Beurteilungsspielräume nicht präzise gezogen werden können. Weitgehend einig ist man sich darüber, dass bloße rechtliche Unsicherheiten, die aus Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen resultieren, nicht ausreichen, um der Verwaltung die Letztentscheidungskompetenz bei der Auslegung dieser Begriffe einzuräumen. Vielmehr gehöre es zur Kernaufgabe der Gerichte, unbestimmte Rechtsbegriffe mit Inhalt zu füllen.21 Auch die hohe Komplexität der Sachmaterie reicht alleine nicht aus, um die richterliche Kontrolldichte zu lockern.22 Dasselbe gilt im Ausgangspunkt für Entscheidungen mit prognostischen Elementen: Handelt es sich um Wahrscheindas BVerwG nimmt auf §  40 VwVfG, §  114 Satz  1 VwGO keinen Bezug, s. etwa ­BVerwGE 129, 27 Rn. 26 = NJW 2007, 2790. 19 Freilich kann die Norm als eine sog. Koppelungsvorschrift ausgestaltet sein, dh der Behörde auf der Tatbestandsseite einen Beurteilungsspielraum und auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen einräumen, vgl. Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 31; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn.  34  ff.; Maurer/Waldhoff VerwR §  7 Rn. 48 ff. 20 Überblick über die Terminologie bei Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn. 91. 21 Vgl. BVerfGE 84, 34, 49 f. = NJW 1991, 2005; BVerfGE 129, 1, 21 = NVwZ 2011, 1062; BVerwGE 153, 36 Rn. 17 = NVwZ 2016, 327; Aschke in BeckOK VwVfG § 40 Rn. 25, 129; Ruffert in Knack/Henneke VwVfG §  40 Rn.  96; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 147 ff.; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 60; Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 243. Eine Ausnahme dürfte für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften im Umwelt- und Technikrecht gelten, die auch für Gerichte verbindlich sein können, s. hierzu BVerwGE 72, 300, 319 ff. = NVwZ 1986, 208; BVerwGE 107, 338, 340 ff. = NVwZ 1999, 1114; BVerwGE 129, 209 Rn.  12 = NVwZ 2008, 76; Aschke aaO §  40 Rn. 135 ff.; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 169 ff. In neuerer Zeit deutlich großzügiger etwa Hwang VerwArch 103 (2012), 356, 359 ff.; Riese in Schoch/ Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 27. 22 Ausf. Gärditz, DJT-Gutachten, S.  69  ff. Vgl. auch BVerwG NVwZ-RR 2011, 682 Rn. 37; BVerwGE 147, 244 Rn. 25 = NVwZ 2014, 300; Gerhardt in Schoch/Schneider/ Bier VwGO, Grundwerk, §  114 Rn.  58; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG §  40 Rn. 160; Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 243. Gleichwohl kann die Komplexität gepaart 149

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lichkeitsabschätzungen, die sich aus dem Erfahrungswissen ableiten lassen, bleibt für eine eingeschränkte richterliche Kontrolle kein Raum.23 Auf der anderen Seite ist es anerkannt, dass die Beurteilungsspielräume nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung, die auf eine Entscheidung des Normgebers beruht, angenommen werden können;24 man spricht insoweit von der „normativen Ermächtigungslehre“.25 Das Bundesverfassungsgericht und die Verwaltungsgerichte haben drei Voraussetzungen entwickelt, die erfüllt sein müssen, damit sich die Behörde auf eine Letztentscheidungskompetenz berufen kann: Erstens muss sich die Beurteilungsermächtigung ausdrücklich aus dem Gesetz ergeben26 oder durch Auslegung hinreichend deutlich zu ermitteln sein. Zweitens muss ein hinreichend gewichtiger, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteter Sachgrund für die Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle vorliegen. Drittens müssen den Fachgerichten genügend Möglichkeiten und in diesem Rahmen auch die Pflicht zu einer substanziellen Kontrolle des behördlichen Handelns verbleiben.27 mit weiteren Kriterien ein Zeichen dafür sein, dass der Gesetzgeber der Verwaltung eine Letztentscheidungskompetenz eingeräumt hat, vgl. hierzu noch in § 5 V 3 b. 23 Vgl. Aschke in BeckOK VwVfG §  40 Rn.  33; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 195, 198. Etwas anderes kann aber gelten, wenn die Prognosen einen politisch-planerischen Einschlag haben, s. Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, § 114 Rn. 59; Sachs aaO § 40 Rn. 199 ff. Vgl. ferner BVerwG NVwZ 2004, 991, 993 (zur Sicherheitsgebühr im Luftfahrtrecht); BVerwG NVwZ 2016, 161 Rn. 18 (zur Visumserteilung unter Berufung auf EuGH mit Verweis auf NVwZ 2014, 289); Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 33.  24 S.  nur BVerwGE 94, 307, 309  f. = NVwZ 1995, 707; BVerwGE 147, 244 Rn.  25 = NVwZ 2014, 300. Pointiert Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 242: Die behördlichen Letzt­ entscheidungsbefugnisse „dürfen jedoch nicht durch Verwaltung oder Gerichte selbst erfunden, sie müssen im Gesetz gefunden werden.“ 25 Zu diesem Begriff etwa Ruffert in Knack/Henneke VwVfG § 40 Rn. 7; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art.  19 Abs.  4 Rn.  185  ff.; Maurer/Waldhoff VerwR §  7 Rn. 33 f.; Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 706 ff. 26 So etwa § 71 Abs. 5 Satz 2 GWB, das dem Beschwerdegericht in einem kartellrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht gestattet, die Würdigung der gesamtwirtschaftlichen Lage und Entwicklung durch die Kartellbehörde zu überprüfen. Weitere ausdrückliche Beurteilungsermächtigungen sind enthalten in § 20 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Satz 2, § 5 Abs. 2 Satz 5 JMStV (dazu in § 5 II 3 a) und in § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG (dazu in § 5 IV 2). 27 S.  etwa BVerfGE 129, 1, 22  f. = NVwZ 2011, 1062; BVerwGE 129, 27 Rn.  26, 35 = NJW 2007, 2790; BVerwG NVwZ 2014, 524 Rn. 15; BVerwGE 151, 56 Rn. 31 = NVwZ 2015, 967; BVerwGE 153, 265 Rn. 23 = NVwZ 2016, 387; BVerwGE 156, 75 Rn. 32 = NVwZ 2017, 557. Aus dem Schrifttum Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 35; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 161 f., 165 ff. 150

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

Folgt aus dem Gesetz ein sachlich begründeter Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bedeutet dies nicht, dass die Behörde bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale nur eingeschränkt kontrolliert werden kann. Vielmehr bezieht sich der Spielraum nur auf die Subsumtion unter einen unbestimmten Rechtsbegriff.28 Auch wenn die Unterscheidung zwischen der Auslegung und Subsumtion in solchen Fällen schwierig sein kann, muss die (abstrakte) Ermittlung des Norminhalts den Gerichten obliegen, um den Rechtsanwendern eine Auslegungshilfe bereitzustellen.29 Nach den vom BVerwG entwickelten Grundsätzen ist die Ausübung einer Beurteilungsermächtigung generell darauf zu überprüfen, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Wertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat.30 Jenseits dieser eher breit gezogenen Grenzen ist es bislang trotz der eingesetzten wissenschaftlichen Energie nicht gelungen, abstrakte und allgemein konsentierte Grundsätze richterlicher Prüfungsdichte auf der Tatbestandsebene herauszuarbeiten, die eine rechtssichere Subsumtion im konkreten Fall ermöglichen.31 Vielmehr werden einige Erklärungsversuche angeboten, die es ermöglichen sollen, Kriterien für die Behandlung der unterschiedlich gelagerten Problemfälle präzisier umzureißen.32 Die folgende Darstellung orientiert sich der Einfachheit halber an der Fallgruppenbildung,33 die im Zusammenspiel von Rechtsprechung und Wissenschaft betrieben wird. Zwar haben die Fallgruppen einen geringen Wert, wenn es um die Behandlung künftiger Fälle geht, weil sie naturgemäß vergangenheitsgerichtet sind, sie bringen aber den 28 Zur Differenzierung zwischen Auslegung und Subsumtion Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  62, 64.  Krit. aber Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 97 mwN. 29 Zutr. Herdegen JZ 1991, 747, 749.  Vgl. ferner Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  62: „Bei der regelmäßig notwendigen letztverbindlichen Festlegung des konkreten Entscheidungsprogramms und der Bindungsmaßstäbe erfüllen die Gerichte über den einzelnen Prozeß hinaus wichtige Aufgaben zur Stabilisierung der Rechtslage. Diese Kompetenz zu letztverbindlicher Definition ist das herausragende und unbestrittene Merkmal aller gerichtlichen Kontrolltätigkeiten.“ 30 BVerwGE 148, 48 Rn. 33 = NVwZ 2014, 589; BVerwGE 151, 56 Rn. 38 = NVwZ 2015, 967; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 98 f. 31 Deutlich Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 94: Das Ergebnis sei nicht immer vorhersehbar, bisweilen sogar voluntativ. 32 Aufschlussreicher Überblick bei Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 59 ff. 33 Zu den Fallgruppen etwa Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 115; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 37 ff. 151

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Vorteil mit sich, eine Vielzahl von gerichtlichen Aussagen zu systematisieren und damit dem Rechtsanwender zugänglich zu machen.34 Auf dieser Grundlage wird in einem späteren Stadium der Arbeit versucht, die Sachgründe he­ rauszufiltern, die zur Verlagerung der Letztentscheidungskompetenzen auf die Verwaltung geführt haben.35 2. Prüfungs- und Bewertungsentscheidungen Zu den weitgehend anerkannten Fallgruppen gehören zunächst Prüfungsentscheidungen unterschiedlicher Arten, wie z.B. Eignungsprüfung für Heilpraktiker, Jägerprüfung, juristische Staatsprüfung oder ärztliche Prüfungen. Während die Verwaltungsgerichte den Prüfungsbehörden zunächst einen breiten Beurteilungsspielraum eingeräumt haben,36 tendiert die neuere Judikatur unter dem Einfluss des BVerfG37 zu einer intensiveren gerichtlichen Kontrolle, gewährt aber den Prüfungsbehörden eine Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich prüfungsspezifischer Wertungen. Zu solchen Wertungen gehören: die Einschätzung des Schwierigkeitsgrads der Aufgabe und der Anforderungen an den Prüfling, die Bewertung der Darstellung und Argumentation, die Gewichtung der Aufgabenteile und Fehler sowie die abschließende Benotung im Hinblick auf die durchschnittlichen Anforderungen unter Berücksichtigung des Gesamteindrucks.38 Diese Einschränkung der gerichtlichen Prüfungsdichte wird dabei – neben der Chancengleichheit der Prüflinge (Art.  3 Abs.  1 GG)39  – mit den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung begründet:40 Die Prüfungssituation lasse sich im 34 Treffend Eifert ZHR 174 (2010), 449, 458: „historisch sedierte Orientierungshilfen“. Krit. aber Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 116. 35 S. dazu in § 5 V 3. 36 BVerwGE 8, 272, 273 ff. = NJW 1959, 1842. 37 S. insb. BVerfGE 84, 34, 48 ff. = NJW 1991, 2005. 38 Statt vieler BVerwGE 92, 132, 137 = NVwZ 1993, 681; BVerwGE 99, 74, 77 ff. = NJW 1996, 942; BVerwG NVwZ 2004, 1375, 1376 f.; BVerwG NJW 2012, 2054 Rn. 6 ff. Zu den prüfungsspezifischen Wertungen vgl. auch Decker in BeckOK VwGO §  114 Rn.  36a; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn.  117; Sachs in Stelkens/ Bonk/Sachs VwVfG § 40 Rn. 177. 39 Hierzu BVerfGE 84, 34, 50, 52 = NJW 1991, 2005; BVerfGE 84, 59, 77 = NJW 1991, 2008; BVerwGE 92, 132, 137 = NVwZ 1993, 681; BVerwG NVwZ 1993, 686, 688; BVerwGE 96, 126, 129 = NVwZ 1995, 492; BVerwG NVwZ 2004, 1375, 1376. 40 BVerfGE 84, 34, 50 = NJW 1991, 2005. Zu diesem Topos auch BVerfG NVwZ 2002, 1368; BVerwGE 130, 39 Rn.  29 = NVwZ 2008, 575; BVerwG NVwZ-RR 2011, 682 Rn. 37; BVerwGE 147, 244 Rn. 25 = NVwZ 2014, 300; BVerwGE 156, 148 Rn. 34 f. = NVwZ 2017, 160; Schmidt-Aßmann/Schenk in Schoch/Schneider/Bier VwGO Einl 152

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

Gerichtssaal nicht wiederholen, so dass den Prüfern ein Beurteilungsspielraum gewährt sein müsse. Dieser Spielraum bestehe aber nur dann, wenn die Prüfung verfahrensfehlerfrei verlaufen sei, die Prüfungsbehörde das anzuwendende Recht erkannt und allgemein gültige Bewertungsgrundsätze angewendet habe sowie von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei. Zudem seien Fragen fachlicher Richtigkeit durch die Gerichte zu beantworten. Mit einem Bewertungsspielraum des Prüfers korrespondiere dabei ein angemessener Antwortspielraum des Prüflings. Deshalb überschreite die Behörde den Beurteilungsspielraum, wenn sie eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten begründete Lösung als falsch bewerte.41 Die Aussagen zur richterlichen Kontrolldichte bei Prüfungsentscheidungen sind paradigmatisch für weitere Fallgruppen, in denen Sachverhalte zusammengefasst werden, die sich durch eine prüfungsähnliche Situation aus­ zeichnen oder bei denen eine persönliche Bewertung erforderlich ist.42 In die erstgenannte Gruppe gehört etwa die Beurteilung der Habilitations- und Promotionsleistungen.43 Die letztgenannten Entscheidungen haben häufig einen beamtenrechtlichen Einschlag; sie betreffen die Einstellung, Beförderung oder Versetzung44 eines Beamten.45 So ist eine Auswahlentscheidung, die sich an Rn. 188; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 34; Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 64 ff.; Pernice-Warnke WissR 47 (2014), 371, 377 ff. 41 Vgl. etwa BVerwGE 91, 262, 266 = NVwZ 1993, 677; BVerwGE 99, 74, 77 = NJW 1996, 942; BVerwG NVwZ 2004, 1375, 1377; s. auch Decker in BeckOK VwGO § 114 Rn. 36a. 42 Hierzu gehören allerdings nicht die Fälle, in denen die Zuverlässigkeit einer Person eingeschätzt werden muss, so etwa nach § 35 GewO (Ennuschat in Tettinger/Wank/ Ennuschat GewO § 35 Rn. 27), § 4 Abs. 2 Nr. 1 GastG (VGH München BeckRS 2017, 138431 Rn.  37), §  13 Abs.  1 Satz  1 Nr.  2 PBefG iVm §  1 PBZugV (OVG Hamburg NJOZ 2010, 110, 112  f.; Heinze in Heinze/Fehling/Fiedler PBefG §  13 Rn.  33), §  7 LuftSiG (zu § 29d LuftVG aF BVerwGE 121, 257, 262 = NVwZ 2005, 453) oder § 4 Abs. 1 Nr. 2, § 5 WaffenG (BayVGH Urt. v. 23.11.2015 – 21 CS 15.2130, juris-Rn. 17; Heinrich in Steindorf WaffenR § 5 WaffenG Rn. 3). 43 Zur Habilitation BVerfG NVwZ 2011, 486, 489. Zur Promotion OVG Saarlouis NJW 2015, 2516, 2517; VG Leipzig Urt. v. 21.5.2014 – 4 K 528/11, juris-Rn. 24, 37 ff. Bewertet eine mehrköpfige Kommission eine Habilitations- oder Promotionsleistung, lässt sich die Einschränkung richterlicher Kontrolle ergänzend mit der Überlegung rechtfertigen, dass es sich um eine wertende Entscheidung eines weisungsunabhängigen pluralistischen Gremiums handelt; vgl. hierzu sogleich in § 5 II 3. 44 Im Zusammenhang mit einer Umsetzung eines Richters greift BVerfG NJW 2008, 909 f. – entgegen der herkömmlichen Unterscheidung – auf die Figur des pflichtgemäßen Ermessens zurück. 45 Vgl. etwa den Überblick bei Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8.  Aufl., §  40 Rn. 187 ff. 153

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den Kriterien der Bestenauslese gem. Art. 33 Abs. 2 GG orientiert, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar.46 Außerdem unterliegt die Frage, ob sich ein Beamter auf Probe bewährt hat,47 einer nur eingeschränkten richterlichen Kontrolle: Die Gerichte könnten lediglich kontrollieren, ob die Veraltungsbehörde ihrer Entscheidung einen zutreffenden Sachverhalt und die allgemeinen Wertungsmaßstäbe zugrunde gelegt hat sowie den Begriff der Bewährung verkannt hat.48 Ein ähnlicher Kontrollmaßstab ist im Zusammenhang mit dienstlichen Beurteilungen anzulegen, namentlich wenn sie sich – wie bei § 21 Satz 1 BBG – an den Kriterien des Art. 33 Abs. 2 GG orientieren. Auch insoweit haben die Gerichte die Bewertungsspielräume der Verwaltungsbehörden zu respektieren, wenn diese die Verwaltungsvorschriften eingehalten, den richtigen Sachverhalt zugrunde gelegt, die anzuwendenden Begriffe erkannt, allgemein gültige Wertmaßstäbe beachtet und keine sachfremden Erwägungen angestellt haben.49 Mit den Beurteilungsermächtigungen bei Prüfungs- und Bewertungsentscheidungen vergleichbar ist der Spielraum, der dem Bundesnachrichtendienst im Rahmen der Sicherheitsprüfung nach §§  5, 14 Abs.  2 SÜG zusteht.50 Diese Prüfung ist eine unabdingbare Einstellungsvoraussetzung für die Laufbahn des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes im Bundesnachrichtendienst; sie erstreckt sich auch auf die Frage, ob bei einem Bewerber ein Sicherheitsrisiko vorliegt. Die im Rahmen der Sicherheitsprüfung festzustellende sicherheitsrechtliche Eignung ist nach Ansicht des BVerwG ein Teilaspekt der dienstrechtlichen Eignung im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG, so dass die behördliche Entscheidung  – wie bei beamtenrechtlichen Bewertungen  – einer nur 46 BVerfG NVwZ 2002, 1368; BVerfG NVwZ-RR 2008, 433, 434; BVerwGE 138, 102 Rn. 22 = NJW 2011, 695 (das Gericht hielt den Spielraum im konkreten Fall für überschritten, s. Rn. 47 ff.). Zum Beurteilungsspielraum auch BVerwGE 145, 185 Rn. 17 = NVwZ 2013, 955. Voll überprüfbar ist aber die Beurteilung der gesundheitlichen Eignung des Bewerbers, vgl. BVerwGE 147, 244 Rn. 24 ff. = NVwZ 2014, 300. In Berufungsverfahren kann die Beurteilungsermächtigung der Hochschule ergänzend mit Art. 5 Abs. 3 GG begründet werden, vgl. dazu BVerwG NVwZ-RR 2017, 736 Rn. 20; OVG Münster NVwZ 2016, 868 Rn. 8; Pernice-Warnke WissR 47 (2014), 371, 390 ff. 47 Für Bundesbeamten s. § 11 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BBG. Für Landesbeamten s. etwa § 19 Abs. 1 Satz 1 LBG BW oder § 13 LBG NRW iVm § 5 Abs. 1 Satz 1 LaufbahnVO NRW. 48 Statt vieler BVerwGE 85, 177, 180 = NVwZ 1991, 170; BVerwG NVwZ-RR 2002, 49; Battis BBG § 11 Rn. 8. 49 BVerfGE 108, 282, 296 f. = NJW 2003, 3111; BVerwGE 153, 48 Rn. 9 = NVwZ 2016, 1262. 50 Zur Sicherheitsprüfung bei Soldaten vgl. die Aufzählung bei Sachs in Stelkens/Bonk/ Sachs VwVfG § 40 Rn. 191. 154

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

eingeschränkten richterlichen Kontrolle dahingehend unterliegt, ob die Behörde von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist,51 den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat.52 Die Beurteilungsermächtigung folge aus dem Umstand, dass der Bundesnachrichtendienst nach § 14 Abs. 3 SÜG den Einzelfall unter besonderer Berücksichtigung des staatlichen Sicherheitsinteresses umfassend zu würdigen habe und damit eine im Gesetzeswortlaut verankerte Einschätzungsprärogative genieße; in die Entscheidung würden auch politische und wertende Aspekte einfließen. Die Gerichte verfügten deshalb im Vergleich zur Judikative nicht über eine Sachkompetenz, die sie befähige, eine bessere Entscheidung als die Verwaltung zu treffen.53 3. Entscheidungen weisungsunabhängiger pluralistischer Gremien a) Jugendschutzrecht Einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen auch Entscheidungen, die wertende Elemente enthalten und getroffen werden durch weisungsfreie, pluralistisch zusammengesetzte Gremien, die über hinreichende Sachkunde verfügen.54 So räumte das BVerwG 1971 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien einen breiten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage ein, ob eine Schrift gem. § 1 Abs. 1 GjS aF (heute: § 18 JuSchG) zur sittlichen Jugendgefährdung geeignet ist: Die Besetzung der Bundesprüfstelle verbinde Fachkenntnisse und Elemente gesellschaftlicher Repräsentanz und biete damit die Gewähr, dass bei der Indizierung einer Schrift die verschiedenen Gruppen der pluralistischen Gesellschaft wirksam werden würden. Zum Wesen der Entscheidungen der Prüfstelle gehöre die Unvertretbarkeit ihrer Meinungsbildung, so dass es widersprüchlich wäre, wenn die Verwaltungsge51 Damit das Gericht beurteilen kann, ob die Behörde vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, muss diese grundsätzlich die Verwaltungsvorgänge und Akten vollständig vorlegen, vgl. BVerwGE 153, 36 Rn. 37 ff. = NVwZ 2016, 327. 52 Gegen eine Beurteilungsermächtigung des BND noch BVerwG NVwZ-RR 2011, 682 Rn. 36 ff. (aufgegeben in BVerwGE 153, 36 Rn. 30 = NVwZ 2016, 327). So auch Warg NVwZ 2016, 331 f. 53 Ausf. BVerwGE 153, 36 Rn. 21 ff. = NVwZ 2016, 327.  54 Zur Bedeutung dieser Gremien für die richterliche Kontrolldichte Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 67 f.; K. Redeker DÖV 1971, 757, 760. Zu den einzelnen Fallgruppen Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 140 ff.; Sachs in Stelkens/Bonk/ Sachs VwVfG § 40 Rn. 192 ff., 204 ff. 155

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richte befugt wären, auf Grund eigener Ermittlungen mit Hilfe von Sachverständigen ihre Entscheidung an die Stelle der Behördenentscheidung zu setzen. Deshalb könnten Gerichte nur kontrollieren, ob die Bundesprüfstelle von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen sei und ob sie die Grenzen ihrer Einschätzungsprärogative eingehalten und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet habe. Dabei müsse die Bundesprüfstelle ihre Entscheidung in einer die gerichtliche Nachprüfung ermöglichenden Weise begründen und die Beurteilungsmaßstäbe erkennen lassen, die sie ihrer Entscheidung zugrunde gelegt habe.55 Diese Rechtsprechung gab das BVerwG – wie auch bei der Kontrolle der Prüfungsentscheidungen56 – in den 1990er Jahren unter dem Einfluss des BVerfG, das eine breite Beurteilungsermächtigung der Bundesprüfstelle nicht mit der Kunstfreiheit für vereinbar hielt,57 auf und zog die Grenzen des behördlichen Spielraums enger: Die Verwaltungsgerichte müssten respektieren, dass der Gesetzgeber der pluralistisch zusammengesetzten Bundesprüfstelle die Aufgabe zugewiesen habe, die widerstreitenden Belange im Rahmen der rechtlichen Vorgaben in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen und damit den Grundrechtsschutz zu optimieren. Könnte ein Gericht seine Auffassung, welches der widerstreitenden Verfassungsgüter im Einzelfall Vorrang genießen solle, unbeschränkt an die Stelle der Einschätzung der Prüfstelle setzen, liefe diese institutionelle Grundrechtsabsicherung leer.58 Die Kontroversen um die Beurteilungsspielräume im Jugendschutzrecht wurden zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt mit dem Erlass des Jugendmedien-Staatsvertrags, der das System der „regulierten Selbstregulierung“59 einführte. In diesem System werden Medienanbieter nicht nur durch staatliche Stellen kontrolliert, sondern die Aufsicht kann gem. §§ 19, 19a JMStV auch 55 BVerwGE 39, 197, 203 ff. = NJW 1972, 596; vgl. ferner BVerwGE 77, 75, 77 ff. = NJW 1987, 1429; BVerwG NJW 1987, 1431, 1432. 56 Dazu bereits § 5 II 2. 57 Vgl. BVerfGE 83, 130, 148 = NJW 1991, 1471. S. ferner Wimmer JZ 2010, 433, 436. 58 S. nur BVerwGE 91, 211, 215 ff. = NJW 1993, 1491. Zu den typischen Argumentationsmustern J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 18. Krit. dazu etwa Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 196: Die Verknüpfung einer Beurteilungsermächtigung mit Entscheidungsbefugnis pluralistisch zusammengesetzter Organe sei kein verallgemeinerungsfähiger Gedanke. Die Interessenkonflikte, die in einem solchen Organ auftreten könnten, würden eher eine vollständige gerichtliche Kontrolle gebieten. Zu den Interessenkonflikten als einem Grund für die Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle s. noch in §  8 IV, §  12 VI, § 14 IV und § 18 V. 59 Statt vieler Schulz/Held in BeckKommRundfunkR § 1 JMStV Rn. 21 ff. 156

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

durch sog. Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle erfolgen, die ihrerseits nach § 19b JMStV durch die Kommission für Jugendmedienschutz (§ 14 JMStV) beaufsichtigt werden. Diese Kommission bleibt neben den (privatrechtlich organisierten) Selbstregulierungseinrichtungen gem. §§ 16, 20 JMStV für die Beurteilung und Aufsicht der Medienangebote zuständig, kann aber gem. § 20 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 JMStV nicht gegen einen Medienanbieter wegen eines Verstoßes gegen die Bestimmungen des Jugendmedien-Staatsvertrags vorgehen, wenn dieser Anbieter die Sendung vor ihrer Ausstrahlung einer Selbstregulierungseinrichtungen vorgelegen hat und deren Vorgaben beachtet wurden, soweit die Einrichtung ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten hat. Vor diesem regulatorischen Hintergrund genießen jedenfalls die Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle eine gesetzlich verankerte Beurteilungsermächtigung.60 Ob die Kommission ebenfalls diskretionäre Spielräume in Anspruch nehmen kann, wenn sie die Entscheidungen der Selbstregulierungseinrichtungen überprüft, wird in Rechtsprechung und Schrifttum kon­ trovers diskutiert.61 Der facettenreiche Streit kann an dieser Stelle nicht in allen Einzelheiten dargestellt, geschweige denn entschieden werden. Es mutet aber befremdlich an, wenn zwei Gremien, die den gleichen Sachverhalt zu beurteilen haben, jeweils eine Letztentscheidungskompetenz in Anspruch nehmen könnten: zum einen die Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle, zum anderen die Kommission für Jugendmedienschutz. Das Wesen einer Letztentscheidungskompetenz liegt gerade darin, einer Instanz die verbindliche Beurteilung eines Sachverhalts zu gestatten, ohne dass diese Beurteilung von einer anderen Instanz korrigiert werden kann. Vor diesem Hintergrund spricht mehr dafür, die Entscheidung der Kommission für Jugendmedienschutz der vollen gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen. Dieser Befund ist aus der gesellschaftsrechtlichen Perspektive erhellend: Wie noch in § 11 I 2 im Kontext des aufsichtsrechtlich gebotenen Organisations- und Risikomanagementsystems sowie in § 15 III 3 im Zusammenhang mit den Informationsansprüchen des Aufsichtsrats erläu60 Krit. etwa Wimmer JZ 2010, 433, 437, der im Hinblick auf die Spielräume der Freiwilligen Einrichtungen eine „strukturelle Schieflage“ bemängelt. 61 Dafür etwa VG Augsburg MMR 2008, 772, 774; Hopf/Braml MMR 2009, 153, 154 ff.; Proelß AöR 136 (2011), 402, 415 f.; Rossen-Stadtfeld ZUM 2008, 457, 466 ff. Dagegen BVerwG NVwZ-RR 2017, 946 Rn. 33 f.; VGH München NJW 2011, 2678, 2681 f.; VG Berlin MMR 2009, 496, 498 f.; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 139; Schuler-Harms in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 12 Rn. 175; Schulz/Held in BeckKommRundfunkR § 20 JMStV Rn. 63 ff. Einen umfassenden Überblick über den (älteren) Meinungsstand liefern Brandenburg/Lammeyer ZUM 2010, 655, 656. 157

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

tert wird, kann das Problem der widerstreitenden Beurteilungsspielräume auch im Gesellschaftsrecht auftreten. b) Weinrecht Auf ein ähnliches Begründungsmuster wie im Jugendschutzrecht greift das BVerwG im Zusammenhang mit der Qualitätsprüfung des Weins zurück. Nach § 19 Abs. 2, 3 WeinG wird einem Qualitätswein eine amtliche Prüfungsnummer zugeteilt, wenn er nach systematischer organoleptischer und analytischer Untersuchung die für dieses Erzeugnis typischen Bewertungsmerkmale aufweist sowie den deutschen und europäischen Vorschriften entspricht. Dabei ist es gem. § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WeinV entscheidend, ob der Wein in Aussehen, Geruch und Geschmack frei von Fehlern ist.62 Während die ältere Rechtsprechung die Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde – die an die Einschätzung der sog. Weinkommission gebunden ist – für gerichtlich vollständig überprüfbar hielt,63 unterstreichen neuere Judikate einen Beurteilungsspielraum der Weinkommission und damit der Behörde.64 Auch wenn die Rechtsprechungsänderung durch unionsrechtliche Vorgaben geprägt war,65 hat das BVerwG sein Ergebnis im bekannten dogmatischen Rahmen begründet: Die Weinkommission sei ein mehrköpfiges Gremium, dessen Mitglieder besonders sachkundig seien und unterschiedliche interessierte Parteien vertreten würden. Die pluralistische Zusammensetzung neutralisiere etwaige Subjektivismen der Kommissionsmitglieder und versachliche die Entscheidung.66 Hinzu komme, dass das Gericht die Einschätzung der Weinqualität in ihrem sachlich-fachlichen Kern nicht kontrollieren könne, zumal sich der Wein verändere und die Prüfungsentscheidung sich deshalb mit zunehmenden zeitlichen Abstand immer weniger nachvollziehen lasse. Vor diesem Hintergrund erstrecke sich die Kontrolle auf die Frage, ob die Weinkommission die Verfahrensbestimmungen eingehalten habe, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen sei, ob sie den Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt habe, ob sie sich bei der Beurteilung an allgemein gültige Wertungsmaßstäbe gehalten und das 62 Zur Erteilung der amtlichen Prüfungsnummer vgl. im Einzelnen Rathke in Zipfel/ Rathke LebensmittelR § 19 WeinG Rn. 10 ff. 63 BVerwGE 94, 307, 309 ff. = NVwZ 1995, 707. 64 BVerwGE 129, 27 Rn. 25 ff. = NJW 2007, 2790. Zust. Rathke in Zipfel/Rathke LebensmittelR § 19 WeinG Rn. 21. 65 Die Zusammensetzung und das Verfahren der Weinkommission war im Zeitpunkt von BVerwGE 129, 27 = NJW 2007, 2790 in Art. 8 VO (EG) 1607/2000 geregelt. 66 Im Einzelnen BVerwGE 129, 27 Rn. 28 ff. = NJW 2007, 2790. 158

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

Willkürverbot beachtet habe.67 Diese Begründung der eingeschränkten richterlichen Prüfungsdichte nimmt ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung zu den Spielräumen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien68 und enthält zugleich Elemente, die in der Judikatur zur Kontrolle der Prüfungsentscheidungen anklingen: Weder die Qualitätseinschätzung bei Wein­ erzeugnissen noch die Prüfung können im Gerichtssaal unter denselben Vo­ raussetzungen wie im Verwaltungsverfahren wiederholt werden. c) Recht der Geheimdienste Um eingeschränkt überprüfbare Entscheidungen eines weisungsabhängigen pluralistischen Gremiums handelt es sich schließlich bei Anordnungen der sog. G 10-Kommission, deren Aufgabe darin besteht, die Beschränkungsmaßnahmen der Bundesgeheimdienste im Bereich des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses zu überwachen und ggf. zu korrigieren.69 Namentlich entscheidet die Kommission gem. §  15 Abs.  7 Satz  2 in Verbindung mit §  12 G-10-Gesetzes darüber, wann geheimdienstliche Maßnahmen den Betroffenen mitgeteilt werden. Diese Entscheidung hängt gem. §  12 Abs.  1 Satz  2 G-10-Gesetzes davon ab, ob eine Gefährdung des Zwecks der beschränkenden Maßnahme nicht ausgeschlossen werden kann und ob übergreifende Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar sind. Da die Tatbestandsmerkmale des § 12 Abs. 1 Satz 2 G-10-Gesetzes mit prognostischen und wertenden Elementen behaftet sind und die gem. § 15 Abs. 1 Satz  3 G-10-Gesetzes weisungsfreie und unabhängige G  10-Kommission in einem detailliert geregelten Verfahren entscheidet, in dem die Sachkunde der Entscheidungsträger gewährleistet ist, gewährt das BVerwG der Kommission eine Beurteilungsermächtigung.70 Nach welchen Kriterien ein Gericht die Entscheidung der Kommission überprüfen darf, sagt das BVerwG nicht ausdrücklich. Es ist aber davon auszugehen, dass dieselben Grundsätze gelten wie in sonstigen Fällen einer Entscheidung eines weisungsabhängigen, pluralistisch zusammengesetzten Gremiums.71

67 BVerwGE 129, 27 Rn. 36 ff. = NJW 2007, 2790. 68 Vgl. etwa die Zitate in BVerwGE 129, 27 Rn. 27 = NJW 2007, 2790. 69 Im Einzelnen Roggan G-10-Gesetz § 15 Rn. 9 ff. 70 BVerwGE 130, 180 Rn. 42 ff. = NJW 2008, 2135. 71 Dazu bereits in § 5 II 3 a und b. 159

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

4. Dynamische Erkenntnisprozesse a) Atom- und Gentechnikrecht Im Zusammenhang mit den Prüfungs- und Bewertungsentscheidungen sowie Entscheidungen weisungsunabhängiger pluralistischer Gremien wurde angedeutet, dass die Beurteilungsermächtigung der Verwaltungsbehörden mit den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung begründet wird: Die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle nimmt in Fällen ab, in denen die Gerichte keine bessere Entscheidung treffen können als die Behörden.72 Dieses Entscheidungsmuster wird auch aufgegriffen, wenn die Verwaltung eine Prognoseund Risikoentscheidung mit stark wertenden, subjektiven Elementen treffen muss. Zwar wurde in § 5 II 1 ausgeführt, dass die Erforderlichkeit einer Prognose per se keine Absenkung der richterlichen Prüfungsdichte ermöglicht, doch wird eine Ausnahme von diesem Grundsatz zugelassen, wenn der Gesetzgeber die Behörden auf außerrechtliche Erkenntnisse verweist. So gewährt die Rechtsprechung einer Behörde, die über die Erteilung einer Genehmigung von Kernkraftwerken zu entscheiden hat, einen Beurteilungsspielraum bei der Anwendung des atomrechtlichen Vorsorgebegriffs, wenn das vorhandene ingenieurmäßige Erfahrungswissen nicht ausreicht, um die Sicherheitsrisiken zu beurteilen, sondern die Behörde bloß theoretische Überlegungen und Berechnung anstellen und sich dabei am Stand von Wissenschaft und Technik orientieren muss (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG). In einem solchen Fall dürfe sich die Behörde nicht auf die herrschende Meinung verlassen. Vielmehr müsse sie alle vertretbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse in Erwägung ziehen. Vor diesem Hintergrund könne es nicht Sache der nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Kontrolle sein, die der Exekutive zugewiesene Wertung wissenschaftlicher Streitfragen einschließlich der daraus folgenden Risikoabschätzung durch eine eigene Bewertung zu ersetzen. Die Verwaltung verfüge im Verhältnis zu den Gerichten über rechtliche Handlungsformen, die sie für die Verwirklichung des Grundsatzes bestmöglicher Gefahrenabwehr und Risikovorsorge sehr viel besser ausrüsten würden.73 Diese Aussagen greift die Rechtsprechung auf, um eine Beurteilungsermächtigung der Gentechnikbehörden zu begründen, die über eine Genehmigung zur 72 Neben den in Fn. 40 genannten Nachw. VGH München NVwZ-RR 2016, 39 Rn. 45 (zu § 70 GewO). 73 Vgl. BVerfGE 49, 89, 138 ff. = NJW 1979, 359 (im Kontext des Bestimmtheitsgrundsatzes); BVerfGE 61, 82, 114 f. = NJW 1982, 2173; BVerwGE 72, 300, 316 f. = NVwZ 1986, 208. S. ferner Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 3 Rn. 15, der treffend von kooperativer Rechtskonkretisierung spricht. 160

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Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene

Errichtung und zum Betrieb einer gentechnischen Anlage entscheiden sollen. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 4 GenTG hängt die Genehmigung unter anderem davon ab, ob Einrichtungen vorhanden und Vorkehrungen getroffen sind, die nach dem Stand der Wissenschaft und Technik notwendig sind, um schädliche Einwirkungen zu vermeiden. Aus dieser Normstruktur folgt nach Ansicht des BVerwG die Kompetenz der Verwaltung zur letztverantwortlichen Risikoermittlung und Risikobewertung. Ergänzend stellt das Gericht darauf ab, dass die Gentechnikbehörde eine Stellungnahme der überwiegend aus Sachverständigen zusammengesetzten Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit (§ 4 GenTG) einholen muss. Zwar ist die Behörde nicht an die Einschätzung der Kommission gebunden, so dass sich der Beurteilungsspielraum nicht mit denselben Argumenten begründen lässt wie bei Entscheidungen pluralistischer, weisungsfreier Gremien, der Verweis auf außerrechtliche Erkenntnisse verbietet es aber, dass ein Gericht die administrative Risikobewertung durch seine eigene Entscheidung ersetzt.74 b) Naturschutzrecht Der Gedanke des dynamischen Erkenntnisprozesses spielt auch dann eine zentrale Rolle, wenn das Recht auf den Wissensstand einer anderen Disziplin angewiesen ist, die dort geführte Diskussion sich aber noch im Fluss befindet.75 In einem solchen Fall fehlt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, eine in allen Aspekten gleichermaßen detaillierte Regelung zu treffen. Er weiß, dass er Regeln erlassen muss und in welche Richtung sich diese Regeln bewegen sollen, er weiß aber (noch) nicht, wie er im Detail regulieren soll.76 Eine solche Situation begegnet nach Auffassung des BVerwG namentlich im Naturschutzrecht.77 So könne ein Gericht in artenschutzrechtlichen Fällen kei74 Vgl. BVerwG NVwZ 1999, 1232, 1233  f.; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 204 f. 75 Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 247 sprechen treffend von einem „Erkenntnisvakuum“. 76 Zum Spannungsverhältnis mit dem Bestimmtheitsgrundsatz BVerwG NVwZ 2014, 524 Rn. 17. Zu den Handlungspflichten des Gesetzgebers bei anhaltendem „Erkenntnisvakuum“ BVerfG NJW 2019, 141 Rn.  24; Dolde NVwZ 2019, 1567, 1569  ff. Zur politischen Zurückhaltung des Gesetzgebers im Naturschutzrecht Gärditz NVwZ 2014, 1, 10. 77 Überblick über naturschutzrechtliche Beurteilungsspielräume bei Riese in Schoch/ Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 147 ff. sowie bei Kahl/Burs DVBl 2016, 1157, 1163 ff. und DVBl 2016, 1222 ff. Zur Abgrenzung von FFH-Gebieten BVerwGE 121, 72, 84 ff. = NVwZ 2004, 1486; BVerwG NVwZ 2010, 1225 Rn. 38; BVerwGE 145, 40 Rn. 22 ff. = BeckRS 2013, 50523; BVerwGE 148, 373 Rn. 42, 94 = NVwZ 2014, 714. Zu den Vogel161

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

ne Einschätzung vornehmen, die der behördlichen Entscheidung inhaltlich überlegen sei, weil ihm insoweit rechtliche oder außerrechtliche Orientierungsmaßstäbe fehlen würden.78 Vor diesem Hintergrund beschränke sich die gerichtliche Kontrolle auf die Frage, ob die Verwaltungsentscheidung im konkreten Einzelfall naturschutzfachlich vertretbar sei und nicht auf einem Bewertungsverfahren beruhe, das sich als unzulängliches oder gar ungeeignetes Mittel erweise, um den gesetzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Das Gericht müsse der Frage nachgehen, ob die artenschutzrechtlichen Untersuchungen in ihrem methodischen Vorgehen und in ihrer Ermittlungstiefe ausreichend gewesen seien, um die Behörde in die Lage zu versetzen, die gesetzlichen Vorgaben sachgerecht zu prüfen.79 Das BVerfG greift in Fällen, in denen zur Beantwortung einer sich nach außerrechtlichen naturschutzfachlichen Kriterien richtenden Rechtsfrage an normativen Konkretisierungen fehlt und in Fachkreisen und Wissenschaft bislang keine allgemeine Meinung über die fachlichen Zusammenhänge und die im Einzelfall anzuwendenden Ermittlungsmethoden besteht, die Figur der Einschätzungsprärogative nicht auf. Stattdessen verweist es darauf, dass die vollständige gerichtliche Kontrolle an ihre faktischen Grenzen stößt und Art. 19 Abs. 4 GG den Verwaltungsgerichten erlaubt, ihrer Entscheidung insoweit die Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage zugrunde zu legen, wenn diese aus gerichtlicher Sicht plausibel ist.80 Unabhängig davon, ob man die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte mit einem Verweis auf eine Einschätzungsprärogative81 oder auf eine „faktische Grenze verwaltungsgerichtlicher Kontrolle“82 stützt, macht das Naturschutzrecht das Spannungsverhältnis zwischen dynamischen Erkenntnisprozessen schutzgebieten BVerwGE 126, 166 Rn.  20 = NVwZ 2006, 1161; BVerwGE 130, 299 Rn.  51  ff., 202 = BeckRS 2008, 38060; BVerwGE 149, 229 Rn.  23  f. = NVwZ 2014, 1022. 78 Krit. zu diesem Argument allerdings Gassner DVBl 2012, 1479, 1481  f.; Kahl/Burs DVBl 2016, 1222, 1225 ff.; Meßerschmidt EurUP 2014, 11, 16 f. Zurückhaltend auch Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 144. 79 BVerwGE 131, 274 Rn. 64 ff. = NVwZ 2009, 302; BVerwGE 134, 308 Rn. 38 = BeckRS 2009, 37830; BVerwGE 147, 118 Rn. 14 ff. = NVwZ 2013, 1411; BVerwG NVwZ 2014, 524 Rn. 16 ff. 80 BVerfG NJW 2019, 141 Rn. 15 ff. Krit. etwa Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 146. 81 So das BVerwG, s. die Nachw. in Fn. 79. 82 So das BVerfG in NJW 2019, 141 Rn. 23. Zu den Unterschieden zwischen den Ansätzen ausf. Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 145 f.; Eichelberger NVwZ 2019, 1560, 1563 ff. 162

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Planungsermessen

und der gerichtlichen Kontrolle deutlich. Wollte man eine engmaschigere gerichtliche Kontrolle zulassen, obwohl weder der Gesetzgeber noch die Wissenschaft handfeste Beurteilungskriterien entwickelt hätten, würde das Gericht die behördliche Entscheidung nicht nur überprüfen, sondern eine eigene Entscheidung treffen;83 letztlich geht es auch hier um die Funktionsgrenzen der Judikative.84 Die richterliche Prüfungsdichte intensiviert sich allerdings dann, wenn sich eine außerrechtliche Auffassung zum allgemein anerkannten Wissensstandard durchgesetzt hat und andere Ansichten deshalb als wissenschaftlich nicht mehr vertretbar gelten.85

III. Planungsermessen 1. Struktur der Planungsnormen Eine weitere Kategorie, in der die Einschränkung der richterlichen Kontrolldichte lebhaft diskutiert wird, ist das Planungsermessen, das mit der Eigenart der öffentlich-rechtlichen Planungsmaßnahmen zusammenhängt.86 Die planerische Tätigkeit der Verwaltungsbehörden hat zwar einen hoheitlichen Charakter, sie unterscheidet sich aber grundlegend von der klassischen Eingriffsund Leistungsverwaltung: Die Planungsbehörde vollzieht nicht nur das Gesetz, indem sie eine punktuelle Entscheidung trifft, bei der sie im Hinblick auf die widerstreitenden Interessen der betroffenen Personen Überlegungen über die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen anstellen muss. Vielmehr zeichnet sich die Planungstätigkeit durch eine Mehrdimensionalität und einen gestalterischen Charakter aus. Die Planungsbehörde muss zahlreiche miteinander verflochtene Eigentumspositionen und die damit verbundenen räumlichen und sachlichen Interessen sowie die technisch-wirtschaftlichen Ziele des geplanten Vorhabens berücksichtigen; gesprochen wird von einem offenen und 83 Zutr. Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 247. Ähnlich Eichelberger NVwZ 2019, 1560, 1562. 84 So die zutr. Beobachtung von Gärditz NVwZ 2014, 1, 10. Vgl. hierzu noch in § 5 V 3 b. 85 Zu dieser Grenze der Beurteilungsermächtigung BVerwGE 131, 274 Rn. 66 = NVwZ 2009, 302; BVerwGE 147, 118 Rn. 15 = NVwZ 2013, 1411; BVerwG NVwZ 2014, 524 Rn. 19. Vgl. ferner Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 248, die treffend von einer auflösend bedingten fachlichen Einschätzungsprärogative zur Bewältigung eines unbefriedigenden Zwischenzustands sprechen. 86 Zum Teil greift die Rspr. die Besonderheiten der planerischen Entscheidung auf, um eine Beurteilungsermächtigung auf der Tatbestandsebene einer klassischen konditionalen Norm zu begründen, vgl. BVerwG 121, 72, 84 f. = NVwZ 2004, 1486; BVerwG NVwZ 2010, 66 Rn. 28; Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 246. 163

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

iterativen Prozess.87 Insoweit ist sie eher mit dem Gesetzgeber denn mit der klassischen Verwaltungsbehörde vergleichbar.88 Vor diesem Hintergrund weisen Normen des Planungsrechts meist eine finale Struktur auf: Anders als in Fällen der Eingriffs- oder Leistungsverwaltung, für die Konditionalprogramme typisch sind, lassen sich planungsrechtliche Vorschriften nicht immer strikt in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite aufteilen.89 Stattdessen konzentriert sich der Gesetzgeber zum einen auf die Ausgestaltung eines Planungsverfahrens, das die Vorbereitung der Planungsgrundlagen und die Einbindung der betroffenen Personen sicherstellen soll.90 Zum anderen formuliert er Planungsziele, die die Behörde verwirklichen soll.91 Dabei schreibt er nicht vor, welche konkreten Maßnahmen die Exekutive ergreifen soll, um die definierten Ziele zu erreichen. Stattdessen erlässt er sog. Abwägungsklauseln,92 die der Behörde die Pflicht auferlegen, die betroffenen privaten und öffentlichen Interessen umfassend abzuwägen.93

87 Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, § 114 Rn. 28. Zur Besonderheit der Planung auch Hoppe in HdB des StaatsR § 77 Rn. 21; ders. DVBl 1974, 641, 644. 88 Zu dieser Nähe etwa Di Fabio, FS Hoppe, S. 75. 89 Grundlegend zur Differenzierung zwischen Final- und Konditionalnormen Luhmann, Zweckbegriff, S. 66 ff. (der von Zweckprogrammen und Konditionalprogrammen spricht). Aus dem juristischen Schrifttum M. Redeker in K. Redeker/von Oertzen VwGO § 114 Rn. 9 f.; Hill, Gesetzgebungslehre, S. 19 f.; Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 63; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 30; Zippelius, Methodenlehre, S.  23 („Zweckprogramme“). Für das Planungsrecht s. nur Drinberger in BeckOK BauGB §  1 Rn.  132; Badura, FS BayVerfGH, S.  157, 161, 167  f., 172, 174; Brohm JZ 1995, 369, 371 f.; Hoppe DVBl 1974, 641, 643 f.; Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 60. Krit. zu dieser Unterschreidung aber Pfefferl, Dichotomie, S. 89 ff.; H.-J. Koch, Abwägung, S. 9, 15 f. Vgl. ferner Di Fabio, FS Hoppe, S. 75, 77, der auf S. 79 zutreffend darauf hinweist, dass manche Planungsnormen – wie etwa § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB – durchaus konditional strukturiert sind. Auch die Anwendung des Plans folgt der konditionalen Struktur, vgl. Hoppe DVBl 1974, 641, 644. 90 Zur Einbeziehung der vom Plan betroffenen Personen s. bereits Badura, FS Bay­ VerfGH, S. 157, 173, 175 f. Zur Bedeutung des administrativen Entscheidungsprozesses bei Normen mit „kybernetischer Funktion“ Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 60 f. 91 Aschke in BeckOK VwVfG § 40 Rn. 28 ff. 92 Die Abwägungsklauseln können entweder explizit in der Norm genannt sein oder aus dem Umstand folgen, dass der Gesetzgeber der Verwaltungsbehörde ein Planungsmandat erteilt hat. Vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 208.  93 Für die Konditionalisierung der Planungsnormen aber Di Fabio, FS Hoppe, S.  75, 86 ff. So auch für das Regulierungsrecht (dazu noch in § 5 IV) Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1009. 164

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Planungsermessen

Ein Standardbeispiel für ein solches Normengeflecht sind §§ 1 ff. BauGB: So schreibt §  2 Abs.  3 BauGB der Planbehörde vor, das Abwägungsmaterial zu ermitteln und zu bewerten; die Öffentlichkeitsbeteiligung ist in § 3 BauGB geregelt. In § 1 Abs. 5 und 6 BauGB sind die Planungsziele und die zu berücksichtigenden privaten und öffentlichen Belange aufgeführt; § 1 Abs. 7 BauGB sieht ergänzend ein Abwägungsgebot vor.94 2. Auswirkungen der Normstruktur auf die gerichtliche Kontrollintensität Da der Gesetzgeber die konkrete Planungssituation nicht vorhersehen kann und sich deshalb auf die Ausgestaltung des Planungsverfahrens, die Festlegung der Planungsziele und der abwägungsrelevanten Umstände sowie den Erlass einer Abwägungsdirektive beschränken muss, kann er dem Gericht keine inhaltlichen Beurteilungsmaßstäbe liefern, mit denen es das Ergebnis der Planung als richtig oder falsch beurteilen kann. Vielmehr ist das richterliche Prüfungsprogramm eingeschränkt, wobei die Kontrolldichte je nach Fragestellung variiert. So kann das Gericht zunächst überprüfen, ob die Verwaltung die rechtlichen Rahmenbedingungen des Plans berücksichtigt hat. Hierzu gehört insbesondere das Gebot der Planrechtfertigung95 sowie die Frage, ob die Verwaltung das Planungsverfahren eingehalten hat und ihrer planerische Festsetzungsmöglichkeiten – etwa die Vorgaben höherstufiger Pläne96 – beachtet hat; insoweit ist die Planungsentscheidung voll überprüfbar.97

94 Freilich begegnen Abwägungsdirektiven auch außerhalb des klassischen Planungsrechts, wie etwa in § 15 Abs. 5 BNatSchG. Zu den dort verankerten Beurteilungsspielräumen BVerwGE 128, 76 Rn. 23 ff. = NVwZ 2007, 581; Kahl/Burs DVBl 2016, 1222, 1224. 95 Vgl. BVerwGE 72, 282, 284 ff. = NJW 1986, 1508; Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 136. 96 Vgl. etwa § 1 Abs. 4 BauGB, wonach die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung anzupassen sind. Die Gemeinden müssen also bei der Gestaltung der Bauleitpläne die Vorgaben der Raumordnungspläne beachten, s. § 4 Abs. 1 Satz 1 ROG. Hierzu auch BVerwGE 90, 329, 332 ff. = NVwZ 1993, 167. 97 Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn.  192 (zur Planrechtfertigung mit dem Hinweis, dass die Gerichte der Sache nach zu einer Evidenzkontrolle tendieren); Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 210. Eine eingeschränkte richterliche Kontrolle entsprechend der Grundsätze der Beurteilungsermächtigung ist aber erwägenswert, soweit es um die Erforderlichkeit der Planung geht, wie etwa in § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB, vgl. Di Fabio, FS Hoppe, S. 75, 79 f. Speziell im Bauplanungsrecht sind auch die Grundsätze der Planerhaltung in §§ 214 ff. BauGB zu beachten. 165

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

An die Kontrolle der rechtlichen Rahmenbedingungen des Plans schließt sich die Kontrolle der behördlichen Abwägungsentscheidung an. An dieser Stelle schlagen die Besonderheiten der planerischen Tätigkeit und die finale Struktur der Planungsnormen auf das Verfahrensrecht durch: Da der Gesetzgeber der Verwaltung ein Planungsmandat erteilt hat, genießt diese innerhalb des Abwägungsvorgangs einen Gestaltungsspielraum, der einer vollständigen gerichtlichen Kontrolle entzogen ist; die Letztentscheidungskompetenz liegt bei der Planungsbehörde. In den Worten des BVerwG hat die Überprüfung des Abwägungsergebnisses nicht zu fragen, ob das Ergebnis Beifall verdient oder ob es gar optimal ist; die Frage hat vielmehr zu lauten, ob mit der vorgenommenen Abwägung die objektive Gewichtigkeit eines der betroffenen Belange völlig verfehlt wird.98 Auf dieser Grundlage und in sprachlicher Anlehnung an das Kontrollprogramm des §  114 VwGO99 haben Rechtsprechung und Schrifttum eine Ab­ wägungsfehlerlehre entwickelt, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die Judikative darf kontrollieren, ob die Planungsbehörde die einschlägigen Be­ lange überhaupt abgewogen hat (Abwägungsausfall), ob sie die abwägungs­ relevanten Belange ermittelt und berücksichtigt hat (Abwägungsdefizit), ob sie  die Gewichtigkeit der Belange zutreffend eingeschätzt hat (Abwägungs­ fehleinschätzung)100 und ob sie zwischen widerstreitenden Belangen einen angemessenen Ausgleich hergestellt hat (Abwägungsdisproportionalität).101 Die gerichtliche Prüfungsdichte wird jedenfalls im letztgenannten Punkt ge­lockert: Da die planerische Abwägung kein im Einzelnen nachvollziehbarer Vorgang ist, unterliegt das Abwägungsergebnis – also der Ausgleich der betroffenen In-

98 BVerwGE 56, 283, 289 f. = NJW 1979, 1516. 99 Hierzu bereits oben in § 5 I. Zu den begrifflichen Parallelen zwischen der Ermessensfehlerlehre und der Abwägungsfehlerlehre vgl. Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 209. Krit. dazu aber etwa Badura, FS BayVerfGH, S. 157, 172 ff.; Hoppe DVBl 1974, 641, 644. 100 Speziell im Bauplanungsrecht stuft der Gesetzgeber die Ermittlung und Bewertung der abwägungsrelevanten Belange in § 2 Abs. 3 BauGB als Verfahrensanforderungen ein. Verstöße gegen § 2 Abs. 3 BauGB sind nach Maßgabe des § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BauGB beachtlich. 101 Statt vieler BVerwGE 45, 309, 314 f. = NJW  1975, 70; BVerwGE 47, 144, 146 = NJW 1975, 841; BVerwGE 48, 56, 63 f. = NJW 1975, 1373; Drinberger in BeckOK BauGB § 1 Rn. 136; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 208 ff.; K. Redeker DÖV 1971, 757, 762. S. aber Eyermann/Rennert VwGO § 114 Rn. 49: Evidenzkontrolle sei überholt. 166

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teressen im Zuge der Planungsentscheidung – lediglich einer Evidenzkontrolle.102 Wie tief das Gericht den Abwägungsvorgang – also die Ermittlung und Bewertung des Planungsmaterials  – kontrollieren darf, ist hingegen umstritten. Während manche die Frage nach dem Abwägungsdefizit und der Abwägungsfehleinschätzung einer engeren gerichtlichen Kontrolle unterwerfen,103 wollen andere der Planungsbehörde auch bei der Zusammenstellung und Gewichtung des Abwägungsmaterials einen Spielraum mit dem Argument einräumen, das die Materialselektion von Abwägungsvorstellungen geprägt und daher nur begrenzt nachprüfbar sei.104 Auch die neuere Rechtsprechung geht davon aus, dass die Behörde den Sachverhalt dabei nur so weit zu klären braucht, wie dies für eine sachgerechte Entscheidung und eine zweckmäßige Gestaltung des Verfahrens erforderlich ist. Erscheinen ihr manche Alternativen auf Grund einer Grobanalyse als weniger geeignet, muss sie insoweit keine aufwändige Sachverhaltsaufklärung betreiben. Demnach handelt die Behörde erst dann abwägungsfehlerhaft, wenn eine verworfene Lösung sich ihr als überlegen hätte aufdrängen müssen.105

IV. Letztentscheidungskompetenzen im Regulierungsrecht 1. Bedeutung und Struktur des Telekommunikationsrechts Die Debatte um die behördlichen Letztentscheidungskompetenzen hat im Regulierungsrecht ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Sie dreht sich um Fälle, in denen die Bundesnetzagentur (BNetzA) als Regulierungsbehörde mit Eingriffs- und Gestaltungsbefugnissen ausgestattet wird, um für einen diskriminierungsfreien Wettbewerb auf Märkten zu sorgen, die sich früher in der Hand staatlicher Monopolisten befanden und die auch nach der (Teil-)Privatisie102 Vgl. BVerfG NVwZ  1998, 1060, 1061; BVerwGE  147, 184 Rn.  36 = NVwZ  2013, 1605; BVerwGE 154, 73 Rn. 52 = NVwZ 2016, 844; Hoppe in Hoppe/Bönker/Grotefels § 7 Rn. 121 f. S. ferner 103 So namentlich das BVerwG in älteren Judikaten, vgl. BVerwGE 34, 301, 308 = Verw­ Rspr 1970, 571; BVerwGE 45, 309, 322 f. = NJW 1975, 70; BVerwGE 47, 144, 146 f. = NJW 1975, 841; BVerwGE 48, 56, 64 = NJW 1975, 1373. 104 Dafür etwa Hoppe in Hoppe/Bönker/Grotefels § 7 Rn. 53; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 218; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn.  212; Herdegen JZ 1991, 747, 750.  Sympathisierend Gerhardt, Handlungsspielräume, S. 57, 59.  105 BVerwGE 139, 150 Rn. 65 f. = NVwZ 2011, 1256; BVerwG NVwZ 2013, 649 Rn. 56; BVerwGE 146, 254 Rn. 85 = NVwZ 2013, 1209; BVerwG NVwZ 2014, 589 Rn. 41. 167

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rung weiterhin zu einem „natürlichen Monopol“ tendieren. Dieses „natürliche Monopol“ ist meist durch den Umstand bedingt, dass die wirtschaftliche Betätigung vom Netzzugang abhängig ist und sich das Netz meist in Hand eines Akteurs befindet.106 Die Diskussion um die Letztentscheidungskompetenzen der BNetzA ist aufschlussreich, weil die im Regulierungsrecht gewonnenen Erkenntnisse die Ausdifferenzierung der seit den 1950er Jahre fortentwickelten Dogmatik der richterlichen Prüfungsdichte im Verwaltungsrecht widerspiegeln.107 Im Fokus der Judikatur steht dabei der Telekommunikationsmarkt,108 auf dem die Deutsche Telekom AG und ihre Konzernunternehmen109 eine Sonderstellung einnehmen.110 So stehen weite Teile des Telekommunikationsnetzes – jedenfalls im Bereich der Festnetzanschlüsse – im Eigentum des Telekom-Konzerns, so dass dieser den Netzzugang anderer Telekommunikationsanbieter steuern kann und damit über eine beträchtliche Macht im Sinne des §  11 Abs. 1 Satz 2 TKG auf unterschiedlichen Teilmärkten im Telekommunikationsbereich verfügt.111 Damit der Telekom-Konzern trotz seiner Marktmacht die Angebotsvielfalt nicht vollständig unterbinden kann und die in § 2 Abs. 2 TKG genannten Regulierungsziele nicht untergraben werden, kann die BNetzA gem. § 13 TKG eine sog. Regulierungsverfügung erlassen und darin dem marktmächtigen Unternehmen Verpflichtungen auferlegen.112 Namentlich kann die Agentur nach Maßgabe der §§ 16 ff. TKG den Marktzugang regulieren und dabei gem. §  21 TKG den marktmächtigen Netzbetreiber verpflichten, anderen Unternehmen den Netzzugang zu gewähren. Um eine faire Preisbildung zu sichern, unterliegen außerdem die für den Netzzugang erho106 Vgl. die Analyse von Franke Verw 49 (2016), 25, 26 ff. S. ferner Bullinger DVBl 2003, 1355, 1356; H. Ch. Röhl JZ 2006, 831, 832 f.; Schmidt-Preuß, FS R. Schmidt, S. 547, 548 f.; Trute, FG BVerwG, S. 857 f. 107 S. nur Wißmann, FS R. Schmidt, S. 627, 628. 108 Zur gehobenen Bedeutung der telekommunikationsrechtlichen Regulierung für die richterliche Prüfungsdichte Franke Verw 49 (2016), 25, 29. 109 Der sprachlichen Einfachheit halber wird im Folgenden vom Telekom-Konzern gesprochen. 110 Nicht näher eingegangen wird im Rahmen dieser Arbeit auf die gerichtliche Kon­ trolldichte im Energieregulierungsrecht. Vgl. dazu BGH EnWZ 2014, 378 Rn. 10 ff.; BGH BeckRS 2014, 16725 Rn. 13 ff.; BGH EnWZ 2015, 84 Rn. 26; Britz in Fehling/ Ruffert RegulierungsR § 9 Rn. 156; Franke Verw 49 (2016), 25, 32 ff. und die Nachw. in Fn. 115, 119, 126, 139, 156, 161 und 166. 111 Statt vieler Wißmann, FS R. Schmidt, S. 627, 632. 112 Einzelheiten zum Regulierungsverfahren etwa bei Eifert ZHR 174 (2010), 449, 470 ff. 168

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benen Preise gem. §§ 30 ff. TKG einem Genehmigungsvorbehalt oder einer nachträglichen Regulierung durch die BNetzA. Innerhalb dieses Regelungsgeflechts stehen der Agentur zahlreiche Letztentscheidungsbefugnisse zu, so dass ihre Maßnahmen zum Teil nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Allerdings lassen sich diese Spielräume nicht einer einheitlichen Kategorie  – etwa dem Regulierungsermessen113  – zuordnen,114 sondern die Intensität der gerichtlichen Kontrolle hängt davon ab, auf welche Norm die Regulierungsbehörde ihre Maßnahmen stützt.115 Aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts lohnt es aus zwei Gründen, diese Entwicklungen zu beleuchten. Zum einen zeigt das Regulierungsrecht, dass sich die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung – entgegen verbreiteter Behauptungen im verbandsrechtlichen Schrifttum116  – mitnichten in der Ausübung klassischer hoheitlicher Eingriffsbefugnisse erschöpft. Vielmehr müssen sich die Regulierungsbehörden mit (betriebs)wirtschaftlichen Problemen auseinandersetzen, die einen gestalterischen Einschlag aufweisen;117 insoweit sind ihre Aufgaben mit denen der Gesellschaftsorgane durchaus vergleichbar.118 Zum anderen macht die Ausdifferenzierung der Kontrolldogmatik im Regulierungsrecht deutlich, dass die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte nicht mit einer einheitlichen Figur bewältigt werden kann; darauf wird noch in § 6 I zurückzukommen sein. 113 Zur Genese dieses Begriffs Proelß AöR 136 (2011), 402, 412. 114 So aber Bullinger DVBl 2003, 1355, 1358  f.; Schorkopf JZ 2008, 20, 24; Trute, FG BVerwG, S. 857, 866 ff. In diese Richtung auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 3 Rn.  53.  Vgl. ferner die (krit.) Stellungnahme bei Attendorn MMR 2009, 238  ff. Zu den einzelnen Ausprägungen regulierungsbehördlicher Letztentscheidungskompetenzen Sachs/Jasper NVwZ 2012, 649 f. 115 So die inzw. hM, vgl. nur Mayen in Scheurle/Mayen TKG §  137 Rn.  40; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn.  78  f.; Attendorn MMR 2009, 238, 241; Durner VVDStRL 70 (2010), 398, 429 f.; Kersten VVDStRL 69 (2010), 288, 323; Ludwigs JZ 2009, 290, 294  ff.; dens. RdE 2013, 297, 300; Proelß AöR 136 (2011), 402, 412 ff.; H. Ch. Röhl JZ 2006, 831, 838 f.; Schmidt-Preuß, FS R. Schmidt, S. 547, 556 f.; dens., Netzindustrien, S. 11, 18 f. Zum Energierecht etwa Theobald/Zenke/Lange in Schneider/Theobald EnWR § 20 Rn. 72. 116 S. § 4 II 2 und 3. 117 Vgl. Bullinger DVBl 2003, 1355, 1359: quasi-gesetzgeberische Tätigkeit. In diese Richtung auch Ludwigs RdE 2013, 297, 299  f., der aber zugleich darauf hinweist, dass Regulierung immer Eingriffsverwaltung ist. 118 Diesen Vergleich zieht etwa Säcker, Kontrollmaßstab, S.  81, 97  f., der der BNetzA einen Letztentscheidungsspielraum in Anlehnung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einräumen will. S. auch bereits in § 4 VI 5. 169

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2. Marktdefinition und Marktanalyse Will man die Letztentscheidungskompetenzen der BNetzA beleuchten, bietet es sich an, die Untersuchung mit § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG zu beginnen. § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG räumt der BNetzA nämlich einen positivrechtlich verankerten Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage ein, welche Märkte durch beträchtliche und anhaltende strukturell oder rechtlich bedingte Marktzutrittsschranken gekennzeichnet sind, längerfristig nicht zu wirksamem Wettbewerb tendieren und auf denen die Anwendung des allgemeinen Wettbewerbsrechts allein nicht ausreicht, um dem betreffenden Marktversagen entgegenzuwirken.119 Dieser sog. „Drei-Kriterien-Test“120 im Sinne des §  10 Abs. 2 Satz 1 TKG dient der Bewertung, ob ein Markt regulierungsbedürftig ist. Der Gesetzgeber hält diese Bewertung der BNetzA für eine Prognoseentscheidung, an der betroffene Unternehmen und Verwaltungsbehörden beteiligt sind, so dass – entsprechend der Rechtslage für andere wertende Entscheidungen im Umwelt- und Wirtschaftsverwaltungsrecht – die Marktbestimmung nach § 10 Abs. 2 Abs. 1 TKG einer nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt.121 Den in § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG geregelten Beurteilungsspielraum erstreckt das BVerwG  – unter ausdrücklicher Billigung des BVerfG122  – auf die Marktabgrenzung gem. § 10 Abs. 1 TKG sowie auf die Marktanalyse gem. § 11 TKG, die auf der Marktdefinition nach § 10 TKG aufbaut und deren Ziel in der Feststellung liegt, ob auf dem untersuchten Markt wirksamer Wettbewerb besteht. Zwar bezieht sich der Wortlaut des § 10 Abs. 2 Satz 2 TKG ausdrücklich nur auf den „Drei-Kriterien-Test“ des § 10 Abs. 2 Satz 1 TKG, das BVerwG schränkt jedoch die richterliche Prüfungsdichte aus systematischen und teleologischen Gründen auch bei der Marktabgrenzung und der Marktanalyse ein.123 Die Abgrenzung des relevanten Marktes, die Prüfung seiner potenziellen Regulie119 Zu den Spielräumen im Energierecht vgl. etwa J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 20; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 474 f. Zurückhaltend SchmidtPreuß, Netzindustrien, S. 11, 18 f. 120 Vgl. nur Schütz in Geppert/Schütz TKG § 10 Rn. 13. 121 RegBegr TKG BT-Drucks. 15/2316, S. 61. 122 BVerfG NVwZ 2012, 694 Rn. 27 ff., das die Argumentation des BVerwG für verfassungsrechtlich unbedenklich hält und in Rn. 35 ergänzend auf die Entstehungsgeschichte der §§ 10, 11 TKG verweist. Krit. dazu Gärditz Verw 46 (2013), 257, 274 ff.; Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 138 ff.; Sachs/Jasper NVwZ 2012, 649, 650 ff.; Werkmeister N&R 2014, 30, 32; Würtenberger GewArch 2016, 6, 8 f. 123 Zum Folgenden BVerwGE 131, 41 Rn. 16 ff. = NVwZ 2008, 1359; BVerwG NVwZ 2009, 653 Rn. 16 ff. Vgl. ferner Mayen in Scheurle/Mayen TKG § 137 Rn. 41; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 475 f. 170

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rungsbedürftigkeit sowie die Marktanalyse seien aufeinander bezogen und untrennbar miteinander verbunden, so dass sich der wertende und prognostische Charakter der von der BNetzA zu treffenden Entscheidung auch auf die Marktabgrenzung und die Marktanalyse erstrecke. Zudem sprächen das Unionsrecht und das in § 12 Abs. 2 TKG festgelegte Verfahren, das eine Beteiligung europäischer Regulierungsbehörden vorschreibe, für die Einräumung eines Entscheidungsspielraums zugunsten der BNetzA. Vor diesem Hintergrund könne ein Verwaltungsgericht entsprechend den allgemeinen Grundsätzen lediglich überprüfen, ob die Regulierungsbehörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten habe, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen sei, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt habe und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Wertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt habe.124 3. Regulierung des Marktzugangs Auch im Zusammenhang mit der Auswahl und Ausgestaltung der Marktzugangsverfügung nach § 21 TKG gesteht das BVerwG der BNetzA eine Letztentscheidungskompetenz zu, die es – in Anlehnung an das Planungsermessen125 – als Regulierungsermessen bezeichnet.126 In der Begründung greift das BVerwG auf bekannte Argumentationsmuster zurück. Zum einen stellt das Gericht auf die finale Struktur regulierungsrechtlicher Normen ab, zum anderen verweist es auf den Topos der Funktionsgrenzen der Rechtsprechung und auf die Besonderheiten bei prognostischen und gestalterischen Entscheidungen beson124 Zum Prüfungsmaßstab s. auch J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 26. Zu weitgehend Wimmer JZ 2010, 433, 435, der von einem „Laissez Faire“-­ Ansatz spricht. Deutlich zu großzügig auch Hwang VerwArch 103 (2012), 356, 371, die von einem Verzicht auf die Kontrollfunktion spricht. 125 Deutlich BVerwG NVwZ 2010, 1359 Rn. 16; BVerwG NVwZ 2014, 1034 Rn. 9. Die Parallele zwischen dem Planungs- und Regulierungsrecht äußert sich auch darin, dass das BVerwG die Regulierungsverfügung mit einem Planfeststellungsbeschluss vergleicht, s. BVerwGE 130, 39 Rn. 25 = NVwZ 2008, 575. Begrüßend Bier in Säcker TKG Vor §  137 Rn.  11; Durner VVDStRL 70 (2010), 398, 429  f.; Proelß AöR 136 (2011), 402, 424 ff. Krit. dazu Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 79; Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1008; Kersten VVDStRL 69 (2010), 288, 324 ff. Zu den Parallelen und Unterscheiden auch Neumann/Thomaschki in Säcker TKG §  21 Rn.  32  ff.; Ruffert in Knack/Henneke VwVfG §  40 Rn.  45; Broemel JZ 2014, 286, 289 ff.; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 460 ff.; Schorkopf JZ 2008, 20, 21 (zum Energie­ recht). 126 Zum Energierecht etwa Eifert ZHR 174 (2010), 449, 481. 171

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ders sachkundiger Gremien:127 Die Regulierungsverfügung sei Ausdruck einer gesetzlich ausgeformten Gestaltungsfreiheit, die sich auf die Verwirklichung des Regulierungsauftrags und die Bewältigung der damit zusammenhängenden Probleme erstrecke. Die Entscheidung über die Auferlegung von Regulierungsverpflichtungen sei das Ergebnis einer umfassenden und komplexen Abwägung, bei der gegenläufige öffentliche und private Belange einzustellen, zu gewichten und auszugleichen seien. Die BNetzA habe bei der Auswahl der in § 13 TKG bezeichneten Maßnahmen einen im Unionsrecht angelegten128 Auswahl- und Ausgestaltungsspielraum, bei dessen Ausübung sie sich an den in § 2 Abs. 2 TKG vorgegebenen Regulierungszielen und den in § 21 Abs. 1 Satz 2 TKG genannten Abwägungskriterien auszurichten habe. Diese Normstruktur schließe es aus, die durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe gesteuerte Abwägung von einer sich etwa daran erst anschließenden Ermessensbetätigung zu trennen und Erstere der vollen gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen; vielmehr sei die Abwägung ein untrennbarer Bestandteil des Regulierungsermessens selbst.129 Zudem nähmen die sachkundigen Mitglieder der Beschlusskammern der BNetzA im Rahmen eines mit besonderen Antrags- und Beteiligungsrechten ausgestatteten Verwaltungsverfahrens130 eine gestaltende Aufgabe wahr, deren 127 Zum Folgenden BVerwGE 130, 39 Rn. 25, 28 ff. = NVwZ 2008, 575; BVerwG MMR 2009, 786 Rn. 33; BVerwG NVwZ 2010, 1359 Rn. 15 ff. Zur Übertragung auf die getrennte Rechnungsführung nach §  24 Abs.  1 TKG BVerwG NVwZ 2014, 942 Rn.  66  ff. Vgl. auch (zT mit einschränkender Tendenz) Bier in Säcker TKG Vor § 137 Rn. 3; J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 19; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 482  f.; Franke Verw 49 (2016), 25, 31, 44; Kersten VVDStRL 69 (2010), 288, 325 ff.; Ludwigs JZ 2009, 290, 296; Mayen NVwZ 2008, 835, 836 f.; dens., FS H.-J. Koch, S. 131, 134; Proelß AöR 136 (2011), 402, 421 ff. Krit. aus rechtsvergleichender Perspektive Attendorn MMR 2009, 238, 239 ff. 128 Grds. zustimmend Eifert ZHR 174 (2010), 449, 456  f. Krit. zur unionsrechtlichen Untermauerung des Regulierungsermessens aber etwa Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1007 f.; ders. Verw 46 (2013), 257, 272 f.; Ludwigs Verw 44 (2011), 41, 68 ff.; Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 140 f.; Proelß AöR 136 (2011), 402, 423 f. Für eine Intensivierung gerichtlicher Kontrolle aus unionsrechtlichen Gründen (insb. Art. 47 GRCh) Werkmeister N&R 2014, 30, 32 ff. 129 Vertiefend dazu Eifert ZHR 174 (2010), 449, 462 ff. 130 Diese Behauptung wird mit dem (durchaus berechtigten) Argument kritisiert, die BNetzA unterscheide sich hinsichtlich der Zusammensetzung der Beschlusskammern und des Verfahrens nicht maßgeblich von klassischen Verwaltungsbehörden, so dass eine Gleichstellung mit weisungsunabhängigen, pluralistischen Gremien nicht möglich sei, vgl. Werkmeister, Entgeltregulierung, S.  298  ff.; Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1007; Würtenberger GewArch 2016, 6, 8. Zurückhaltend auch Bullinger DVBl 2003, 1355, 1360. Speziell zur in § 117 TKG angelegten Weisungsabhängigkeit 172

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Letztentscheidungskompetenzen im Regulierungsrecht

Ergebnis weitgehend frei von festen normativen Vorgaben sei und eine prognostische Beurteilung darüber voraussetze, wie die unterschiedlichen Ziele der Regulierung unter Berücksichtigung aller abwägungserheblichen öffentlichen und privaten Belange bestmöglich zu erreichen seien. Deshalb dürften die Verwaltungsgerichte lediglich überprüfen, ob eine Abwägung stattgefunden habe (Abwägungsausfall), ob die BNetzA alle maßgeblichen Belange in die ­Abwägung eingestellt habe (Abwägungsdefizit), ob sie die Bedeutung der betroffenen Belange verkannt habe (Abwägungsfehleinschätzung) und ob der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen worden sei, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis stehe (Abwägungsdisproportionalität).131 Kein Regulierungsermessen, sondern nur ein Rechtsfolgenermessen steht der BNetzA aber nach Auffassung des BVerwG im Rahmen einer Zugangsanordnung nach §  25 TKG zu. Die Agentur kann eine solche Zugangsanordnung erlassen, wenn sie zuvor eine Zugangsverpflichtung nach § 21 TKG verfügt hat und die beteiligten Parteien keine Vereinbarung nach § 18 oder § 22 TKG abgeschlossen haben. Aus der Gesetzesstruktur, insbesondere aus §  25 Abs.  2 TKG, wird deutlich, dass die BNetzA in einem ersten Schritt nur eine Grund­ entscheidung über den Netzzugang trifft, während die nähere Ausgestaltung des Zugangs zunächst den betroffenen Telekommunikationsunternehmen obliegt.132 Erst wenn sich diese nicht einigen können, kann die Regulierungs­ behörde in einem zweiten Schritt durch einen privatrechtsgestaltenden Ver-

der BNetzA Attendorn/Geppert in Geppert/Schütz TKG § 117 Rn. 7 ff.; zur unionsrechtlichen Absicherung der Unabhängigkeit aber Ludwigs Verw 44 (2011), 41, 45 f. Dem BVerwG folgend Eifert ZHR 174 (2010), 449, 467 ff.; Proelß AöR 136 (2011), 402, 422  f.; in diese Richtung auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 3 Rn. 54; Ludwigs JZ 2009, 290, 296 (relativierend aber ders. RdE 2013, 297, 301); Trute, FG BVerwG, S. 857, 868. 131 Zur regulierungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre vgl. – neben den in Fn. 127 genannten Entscheidungen –BVerwG NVwZ 2013, 1352 Rn. 34; BVerwG NVwZ 2014, 942 Rn.  43; BVerwG NVwZ 2014, 1034 Rn.  9; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 86 ff. Speziell zum Abwägungsausfall BVerwG NVwZ 2010, 1359 Rn.  38  f.; zum Abwägungsdefizit BVerwG NVwZ 2010, 1359 Rn.  47  ff.; BVerwG NVwZ 2013, 1352 Rn. 38 ff.; BVerwG NVwZ 2014, 942 Rn. 45 ff.; BVerwG BeckRS 2014, 50985 Rn.  36, 63  ff.; zur Abwägungsfehleinschätzung BVerwG NVwZ 2014, 942 Rn. 60 f. Aus dem Schrifttum s. Mayen in Scheurle/Mayen TKG § 137 Rn. 42; Neumann/Thomaschki in Säcker TKG § 21 Rn. 41; J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 26; Mayen NVwZ 2008, 835, 837 ff., 842. 132 Geppert/Attendorn in Geppert/Schütz TKG § 25 Rn. 50 sprechen treffend vom Subsidiaritätsprinzip. 173

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waltungsakt die Zugangsmodalitäten festlegen.133 Die Regulierungsverfügung nach § 21 TKG wird also mit dem Erlass der Anordnung nach § 25 TKG vollzogen.134 Dabei kann die BNetzA gem. § 25 Abs. 5 Satz 1 TKG alle Bedingungen einer Zugangsvereinbarung sowie die Entgelte regeln; gem. § 25 Abs. Satz 2 TKG darf sie die Anordnung mit Bedingungen, einschließlich Vertragsstrafen, in Bezug auf Chancengleichheit, Billigkeit und Rechtzeitigkeit verknüpfen. § 25 Abs. 5 TKG ist also eine Kann- bzw. eine Darf-Norm, was dafür spricht, dass der BNetzA ein schlichtes Rechtsfolgenermessen zusteht. Dieser Befund kann mit systematischen Erwägungen untermauert werden. Der Ablauf des Regulierungsverfahrens zeigt, dass die BNetzA ihr Regulierungsermessen bereits im Rahmen der Zugangsverpflichtung ausübt. Geht es um die Zugangsanordnung, muss sie die Regulierungsziele des § 2 Abs. 2 TKG nicht mehr abwägen, sondern lediglich nach Maßgabe der §  25 Abs.  5 S.  2 TKG, § 40 VwVfG über den Inhalt der Anordnung entscheiden; die gerichtliche Kontrolle richtet sich nach § 114 VwGO.135 Bei Lichte besehen handelt es sich bei § 25 TKG um eine sog. „Koppelungsvorschrift“:136 Die Zugangsverpflichtung gehört zu den Voraussetzungen für den Erlass der Zugangsanordnung; das im Rahmen des §  21 TKG bestehende Regulierungsermessen der BNetzA bezieht sich also auf den Tatbestand des § 25 TKG.137 Auf der Rechtsfolgenseite sind die Vorgaben der § 40 VwVfG, § 114 VwGO zu beachten.138 4. Entgeltregulierung a) Auswahl zwischen ex-ante- und ex-post-Regulierung Neben der Festlegung der Marktdefinition, der Marktanalyse und den Maßnahmen, die auf Gewährung des Marktzugangs gerichtet sind, kann die BNetzA nach Maßgabe der §§ 27 ff. TKG die durch das marktmächtige Unter133 Zum Inhalt und Charakter der Anordnung vgl. § 25 Abs. 5 TKG und Neitzel/Hofmann in Spindler/Schuster § 25 TKG Rn. 12 ff., 27. 134 Vgl. BVerwG NVwZ 2014, 1034 Rn. 10. 135 Grundlegend BVerwG NVwZ 2014, 1034 Rn. 10. S. ferner BVerwGE 156, 59 Rn. 22, 33 = NVwZ-RR  2016, 952; Werkmeister K&R 2014, 545, 546.  Zur Kontrolle beim Rechtsfolgenermessen vgl. bereits oben in § 5 I. 136 Zum Begriff der „Koppelungsvorschrift“ vgl. die Nachw. in Fn. 19. Im regulierungsrechtlichen Kontext vgl. auch Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 136. 137 Vor diesem Hintergrund trifft es nicht zu, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 1 TKG für gerichtlich voll überprüfbar gehalten werden (so aber Werkmeister K&R 2014, 545, 546). 138 Diese Grundsätze hat das BVerwG auf die Entscheidung nach §  23 Abs.  3 Satz  3 TKG übertragen, vgl. BVerwGE 154, 173 Rn. 34 = NVwZ 2016, 1088. 174

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nehmen erhobenen Entgelte regulieren.139 Zu den Regulierungsinstrumenten gehören namentlich das Entgeltgenehmigungsverfahren nach §§  31  ff. TKG und die nachträgliche Entgeltregulierung nach § 38 TKG.140 Die im Entgeltregulierungsverfahren getroffenen Entscheidungen der BNetzA werden nach der Rechtsprechung des BVerwG nicht einem einheitlichen Prüfungsmaßstab unterworfen, sondern die Intensität der gerichtlichen Kontrolle hängt von der Norm ab, die der konkreten Regulierungsmaßnahme zugrunde liegt.141 So hat die BNetzA bei der Frage, ob sie die Entgelte ex ante genehmigt (§ 30 Abs.  1 Satz  1 TKG) oder einer ex-post-Regulierung unterwirft (§  30 Abs.  1 Satz  2 TKG), ein Regulierungsermessen. Die Auswahl des Regulierungsverfahrens hängt maßgeblich davon ab, ob die nachträgliche Regulierung ausreicht, um die Ziele nach § 2 Abs. 2 TKG zu erreichen. Damit ist ein komplexes Entscheidungsprogramm verbunden, das – wie beim Erlass einer Zugangsverpflichtung nach §  21 TKG142  – eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle rechtfertigt.143 Wie bei § 21 TKG spielt auch hier der finale Charakter des § 30 Abs. 1 TKG eine zentrale Rolle: Die Norm verweist auf § 2 TKG, was eine Abwägung der dort genannten – zum Teil gegenläufigen – Ziele sowie sonstiger öffentlicher und privater Belange erfordert. Die Entscheidung für Genehmigungspflicht oder nachträgliche Regulierung weist damit gestalterische Züge auf. Vor diesem Hintergrund untergrübe eine gerichtliche Vollkontrolle den

139 Pointiert Schorkopf JZ 2008, 20, 22: „Herzstück der Regulierung“. Zur energierechtlichen Entgeltregulierung Eifert ZHR 174 (2010), 449, 478 ff. 140 Der Unterschied zwischen den Instrumenten liegt darin, dass die nachträgliche Regulierung nur etwaige Preismissbräuche (§ 28 TKG) verhindern soll, während der Prüfungsmaßstab im Entgeltgenehmigungsverfahren strenger ist und grundsätzlich auf die Kosten einer effizienten Leistungsbereitstellung abstellt, vgl. BVerwGE 131, 41 Rn. 68 f. = NVwZ 2008, 1359; Kühling in Geppert/Schütz TKG § 30 Rn. 2; J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 8 Rn. 56. 141 Neben den in Fn. 115 genannten Nachw. vgl. auch Bier in Säcker TKG Vor § 137 Rn. 14; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 134; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 477 ff. Zur Kontrolldichte der Entgeltregulierung im Endkundenbereich (§ 39 TKG) s. statt vieler Kühling/Neumann in Säcker TKG § 39 Rn. 152 f. 142 Dazu bereits oben in § 5 IV 3. 143 So zutr. BVerwGE 131, 41 Rn. 65 f. = NVwZ 2008, 1359, das seinerzeit vor der zusätzlichen Hürde stand, den als Soll-Vorschrift formulierten § 30 Abs. 1 Satz 2 TKG 2007 als eine Ermessensvorschrift auszulegen. Die geltende Formulierung des § 30 Abs. 1 TKG bringt die Entscheidungsspielräume der BNetzA deutlicher zum Ausdruck. Zum parallel gelagerten Problem im Rahmen des §  23 Abs.  1 TKG 2004 BVerwG MMR 2009, 786 Rn. 42 f. Zum Regulierungsermessen bei § 30 TKG s. ferner BVerwG NVwZ 2010, 1359 Rn. 42 f.; BVerwG NVwZ-RR 2012, 192 Rn. 10. 175

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Gestaltungsauftrag, den der Gesetzgeber an die BNetzA erteilt hat.144 Die Auswahl ist deshalb nach den Grundsätzen der regulierungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre zu prüfen.145 b) Verfahrensauswahl bei der ex-ante-Regulierung Legt sich die BNetzA auf die ex-ante-Regulierung der Zugangsentgelte fest, entscheidet sie über die Erteilung einer Entgeltgenehmigung nach Maßgabe des § 35 Abs. 3 TKG. Auch in diesem Zusammenhang lässt sich die Intensität der gerichtlichen Kontrolle nicht pauschal festlegen.146 Vielmehr kommt es darauf an, welcher Aspekt des komplexen Genehmigungsverfahrens im Verwaltungsprozess auf den Prüfstand gestellt wird. Auswählen kann die BNetzA aus dem Einzelgenehmigungsverfahren, in dem es auf die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung ankommt (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 TKG), und dem Price-Cap-Verfahren (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 33 TKG).147 Insoweit steht ihr nach ganz herrschender Auffassung ein Auswahlermessen zu, dessen Ausübung am Maßstab der klassischen Ermessensfehlerlehre kontrolliert werden kann.148 Außerdem kann die Agentur die Entgeltgenehmigung weder auf die Analyse der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung stützen noch das Price-Cap-­ 144 Vgl. RegBegr TKG BT-Drucks. 17/5707, S.  60, wo der Ermessensspielraum der BNetzA hervorgehoben wird, so dass eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle mit gesetzeshistorischen Argumenten untermauert werden kann. S.  ferner Kühling in Geppert/Schütz TKG § 30 Rn. 3; Hwang VerwArch 103 (2012), 356, 373 ff.; Ludwigs JZ 2009, 290, 297. 145 So die Zusammenfassung in BVerwG NVwZ-RR 2012, 192 Rn. 25. Vgl. ferner die Ausführungen in § 5 IV 3 und die in Fn. 127 und 131 genannten Entscheidungen. Zum Abwägungsausfall etwa BVerwG MMR 2009, 786 Rn. 40; zum Abwägungsdefizit BVerwG NVwZ-RR 2012, 192 Rn. 26 ff., 39 ff., 44 ff. 146 In eine andere Richtung konnte noch BVerwG NVwZ 2012, 1047 Rn. 35 ff. gedeutet werden, wonach der BNetzA ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zustehe, ob sich die vom marktmächtigen Unternehmen veranschlagten Entgelte an den Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung orientieren würden (vgl. §  24 Abs.  1 Satz  1 TKG 1996); krit. dazu etwa Kühling in Geppert/Schütz TKG §  32 Rn. 48 f.; Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 134 f. In BVerwGE 146, 325 Rn. 32 = NVwZ 2013, 1418 hat das Gericht aber klargestellt, dass die Rspr. zu § 24 Abs. 1 Satz 1 TKG 1996 nicht verallgemeinerungsfähig ist (zur Entgeltgenehmigung nach §§  19  ff. PostG). Gegen eine solche Ausweitung auch Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 81. S. ferner Hölscher N&R 2014, 58, 60 f. 147 Zu den Unterschieden zwischen den Verfahrensarten J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 8 Rn. 62 f. 148 Vgl. Kühling in Geppert/Schütz TKG § 31 Rn. 35 (Ermessen); J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 8 Rn. 61 (pflichtgemäßes Ermessen). 176

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Verfahren durchführen, sondern nach § 31 Abs. 2 TKG steht ihr die Möglichkeit offen, die Entscheidung auf Grundlage des sog. „Retail-minus“-Verfahrens (§  31 Abs.  2 Satz  1 Nr.  1 TKG)149 oder eines sonstigen Verfahrens, das besser geeignet ist, um die Regulierungsziele des § 2 TKG zu erreichen (§ 31 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 TKG). Ob die Auswahl zwischen den in § 31 Abs. 1 TKG vorgesehenen Verfahren und den Vorgehensweisen nach § 31 Abs. 2 TKG im Ermessen der BNetzA steht, hat die Rechtsprechung bislang nicht geklärt. Dies gilt auch für die Frage, ob die Gerichte die Einschätzung der BNetzA, die Verfahrensweisen nach §  31 Abs.  2 TKG seien für die Erreichung der Regulierungsziele besser geeignet als die Verfahren nach § 31 Abs. 1 TKG, vollständig kontrollieren können. Im Schrifttum sind diese Fragen umstritten: Während manche Autoren die Einschränkung der gerichtlichen Prüfungsdichte insbesondere aus systematischen und teleologischen Erwägungen verneinen,150 gehen andere davon aus, dass die BNetzA bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 TKG diskretionäre Spielräume in Anspruch nehmen darf.151 Versucht man das Problem vor dem Hintergrund der BVerwG-Rechtsprechung zu lösen, spricht viel dafür, dass die BNetzA ein Regulierungsermessen hinsichtlich der Einschätzung hat, ob die in § 31 Abs. 2 TKG geregelten Vorgehensweisen besser geeignet sind, um die Regulierungsziele zu erfüllen. Der Verweis auf § 2 Abs. 2 TKG unterstreicht, dass die Agentur die widerstreitenden Regulierungsziele abwägen muss, womit eine komplexe gestalterische Aufgabe verbunden ist. Diesen Umstand greift das BVerwG regelmäßig auf, um der BNetzA ein Regulierungsermessen einzuräumen. Dieser Spielraum ist dabei nicht nur auf die Geeignetheit im Sinne des § 31 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 TKG beschränkt, sondern er erstreckt sich – wie im Rahmen des § 21 TKG152 – insgesamt auf die Wahl zwischen § 31 Abs. 1 und 2 TKG. c) Bestimmung der Kosten effizienter Leistungsbereitstellung Führt die Agentur – wie in der Regel153 – ein Einzelgenehmigungsverfahren durch, kommt es nach § 35 Abs. 3 Satz 1 TKG insbesondere darauf an, ob die 149 Speziell hierzu Kühling in Geppert/Schütz TKG § 31 Rn. 187 ff. 150 So etwa Kühling in Geppert/Schütz TKG § 31 Rn. 42 ff. 151 In diese Richtung Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 186, 193 (wenn auch mit zurückhaltender Tendenz). Auch Kühling in Geppert/Schütz TKG §  31 Rn.  49 geht davon aus, dass die Verwaltungsgerichte im Anschluss an die BVerwG- Rspr. zu § 21 TKG der BNetzA trotz dogmatischer Bedenken einen Spielraum gewähren wird. 152 Dazu bereits oben in § 5 IV 3. 153 Vgl. Kleinlein/Schubert N&R 2017, 270, 272  f.: Vom Price-Cap-Verfahren werde kein Gebrauch gemacht. 177

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Entgelte missbräuchlich im Sinne des § 28 TKG sind154 und ob sie die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung überschreiten (§ 31 Abs. 1 Satz 2 TKG); außerdem dürfen keine Versagungsgründe nach § 35 Abs. 3 Satz 2 und 3 TKG vorliegen.155 Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 TKG setzen sich die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung zusammen aus den langfristigen zusätzlichen Kosten der Leistungsbereitstellung und einem angemessenen Zuschlag für leistungsmengenneutrale Gemeinkosten, einschließlich einer angemessenen Verzin­ sung des eingesetzten Kapitals, soweit diese Kosten jeweils für die Leistungs­ erbringung notwendig sind.156 Damit die BNetzA die maßgeblichen Kosten quantifizieren und auf dieser Grundlage eine Entscheidung über die Entgeltgenehmigung treffen kann, ist das marktmächtige Unternehmen gem. §  34 TKG verpflichtet, der Agentur transparente Unterlagen vorzulegen. Allerdings ist die Agentur nicht allein auf die Kostenunterlagen des betroffenen Unternehmens angewiesen, sondern sie kann gem. § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TKG eine Vergleichsmarktbetrachtung durchführen oder gem. § 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TKG ein Kostenmodell aufstellen.157 Ausgehend von diesem Regelungsgeflecht verneint das BVerwG einen umfassenden regulierungsbehördlichen Beurteilungsspielraum der BNetzA, soweit diese das Merkmal der Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung anwendet: Die Prüfung von Kostenpositionen auf Richtigkeit und Erforderlichkeit sei im Ausgangspunkt gerichtlich voll überprüfbar. Weder die Unschärfen des Effizienzbegriffs noch die besondere Sachnähe der BNetzA würden für sich genommen ausreichen, um Einschränkungen der gerichtlichen Prüfungsdichte zu rechtfertigen. Ein Spielraum der Agentur bestehe allenfalls in Bezug auf abgrenzbare Teilaspekte der Effizienzprüfung, die in den gesetzlichen Maß­ stabsnormen angelegt seien. Für derartige punktuelle Beurteilungsspielräume kämen nur solche Elemente der Kostenkontrolle in Betracht, die in besonderer Weise durch eine Abwägung gegenläufiger Regulierungsziele sowie durch

154 In diesem Zusammenhang werden diskretionäre Spielräume der BNetzA überwiegend abgelehnt, vgl. nur Mayen in Scheurle/Mayen TKG § 137 Rn. 48. 155 Zum Prüfungsprogramm nach § 35 Abs. 3 TKG vgl. etwa BVerwGE 148, 48 Rn. 15 = NVwZ 2014, 589. Zum Versagungsermessen nach § 35 Abs. 3 Satz 3 TKG, das ein Unterfall des klassisches Rechtsfolgenermessens ist, vgl. BVerwGE 151, 56 Rn. 27 = NVwZ 2015, 967; BVerwGE 153, 265 Rn. 36 ff. = NVwZ 2016, 387. 156 S.  hierzu etwa Winzer in Geppert/Schütz TKG §  32 Rn.  15  ff.; Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 190 ff. Zum Energie- und Postrecht Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 75. 157 Zu den einzelnen Methoden sektorenübergreifend Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 76. 178

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ökonomische Wertungen und Prognosen geprägt seien.158 Hierzu gehören nach Ansicht des BVerwG nicht die Mitarbeiterstundensätze, die den genehmigten Entgelten zu Grunde liegen: Die BNetzA sei nicht an organisatorische Entscheidungen des regulierten Unternehmens hinsichtlich der Aufbauorganisation und des Personaleinsatzes gebunden.159 Zudem sei die Beurteilungsermächtigung weder in §§ 31 ff. TKG noch in den unionsrechtlichen Grundlagen verankert. Schließlich fehle ein Sachgrund, der es rechtfertige, die Beurteilung der Stundensätze als eine wertende und prognostische Entscheidung zu qualifizieren, die eine Abwägung widerstreitender Regulierungsziele erfordere.160 Einen entgegengesetzten Standpunkt nimmt das BVerwG aber ein, wenn die BNetzA im Rahmen der Kostenermittlung die Zinsen für das eingesetzte Kapital und die Abschreibungen der Anlagegüter berücksichtigen muss.161 In einem solchen Fall muss die Agentur bestimmen, welchen Wert das Anlagevermögen des regulierten Unternehmens hat. Diese Wertbestimmung kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen.162 Je nachdem, für welche Methode sich die Agentur entscheidet, können die in § 2 Abs. 2 TKG genannten Regulierungsziele unterschiedlich stark beeinträchtigt werden. Die Behörde muss zwischen den betroffenen Belangen und Interessen abwägen und wird dabei lediglich final gesteuert, so dass das BVerwG  – das sich insoweit an die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 3 TAL-VO (EG) 2887/2000 beruft163 – ihr bei der Auswahl der Bewertungsmethode einen Beurteilungsspielraum

158 BVerwG NVwZ-RR 2009, 918 Rn. 21; BVerwG N&R 2010, 186 Rn. 4; BVerwGE 153, 265 Rn. 15, 27 = NVwZ 2016, 387; BVerwGE 156, 75 Rn. 13 = NVwZ 2017, 557. Weitergehend aber etwa Eifert ZHR 174 (2010), 449, 480  f. Einschränkend Mayen in Scheurle/Mayen TKG §  137 Rn.  45.  Zum Energierecht BGH EnWZ 2014, 378 Rn. 10 ff.; BGH RdE 2014, 495 Rn. 22 ff. 159 Trotzdem erkennt das BVerwG an, dass die BNetzA unternehmerische Entscheidungen des regulierten Unternehmens hinnehmen muss, soweit sie nicht offensichtlich unvertretbar sind, vgl. BVerwG NVwZ 2015, 225 Rn.  22; BVerwGE 153, 265 Rn. 21 = NVwZ 2016, 387; BVerwG BeckRS 2016, 43410 Rn. 6; BVerwGE 156, 75 Rn. 17 = NVwZ 2017, 557. Hierzu auch Säcker, Kontrollmaßstab, S. 81, 97 f., der insoweit auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verweist. Zum Problem der konfligierenden Entscheidungsspielräumen im Jugendschutzrecht bereits in § 5 II 3 a; zum parallel gelagerten Problem im Gesellschaftsrecht s. noch in § 11 I 2 b und § 15 III 3. 160 BVerwGE 153, 265 Rn. 17 ff., 23 ff. = NVwZ 2016, 387. 161 Zum Energie- und Postrecht vgl. Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 82 f. 162 Zu den denkbaren Methoden BVerwG Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 191. 163 EuGH NJOZ 2008, 1775. Zu den unionsrechtlichen Vorgaben ausf. BVerwGE 148, 48 Rn. 21 ff. = NVwZ 2014, 589. Krit. zur Bezugnahme auf das Unionsrecht aber Werkmeister, Entgeltregulierung, S. 292 ff.; Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 191 f. 179

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einräumt, der an der Nahtstelle zum Regulierungsermessen steht:164 Die Entscheidung sei am Maßstab der Abwägungsfehlerlehre zu prüfen. Das Verwaltungsgericht solle namentlich kontrollieren, ob die Behörde ihre Auswahl im Hinblick auf die gesetzlichen Kriterien und die Regulierungsziele plausibel und erschöpfend begründet habe.165 Gleich ist die Prüfungsintensität nach Auffassung des BVerwG in Fällen, in denen es um die angemessene Verzinsung des eingesetzten Kapitals geht (§ 32 Abs. 1 Satz 1 TKG):166 Dieses Merkmal sei weit gefasst und nicht durch eine Methodenvorgabe begrenzt. Zudem räume § 32 Abs. 3 TKG der BNetzA Bewertungsspielräume ein, die im Unionsrecht angelegt seien.167 Die Agentur müsse in einem förmlichen Verwaltungsverfahren eine komplexe Abwägung vornehmen, bei der sie die Regulierungsziele und -grundsätze im Sinne des § 2 Abs. 2 und 3 TKG berücksichtigen müsse.168 Das BVerwG schränkt die gerichtliche Kontrollintensität auch dann ein, wenn die Kostenunterlagen (§ 34 TKG) nicht ausreichen,169 um die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung zu ermitteln und die BNetzA sich auf eine isolierte Vergleichsmarktbetrachtung stützt (§ 35 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 TKG). In einem solchen Fall bejaht das BVerwG einen Beurteilungsspielraum mit dem Argument, bei der Vergleichsmarktbetrachtung handele es sich um ein 164 Krit. zur Abwägung der Regulierungsziele aber Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 192 f. 165 Vgl. BVerwGE 148, 48 Rn.  17  ff., 33  ff. = NVwZ 2014, 589; BVerwGE 156, 75 Rn. 22 ff. = NVwZ 2017, 557. Zust. etwa Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 80 f. Krit. aber etwa Hölscher N&R 2014, 58, 61, der die Begründungsanforderungen für überzogen hält. 166 Zum Folgenden BVerwGE 156, 75 Rn. 33 ff. = NVwZ 2017, 557. Ausdifferenzierter sind die Aussagen des BGH in energierechtlichen Fällen, der den Regulierungsbehörden im Ausgangspunkt keine Spielräume bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „angemessene Verzinsung“ gewährt (vgl. nur BGH N&R 2008, 207 Rn. 50 ff.; BGH EnWZ 2015, 273 Rn. 15). In Teilaspekten lockert der BGH aber die richterliche Kontrolldichte dennoch, wenn die Behörden eine komplexe Prüfung und Bewertung vornehmen müssen (BGH EnWZ 2015, 273 Rn. 16 ff.). Vgl. ferner Theobald/Zenke/Lange in Schneider/Theobald EnWR § 20 Rn. 69 ff. 167 Zum Spannungsverhältnis zwischen den Beurteilungsspielräumen der BNetzA und den Befugnissen der EU-Kommission Kleinlein/Schubert N&R 2013, 185, 188  ff.; Säcker/Mengering N&R 2014, 74, 77 ff. 168 In diese Richtung schon Eifert ZHR 174 (2010), 449, 477. Aus systematischen und teleologischen Gründen aber krit. Werkmeister, Entgeltregulierung, S. 289 ff.; Kleinlein/Schubert N&R 2017, 270, 275 f. 169 Speziell zu den Spielräumen der BNetzA bei der Informationsbeschaffung Eifert ZHR 174 (2010), 449, 472 f. 180

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komplexes, mehrphasiges Verfahren, das Entscheidungen verlange, die in hohem Maße durch wertende und gestaltende Elemente geprägt seien und nicht durch gesetzliche Vorgaben gesteuert würden. Die hierbei zu Grunde zu legenden tatsächlichen Annahmen würden wesentlich von ökonomischen Einschätzungen der Vergleichsmärkte sowie der Preisbildungsfaktoren abhängen, die regelmäßig Prognosen über die voraussichtliche Markt- und Preisentwicklung im Genehmigungszeitraum erfordern würden. Es liege in der Natur der Sache, dass sich diese Einschätzungen und Prognosen innerhalb eines bestimmten Rahmens nicht als eindeutig „richtig“ oder „falsch“ charakterisieren lassen würden. Außerdem verfügten die Beschlusskammern der BNetzA über besondere Sachkunde, die durch fortlaufende wissenschaftliche Unterstützung institutionell abgesichert sei.170 Soweit der BNetzA eine punktuelle Beurteilungsermächtigung zusteht, muss das Verwaltungsgericht  – den allgemeinen Grundsätzen entsprechend171  – kontrollieren, ob die Agentur die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemein gültige Wertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat.172 Besonderes Augenmerk legt das Gericht dabei auf die Sachverhaltsermittlung: Stütze die BNetzA die Entgeltgenehmigung auf die Unterlagen des regulierten Unternehmens (§ 34 TKG), müsse sie die von diesem vorgebrachten Kostenansätze und Berechnungen kontrollieren, wobei die Kontrollintensität eine Frage des Einzelfalls sei.173 Außerdem stellt das BVerwG tendenziell hohe Anforderungen an die Entscheidungsbegründung, die als maßgebliche Grundlage der gerichtlichen Kontrolle dient: Im Hinblick auf die Abwägung widerstreitender Belange und Regulierungsziele hätten die Gerichte nachzuprüfen, ob die BNetzA im Hinblick auf die Kriterien, die in den relevanten Rechtsnormen hervorgehoben oder angelegt seien, plausibel und erschöpfend argumentiert habe.174 170 BVerwGE 151, 56 Rn. 34 ff. = NVwZ 2015, 967; BVerwG N&R 2015, 173 Rn. 36 ff. Auf dieser Linie bereits Eifert ZHR 174 (2010), 449, 479. 171 Zum Kontrollmaßstab bei Beurteilungsspielräumen vgl. bereits oben in § 5 II 1. Speziell zur Marktdefinition und Marktanalyse in § 5 IV 2. 172 BVerwG N&R 2010, 186 Rn. 4; BVerwGE 156, 75 Rn. 24 = NVwZ 2017, 557. 173 BVerwG N&R 2010, 186 Rn. 6. 174 Vgl. zur Methodenwahl bei der Wertbestimmung des Anlagevermögens BVerwGE 148, 48 Rn. 37 ff. = NVwZ 2014, 589; BVerwGE 156, 75 Rn. 24 ff. = NVwZ 2017, 557.  Zur Vergleichsmarktbetrachtung BVerwGE 151, 56 Rn.  38 = NVwZ 2015, 181

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V. Gerichtliche Kontrolldichte als stimmiges dogmatisches Konzept? 1. Ausdifferenzierung der Kontrolldogmatik Will man die vorstehenden Erläuterungen in einem stimmigen dogmatischen Konzept zusammenfassen, fällt es schwer, die diffizilen Aussagen in der Rechtsprechung und im Schrifttum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Es lässt sich keine allgemeingültige Formel aufstellen, die sich auf die Buchstaben des Gesetzes zurückführen lässt und zugleich wie eine Schablone auf den konkreten Sachverhalt gelegt werden kann, um die Frage nach der gerichtlichen Kontrolldichte rechtssicher zu beantworten. Vielmehr muss der Rechtsanwender zwischen mehreren Ausprägungen behördlicher Letztentscheidungskompetenzen differenzieren, was die Orientierung erschwert. Namentlich die regulierungsrechtlichen Entscheidungen des BVerwG und die daran anknüpfende Diskussion im Schrifttum machen deutlich, dass sich die Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Arten administrativer Spielräume als schwierig erweisen kann. Zu Beginn der Rechtsprechungsentwicklung stand der Begriff des Regulierungsermessens im Vordergrund, der im Hinblick auf die Urteilsbegründungen Assoziationen an das Planungsermessen hervorrief. Demgegenüber erweckten die späteren Entscheidungen den Anschein, dass das BVerwG die Figur des Regulierungsermessens nicht fortentwickeln will, sondern die Maßnahmen der BNetzA in die herkömmlichen Kategorien des Rechtsfolgenermessens und der Beurteilungsermächtigung zwingen will. Gleichwohl ist anzumerken, dass das Gericht bei der Begründung der tatbestandlichen Beurteilungsspielräume auf die Abwägung der betroffenen Belange und Regulierungsziele verweist und damit eine Argumentationslinie wählt, die für das Ermessen bei final strukturierten Normen typisch ist. Die Komplexität der öffentlich-rechtlichen Kontrolldogmatik nimmt zusätzlich dadurch zu, dass sich die Aussagen zur gerichtlichen Kontrolldichte nicht auf die Verwaltungsentscheidung als solche beziehen, sondern sie betreffen oft nur bestimmte Aspekte einer administrativen Entscheidung. So wird im Naturschutzrecht eine einheitliche administrative Entscheidung nicht durchgängig mit der gleichen Intensität geprüft. Vielmehr variiert die gerichtliche Prüfungsdichte zwischen unterschiedlichen Aspekten einer behördlichen Maßnahme. Geht es etwa um Planungsentscheidungen, die artenschutzrechtlich relevant sind, genießt die Planungsbehörde keine umfassende Letztentscheidungskom967. S. ferner Franke Verw 49 (2016), 25, 40 ff.; Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1010. Zur Bedeutung der Regulierungskonzepte Broemel JZ 2014, 286, 293 f. 182

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petenz hinsichtlich der naturschutzrechtlichen Fragen, sondern ihr Beurteilungsspielraum erstreckt sich nur auf Aspekte, für die sich (noch) kein allgemein anerkannter Wissensstand etabliert hat.175 Noch deutlicher kommt die Ausdifferenzierung der gerichtlichen Kontrolldichte im Regulierungsrecht zum Ausdruck. Nach § 13 Abs. 3 TKG erlässt die BNetzA eine einheitliche Regulierungsverfügung, die nur als solche ange­ griffen werden kann, obwohl sie zahlreiche Entscheidungen bündelt, die die Agentur auf unterschiedlichen Verfahrensstufen trifft. Trotz dieser Bündelung wird die Regulierungsverfügung im Hinblick auf die gerichtliche Prüfungsdichte in ihre Einzelteile zerlegt, die mit unterschiedlicher Intensität kontrolliert werden. Je nachdem, ob es sich um die Marktdefinition und Marktanalyse, die Regulierung des Marktzugangs oder eine Frage der Entgeltregulierung handelt, schwankt die gerichtliche Kontrolldichte. Mal kann das Gericht die Entscheidung einer vollständigen Kontrolle unterziehen, mal genießt die BNetzA ein Regulierungsermessen, mal darf sie sich auf einen tatbestandlichen Beurteilungsspielraum berufen. Besonders deutlich zeigt sich diese Ausdifferenzierung in Fällen der Entgeltregulierung, in denen die Rechtsprechung die Wahl zwischen der ex-ante- und ex-post-Regulierung sowie die Wahl zwischen dem Einzelgenehmigungsverfahren und dem Price-Cap-Verfahren im Rahmen der ex-ante-Regulierung einem unterschiedlichen Kontrollstandard unterwirft. Auch wenn es um die Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung geht, schwankt die Kontrolldichte zwischen voller gerichtlicher Überprüfung der Entgeltregulierungsmaßnahme und einer Beurteilungsermächtigung der BNetzA hinsichtlich ausgewählter Aspekte der Regulierungsverfügung.176 Blendet man aber die Details aus und blickt man in erster Linie auf die Ergebnisse, zu denen die unterschiedlichen Erklärungsansätze gelangen, spricht viel dafür, dass sich die Figuren des Rechtsfolgenermessens, der Beurteilungsermächtigung auf der Tatbestandsebene und des Planungs- und Regulierungsermessens in qualitativer Hinsicht nicht voneinander unterscheiden. Die mit den plakativen Begriffen etikettierte Frage ist in allen Fällen gleich: Steht der Verwaltung eine Letztentscheidungskompetenz zu oder kann das Gericht die Entscheidung korrigieren? Eberhard Schmidt-Aßmann weist im Anschluss an die Vorarbeiten aus dem Schrifttum treffend darauf hin, dass das Ermessen sowie die Beurteilungs- und Gestaltungsermächtigungen nicht streng getrennte Rechtsfiguren sind. Vielmehr würden sie auf unterschiedliche Formulierungstechniken des Gesetzgebers zurückgehen und seien unter methodischen 175 S. dazu in § 5 II 4 b. 176 Im Einzelnen s. oben, in § 5 IV 4. 183

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Gesichtspunkten austauschbar.177 Die Unterschiede zwischen den Kategorien bestehen allein in quantitativer Hinsicht:178 Die Korrekturmöglichkeiten der Gerichte hängen davon ab, welcher Kategorie die behördliche Entscheidung zuzuordnen ist. Die Kontrolldichte ist hoch, wenn der Gesetzgeber die Vorgaben an die Verwaltung konkret und präzise formuliert hat. Sie nimmt ab, wenn die legislative Steuerung des Verwaltungshandelns an Präzision verliert.179 Vor diesem Hintergrund ist die Frage berechtigt, ob die Ausdifferenzierung der deutschen Kontrolldogmatik einen zu hohen Komplexitätsgrad erreicht hat und – wie es im verwaltungsrechtlichen Schrifttum seit langem gefordert wird180  – zugunsten eines einfacheren Modells des (einheitlichen) Verwaltungsermessens aufgegeben werden sollte. Dafür spricht nicht zuletzt ein rechtsvergleichender Blick auf die Verwaltungsrechtsordnungen in den (ehemaligen) Mitgliedstaaten der Europäischen Union. So unterscheidet weder das  französische noch das britische Verwaltungsrecht zwischen den tatbestandlichen Beurteilungsspielräumen und dem Rechtsfolgenermessen.181 Dem französischen Modell folgt der EuGH, der namentlich in kartell- und beihilferechtlichen Fällen der Europäischen Kommission einen Spielraum bei der Beurteilung ökonomisch geprägter Fragen einräumt.182 Dies hängt damit zusammen, dass die europäischen Verwaltungsrechtsordnungen in erster Linie auf finalen Normen basieren, was die diskretionären Spielräume der Exekutive erweitert.183 Im Hinblick auf die fortschreitende Europäisierung des Verwal177 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  48.  Dezidiert dagegen Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO §  114 Rn.  92 („kategoriale Unterschiede“); s. auch Eyermann/Rennert VwGO §  114 Rn.  5; Ruffert in Knack/Henneke VwVfG §  40 Rn. 5; Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 42. 178 So bereits Herdegen JZ 1991, 747, 749. S. ferner, wenn auch zurückhaltender Eyermann/Rennert VwGO §  114 Rn.  5 (strukturelle Ähnlichkeit) und Wolff in Sodan/ Ziekow VwGO § 114 Rn. 40 (strukturelle Vergleichbarkeit). 179 Vgl. Eifert ZHR 174 (2010), 449, 459. 180 Noch weiter geht in neuerer Zeit Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 700 f., 718 ff., der die Unterscheidung zwischen strikten Rechtsnormen und Normen, die der Behörde eine Letztentscheidungskompetenz einräumen, aufgeben und durch das Konzept der nachvollziehenden Kontrolle aller administrativen Entscheidungen ersetzen will. 181 Vgl. Hatje/Mankowski EuR 2014, 155, 164 f. Zum System der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle in England und Frankreich s. ferner von Danwitz, VerwR, S. 43 ff., 62 ff. 182 Zum Ermessen im EU-Recht s. nur Ruffert in Knack/Henneke VwVfG §  40 Rn. 11 ff.; von Danwitz, VerwR, S. 361 ff. Speziell zum Kartellrecht vgl. Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 111 ff. 183 Hierzu und zum gegenläufigen Grundmodell des deutschen Verwaltungsrechts, das traditionell auf Konditionalprogrammen beruht, vgl. Breuer Verw 36 (2003), 271, 275 ff.; C. Fonk DVBl 2010, 626 ff. 184

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tungsprozessrechts184 und des materiellen Verwaltungsrechts, die sich durch verstärkt finale Steuerung der Verwaltung bemerkbar macht,185 liegt es nicht fern, die verwaltungsgerichtliche Prüfungsdichte ein Stück weit zu harmonisieren und die herkömmliche Kontrolldogmatik zu vereinfachen.186 2. Zweistufige Prüfung Gleichwohl wäre es trotz der qualitativen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Ausprägungen behördlicher Letztentscheidungsspielräume und der rechtsvergleichenden Argumente vorschnell, die Unterscheidung zwischen dem Rechtsfolgenermessen, der Beurteilungsermächtigung auf der Tatbestands­ ebene und dem Planungs- bzw. Regulierungsermessen gänzlich aufzugeben.187 Vielmehr kann diese Differenzierung dabei helfen, die Anforderungen an die Gerichte zu systematisieren und die Überprüfung der Kompetenzverlagerung am verfassungsrechtlichen Maßstab abzusichern.188 Außerdem verändert sich die Argumentationslast. Im Bereich der §  40 VwVfG, §  114 VwGO folgt aus dem Gesetz, dass die Verwaltungsbehörden ein Rechtsfolgenermessen genießen, so dass eine engmaschige gerichtliche Kontrolle gesondert begründet werden muss. Auf der Tatbestandsebene kann dagegen nicht ohne weiteres von etwaigen behördlichen Spielräumen ausgegangen werden, so dass die Verwaltung begründen muss, wieso eine nur eingeschränkte gerichtliche Kontrolle 184 Aufschlussreicher Überblick bei Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 28 ff. 185 Breuer Verw 36 (2003), 271, 283 ff.; C. Fonk DVBl 2010, 626, 628 ff. 186 Dafür etwa Bullinger JZ 1984, 1001 ff.; Herdegen JZ 1991, 747 ff.; Ludwigs RdE 2013, 297, 303. Vgl. ferner den Systematisierungsversuch bei Alexy JZ 1986, 701, 705 ff. Krit. aber Gärditz, DJT-Gutachten, S. 54 ff. Zu gegenläufigen Tendenzen im europäischen Verwaltungsprozessrecht Schmidt-Aßmann/Schenk in Schoch/Schneider/Bier VwGO Einl Rn. 131. 187 Dafür aber etwa Ludwigs JZ 2009, 290, 293: „Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass die strikte Kategorisierung der behördlichen Entscheidungsspielräume in allgemeines Verwaltungsermessen, Planungsermessen und Beurteilungsspielraum nicht überzeugen kann. Es bedarf vielmehr der Neuorientierung in Richtung auf eine einheitliche Systemkategorie des Verwaltungsermessens.“ 188 Speziell zur verfassungsrechtlichen Dimension Gärditz Verw 46 (2013), 257, 267: „Die Unterscheidung von Ermessen, Beurteilungsspielraum und Planungsermessen ist damit nicht bedeutungslos, weil dahinter jeweils unterschiedliche Sachargumente – Flexibilisierung auf Grund der Vielgestaltigkeit von Lebenssachverhalten, mangelnde Reproduzierbarkeit wertender Tatsachenbeurteilung, besonderer Gestaltungsbedarf bei multipolaren Makroentscheidungen – stehen, deren Plausibilität auf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsebene weiterhin eine Rolle spielt.“ S. ferner Dreier/Schulze-Fielitz GG Art. 19 IV Rn. 125 ff. 185

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statthaft ist.189 Im Hinblick darauf hat die Differenzierung zwischen den ein­ zelnen Formen behördlicher Letztentscheidungskompetenzen einen heuristischen Wert. Sie ermöglicht es, in einer ersten Annäherung die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen.190 Gleichwohl befreit sie den Rechtsanwender – namentlich die Gerichte – nicht von der Aufgabe, den Sachgrund für die Letztentscheidungskompetenz herauszuarbeiten.191 Auf dieser Weise lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen der Rechtsschutzgarantie des Art.  19 Abs.  4 GG und der Lockerung der richterlichen Prüfungsintensität auflösen. Eberhard Schmidt-Aßmann stellt zutreffend fest, dass die administrativen Letztentscheidungskompetenzen trotz der Garantie des effektiven Rechtsschutzes keine Ausnahmefälle sind, sondern sie nehmen in Fachgesetzen eine Schlüsselposition ein.192 Ausgehend von dieser Beobachtung kann die Rolle des Art. 19 Abs. 4 GG dahin umschrieben werden, dass er keine lückenlose gerichtliche Vollkontrolle des Verwaltungshandelns gebietet, sondern die Exekutive dazu zwingt, die Inanspruchnahme der gerichtlich eingeschränkt überprüfbaren Spielräume stichhaltig zu begründen. Dabei ist die Aufgabe, die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen, in einer zweistufigen Prüfung zu bewältigen: Auf der ersten Stufe ist zu klären, wem der Gesetzgeber die Letztentscheidungskompetenz zugewiesen hat. Liegt diese Befugnis bei den Gerichten, unterliegt die Behördenentscheidung der vollen  richterlichen Kontrolle. Hat der Gesetzgeber der Verwaltung einen Entscheidungsspielraum eingeräumt, ist die gerichtliche Prüfungsdichte eingeschränkt.193 Im letztgenannten Fall ist auf der zweiten Stufe zu klären, mit welchen Aspekten der behördlichen Entscheidung sich das Gericht befassen muss und wie intensiv die Kontrolle ausfallen kann. Die Letztentscheidungskompetenzen der Behörden führen also nicht zum völligen Ausschluss der gerichtlichen Kontrolle, sondern die Prüfungsdichte ist nur hinsichtlich ausgewählter Fragen gelockert.194 Auch wenn die Gerichte den Fall weniger streng prüfen, 189 Vgl. dazu Eifert ZHR 174 (2010), 449, 454. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive Dreier/Schulze-Fielitz GG Art. 19 IV Rn. 128. 190 Broemel JZ 2014, 286, 287 f. 191 Weitergehend wohl Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  67, der die überkommenen Typisierungen im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigen will. 192 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 53, 66 f. 193 Anders Jestaedt DVBl 2001, 1309, 1316 Fn. 69, der die eingeschränkte Kontrolle als eine Frage des Prüfungsmaßstabs begreift und die Prüfungsdichte in allen Fällen für gleich hält. 194 Deutlich Aschke in BeckOK VwVfG § 40 Rn. 104, 132; zum fachlichen Erkenntnisvakuum Eichelberger NVwZ 2019, 1560, 1565  ff. So auch im europäischen Recht 186

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kann von einem „Laissez Faire“-Ansatz oder von „rechtsstaatsfreien Zonen“ keine Rede sein.195 3. Kriterien für die Verteilung der Letztentscheidungskompetenzen a) Normstruktur Nähert man sich auf der ersten Stufe der Frage, wem der Gesetzgeber die Letzt­ entscheidungskompetenz zugewiesen hat, bietet es sich an, die klassische Differenzierung nach der Normstruktur aufzugreifen und zu untersuchen, ob die einschlägige Vorschrift sich in den Tatbestand und die Rechtsfolge zergliedern lässt oder ob sie final strukturiert ist.196 Im letztgenannten Fall wird die gerichtliche Kontrolle in der Regel eingeschränkt sein. Eine solche Einschränkung ist konsequent: Nimmt die Komplexität der Aufgaben zu, deren Lösung sich der Staat annimmt, wird es dem Gesetzgeber zunehmend schwer fallen, die Ermächtigungsgrundlagen so zu formulieren, dass sie zum einen die Verwaltung konditional steuern, zum anderen aber die nötige Flexibilität gewähren, um auf die Veränderungen der Gegebenheiten im Einzelfall reagieren zu können. Der Rückgriff auf final formulierte Normen mit klar umschriebenen Regelungszielen scheint ein praktikables Mittel zu sein, um diesen Spagat zu meistern.197 Mit der Einführung der Zweckprogramme erteilt der Gesetzgeber der Exekutive einen politischen Gestaltungsauftrag,198 der von der Judikative zu respekEuGH NZKart 2014, 403 Rn.  54: „Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass, auch wenn der Kommission in Bereichen, in denen komplexe wirtschaftliche Beurteilungen erforderlich sind, in Wirtschaftsfragen ein Wertungsspielraum zusteht, dies nicht bedeutet, dass der Unionsrichter eine Kontrolle der Auslegung von Wirtschaftsdaten durch die Kommission zu unterlassen hat. Der Unionsrichter muss nämlich nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz prüfen, sondern auch kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation he­ ranzuziehen waren, und ob sie die aus ihnen gezogenen Schlüsse untermauern können.“ 195 So aber im regulierungsrechtlichen Zusammenhang Wimmer JZ 2010, 433, 435, 440.  196 Zur gerichtlichen Kontrolldichte bei Konditionalnormen §  5 I und II. Zu finalen Vorgaben § 5 III. 197 Nicht eingegangen wird hier auf die verfassungsrechtlichen Probleme, die mit finaler Steuerung einhergehen (Stichwort Bestimmtheitsgrundsatz), vgl. dazu Steinberg Staat 15 (1976), 185, 186, 194 f. 198 So bereits Luhmann, Zweckbegriff, S. 69. Zur Unterscheidung zwischen rechtlichen und politischen Funktionen der Verwaltung Breuer Verw 36 (2003), 271, 273  ff.; C. Fonk DVBl 2010, 626, 631 f. 187

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tieren ist. Anders als bei Konditionalnormen können die Gerichte nicht auf den juristischen Syllogismus zurückgreifen, um die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu beurteilen. Die herkömmliche juristische Arbeitstechnik, die in der Ausarbeitung und der Definition der Tatbestandsmerkmale sowie in der anschließenden Subsumtion besteht, ist bei finalen Normen nicht möglich. Im Zentrum der gerichtlichen Tätigkeit steht nicht die schlichte Rechtsanwendung, sondern die Bewertung der von der Behörde gewählten Zweck-Mittel-Relation.199 Anders ist die idealtypische Lage bei Konditionalnormen, bei denen der Gesetzgeber bereits beim Erlass der Norm eine politische Gestaltungsentscheidung getroffen hat, die von der Verwaltung lediglich vollzogen wird. Ist das Handlungsprogramm der Exekutive scharf umrissen, können die Gerichte im Rahmen der klassischen Subsumtionsarbeit die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns kontrollieren,200 was für eine höhere Prüfungsdichte spricht als bei finaler Steuerung.201 Gleichwohl führt die konditionale Programmierung der Verwaltungstätigkeit nicht zwingend zu einer Erhöhung der richterlichen Kontrollintensität. Wie §  40 VwVfG, §  114 Satz  1 VwGO deutlich machen, kommt eine weitere Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte auf der Rechtsfolgenseite einer konditionalen Vorschrift in Betracht, wenn diese wie eine Ermessensnorm formuliert ist, also wenn die Behörde eine Maßnahme ergreifen „darf “, „kann“ oder „soll“. Auf der Tatbestandsebene kommt eine Letztentscheidungsbefugnis der Verwaltung hingegen nur ausnahmsweise in Frage, wenn das Gesetz eine solche Befugnis ausdrücklich einräumt oder sie sich im Wege der Auslegung begründen lässt. b) Funktionelle Adäquanz Freilich kann die Prüfung auf der ersten Stufe nicht bei der Analyse der Normstruktur stehen bleiben. Es liegt nicht fern, dass sich die am Gesetzgebungsprozess beteiligten Personen keine Gedanken darüber machen, ob sie mit der Formulierung einer Vorschrift den Gerichten oder den Behörden eine Letzt­ entscheidungskompetenz einräumen. So kann eine konditional aufgebaute Norm starke finale Züge aufweisen, wenn ihr Tatbestand mit unbestimmten Rechtsbegriffen überladen wird, deren Anwendung eine Abwägung widerstreitender Belange erfordert; umgekehrt können finale Normen zu einem ge199 Steinberg Staat 15 (1976), 185, 194, 196. 200 Vgl. Luhmann, Zweckbegriff, S. 69, der zutr. darauf hinweist, dass Konditionalprogramme als Algorithmen fixiert seien, so dass unerheblich sei, wer entscheide. 201 C. Fonk DVBl 2010, 626, 632. 188

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wissen Grad konditionalisiert sein.202 Deshalb ist die Strukturanalyse durch weitere Überlegungen zu ergänzen, die sich an den in der Rechtsprechung und Lehre entwickelten Kriterien orientieren können.203 Diese Kriterien lassen sich unter dem Stichwort der funktionellen Adäquanz zusammenfassen.204 Es geht letztlich um die Frage, wer für die letztverbindliche Klärung eines rechtlichen Problems im konkreten Fall besser geeignet ist: das Gericht oder die Behörde? Eine solche Annäherung an das Problem der gerichtlichen Kontrolldichte provoziert eine naheliegende Kritik: Will man die Prüfungsintensität in erster Linie nach funktionellen Kriterien bestimmen, nimmt man das Ergebnis faktisch vorweg. Es handelt sich nicht um eine echte Begründung, sondern um eine (Schein-)Plausibilisierung eines bereits feststehenden Ergebnisses.205 Indes ist zu beachten, dass das Adäquanzkriterium keine Besonderheit der Behördenkontrolle durch die Verwaltungsgerichte ist, sondern eine Figur, die rechtsgebietsübergreifend auch in anderen Zusammenhängen aufgegriffen wird, um etwaige Zuständigkeitskonflikte zwischen unterschiedlichen Rechtssubjekten zu lösen.206 Sie wird etwa im verfassungsrechtlichen Kontext verwendet, um die Kompetenzen der Bundesorgane voneinander abzugrenzen207 oder die Kontrollmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts abzustecken.208 Auch dem Gesellschaftsrecht ist das Adäquanzkriterium nicht fremd, wie namentlich die Diskussion um die Kompetenzen der Hauptver202 Vgl. Hill, Gesetzgebungslehre, S. 20 f.; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 30; Steinberg Staat 15 (1976), 185, 197. 203 Schmidt-Aßmann/Schenk in Schoch/Schneider/Bier VwGO Einl Rn. 186. S. auch die Aufzählung bei Proelß AöR 136 (2011), 402, 415.  Speziell im regulierungsrechtlichen Zusammenhang J.-P. Schneider in Fehling/Ruffert RegulierungsR § 22 Rn. 23 ff.; Eifert ZHR 174 (2010), 449, 458 f.; Ludwigs JZ 2009, 290, 295 f. 204 S.  schon Wahl NVwZ 1991, 409, 410  f., der von Organadäquanz spricht und auf funktionell-rechtliche Gesichtspunkte abstellen will. Vgl. ferner Ossenbühl, FS K.  Redeker, S.  55, 64  ff., der insoweit von einem „funktionellrechtlichen Ansatz“ spricht (gleiche Begrifflichkeit bei Ludwigs RdE 2013, 297, 299, der aber dieser Figur zurückhaltend gegenübersteht). In eine ähnliche Richtung Geis, Handlungsfreiheit, S. 97, 105 f. 205 Krit. etwa Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 26, § 114 Rn. 114, 168. S. ferner Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier, Grundwerk, VwGO § 114 Rn. 56: Schluss von einem Sein auf ein Sollen; Ludwigs RdE 2013, 297, 299: gewisse Beliebigkeit. 206 So die zutr. Feststellung von Temming RdA 2015, 280, 283. 207 von Danwitz Staat 35 (1996), 329  ff. Zur auswärtigen Gewalt Sauer ZaöRV 2002, 317, 334. Im europarechtlichen Zusammenhang Sauer EuR 2017, 186, 200 f. 208 S. etwa Schlaich/Korioth BVerfG Rn. 506 ff., insb. Rn. 522, die sich aber in Rn. 526 ff. kritisch zu funktionell-rechtlichen Kompetenzkriterien äußern. 189

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sammlung oder des Aufsichtsratsvorsitzenden zeigt.209 Insoweit spricht nichts dagegen, auch im Zusammenhang mit der gerichtlichen Kontrolldichte im Verwaltungsrecht auf die funktionelle Adäquanz abzustellen. Dennoch ist die Kritik, die gegen die Kompetenzverteilung anhand funktioneller Gesichtspunkte geäußert wird, ernst zu nehmen. Um die in § 5 V 2 a angedeutete Beliebigkeit bei der Auswahl und Gewichtung der einzelnen Kriterien zu vermeiden, die bei der Beurteilung der funktionellen Adäquanz droht, kann es nicht genügen, die Letztentscheidungskompetenzen der Behörden allein mit den Schwierigkeiten zu begründen, die die Gerichte bei der Anwendung deutungsoffener Normen treffen. Wie bereits in §  5 II 1 erläutert, reicht die Komplexität der Entscheidungsfindung nicht aus, um die Intensität der richterlichen Kontrolle zu lockern. Vielmehr bedarf es weiterer, handfester Kriterien, die eine Absenkung der richterlichen Kontrollintensität rechtfertigen. Folgende Gesichtspunkte können aufgegriffen werden, um den weiten Begriff der funktionellen Adäquanz mit Inhalt zu füllen: der politisch-gestalterische Einschlag bei der Entscheidungsfindung,210 die Komplexität des zu beurteilenden Sachverhalts,211 die Erforderlichkeit einer flexiblen Entscheidung, die besondere Sachkunde der Verwaltung, die sich das Gericht mit Hilfe der Sachverständigen nicht besser aneignen kann, die Zuweisung der Entscheidung an ein unabhängiges Kollegialorgan212 sowie die fehlende Reproduzierbarkeit der behördlichen Entscheidung im Gerichtssaal.213 Liegen ein oder mehrere dieser Kriterien vor und weist die Norm finale Züge auf – sei es, weil sie sich nicht in Tatbestands- und Rechtsfolgenseite zergliedern lässt, sei es, weil der Tatbestand eher die vom Gesetzgeber intendierten Ziele benennt und 209 Im Zusammenhang mit HV-Kompetenzen Hüffer/J. Koch AktG § 119 Rn. 5; Renner AG 2015, 513  ff. Zum Vorstand und AR Hüffer/J. Koch AktG §  76 Rn.  2, §  111 Rn. 34. Speziell zum AR-Vorsitzenden J. Koch, 50 Jahre AktG, S. 67, 89 ff. (mit krit. Zungenschlag). 210 Treffend Warg NVwZ 2016, 331, 332: „Gerichtliche Kontrolle macht dann keinen Sinn, wenn behördliche und gerichtliche Entscheidungen wegen fehlender „harter“ Prüfmaßstäbe für individuelle Wertungen letztlich als gleich(-wertig) richtig bzw. genauso gut vertretbar akzeptiert werden müssten.“ 211 Proelß AöR 136 (2011), 402, 415: komplexe Wertungs- und Prognosenotwendigkeiten. 212 S. dazu bereits die Fallgruppen in § 5 II 3. Aus dem Blickwinkel der funktionsgerechten Organstruktur von Danwitz Staat 35 (1996), 329, 340 ff., 345 f. 213 Im prüfungsrechtlichen Kontext Pernice-Warnke WissR 47 (2014), 371, 382.  Zum Regulierungsrecht treffend Werkmeister, Entgeltregulierung, S. 272: „Aus dem verständlichen Impuls heraus, in besonders schwierigen Fragen nicht aus der Distanz des Gerichtsverfahrens heraus in die oft unter Zeitdruck handelnde Verwaltung hineinreden zu wollen, müssen den Gerichten Beschränkungen auferlegt werden.“ 190

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keine echten Tatbestandsmerkmale vorsieht – spricht viel dafür, dass die richterliche Kontrolldichte gelockert werden soll. Eine solche Kombinationslösung ist der Kritik ausgesetzt, dass sie eine gewisse Beliebigkeit bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsintensität zulässt: Die Gerichte können bei der Argumentation die ihnen genehmen Kriterien betonen oder herunterspielen, um ein gewünschtes Ergebnis zu begründen, so dass die Entscheidungsspielräume der Verwaltung nicht vom Gesetz, sondern von den rhetorischen Künsten der Richter abhängen. Ein solcher Einwand ist nicht ganz unberechtigt, lässt sich aber bei zahlreichen anderen Problemen erheben, bei denen der Gesetzgeber eine klar umrissene Lösung nicht formuliert hat. Die Unschärfen des Gesetzes führen zur gesteigerten Rechtsunsicherheit. Zieht sich der Gesetzgeber zurück, indem er keine präzise Regelung erlässt, kann es sich bei der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte nur um einen Annäherungsversuch handeln, die nicht mit einer mathematischen Präzision erfolgen kann. 4. Intensität der richterlichen Kontrolle a) Kontrollkriterien Kommt man auf der ersten Stufe zu dem Schluss, dass die Behörde eine Letzt­ entscheidungskompetenz genießt, ist auf der zweiten Stufe zu untersuchen, inwieweit die gerichtliche Kontrollintensität gelockert wird. Auch in diesem Zusammenhang sieht das Gesetz in § 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO nur für das Rechtsfolgenermessen vor, welche Ermessensfehler die Gerichte beanstanden dürfen, nämlich den Ermessensausfall, die Ermessensüberschreitung, den Ermessensdefizit und den Ermessensfehlgebrauch.214 Wie schon in §  5 III 2 und § 5 IV 3 erläutert, ist die Abwägungsfehlerlehre bei finalen Normen trotz fehlender gesetzlicher Regelung an § 40 VwVfG, 114 Satz 1 VwGO angelehnt; sie stellt auf Abwägungsausfall, das Abwägungsdefizit, die Abwägungsfehleinschätzung und die Abwägungsdisproportionalität als Fehlerkategorien ab. Für die Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsseite fehlt ebenfalls ein einheitlicher gesetzlicher Fehlerkatalog, was aus gesetzgeberischer Perspektive bei unbefangener Betrachtung insoweit konsequent ist, als die Ermächtigungsarten vom Fachgesetz zum Fachgesetz variieren und es deshalb schwer fällt, eine für alle Fälle geltende Norm zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte zu formulieren.

214 Ausf. bereits in § 5 I. 191

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

Schaut man sich die in § 5 III dargestellten Fallgruppen allerdings näher an, fällt es auf, dass die Fehlerkategorien in den Fallgruppen der Beurteilungsermächtigung auf der Tatbestandsseite nah beieinander liegen. Die Gemeinsamkeiten wurden in dem – inzwischen aufgehobenen215 – § 4a Abs. 2 UmwRG aF auf den Punkt gebracht. Für den Fall, dass der Verwaltungsbehörde bei der Anwendung umweltrechtlicher Vorschriften eine Beurteilungsermächtigung eingeräumt war, sah § 4a Abs. 2 UmwRG aF vor, dass eine behördliche Entscheidung im gerichtlichen Verfahren nur daraufhin zu überprüfen war, ob der Sachverhalt vollständig und zutreffend erfasst wurde, die Verfahrensregeln und die rechtlichen Bewertungsgrundsätze eingehalten wurden, das anzuwendende Recht verkannt wurde und sachfremde Erwägungen vorliegen. Nach Ansicht des Gesetzgebers hatte diese Regelung gegenüber den allgemeinen Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung kein Beschleunigungspotenzial und war daher entbehrlich.216 Gleichwohl hat sie den Entwicklungsstand der Rechtsprechung deutlich gemacht. In allen Fällen, in denen ein Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörde anerkannt ist, bezieht sich die gerichtliche Prüfung auf den Sachverhalt, auf dem die behördliche Entscheidung beruht. Auch die Einhaltung der Verfahrensregel und rechtlichen Bewertungsgrundsätze sowie das Verbot sachfremder Erwägungen gehören zum Kern der verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik. Schließlich ist die Begründung der behördlichen Entscheidung  – obwohl nicht in §  4a Abs.  2 UmwRG aF genannt  – ein Kontrollkriterium, das in der Rechtsprechung zu den Beurteilungsermächtigungen regelmäßig wiederkehrt. b) Nachvollziehende Kontrolle der Entscheidungsprozedur Vergleicht man die Ermessens- und Abwägungsfehlerlehre mit den Kontrollgrundsätzen, die in Fällen der Beurteilungsermächtigungen gelten, stechen die Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen der behördlichen Letztentscheidungskompetenzen ins Auge.217 So liegt ein Entschei215 Vgl. Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes und anderer Vorschriften an europa- und völkerrechtliche Vorgaben vom 29.5.2017, BGBl. I S. 1298. 216 RegBegr UmwRG BT-Drucks. 18/9526, S.  41.  So auch Beckmann RTh 45 (2014), 141, 154; Gärditz NVwZ 2014, 1, 10: § 4a Abs. 2 UmwRG aF sei überflüssig bzw. inhaltlich überwiegend belanglos. Krit. auch Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 24. 217 Zu den Parallelen etwa Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG §  40 Rn.  221; Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 192; Lüpkemann, Ermessen, S. 77 f.; Herdegen JZ 1991, 747, 750 f. 192

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Gerichtliche Kontrolldichte als stimmiges dogmatisches Konzept?

dungsfehler vor, wenn die Behörde ihren Spielraum gar nicht erkannt und sich deshalb gebunden gefühlt hat. Fehlerhaft ist die behördliche Entscheidung auch in Fällen, in denen die Verwaltung von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Die Analyse dieser kategorienübergreifenden Fehlerquellen zeigt, dass sich der Schwerpunkt der gerichtlichen Prüfung von der Kontrolle des Entscheidungsinhalts hin zur Kontrolle des Entscheidungsprozesses verlagert: Ein ordnungsgemäßes Verwaltungsverfahren legitimiert den Inhalt der administrativen Entscheidung, die nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft wird. Die Zurückhaltung bei der Überprüfung des Entscheidungsinhalts wird durch eine verstärkte Verfahrenskontrolle kompensiert; die Einhaltung der Entscheidungsprozedur erzeugt eine Richtigkeitschance.218 Auch wenn diese Verschiebung aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenklich erscheinen mag, weil sie Rechtsschutzlücken entstehen lässt und damit hinter dem in Art.  19 Abs.  4 GG vorausgesetzten Standard zurückbleiben kann,219 ist zu berücksichtigen, dass man die prozedurale Kontrolle durchaus scharf stellen kann.220 Dies zeigt etwa die Rechtsprechung zum Telekommunikationsrecht: Das BVerwG gewährt der BNetzA zwar diskretionäre Spielräume, stellt dann aber im konkreten Einzelfall fest, dass die Agentur die prozeduralen Grenzen dieser Spielräume überschritten hat, etwa weil die Begründung der administrativen Maßnahme dem gerichtlich gesetzten Standard nicht entsprach.221 Auch die Anforderungen an die Dokumentation des Entscheidungsvorgangs können so justiert werden, dass die bloß prozedurale Kontrolle eine hohe Intensität aufweist und etwaige Rechtsschutzlücken kompensiert;222 ein praktisches Anschauungsbeispiel bietet etwa das Urteil des BVerwG zur Sicherheitsüberprüfung.223 Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Kritik spiegelt die Verlagerung des Kontrollschwerpunkts auf den Entscheidungsprozess 218 Zur Kompensationsfunktion des Verwaltungsverfahrens Geis, Handlungsfreiheit, S. 97, 106. Zur Richtigkeitsgewähr durch Verfahren Gerhardt in Schoch/Schneider/ Bier VwGO, Grundwerk, §  114 Rn.  56, 62, 69.  Im verfassungsrechtlichen Kontext etwa von Danwitz Staat 35 (1996), 329, 336 f. 219 Zurückhaltend deshalb Gärditz Verw 46 (2013), 257, 276 f. S. ferner Durner VVDStRL 70 (2010), 398, 434: Verfahrensrecht könne materiell-rechtliche Vorgaben flankieren, aber nicht substituieren. 220 Eifert ZHR 174 (2010), 449, 484. 221 So etwa BVerwGE 148, 48 Rn. 57 ff. = NVwZ 2014, 589.  222 Vgl. BVerwGE 136, 204 Rn. 31 = BeckRS 2010, 55732: „Die Dokumentationspflicht stellt insofern zugleich ein Korrektiv zu dem gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum dar.“ 223 BVerwG NVwZ 2016, 327 Rn. 37 ff. 193

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Verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik

den gegenwärtigen Stand der verwaltungsrechtlichen Rechtsentwicklung wider und wird  – entsprechend den Ausführungen in §  5 I  – dieser Untersuchung zugrunde gelegt. Geht man davon aus, dass sich die gerichtliche Kontrolle kategorienübergreifend auf den Entscheidungsprozess fokussiert, ist es überlegenswert, die herkömmliche Differenzierung zwischen den Fallgruppen der Letztentscheidungskompetenzen ein Stück weit aufzugeben, um die Kontrollkriterien und die Fehlerquellen zu konsolidieren.224 Eine solche Konsolidierung ermöglicht das Konzept der nachvollziehenden Kontrolle, das von mehreren Autoren vorgeschlagen und schrittweise fortentwickelt wurde225 und das einen Eingang in die gerichtliche Praxis gefunden hat.226 Der Markenkern dieses Konzepts liegt in einem „Wechsel von einer Vollüberprüfung zu einer nachvollziehenden Rechtsprüfung im Sinne einer Vertretbarkeitskontrolle.“227 Im Zentrum steht der Prozess der administrativen Entscheidungsfindung, der auf Rechtsfehler überprüft wird: Das Gericht fokussiert sich auf das konkrete Verwaltungsverfahren, an dessen Ende eine behördliche Entscheidung steht, statt selbst eine Entscheidung zu treffen.228 Die Kontrolle erfolgt in mehreren Schritten,229 wo224 So im Kern auch H.-J. Koch, Abwägung, S. 9, 20 ff., der die Abwägung widerstreitender Prinzipien in allen Arten behördlicher Entscheidungen zur Geltung bringen will. AA Aschke in BeckOK VwVfG § 40 Rn. 105: Die Kontrollmaßstäbe würden sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Gegen eine Parallelisierung der Kontrollmaßstäbe bei den unterschiedlichen Typen behördlicher Letztentscheidungskompetenzen auch Mayen, FS H.-J. Koch, S. 131, 135. 225 Zum Folgenden vgl. insbes. Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 700 f., 718 ff. Der nachvollziehenden Kontrolle wird im Schrifttum das Abwägungsmodell gegenübergestellt, vgl. Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, Vor § 113 Rn. 20, § 114 Rn. 4 ff.; Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO Vor § 113 Rn. 23; Schmidt-­ Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn.  70.  Ob es sich dabei wirklich um unterschiedliche Konzepte handelt, darf bezweifelt werden. Die Differenzen scheinen eher terminologischer Natur zu sein, während es in der Sache jeweils darum geht, das gerichtliche Vorgehen bei der Kontrolle der Behördenentscheidung in mehrere Schritte zu strukturieren und die Prüfungsintensität auszudifferenzieren (so wohl auch Riese aaO Vor § 113 Rn. 23 Fn. 164). 226 BVerfGE 129, 1, 21 = NVwZ 2011, 1062; BVerfG NVwZ 2012, 694 Rn. 22: nachvollziehende Kontrolle im Planungsrecht. 227 Beckmann RTh 45 (2014), 141, 156.  S.  auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 83: „Ein „Nacharbeiten“ wird zur Leitvorstellung“. 228 Zur Fokussierung auf den Entscheidungsvorgang auch Gerhardt, Handlungsspielräume, S. 57, 59 f. Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 723 spricht treffend von einem Perspektivenwechsel. 229 Zu den Prüfungsschritten, die sogleich geschildert werden, vgl. im Einzelnen Ramsauer, FG BVerwG, S. 699, 720 ff. 194

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Gerichtliche Kontrolldichte als stimmiges dogmatisches Konzept?

bei das Gericht bei jedem einzelnen Schritt überlegen muss, ob und inwieweit der Behörde eine Letztentscheidungskompetenz zustand;230 als Maßstab können dabei die in § 5 V 3 genannten Kriterien – die Normstruktur und die funktionelle Adäquanz – dienen. Im Ausgangspunkt ermittelt das Gericht nach §  86 VwGO, ob die Behörde vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist.231 Allerdings muss das Gericht den Sachverhalt nicht in alle theoretisch denkbaren Richtungen ausermitteln, sondern es reicht aus, wenn es feststellt, ob der Sachverhalt, den die Behörde seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, die behördliche Begründung trägt. Ein solches Vorgehen bietet sich insbesondere dann an, wenn der Sachverhalt überaus komplex ist.232 Erweist sich die behördliche Sachverhaltsermittlung als unzureichend und trägt der Sachverhalt die Entscheidung nicht, kann diese aufgehoben werden. Ist der Sachverhalt hingegen fehlerfrei ermittelt, muss das Gericht weiter prüfen, ob die Behörde die einschlägigen Normen zutreffend ausgelegt und angewendet hat.233 Kann der Sachverhalt eindeutig unter eine Norm subsumiert werden oder ist die Norm offensichtlich nicht einschlägig, kommt es auf etwaige administrative Spielräume nicht an. Lassen sich bei der Normauslegung und -anwendung unterschiedliche Ergebnisse vertreten, kontrolliert das Gericht lediglich, ob die Behörde zu einem vertretbaren Ergebnis gelangt ist, das dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Gleichheitsgrundsatz entspricht.234

230 Diese Überlegung entspricht den klassischen Fehlerkategorien „Ermessensausfall“ und „Abwägungsausfall“. 231 Denkt man in den herkömmlichen Fehlerkategorien, geht es an dieser Stelle also um etwaige Ermessen- bzw. Abwägungsdefizite. 232 Vgl. im naturschutzrechtlichen Kontext Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 102, 144; Kahl/Burs DVBl 2016, 1222, 1223 f. 233 Hier geht es um Fälle der Ermessensüberschreitung. 234 Dieser Prüfungspunkt fasst die Kategorien „Ermessensfehlgebrauch“, „Abwägungsfehleinschätzung“ und „Abwägungsdisproportionalität“ zusammen. 195

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§ 6 Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht I. Gerichtliche Prüfungsdichte und Bestandskraft einer Maßnahme Geht man mit der in § 4 VI dargelegten Auffassung davon aus, dass das Verbandsrecht aus den öffentlich-rechtlichen Entwicklungen lernen kann, ist der Blick zunächst auf die Auswirkungen der behördlichen Letztentscheidungskompetenzen und der damit verbundenen Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte zu werfen. Gewährt das Gesetz der Exekutive Letztentscheidungsbefugnisse, schränkt es zugleich die Möglichkeiten der Judikative ein, die administrative Entscheidung zu korrigieren. Das Planungs- oder Rechtsfolgen­ ermessen und die Beurteilungsspielräume auf der Tatbestandsebene sind Instrumente, mit denen die Bestandskraft der Verwaltungsmaßnahmen geschützt wird. Dieses Zusammenspiel zwischen der gelockerten richterlichen Prüfungsdichte und der Bestandskraft der Entscheidung wird im Gesellschaftsrecht oft nicht hinreichend berücksichtigt. Vorausgesetzt wird es meist nur bei der Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse,1 wie etwa bei der richterlichen Überprüfung des Bezugsrechtsausschlusses nach §  186 Abs.  3 AktG. Räumt man der quali­ fizierten Aktionärsmehrheit unternehmerisches Ermessen ein, schützt man den Hauptversammlungsbeschluss über den Bezugsrechtsausschluss vor einer engmaschigen gerichtlichen Kontrolle im Rahmen eines etwaigen Beschlussmängelprozesses.2 Vernachlässigt werden die Auswirkungen der gelockerten richterlichen Prüfungsdichte auf die Bestandskraft der Entscheidungen, die durch die Verwaltungsorgane getroffen werden. In diesem Kontext wird die Figur des Ermessens aufgegriffen, um eine übermäßig scharfe Haftung der Organmitglieder zu vermeiden.3 Dass die Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltungsorgane zugleich das Ergebnis der organschaftlichen Willensbildung gegen eine 1 S.  etwa im Zusammenhang mit §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  273; Wallisch, Entscheidungen, S.  77  ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163 ff.; Paefgen ZIP 2016, 2293, 2296 f. Ohne § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anzuwenden auch Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 70 ff. 2 Hierzu im Einzelnen in § 20 III 2. 3 Besonders deutlich im Zusammenhang mit der Vorstandshaftung B. Peus, Haftung, S.  101, der die Fokussierung der öffentlich-rechtlichen Dogmatik auf den Bestands196

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Ausdifferenzierung und Systematisierung der Kontrollintensität

engmaschige gerichtliche Kontrolle abschirmen, wird nur vereinzelt reflektiert.4 Der Grund für diese Entwicklung dürfte darin liegen, dass sich die Debatte auf die Haftung der Mitglieder der Verwaltungsorgane konzentriert und die Willensbildungskontrolle ein Schattendasein fristet. Dies ist aus einer praktischen Perspektive verständlich: Die Haftungsfrage ist für die Organmitglieder von existenzieller Bedeutung, die Bestandskraft der Verwaltungsbeschlüsse ein eher technisches Problem.5 Will man die richterliche Kontrolldichte der Verwaltungsorgane aus allen Blickwinkeln beleuchten, erscheint es aber unerlässlich, auch auf das Zusammenspiel zwischen den Letztentscheidungskompetenzen und der Willensbildungskontrolle einzugehen. Ein intradisziplinärer Blick auf die öffentlich-rechtliche Diskussion kann dabei helfen, die haftungsrechtlichen Scheuklappen abzulegen und das Ermessen der Verwaltungsorgane als ein Instrument wahrzunehmen, mit dem der Bestandsschutz organschaftlicher Entscheidungen gewährleistet werden kann.

II. Ausdifferenzierung und Systematisierung der Kontrollintensität 1. Variationsbreite der richterlichen Prüfungsdichte Eine weitere Lehre, die ein Gesellschaftsrechtler aus dem Studium der verwaltungsrechtlichen Diskussion ziehen kann, klingt defätistisch: Es gibt keine allgemeingültige Methode, um die richterliche Kontrolldichte zu bestimmen. Auch nach einer jahrelangen Debatte ist es Verwaltungsrechtspraxis und Wissenschaft nicht gelungen, sich auf einfach handhabbare Kriterien zu einigen, die bei der Justierung der gerichtlichen Prüfungsintensität herangezogen werden können. Die für die einzelnen Fallgruppen getroffenen Aussagen erlauben bloß eine erste Annäherung an die Problemlösung.6 Geht man ins Detail, zeigt sich schnell, dass die verwaltungsrechtliche Doktrin einen hohen Ausdifferenzierungsgrad erreicht hat.7 Mit dieser Ausdifferenzierung der Kontroll­ intensität geht eine steigende Komplexität des Rechtssystems einher, deren schutz der Verwaltungsentscheidung als Argument gegen Anleihen aus dem Verwaltungsrecht vorbringt. 4 Zu dieser Facette der eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsdichte etwa Hüffer/​ J. Koch AktG § 93 Rn. 13: Mit Anerkennung eines unternehmerischen Ermessensspielraums werde nicht nur über Vorstandsverantwortlichkeit entschieden, sondern auch über dauerhafte Bestandskraft der Entscheidung. Vgl. ferner Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 323 f.; Voigt, Haftung, S. 192; Paefgen AG 2004, 245, 250 f. 5 Zu den Gründen ausf. Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 217 ff. 6 S. bereits § 5 II 1. 7 Vgl. § 5 V 1. 197

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

Nachteil in der zunehmenden Rechtsunsicherheit liegt: Wo keine pauschalen Antworten auf die Frage nach der richterlichen Prüfungsdichte möglich sind, dort müssen die Rechtsanwender bis zur Problemklärung durch die höchst­ richterliche Rechtsprechung mit einer undurchsichtigen Kontrolldogmatik kämpfen. Klare Aussagen zur Intensität der gerichtlichen Kontrolle, die in einen subsumtionsfähigen Tatbestand gegossen werden können, lassen sich in einem solchen Regelungsumfeld nicht treffen. Lehnt man die Parallelen zwischen Verbands- und Verwaltungsrecht nicht gänzlich ab, liegt es nahe, dass die Suche nach der „richtigen“ Kontrolldichte nicht nur im öffentlichen Recht, sondern auch im Gesellschaftsrecht eine Daueraufgabe ist, die nicht mit pauschalen Antworten bewältigt werden kann. Diese Erkenntnis klingt auf den ersten Blick trivial, weil es in der Rechtswissenschaft üblich ist, ausdifferenzierte Lösungswege zu beschreiten. Wenn man sich allerdings vergegenwärtig, wie oft das gesellschaftsrechtliche Schrifttum ein kompliziertes Problem mit dem Standardsatz „Es ist die Business Judgment Rule anwendbar“ zu lösen versucht,8 ist es schon ein Fortschritt, wenn die Frage nach der richterlichen Kontrolldichte nicht mit pauschalen Aussagen beantwortet wird. Dies gilt umso mehr, als die Analyse der öffentlich-rechtlichen Diskussion darauf hindeutet, dass die Intensität der richterlichen Kontrolle auch im Verbandsrecht von Fall zu Fall variiert und sich die Rechtsprechung sowie das Schrifttum insoweit auf einer dauerhaften Suche befinden. So wie sich im öffentlichen Recht die Figur des allgemeinen Verwaltungsermessens unter Geltung des Grundgesetzes nicht durchgesetzt hat, so liegt es im Verbandsrecht nahe, dass die Business Judgment Rule nicht beschworen werden kann, um alle Fälle zu lösen, in denen Verwaltungsorgane oder Gesellschafter diskretionäre Spielräume haben. So wie es mit Vorsicht zu genießen ist, wenn die gerichtliche Prüfungsdichte mit dem Argument gelockert wird, die Richter seien keine besseren Regulatoren als die Regulierungsbehörden,9 so reicht es für die Lockerung der gerichtlichen Kontrolle im Gesellschaftsrecht nicht aus, wenn pauschal darauf hingewiesen wird, dass die Richter keine besseren Unternehmer sind als die Geschäftsleiter.10 Vielmehr sind die gesetzlichen Bindungen, die der Gesetzgeber im Gesellschaftsrecht rechtsform- und organübergreifend erlässt, ein Zeichen dafür, dass die Richter grundsätzlich befähigt sind, unter 8 Zur Omnipräsenz der BJR vgl. bereits oben in § 1 II. 9 So aber Trute, FG BVerwG, S. 857, 867 f. Zutr. dagegen etwa Proelß AöR 136 (2011), 402, 414. Vgl. ferner bereits § 4 VI 4. 10 Hierzu bereits § 4 V 2 mit Fn. 152. 198

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Ausdifferenzierung und Systematisierung der Kontrollintensität

nehmerische Prozesse am Maßstab des Rechts zu bewerten und gegebenenfalls dem Unternehmertum Schranken zu setzen. 2. Differenzierung bei komplexen Sachverhalten Die Ausdifferenzierung der Kontrolldogmatik erlaubt nicht nur die – im Verwaltungs- wie im Verbandsrecht gleichermaßen geltende – Feststellung, dass unterschiedliche Fälle mit unterschiedlicher Intensität gerichtlich kontrolliert werden können. Die öffentlich-rechtliche Diskussion zeigt überdies, dass ein einheitlicher Lebenssachverhalt nicht zwingend einem einheitlichen Kon­ trollstandard unterliegen muss. Vielmehr werden einzelne Teilentscheidungen einer komplexen Verwaltungsmaßnahme mehr oder weniger intensiv kontrolliert, was in §  5 V 1 am Beispiel des Naturschutz- und Regulierungsrechts näher erläutert wurde. Die Teilbarkeit der richterlichen Prüfungsdichte innerhalb eines einheitlichen Lebenssachverhalts ist ein Umstand, der auch im gesellschaftsrechtlichen Kontext fruchtbar gemacht werden kann. Als Beispiel mag an dieser Stelle die Beurteilung von Unternehmensübernahmen dienen: Die Frage, ob und in welcher Höhe die Gesellschaft in ein anderes Unternehmen investiert, ist eine unternehmerische Entscheidung, die am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG überprüft wird.11 Die rechtlichen Vorgaben, die im Rahmen einer solchen Investition zu beachten sind – etwaiges übernahmerechtliches Angebot, die Freigabe durch die Kartellbehörden oder die Einholung von innerverbandlichen Zustimmungen, etwa des Aufsichtsrats bei einem Vorbehalt nach § 111 Abs. 4 Satz  2 AktG oder der Hauptversammlung in Holzmüller-Konstellationen  – können hingegen vollständig kontrolliert werden. Auch der Umgang mit rechtlichen Unsicherheiten verdeutlicht, dass die Prüfungsintensität variieren kann: Dirk Verse hat im Kontext der Organhaftung bei unklarer Rechtslage dargelegt, dass die Kontrolldichte variieren kann, je nachdem, ob es um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe geht oder um die Entscheidung, wie sich der Vorstand auf dem unklaren Boden bewegt.12 Diese zwei Konstellationen, die im weiteren Verlauf der Arbeit um weitere Beispiele ergänzt werden,13 machen deutlich, dass die einzelnen Problemfelder innerhalb eines komplexen Sachverhalts abgeschichtet werden können. Die Lektüre verwaltungsrechtlicher Debatten kann dabei helfen, ein Gespür dafür zu entwickeln. 11 Dazu ausf. in § 11 II 2. 12 Verse ZGR 2017, 174, 192 f. 13 S. etwa § 15 I 2 (Anstellungsvertrag mit dem Vorstand) oder § 22 (Gewinnermittlung und Gewinnverwendung). 199

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

3. Kategorisierung der Kontrollvorgaben Trotz der starken Ausdifferenzierung der Kontrolldogmatik ist es der Verwaltungsrechtspraxis und Wissenschaft gelungen, die einzelnen Verästelungen so zu systematisieren, dass in der Diskussion begriffliche Klarheit herrscht: Es ist weitgehend konsentiert, mit welchem Inhalt die Begriffe „Rechtsfolgenermessen“, „Planungsermessen“ oder „Beurteilungsspielraum“ auszufüllen sind, was die Rechtsanwendung und den wissenschaftlichen Austausch erleichtert. Wird eine neue Figur – etwa das „Regulierungsermessen“ – in die Debatte eingeführt, sind Wissenschaft und Praxis in der Lage, sie in das vorhandene System einzuordnen. Eine solche Systematisierung ist dem verbandsrechtlichen Schrifttum noch nicht gelungen. Wie bereits in § 1 II erwähnt, werden die Begriffe „Ermessen“ und „Beurteilungsspielraum“ mal synonym verwendet, mal werden darunter unterschiedliche Fälle gefasst. Vor diesem Hintergrund kann ein Blick auf die  verwaltungsrechtliche Entwicklung dabei helfen, die unterschiedlichen Ausprägungen der richterlichen Kontrollintensität zu kategorisieren. Wie im öffentlichen Recht empfiehlt sich eine zweistufige Prüfung.14 Auf der ersten Stufe ist auszuloten, wem der Gesetzgeber die Letztentscheidungskompetenz zugewiesen hat: den Verbandsrechtsakteuren oder den Gerichten? Liegt die Kompetenz bei den Verbandsrechtsakteuren, ist auf der zweiten Stufe zu ermitteln, ob und wie intensiv die Gerichte die verbandsrechtliche Entscheidung kontrollieren dürfen.

III. Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht 1. Normative Ermächtigungslehre als Inspirationsquelle Die gesellschaftsrechtliche Doktrin steht also vor der Aufgabe, einen Spagat zwischen der Ausdifferenzierung der Prüfungsdogmatik einerseits und der Systematisierung der unterschiedlichen Typen der gerichtlichen Kontrolle zu meistern. Auch wenn sich die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte vor diesem Hintergrund als schwierig erweisen kann, bedeutet es nicht, dass die Rechtswissenschaft vor dieser Herausforderung kapitulieren muss. Vielmehr trifft die Aussage Fritz Ossenbühls, die Aufgabe der Jurisprudenz liege

14 S. § 5 V 2. 200

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Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht

auch im Zusammenhang mit der Kontrollproblematik im ständigen Bemühen um rationale Argumentationsmuster,15 auch auf das Verbandsrecht zu. Versucht man, die unterschiedlichen Arten richterlicher Kontrolle im Gesellschaftsrecht im Lichte öffentlich-rechtlicher Entwicklungen zu entwickeln, bietet es sich an, an eine Figur anzuknüpfen, die in der verwaltungsrechtlichen Debatte eine starke Prägewirkung entfaltet: die normative Ermächtigungslehre.16 Die Kernaussage dieser Lehre ist simpel: Hoheitliche Akte unterliegen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG der vollen gerichtlichen Überprüfung, der Gesetzgeber kann aber in einzelnen Tatbeständen der Verwaltung eine Letztentscheidungskompetenz einräumen mit der Folge, dass die administrative Maßnahme einer nur eingeschränkten Kontrolle unterliegt. „Wie der Gesetzgeber in den Grenzen der Vorbehaltslehre und des Bestimmtheitsgebots befugt ist, über das Maß rechtlicher Durchbildung zu entscheiden, so darf er auch die letztverbindliche Entscheidung für eine gesetzlich nicht eindeutig fixierte Situation der Verwaltung zuweisen.“17 Diese einfache Überlegung ist im Gesellschaftsrecht aufzugreifen.18 Es wurde in §  2 skizziert, dass das (geschriebene und ungeschriebene) Verbandsrecht zahlreiche Einfallstore kennt, die eine gerichtliche Überprüfung der verbandsrechtlichen Maßnahmen ermöglicht. Insoweit ist die Rechtslage im Verwaltungs- mit der im Gesellschaftsrecht vergleichbar: Der Gesetzgeber hat den Gerichten einen Kontrollauftrag erteilt. Allerdings erlaubt diese Parallele keine vollständige Übertragung der normativen Ermächtigungslehre ins Verbandsrecht. Dies gilt zunächst im Hinblick auf dem Umstand, dass im Gesellschaftsrecht zwei Akteure die richterliche Prüfungsintensität bestimmen können: die Gesellschafter und der Gesetzgeber. Überdies bedarf die normative Ermächtigungslehre aus einem verfassungsrechtlichen Blickwinkel einer Korrektur. Wie in § 4 III 2 erläutert, ist eine richterliche Vollkontrolle der administrativen Entscheidungen durch Art. 19 Abs. 4 GG bedingt, der aber – wie in § 4 IV 1 dargelegt – im Zivilrecht nicht gilt. Vielmehr obliegt es in erster Linie den Gesellschaftern, im Rahmen ihrer Privatautonomie ihre Angelegenheiten zu regeln. Vor diesem Hintergrund ist die normative Ermächtigungslehre mit umgekehrten Vorzeichen zu versehen. Die Gerichte sind im Ausgangspunkt nicht zu einer vollständigen inhaltlichen Überprüfung der verbandsrechtlichen Maßnah15 Ossenbühl, FS K. Redeker, S. 55, 70, der ergänzend feststellt, dass es allein schon nützlich sei, das Problembewusstsein allseits wach zu halten, und dass die ewige Diskussion um die Kontrollproblematik deshalb schon aus sich ihren Eigenwert habe. 16 Vgl. dazu § 5 II 1. 17 Schmidt-Aßmann in Maunz/Dürig GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 184. 18 So auch Lohse, Ermessen, S. 60 ff., insb. S. 70 ff. 201

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

men befugt; die Kontrollintensität entspricht dem allgemeinen zivilrechtlichen Standard. Allerdings sind die gesellschaftsvertraglichen Regelungen daraufhin zu analysieren, ob eine intensivere richterliche Kontrolle geboten ist. Sieht der Vertrag keine solchen Regelungen vor oder sind die Gesellschafter nicht befugt, den Vertrag nach eigenen Vorstellungen zu formen,19 ist die richterliche Prüfungsdichte aus dem geschriebenen und ungeschriebenen Gesellschaftsrecht zu ermitteln. Auch hier gilt im Ausgangspunkt, dass der privatrechtliche Verband eine Angelegenheit der Gesellschafter ist, die grundsätzlich nicht der gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegt. Der Gesetzgeber kann aber Schutzmechanismen vorsehen, die mit einer gesteigerten richterlichen Aufsicht über die verbandsinternen Aktivitäten einhergehen. In einem solchen Fall werden die Letztentscheidungskompetenzen der Gesellschafter oder Gesellschaftsorgane eingeschränkt und die Gerichte zu einer intensiveren Kontrolle verbandsrechtlicher Maßnahmen ermächtigt. Es obliegt dem Gesetzgeber, die Entscheidungsspielräume so auszugestalten, dass die Gerichte verbandsrechtliche Maßnahmen engmaschiger kontrollieren dürfen. Die Suche nach dem „richtigen“ Maß gerichtlicher Kontrolle fokussiert sich also auf einen Gesetzestatbestand. Die Aufgabe liegt darin, im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob eine Entscheidung der Verbandsrechtsakteure einer engeren oder lockeren gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Wie im Verwaltungsrecht wird sich aus den einschlägigen Regelungen nur selten eindeutig ergeben, ob die Gesellschafter bzw. der Gesetzgeber ein Mehr oder ein Weniger an gerichtlicher Kontrolle verordnet haben, zumal der Begriff der gerichtlichen Prüfungsdichte – wie schon in § 1 II erläutert – im gesellschaftsrechtlichen Kontext nur schlagwortartig aufgegriffen wird. Um die Auslegung zu erleichtern, kann ebenfalls ein Seitenblick auf die verwaltungsrechtliche Entwicklung helfen. In § 5 V 2 wurde skizziert, dass die Frage nach der Verteilung der Letztentscheidungskompetenzen anhand von zwei Kri­ terien beantwortet werden kann: der Normstruktur und der funktionellen ­Adäquanz. Die Kombination dieser Kriterien kann auch im Gesellschaftsrecht dabei helfen, die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen. Deshalb wird im Folgenden dargelegt, wie die Normstruktur und die funktionelle ­Adäquanz in der verbandsrechtlichen Diskussion um die gerichtliche Kon­ trolldichte fruchtbar gemacht werden können. Im weiteren Verlauf der Arbeit werden diese Überlegungen an einzelnen Beispielen aus dem Bereich der Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle vertieft. 19 Dies ist im Aktienrecht im Hinblick auf §  23 Abs.  5 AktG die Regel. Auch andere Gesellschaftsformen kennen zwingende Vorschriften, die nicht im Gesellschaftsvertrag abbedungen werden können, wie etwa § 51a GmbHG. 202

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Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht

2. Auswirkungen der Normstruktur a) Finalität und Konditionalität im gesellschaftsrechtlichen Kontext Wie im Verwaltungsrecht steht auch im Gesellschaftsrecht am Anfang der Überlegungen die Frage, ob der Gesellschaftsvertrag bzw. der Gesetzgeber die Verbandsrechtsakteure final oder konditional zu steuern versucht.20 Allerdings wird die Differenzierung zwischen finalen und konditionalen Regelungen, die in der verwaltungsrechtlichen Diskussion bei der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte eine zentrale Rolle spielt, im Gesellschaftsrecht nur selten aufgegriffen. Da die normtheoretische Systematisierung im Gesellschaftsrecht unüblich ist, fällt es zunächst schwer, aus den herkömmlichen Denkmustern auszubrechen und die jeweilige Vorschrift als final oder konditional zu qualifizieren, um die Intensität des richterlichen Kontrollauftrags zu bestimmen.21 Die fehlende Diskussion führt dazu, dass die beteiligten Akteure – seien es die Gesellschafter, sei es der Gesetzgeber, die Gerichte oder die Rechtswissenschaft – bislang kein Gespür dafür entwickelt haben, die Unterscheidung zwischen Final- und Konditionalnormen in der dogmatischen Arbeit fruchtbar zu machen.22 Als Beispiel dafür mag die Habilitationsschrift von Andrea Lohse dienen, die zwar auf die Dichotomie zwischen finalen und konditionalen Normen eingeht, aber daraus keine handfesten dogmatischen Schlussfolgerungen zieht. Stattdessen versucht Lohse, Finalprogramme zu konditionalisieren,23 was insoweit überrascht, als die normstrukturelle Analyse dabei helfen kann, die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen. Formuliert man finale Vorschriften in konditionale Rechtssätze um, verliert man ohne Not einen Anknüpfungspunkt für die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte. Dass die normstrukturelle Analyse auch im Verbandsrecht aufgegriffen werden kann, zeigt der Umstand, dass das gesellschaftsrechtliche Schrifttum mit einer Dichotomie arbeitet, die mit der Unterscheidung zwischen finalen und 20 Zur gerichtlichen Kontrolldichte bei Konditionalnormen §  5 I und II. Zu finalen Vorgaben § 5 III. Zur Bedeutung der Normstruktur für die Verteilung der Letztentscheidungskompetenzen im Verwaltungsrecht § 5 V 3 a. 21 Freilich werden zivilrechtliche Normen als Konditionalprogramme bezeichnet, vgl. etwa Zippelius, Methodenlehre, S.  23 zu §  823 Abs.  1 BGB. Diese Unterscheidung wird aber nicht aufgegriffen, um die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu ermitteln. 22 S. aber Ekkenga in KK-AktG Vor § 182 Rn. 61, der im Kontext der Finanzierungsverantwortung des Vorstands auf die Finalität abstellt. 23 Lohse, Ermessen, S. 72 f. 203

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

konditionalen Normen eng verwandt ist.24 Mehrere Abhandlungen differenzieren nämlich zwischen Regeln und Prinzipien und knüpfen damit an Kategorien an, die etwa in den 1950er Jahren von Josef Esser benutzt wurden, um unterschiedliche Rechtsfindungsmechanismen im Zivilrecht zu umschreiben.25 Im verfassungsrechtlichen Kontext wird dieses Begriffspaar namentlich mit Robert Alexy in Verbindung gebracht,26 dessen Überlegungen an die Vorarbeiten von Ronald Dworkin27 anknüpfen. Nach Alexys Prinzipientheorie in ihrer Ursprungsform28 handelt es sich bei Prinzipien um Optimierungsgebote, die den Rechtsanwender vor die Aufgabe stellen, zwischen den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten abzuwägen, während Regeln in subsum­ tionsfähigen Normen verkörpert sich, die absolut gelten und vom Adressaten ein eindeutig umschriebenes Verhalten fordern.29 Entscheidet sich der Gesetzgeber, eine Regel im vorgenannten Sinne zu erlassen, wägt er im legislativen Prozess die widerstreitenden Prinzipien ab. Damit befreit er den Rechtsanwender weitgehend von der Abwägungslast.30 Im gesellschaftsrechtlichen Kontext wird die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien häufig aus der Perspektive des Gesetzgebers aufgegriffen. So beleuchtet Jens-Hinrich Binder Regeln und Prinzipien als zwei Regulierungsstrategien, die der Gesetzgeber im Kapitalgesellschaftsrecht verfolgen kann, um Probleme auf der Normebene zu lösen.31 Als Beispiel einer prinzipienorientierten Regulierung wird etwa das Bank- und Versicherungsaufsichtsrecht genannt, das die Vorgaben zur Unternehmensorganisation in regulierten Branchen mit Hilfe von Normen spezifiziert, die von den Adressaten eine In24 Zu den Unterschieden zwischen finalen und konditionalen Normen einerseits sowie Regeln und Prinzipien andererseits Pfefferl, Dichotomie, S. 29 f. 25 J. Esser, Grundsatz, S.  93  ff. Zum Rückgriff auf Regel und Prinzipien im Zivilrecht ferner Auer, Materialisierung, S. 47 ff.; Morell AcP 217 (2017), 61, 65 ff. 26 S. Alexy, Grundrechte, S. 71 ff. 27 Dworkin, Rights, S. 22 ff. 28 Zu den Wandlungen der Normlehre Alexys krit. Poscher RW 2010, 349, 351 ff. 29 Ausf. Alexy, Grundrechte, S. 75 ff. Pointiert Wandt, Prinzipienbasiertes Recht, S. 8 f.: „Da regelbasiertes Recht konkrete Verhaltensgebote setzt, lässt sich diese Regelungsmethode als verhaltensorientiert bezeichnen“ (Hervorhebung im Original); prinzipienbasiertes Recht sei dagegen zielorientiert. Auf die formelle (Regeln) und materielle (Prinzipien) Realisierbarkeit abstellend Auer, Materialisierung, S.  47  ff.; Augschill, „Safe harbor“-Regelungen, S. 142 ff.; J.-H. Binder, Regulierungsinstrumente, S. 169 ff. Zur Entwicklung und den Unterschieden zwischen den vertretenen Ansätzen ausf. Ávila, Rechtsprinzipien, S. 24 ff. 30 Pfefferl, Dichotomie, S. 29. 31 J.-H. Binder, Regulierungsinstrumente, S.  174  ff.; s. ferner Augschill, „Safe harbor“-­ Regelungen, S. 142 ff. Vgl. auch bereits Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 697 ff. 204

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teressenabwägung verlangen.32 Zwar handelt es sich beim Bank- und Versicherungsaufsichtsrecht formell um öffentliches Recht, doch strahlen die aufsichtsrechtlichen Regelungen auf den gesellschaftsrechtlichen Normenbestand aus33 und können deshalb aus einer funktionalen Perspektive durchaus als Verbandsrecht im weiteren Sinne verstanden werden. Auch im Bilanzrecht wird auf die Qualifikation als regel- oder prinzipienbasierte Normierung eingegangen.34 Dies zeigt, dass das verbandsrechtliche Schrifttum zu normstrukturellen Differenzierungen durchaus bereit ist, wenn auch das Zusammenspiel zwischen der Normstruktur und der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte bislang nur vereinzelt und stichwortartig aufgegriffen wird.35 Freilich ist dabei zu berücksichtigen, dass sich die normtheoretische Unterscheidung von finalen und konditionalen Normen in der Rechtswirklichkeit nicht trennscharf durchführen lässt.36 Schafft der Gesetzgeber eine Konditionalnorm, verfolgt er dabei bestimmte Regelungsziele, die im Rahmen der teleologischen Auslegung zu berücksichtigen sind. Umgekehrt kann ein Fi­ nalprogramm je nach konkreter Ausgestaltung finale Züge aufweisen.37 Die Differenzierung zwischen finalen und konditionalen Normen ist also keine qualitative, sondern eine graduelle.38 Dennoch ist es ein Unterschied, ob eine 32 Zum prinzipienbasierten Aufsichtsrecht Berenbrok, Risikomanagement, S.  93  ff.; F. Schmidt, Ausstrahlung, S. 50 ff.; Thaten, Ausstrahlung, S. 185 ff.; Wandt, Prinzipien­ basiertes Recht, S. 8 ff.; J.-H. Binder ZGR 2015, 667, 702 f.; Buck-Heeb BB 2013, 2247, 2248; Bürkle VersR 2016, 2, 6; ders. VersR 2011, 1469, 1475 f. („finale Rechtssätze“); Dreher VersR 2008, 998, 999 ff.; Langenbucher ZBB 2013, 16, 20 ff.; Mülbert/A. Wilhelm ZHR 178 (2014), 502, 507, 512, 520; Ott ZGR 2017, 149, 168. S. ferner RegBegr 9. VAG-ÄG BT-Drucks. 16/6518, S. 10: prinzipienbasierte Aufsicht. 33 Freilich sind gilt ist das prinzipienbasierte Aufsichtsrecht nur für Unternehmen in den regulierten Branchen, s. hierzu aus dem Blickwinkel der gerichtlichen Prüfungsdichte in § 11 I 3 mit Nachw. in Fn. 34. 34 Während Kuhner Der Konzern 2017, 360, 363 davon ausgeht, dass bilanzrechtliche Normen regelbasiertes Recht sind, tendieren Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 12 zu einer Einordnung als prinzipienbasiertes Recht. 35 Dass die Normadressanten bei Prinzipien bzw. finalen Normen mehr Spielräume genießen als bei Regeln bzw. konditionalen Normen deuten etwa an: Bürkle VersR 2016, 2, 6; ders. VersR 2011, 1469, 1475  f.; Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 12. Für Einschränkung der Letztentscheidungskompetenzen im Hinblick auf regelbasiertes Charakter des Bilanzrechts Kuhner Der Konzern 2017, 360, 363. 36 Hill, Gesetzgebungslehre, S. 20 f. Krit. deshalb Pfefferl, Dichotomie, S. 89 ff.; H.-J. Koch, Abwägung, S. 9, 15 f. 37 Dazu schon im verwaltungsrechtlichen Kontext in § 5 V 3 b mit Nachw. in Fn. 210. 38 So für Regel und Prinzipien treffend Auer, Materialisierung, S. 48. Pointiert auch J.-H.  Binder, Regulierungsinstrumente, S.  200: Die Kategorien seien keine Dicho­ tomie, sondern ein beliebig abstufungsfähiges Kontinuum. 205

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Vorschrift lediglich ein Regelungsziel formuliert und die Wahl der Mittel, mit dem dieses Ziel verfolgt wird, dem Normadressaten überlässt, oder ob eine Regelung den Tatbestand und die Rechtsfolge schärfer konturiert und das Ziel nur im Hintergrund schwebt.39 Deshalb gewährleistet die Unterscheidung zwischen finalen und konditionalen Normen eine hinreichend stabile Basis, um gesellschaftsrechtliche Regelungen daraufhin zu analysieren, mit welcher Intensität ein Gericht eine verbandsrechtliche Maßnahme kontrollieren darf. Wie soeben am Beispiel des Bank- und Versicherungsaufsichtsrechts angedeutet, lassen sich verbandsrechtliche Vorschriften als final oder konditional qualifizieren. Die Gesellschafter oder der Gesetzgeber können nämlich einerseits lediglich Regelungsziele formulieren und den Verbandsrechtsakteuren die Freiheit bei der Wahl der Instrumente überlassen, mit denen diese Ziele umgesetzt werden sollen. Zwar enthält das Gesellschaftsrecht – anders als § 1 Abs. 5 und 6 BauGB, § 2 Abs. 2 ROG oder § 2 Abs. 2 TKG – keine umfassenden Kataloge, in denen die Regelungsziele ausdrücklich verankert sind, jedoch können diese Ziele im Wege der Auslegung ermittelt werden. Weist eine verbandsrechtliche Vorschrift eine finale Struktur auf, deutet dies auf eine gelockerte richterliche Prüfungsdichte hin. Die Lockerung der gerichtlichen Kontrolle liegt insbesondere dann nahe, wenn der Gesetzgeber auf subsumtionsfähige Tatbestandsmerkmale verzichtet hat, so dass sich der Normadressat lediglich an den Regulierungszielen orientieren kann und gestalterisch tätig ist. Andererseits können sich die Gesellschafter oder der Gesetzgeber für eine konditionale Steuerung entscheiden und die Verbandsrechtsakteure in ein Wenn-Dann-Schema pressen. In einem solchen Fall spricht der erste Anschein dafür, dass die Gerichte zu einer intensiveren Prüfung der verbandsrechtlichen Maßnahme befugt sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn die einschlägige Vorschrift aus subsumtionsfähigen Tatbestandsmerkmalen besteht. Kann der Normadressat unter eine Vorschrift subsumieren, geht es um schlichte Rechtsanwendung40 und damit um eine klassisch juristische Arbeitsweise, die in einem gerichtlichen Verfahren nachvollzogen werden kann.41 39 Im verwaltungsrechtlichen Kontext C. Fonk DVBl 2010, 626, 629. 40 Zur Unterscheidung zwischen schlichter Rechtsanwendung bei konditionalen Normen und Gestaltung bei finalen Normen vgl. Gerhardt, Handlungsspielräume, S.  57.  S.  ferner Badura, FS BayVerfGH, S.  157, 164  ff., der die Begriffe „Konditionalnorm“ und „Finalnorm“ zwar nicht verwendet, der Sache nach aber die unterschiedliche Vorgehensweise der Verwaltung bei schlichtem Gesetzesvollzug und planerischer Gestaltung umschreibt. 41 Treffend Steinberg Staat 15 (1976), 185, 188: Konditional formulierte Vorschriften seien jedem Juristen geläufig; „die Kunstregeln ihrer Anwendung gehören zum zentralen Bestand seines Handwerkszeuges“. 206

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Der Gesetzgeber greift im verbandsrechtlichen Kontext auf beide Regelungstechniken zurück, wobei er sich – anders als im Verwaltungsrecht, das nach der Idealvorstellung jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung auf klar umrissenen Konditionalnormen beruhen sollte, während die Finalnormen eine Ausnahme sein sollten42 – häufiger für eine finale Programmierung der Verbandsrechtsakteure entscheidet.43 Dies hängt damit zusammen, dass er im Hinblick auf die Vielfalt der unternehmerischen Aufgaben schlicht nicht in der Lage ist, die Vorgaben an die Verbandsrechtsakteure in „Wenn-Dann-Schemata“ zu zwingen. Wie Marcus Lutter festgestellt hat, ist der Verband nach vorne offen,44 so dass der Gesetzgeber gezwungen ist, mit Generalklauseln45 zu arbeiten, bloße Regelungsziele zu formulieren und den Verbandsrechtsakteuren die Wahl der Mittel zu überlassen.46 b) Beispiele für finale und konditionale Steuerung der Verbandsrechtsakteure Analysiert man die Struktur der Normen, die die Gesellschafter und Gesellschaftsorgane adressieren, wird deutlich, dass der verbandsrechtliche Regelungsfundus einen überwiegend finalen Charakter aufweist.47 Final ausgestal42 Vgl. nur Di Fabio, FS Hoppe, S. 75, 87 f. 43 So auch die Beobachtung von Ruffner, Grundlagen, S. 211 ff. und Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 698 f., die auf die Schlüsselrolle der Verhaltensstandards hinweisen. Insoweit trifft die Aussage von C. Fonk (DVBl 2010, 626, 627), deutsche Zivilrechtsnormen würden grundsätzlich eine konditionale Struktur aufweisen, jedenfalls für das Gesellschaftsrecht nicht zu. 44 Lutter AcP 180 (1980), 84, 91 ff. 45 Gleichwohl ist die Kategorie der Generalklausel nicht mit den finalen Normen gleichzusetzen. Vielmehr gibt es auch Konditionalnormen, die zugleich als Generalklausel ausgestaltet sind, wie zB die allgemeine polizeirechtliche Generalklausel. 46 Da es weder dem Gesetzgeber noch den Vertragsparteien (s. §  4 V 5) möglich ist, präzise inhaltliche Vorgaben an die Entscheidungen der Verbandsakteure zu formulieren, erweist sich eine streng positivistische Analyse des Gesellschaftsrechts  – die etwa Jan-David Geiger befürwortet (Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S.  30, 250, 279, 308, 324 f., 495) – als wenig zielführend. Der Rückgriff auf Generalklauseln ist systembedingt, was dazu führt, dass die dogmatische Arbeit durch Eigenwertungen des Rechtsanwenders geprägt ist. Der Versuch, die Rechtsanwendung stets auf geschriebenes Recht oder Vertrag zurückzuführen, ist ein Ausdruck naiven Rechtspositivismus. 47 Die folgende Aufzählung ist nicht abschließend, sondern soll nur punktuell zeigen, dass der Gesetzgeber im Gesellschaftsrecht beide Steuerungsinstrumente einsetzt. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird die Normstruktur verbandsrechtlicher Vorschriften eingehend untersucht (s. insb. § 11, § 15 und §§ 19-22). 207

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tet sind etwa Vorschriften, die sich mit den Pflichten der Leitungsorgane beschäftigen. Als ein Paradebeispiel einer verbandsrechtlichen Regelung mit finalem Charakter kann § 76 Abs. 1 AktG dienen,48 der dem Gesamtvorstand die Pflicht auferlegt,49 die Aktiengesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. § 76 Abs. 1 AktG enthält keine klassischen Tatbestandsmerkmale, sondern er erhebt die Leitung des Unternehmens, das durch die Aktiengesellschaft getragen wird, zum Ziel des Vorstandshandelns. Unabhängig davon, ob man § 76 Abs. 1 AktG eine monistische oder pluralistische Leitungskonzeption zugrunde legt,50 steht fest, dass der Vorstand den Gesellschaftszweck verfolgen und den Unternehmensgegenstand verwirklichen soll. Auf welchem Weg er diese Zielvorgabe verfolgt, ergibt sich aus § 76 Abs. 1 AktG nicht. Final ausgestaltet sind ferner Vorschriften, die den Pflichtenkanon der Geschäftsleiter festlegen. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG verpflichten die Mitglieder der Leitungsorgane auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.51 Diese Regelungen enthalten keine (subsumtionsfähigen) Tatbestandsmerkmale, sondern sie statuieren lediglich eine abstrakte Verhaltensvorgabe, die im Schrifttum dahingehend konkretisiert wird, dass die Geschäftsleiter den Vorteil der Gesellschaft zu wahren und Schaden von ihr abzuwenden haben;52 im Übrigen wird die Generalklausel in §  93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG im Wege der Fallgruppenbildung mit Inhalt gefüllt.53 Bei Lichte besehen lassen sich die Konkretisierungsversuche des Schrifttums auf die Formel bringen, die Geschäftsleiter haben das Gesellschaftswohl zu wahren.54 Eine solche Regelungstechnik ist typisch für finale Normen: Der Gesetzgeber schreibt nicht vor, wie die Geschäftsleiter das Ge-

48 AA Lohse, Ermessen, S. 72 f., die aktienrechtliche Befugnisnormen konditional strukturieren will. 49 Zum Charakter des §  76 Abs.  1 AktG als sog. „Pflichtenrecht“ vgl. nur Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 14. 50 Zu dieser Debatte s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 28 ff. und § 8 I 1. 51 Freilich führt die Verletzung der organschaftlichen Sorgfaltspflichten zur Schadensersatzhaftung, die aus einer konditional strukturierten Norm resultiert (§ 93 Abs. 2 AktG, §  43 Abs.  2 GmbHG). Die konditionale Struktur der Haftungsnorm ändert aber nichts daran, dass die Pflicht selbst einen finalen Charakter aufweist. 52 So etwa BGHZ 21, 354, 357 = NJW 1956, 1753; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 26; Michalski/Ziemons GmbHG § 43 Rn. 55; Paefgen, Entscheidungen, S. 10.  53 S. Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 103 ff. 54 So wohl auch Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 58 (Pflicht zu sorgfältigem Handeln gegenüber der Gesellschaft); Seyfarth VorstandsR §  8 Rn.  29 (Wohl des Unternehmens); Holle AG 2011, 778, 781 f. 208

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sellschaftswohl55 im Einzelnen zu verfolgen haben. Vielmehr formuliert er nur das Regelungsziel und überlässt den Geschäftsleitern die Wahl des richtigen Weges. Die Tätigkeit der Geschäftsleiter erschöpft sich also nicht in einer bloßen Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale einer Norm, sondern sie weist einen starken gestalterischen Einschlag auf. Die finale Struktur der § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG ist für sich genommen ein Zeichen für eine gelockerte gerichtliche Prüfungsdichte.56 Ein weiteres Paradebeispiel für eine final strukturierte Verhaltensvorgabe ist die organschaftliche Treuepflicht, die zwar nicht gesetzlich festgeschrieben,57 aber dennoch allgemein anerkannt ist. Geht es um die Frage, ob sich ein Organmitglied treuepflichtwidrig verhalten hat, stehen auf der einen Seite die Verbandsinteressen, auf der anderen Seite die Interessen des Organmitglieds. Diese widerstreitenden Belange sind im Rahmen eines Abwägungsprozesses in Einklang zu bringen; in Anlehnung an das Verfassungsrecht kann man hier von „praktischer Konkordanz“58 sprechen. Die Abwägungsentscheidung, die das Organmitglied treffen muss, weist gestalterische Züge auf, die der Treuepflicht einen finalen Charakter verleihen.59 55 Im Rahmen dieser Untersuchung werden die Begriffe „Gesellschaftswohl“, „Gesellschaftsinteresse“, „Unternehmenswohl“ und „Unternehmensinteresse“ im Anschluss an die Rspr. (s. etwa BGHZ 125, 239, 248 = NJW 1994, 1410; BGHZ 135, 244, 255 = NJW 1997, 1926) synonym verwendet – wohl wissend, dass im Schrifttum ein Streit über die Definition dieser Begriffe herrscht (s. dazu etwa Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 28 ff., insb. Rn. 36; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 254). Zur inhaltlichen Ausfüllung dieser Begriffe s. noch § 8 I und § 17 V. 56 Freilich kann die Lockerung der gerichtlichen Kontrolle normativ mit §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG begründet werden, die auf § 43 Abs. 1 GmbHG analog angewendet werden (s. noch in § 12 II). An dieser Stelle geht es aber nicht um eine abschließende Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte (dazu noch §§ 8-13), sondern um ein Beispiel dafür, wie die Normstruktur im Rahmen der Argumentation aufgegriffen werden kann. 57 Einige Vorschriften lassen sich als spezielle Ausprägungen der organschaftlichen Treuepflicht verstehen, wie etwa §§ 88, 89, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG; s. dazu noch in § 7 II. 58 Aus dem verfassungsrechtlichen Schrifttum statt vieler Schladebach Staat 53 (2014), 263 ff. Der Begriff der „praktischen Konkordanz“ wird insb. im Aktienrecht in Bezug auf die Leitungspflicht des Vorstands verwendet (s.  nur Hüffer/J. Koch AktG §  76 Rn. 33; Kort in GK-AktG § 76 Rn. 123; Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 67), kann aber auch im Rahmen der Treuepflicht aufgegriffen werden (s. etwa Seibt NZG 2015, 1097, 1101 f.). 59 Hat der Gesetzgeber die Treuepflicht in einen subsumtionsfähigen Tatbestand gegossen, kann die Norm einen konditionalen Charakter aufweisen. 209

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Überwiegend final gesteuert werden auch die Gesellschafter, was namentlich am Beispiel der Beschlusskontrolle deutlich wird.60 Das geschriebene Verbandsrecht konzentriert sich auf die Regelung der formellen Beschlussvoraussetzungen.61 Inhaltliche Maßstäbe hat der Gesetzgeber nur punktuell vorgesehen, so etwa in §  254 Abs.  1 AktG, der eine Mindestdividende von 4% des Grundkapitals vorsieht, wenn eine übermäßige Rücklagenbildung nicht notwendig ist.62 Über diese Einzelfälle hinaus werden die Gesellschafter nicht in ein „Wenn-dann-Schema“ gepresst. Vielmehr erfolgt die materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht, wobei die Anforderungen nach Rechtsform und Beschlussgegenstand variieren. Will man die Anforderungen in einer stark vereinfachten Formel zusammenfassen, muss der Beschluss geeignet und erforderlich sein, um einen legitimen Zweck zu erreichen; zudem darf er nicht unverhältnismäßig sein.63 Im Prinzip geht es um eine Abwägung unterschiedlicher Belange, deren Ziel darin liegt, das Gesellschaftswohl zu definieren und zu verwirklichen.64 Wie dieses Regelungsziel verfolgt wird, haben in erster Linie die Gesellschafter zu entscheiden, denen eine gestalterische Aufgabe zukommt.65 Auf der anderen Seite kennt das Gesellschaftsrecht auch eine Vielzahl klassisch konditionaler Normen. So sieht § 84 Abs. 3 AktG vor, dass der Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied aus wichtigem Grund abberufen kann und zählt die Abberufungsgründe in einem Beispielskatalog auf. §  84 Abs.  3 AktG ist ähnlich strukturiert wie die verwaltungsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen: Wenn ein wichtiger Grund vorliegt, dann kann der Aufsichtsrat die Bestellung zum Vorstandsamt widerrufen. Konditional aufgebaut sind auch andere Normen, 60 Hierzu noch ausf. § 17 I. Vgl. ferner Hirte, Bezugsrechtsausschluß, S. 223, der in Anlehnung an das administrative Planungsermessen von einer „Mischlage von Rechtsvoraussetzungs- und Rechtsfolgenermessen“ spricht, freilich ohne auf den finalen Charakter des Planungsrechts und der mitgliedschaftlichen Treuepflicht einzugehen. S. ferner Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 699. 61 Hierzu gehören etwa die Zuständigkeit der Mitgliederversammlung, die Einberufungsvorgaben, das Quorum oder die erforderlichen Stimmmehrheiten. 62 Zwar statuiert § 254 Abs. 1 AktG nur ein Anfechtungsrecht, der Norm lässt sich aber entnehmen, dass die Aktionärsgesamt ein Recht auf eine Mindestdividende hat, vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 254 Rn. 3. Zur gerichtlichen Prüfungsdichte des Gewinnverwendungsbeschlusses s. noch in § 22 IV 1. 63 Zur Entwicklung der materiellen Beschlusskontrolle im Kapital- und Personengesellschaftsrecht s. noch ausf. in § 17 II, III. 64 Zur Treuepflicht als Instrument zum Schutz des Gesellschaftswohls s. § 17 V 1. 65 Zur Einordnung der Gesellschafterbeschlüsse als unternehmerische Entscheidungen und der damit verbundenen Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte § 18 II und III. 210

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die sich mit Personalmaßnahmen befassen, so etwa mit der gerichtlichen Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 103 Abs. 3 AktG), mit dem Gesellschafterausschluss (§ 737 BGB, § 133 HGB) oder mit der Entziehung der Geschäftsführungsbefugnis (§  712 BGB, §  117 HGB). Lehnt man sich an die verwaltungsrechtliche Lehre von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen an, deutet die Struktur dieser Vorschriften darauf hin, dass das Gericht vollständig überprüfen darf, ob ein wichtiger Grund – der auf der Tatbestands­seite steht – vorliegt. Auf der Rechtsfolgenseite ist zu untersuchen, inwieweit die für die Personalmaßnahme zuständige Person eine Letztentscheidungskompetenz hat.66 Die Lockerung der gerichtlichen Kontrolldichte ist also möglich, erfordert aber einen erhöhten Begründungsaufwand. 3. Funktionelle Adäquanz Neben der Normstruktur kann der Adäquanzgedanke aufgegriffen werden, um die Letztentscheidungskompetenz eines Verbandsrechtsakteurs zu begründen. Dieser Gedanke schwingt häufig in den Entscheidungen und Stellungnahmen zu den behördlichen Einschätzungsprärogativen mit. Die Gerichte sollen die Verwaltung nicht vollständig kontrollieren dürfen, wenn sie schlechtere Erkenntnismöglichkeiten haben oder wenn die Behörden in der Lage sein müssen, flexibel auf unerwartete oder veränderte Gegebenheiten zu reagieren, die der Gesetzgeber bei der Fassung der Norm nicht berücksichtigen konnte. Ist die Fachkompetenz der Behörden überlegen und kann die Judikative ihre Kompetenznachteile nicht mit Hilfe von Sachverständigen ausgleichen, spricht dies für eine eingeschränkte richterliche Prüfungsdichte.67 Gesprochen wird insoweit auch von Funktionsgrenzen der Rechtsprechung, auf die insbesondere bei Prüfungen und verwandten Entscheidungsarten abgestellt wird.68 Solche Überlegungen lassen sich auch im Gesellschaftsrecht anstellen, was insbesondere im Zusammenhang mit der Business Judgment Rule getan wird:69 Der Ermessensspielraum der Vorstandsmitglieder, der in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG festgeschrieben ist, wird unter anderem damit begründet, dass die Gerichte keine besseren Unternehmen sind als die Vorstände.70

66 Hierzu noch in § 15 I 3 und 4. 67 Ausf. bereits in § 5 V 3 b. 68 Hierzu bereits oben in § 5 II 2 (Nachw. in Fn. 40) und § 5 V 3 b. 69 Die Vergleichbarkeit mit der verwaltungsrechtlichen Dogmatik erkennt insoweit auch Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 261 an. 70 Vgl. dazu §  4 VI 2 mit einem Verweis auf die berechtigte, wenn auch übermäßig scharf formulierte Kritik von Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 207. 211

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Der Gedanke der funktionellen Adäquanz ist freilich dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie im Rahmen einer Rechtsfolgenbetrachtung, die durch praktische Erwägungen angereichert wird, ein Ergebnis vorwegnimmt, das gerade auf dogmatischem Wege begründet werden soll: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Insoweit sollte diese Argumentationsfigur nicht überstrapaziert werden, will man dogmatische Ableitungen nicht durch rein praktische Erwägungen ersetzen.71 Gleichwohl hat dieser Gedanke doch einen wahren Kern: Wieso soll einem Gericht eine Aufgabe übertragen werden, die es nicht besser erledigen kann als ein Verbands- oder Organmitglied? Verspricht die gerichtliche Tätigkeit keinen Erkenntnisgewinn, weil der Richter die Wertung des Gesellschafters oder des Gesellschaftsorgans durch eigene Wertung ersetzt, obwohl er keinen Kompetenzvorsprung hat, ist die Einschränkung der Kontrolldichte erwägenswert.72 Deshalb sollten – wie im Verwaltungsrecht – handfeste Kriterien entwickelt werden, die eine Absenkung der richterlichen Kontrollintensität rechtfertigen. Hierzu gehört in erster Linie der gestalterische Einschlag bei der Entscheidungsfindung. Liefert die Rechtsordnung keine harten Kriterien für die verbandsrechtliche Maßnahme, so dass der Entscheidungsträger individuelle Wertungen in die Entscheidungsfindung einfließen lassen darf, kann das ­Gericht keine „bessere“ Entscheidung treffen als der zuständige Verbandsrechtsakteur. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rechtsordnung auf außerrechtliche Maßstäbe Bezug nimmt und sich in der fremden Disziplin kein gefestigter Wissensstand herausgebildet hat, so dass der Richter auch mit Hilfe eines Sachverständigen keinen Wissensvorsprung erarbeiten kann, der eine Korrektur der verbandsrechtlichen Entscheidung ermöglicht. Besteht ein solches „Wissensvakuum“, schafft eine intensivere gerichtliche Kontrolle keinen Mehrwert. Auch die gesteigerte Komplexität und fehlende Reprodu­ zierbarkeit der verbandsrechtlichen Entscheidungen sind Gesichtspunkte, die unter dem Blickwinkel der funktionellen Adäquanz für eine gelockerte gerichtliche Kontrolle sprechen. Sie werden bereits jetzt im Kontext des Vorstandsermessens aufgegriffen73 und können auch in anderen Zusammenhängen berücksichtigt werden, um die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu bestimmen. 71 Zum Verwaltungsrecht s. schon § 5 V 3 b. 72 S. insb. zu fehlendem Erkenntnisgewinn trotz Heranziehung eines Sachverständigen Joost, FS GmbHG, S. 289, 300. 73 Es wird insb. darauf hingewiesen, dass die Gerichte keine besseren Unternehmer sind als die Vorstandsmitglieder und dass sie im Prozess einem Rückschaufehler unterliegen können; s. dazu § 7 IV 3. 212

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Zuweisung der Letztentscheidungskompetenzen im Verbandsrecht

Ebenfalls lässt sich der Gedanke aufgreifen, dass die gerichtliche Kontrolle dort gelockert wird, wo ein unabhängiges, pluralistisch zusammengesetztes Gremium zuständig ist74 und die Entscheidung in einem Verfahren getroffen wird, das einen Interessenausgleich gewährleistet.75 Dabei ist insbesondere die reale Verbands- bzw. Organstruktur zu berücksichtigen.76 Ist das Gremium so zusammengesetzt, dass eine Interessengruppe strukturell begünstigt ist, spricht dies für eine intensivere gerichtliche Kontrolle. Ist das Verhältnis unterschiedlicher Interessengruppen hingegen ausgewogen und erfolgt die Entscheidungsfindung in einem geregelten Verfahren, in dem die widerstreitenden Belange berücksichtigt werden, ist die richterliche Prüfungsdichte zu lockern. In einer solchen Situation schafft das Entscheidungsverfahren eine Chance, dass die getroffene Entscheidung inhaltlich richtig ist,77 so dass es keines einschneidenden richterlichen Eingriffs in das Verbandsleben bedarf. Das Kriterium der funktionellen Adäquanz kann auch im Hinblick auf den gerichtlichen Institutionenschutz78 aufgegriffen werden, um eine Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle zu begründen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in einer verbandsrechtlichen Streitigkeit eine Vorschrift einschlägig ist, die den Handlungsspielraum der Gesellschafter oder Organe eingrenzt, um die Autonomie eines anderen Akteurs zu stärken oder dessen gesetzlich verankerte Positionen zu schützen. In einem solchen Fall würde die Lockerung der gerichtlichen Prüfungsintensität die Intention der gesetzlichen Regelung konterkarieren, einen bestimmten institutionellen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die Verbandsrechtsakteure agieren sollen. Die hohe gerichtliche Kon­ trolldichte führt dazu, dass die „Gewaltenteilung“ innerhalb der Gesellschaft intakt bleibt; sie dient dem Institutionenschutz. Als Beispiele mögen an dieser Stelle § 84 Abs. 3 und § 87 Abs. 2 AktG dienen: Der Aufsichtsrat kann ein Vorstandsmitglied nur aus wichtigem Grund abberufen, damit die Leitungsbefugnis des Gesamtvorstands vor dem Druck des Aufsichtsrats abgeschirmt ist; § 84 Abs. 3 AktG flankiert § 76 Abs. 1 AktG.79 Dies deutet darauf hin, dass die gerichtliche Kontrolle der Abberufung tenden-

74 So für den AR Mutter, Entscheidungen, S. 234 f. 75 Zur Legitimation durch Verfahren bei AR-Entscheidungen Krieger, Personalentscheidungen, S. 28; Mutter, Entscheidungen, S. 244. 76 Hierzu noch § 18 V 6. 77 Zum Begriff der „Richtigkeitschance“ s. in § 4 IV 2. 78 S. dazu bereits in § 4 VI 3. 79 S. nur Kropff AktG S. 106; Fleischer in BeckOGK AktG § 84 Rn. 107; Hüffer/J. Koch AktG § 84 Rn. 1; Spindler in MüKoAktG § 84 Rn. 5.  213

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

ziell intensiv ausfallen muss, um die Vorstandsautonomie zu wahren.80 Ähn­ liche Überlegungen können im Zusammenhang mit der Herabsetzung der Vorstandsvergütung nach § 87 Abs. 2 AktG angestellt werden: Hat die Aktiengesellschaft einem Vorstandsmitglied eine bestimmte Vergütung versprochen, stellt die gerichtliche Kontrolle sicher, dass der Grundsatz pacta sunt servanda nicht vorschnell durchbrochen wird. Wollte man die richterliche Prüfungsdichte bei § 87 Abs. 2 AktG lockern, würde man die Schutzfunktion der gerichtlichen Kontrolle konterkarieren.81

IV. Ausgestaltung der Letztentscheidungskompetenz 1. Keine Übernahme der öffentlich-rechtlichen Kontrollintensität Die Normstruktur und die funktionelle Adäquanz sind Kriterien, die eine Aussage darüber erleichtern, ob die gerichtliche Prüfungsdichte tendenziell hoch oder niedrig ist. Ergibt die Analyse, dass die richterliche Kontrolle gelockert werden kann, steht indes noch nicht fest, welche Intensität sie aufweisen soll. Weder die Normstruktur noch die funktionelle Adäquanz treffen eine Aussage darüber, wie der Letztentscheidungsspielraum der Verbandsrechtsakteure konkret ausgestaltet ist und inwieweit das Gericht in das Verbandsleben eingreifen darf. Hat man auf der ersten Stufe auf verwaltungsrechtliche Abgrenzungskriterien zurückgegriffen, um die Grundpfeiler der richterlichen Prüfungsdichte auszumessen, stellt sich die Frage, ob auch die Bestimmung der Kontrollintensität im Lichte öffentlich-rechtlicher Erkenntnisse erfolgen kann. So hat namentlich Andrea Lohse in ihrer Habilitationsschrift zu begründen versucht, dass die öffentlich-rechtliche Dogmatik bei der Bestimmung der Kontrollintensität hinsichtlich der Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft herangezogen werden kann, und dabei an die Entscheidungsfehlerlehre Robert Alexys82 angeknüpft.83 Ein so weitgehender Wertungstransfer ist bedenklich. Was bei der normtheoretischen Analyse der Kontrollgrundlagen und der – an das Gesellschaftsrecht angepassten – Anwendung des Adäquanzkriteriums nicht maßgeblich ins Gewicht fällt, erweist sich bei der Bestimmung der Intensität richterlicher Kon­ trolle als schwerwiegend. Der privatautonome Charakter verbandsrechtlicher Bindungen verbietet es, die hohe Intensität verwaltungsgerichtlicher Kontrolle 80 Im Einzelnen noch in § 15 I 2 c. 81 Hierzu ausf. in § 15 I 3. 82 Alexy JZ 1986, 701, 705 ff. 83 S. dazu bereits in § 4 II 1. 214

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Ausgestaltung der Letztentscheidungskompetenz

unbesehen den gesellschaftsrechtlichen Fällen zugrunde zu legen. Während die verwaltungsrechtliche Doktrin im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich von einem hohen Kontrollstandard ausgeht, ist das Gesellschaftsrecht als eine Teildisziplin des Zivilrechts vom Grundsatz der Privatautonomie geprägt, der im Ausgangspunkt eine richterliche Zurückhaltung gebietet. Auch wenn der Gesetzgeber Schutzinstrumente zugunsten eines Verbandsrechtsakteurs vorgesehen und damit ein Einfallstor für einen richterlichen Eingriff in das Verbandsleben geschaffen hat, folgt daraus noch nicht, dass der Grad des richterlichen Eingriffs dem öffentlich-rechtlichen Standard entsprechen muss. Speziell bei Maßnahmen der Verwaltungsorgane kommt hinzu, dass §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine verbandsrechtliche Regelung bereitstellt, die bei der dogmatischen Erfassung der gerichtlichen Kontrolldichte Vorrang vor verwaltungsrechtlichen Maßstäben genießt. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Vorschlag von Lohse de lege lata jedenfalls für Maßnahmen nicht tragbar, die in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule fallen.84 Aber auch in anderen Konstellationen muss das Gesellschaftsrecht nach Lösungen suchen, die auf seinen Ursprung in der Privatautonomie der Akteure hinreichend deutlich Rücksicht nehmen. 2. Unterscheidung zwischen Entscheidungsinhalt und Entscheidungsprozedur  Trotz dieser grundlegenden Unterschiede können manche öffentlich-rechtlichen Überlegungen dennoch als Inspirationsquelle dienen, um sich dem Problem der gerichtlichen Prüfungsdichte im Gesellschaftsrecht zu nähern. Hierzu gehört zunächst die Erkenntnis, dass ein Entscheidungsträger, der eine Letztentscheidungskompetenz genießt, nicht von jeglicher Kontrolle freigestellt wird. So wie eine Behörde, die sich auf eine Beurteilungsermächtigung oder ein Ermessen beruft, nicht in einer „rechtsstaatsfreien Zone“85 agiert, so handeln Gesellschafter und Gesellschaftsorgane nie ohne jegliche normative Bindung, auch wenn ihnen eine vertragliche oder gesetzliche Letztentscheidungskompetenz zusteht. Vielmehr steht im Zentrum der Überlegungen die Frage, wie diese Bindung konkret umgesetzt wird. Bei der Suche nach einer passenden Antwort kann man zunächst an den Gedanken der Legitimation durch Verfahren anknüpfen. Im verwaltungsrechtlichen Schrifttum wird hervorgehoben, dass die gerichtliche Kontrolldichte gelockert werden darf, wenn die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens dazu 84 So auch Lutter JZ 2006, 462. 85 Zu dieser Begrifflichkeit Wimmer JZ 2010, 433, 440. 215

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Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht

führt, dass die Behördenentscheidung nach objektiven Kriterien getroffen wird und damit eine (materielle) Richtigkeitschance erzeugt wird.86 Etwaige Rechtsschutzlücken, die durch eine Abkehr von einer vollen Inhaltskontrolle entstehen, werden durch eine Kontrolle der Entscheidungsprozedur zumindest teilweise geschlossen. Dieser Gedanke lässt sich auf das Verbandsrecht übertragen. Wird die Entscheidung der Gesellschafter oder Gesellschaftsorgane in einem ordnungsgemäßen Verfahren getroffen, kann der Entscheidungsinhalt einer nur ein­ geschränkten gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Sind die Vorgaben an die Entscheidungsprozedur eingehalten, bedarf es keines richterlichen ­Eingriffs, um von der „Richtigkeit“ der verbandsrechtlichen Entscheidung auszugehen. Diese Überlegung wird insbesondere im Kontext der Business Judgment Rule angestellt,87 kann aber auch in anderen Zusammenhängen nutzbar gemacht werden.88 Sie wäre in der gesellschaftsrechtlichen Diskussion kein Novum, sondern wurde seit den 1980er Jahren aufgegriffen, um das Gesellschaftsrecht weiterzudenken.89 Insbesondere kann die verbandsrechtliche Diskussion bei der Bestimmung der ordnungsgemäßen Entscheidungsprozedur im Anschluss an die verwaltungsgerichtliche Kontrolldogmatik an drei Punkten ansetzen: dem Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde liegt, der Entscheidungsbegründung und der Dokumentation. Je nachdem, wie man die Stellschrauben dreht, kann man die Intensität der gerichtlichen Kontrolle justieren.

86 S. dazu bereits § 5 V 4 b. 87 Dazu ausf. in § 8 I 2. 88 S. im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse Fastrich, Rechtsdenken, S. 36. 89 Frühere Gedanken zum Rechtsschutz durch Verfahren: Krieger, Personalentscheidungen, S. 28; Mutter, Entscheidungen, S. 183 ff., 244; Hopt ZGR 1993, 534, 537. 216

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Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen § 7 Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder I. Leitungsautonomie als verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie Die Systematisierung der Kontrollmöglichkeiten (§ 2), die Ausführungen zum Organstreit (§ 3) und die intradisziplinäre Analyse (§ 4 bis 6) bieten ein abstraktes Fundament, auf dem herausgearbeitet werden kann, wie intensiv Zivilgerichte verbandsrechtliche Maßnahmen kontrollieren dürfen. Diese Aufgabe ist insbesondere in Bereichen schwer zu meistern, in denen ein Normadressat einerseits rechtlich gebunden ist, andererseits aber die Normstruktur und der Adäquanzgedanke darauf hindeuten, dass der Adressat eine Letztentscheidungskompetenz hat. Während die rechtliche Bindung das Einfallstor für die gerichtliche Kontrolle ist und eine hohe Prüfungsdichte nahelegt, spricht die Zuweisung einer Einschätzungsprärogative für eine Lockerung der Kontrollintensität. Einem solchen Regelungsumfeld begegnet man namentlich im Aktienrecht, was besonders deutlich in der Vorschrift zum Ausdruck kommt, die an der Spitze der aktienrechtlichen Organisationsverfassung steht: § 76 Abs. 1 AktG. Bei unbefangener Lektüre klingt § 76 Abs. 1 AktG unspektakulär: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten“. Die For­ mulierung „hat (…) zu leiten“ deutet auf eine Pflichtaufgabe hin, die an den Vorstand als Gesamtorgan der Aktiengesellschaft adressiert ist. Die Leitung soll „unter eigener Verantwortung“ erfolgen, was man dahingehend verstehen kann, dass der Vorstand für die Auswirkungen seiner Leitungsmaßnahmen verantwortlich zeichnet.1 Nach diesem Verständnis scheint § 76 Abs. 1 AktG den Vorstand zu binden, wodurch eine gerichtliche Kontrolle der organschaftlichen Tätigkeit ermöglicht wird: Kommt der Vorstand der Leitungsaufgabe nicht ordnungsgemäß nach, kann dieser Verstoß Gegenstand eines gerichtli1 Zu dieser Ausprägung des Verantwortungsbegriffs etwa Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 36. Vgl. auch bereits Schlegelberger/Quassowski AktG § 70 Anm. 4; R. Teichmann/ Koehler AktG § 84 Anm. 2. 217

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

chen Verfahrens sein. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass manche § 76 Abs. 1 AktG vor allem als Pflichtenquelle verstehen.2 Allerdings verdunkelt eine solche Deutung, dass § 76 Abs. 1 AktG facettenreicher ist und in nur einem Satz eine Fülle von Aussagen trifft, die über die bloße Pflichtenbindung des Vorstands hinausgehen. Er ist ein Beispiel für das Spannungsverhältnis zwischen der Bewegungsfreiheit des Vorstands und seiner Mitglieder einerseits und der Einschränkung dieser Freiheit andererseits. Die systematische Stellung der Vorschrift an der Spitze der aktienrechtlichen Organisationsverfassung erlaubt den Schluss, dass §  76 Abs.  1 AktG nicht nur eine Leitungspflicht formuliert, sondern darüber hinaus allein dem Vorstand die Leitungsbefugnis einräumt.3 Die Leitung ist nicht (nur) eine Pflicht, sie ist eine Kür. Auch der Passus „unter eigener Verantwortung“ muss nicht im Sinne einer Pflichtenbindung verstanden werden; „Verantwortung“ bedeutet nicht zwingend „Verantwortlichkeit“.4 Vielmehr lässt sich § 76 Abs. 1 AktG dahingehend deuten, dass sich der Vorstand auf die Leitungsautonomie berufen darf, die seine Unabhängigkeit absichert und ihm den nötigen Handlungsspielraum gewährt.5 Fokussiert man sich auf diese Seite des § 76 Abs. 1 AktG, lässt sich die Leitungsautonomie als eine verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie einordnen.6 Die Gesellschafter schließen sich in einem Verband zusammen, um einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen; dabei übertragen sie privatautonom die Leitungsmacht an einen Dritten und zeigen sich damit einverstanden, dass der Vorstand das primäre Willensbildungsorgan der Gesellschaft ist.7 Übt der Vorstand die Leitungsmacht aus, trifft er eine privatautonome Entscheidung mit Wirkung für die Gesellschaft. So wie eine natürliche Person ihre Angelegenheiten nach eigenen Vorstellungen regeln darf, so darf der Vorstand

2 So augenscheinlich im strafrechtlichen Kontext BGH NJW 2017, 578 Rn. 26. In diese Richtung auch Meyer-Landrut in GK-AktG, 3. Aufl., § 76 Anm. 9; J. Wilhelm KapGesR Rn. 1025.  3 Zur Bedeutung des Leitungsbegriffs für die Kompetenzabgrenzung Kort in GK-AktG § 76 Rn. 30 ff.; Nietsch ZGR 2015, 631, 634. Zu § 70 AktG 1937 auch Schlegelberger/ Quassowski AktG § 70 Anm. 1 und 2; R. Teichmann/Koehler AktG § 70 Anm. 1 und 2. 4 In die entgegengesetzte Richtung aber Meyer-Landrut in GK-AktG, 3. Aufl., § 76 Anm. 8. 5 In diese Richtung Kort in GK-AktG § 76 Rn. 41, 51 ff.; Mertens/Cahn in KK-AktG § 76 Rn. 9 ff.; Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 76 Rn. 34. 6 In diese Richtung auch Dreher ZHR 158 (1994), 614, 619, der von der Willensbildungsautonomie spricht. 7 S. im Kontext der BJR Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 36.  218

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Leitungsautonomie als verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie

nach seinen Vorstellungen die Gesellschaft leiten.8 Dieser Vergleich ist für die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte aufschlussreich, weil er einen ersten Schluss auf die Intensität richterlicher Kontrolle erlaubt. So wie die Gerichte die privatautonomen Entscheidungen der natürlichen Personen grundsätzlich nicht inhaltlich kontrollieren dürfen, so sind auch die im Rahmen der Leitungsautonomie getroffenen Maßnahmen grundsätzlich der gerichtlichen Inhaltskontrolle entzogen. Gleichwohl ist die Parallelität zwischen Leitungsautonomie und Privatautonomie nicht endlos. Während die originäre Privatautonomie aus der Freiheit natürlicher Personen resultiert, eigene Angelegenheiten selbst zu regeln, und damit jedem Menschen „gehört“, ist die Leitungsautonomie des Vorstands von der Privatautonomie der Aktionäre abgeleitet. Der Vorstand genießt Autonomie, weil sich die Aktionäre entschlossen haben, eine Gesellschaft zu gründen und die Zügel einem eigenverantwortlich handelnden Organ in die Hand zu geben. Dieser derivative Charakter der Leitungsautonomie gebietet es, sie im Vergleich zur originären Privatautonomie einzuschränken. Eine solche Einschränkung ist geboten, weil der Vorstand nicht nur für sich selbst handelt, sondern als Verwalter fremder Interessen agiert, die in der Gesellschaft gebündelt sind. Die Folgen einer privatautonomen Entscheidung einer natürlichen Person treffen in erster Linie diese Person; die Folgen einer „leitungsautonomen“ Entscheidung des Vorstands treffen nicht nur den Vorstand, sondern auch die shareholder und stakeholder. Diese Distinktion zwischen dem Entscheidungsträger und den Betroffenen gebietet eine Einschränkung der Leitungsautonomie und damit eine Vertiefung der gerichtlichen Kontrolle um den Schutz der Betroffenen willen.9 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass § 76 Abs. 1 AktG pointiert als sog. Pflichtrecht bezeichnet wird:10 Er statuiert eine Leitungspflicht, räumt dem Vorstand aber zugleich die Leitungsbefugnis ein.

8 Vor diesem Hintergrund geht es fehl, dem Vorstand unter Berufung auf § 76 Abs. 1 AktG eine vertikale Aufgabendelegation oder eine Selbstbindung durch Investorenvereinbarungen zu verbieten. Autonomie umfasst auch die Freiheit, Aufgaben auf andere zu übertragen und sich selbst zu binden. Auf einem anderen Blatt steht die Frage, welche Folgen die – im Ausgangspunkt zulässige – Delegation und Selbstbindung auslösen; sie wird in §  93 Abs.  1 Satz  1 AktG beantwortet. Zur Leitungsautonomie und Delegation Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 76 Rn. 14; Linnertz, Delegation, S. 59 ff. Zu Investorenvereinbarungen s. noch in § 11 II 6 a. 9 Hierzu bereits in § 4 V 2 und 4. 10 Zu dieser Bezeichnung etwa Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 76 Rn. 9. 219

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

II. Gesamtvorstand und seine Mitglieder als Adressaten aktienrechtlicher Vorgaben Blättert man im Aktiengesetz weiter, wird das Spannungsverhältnis zwischen Leitungsautonomie und Pflichtenbindung des Vorstands komplexer. Neben §  76 Abs.  1 AktG schränken weitere Regelungen die Bewegungsfreiheit des Vorstands ein und eröffnen damit die Möglichkeit eines richterlichen Eingriffs in das Verbandsleben. Wie bereits in § 2 III herausgearbeitet, bezieht sich die rechtliche Bindung – und damit die gerichtliche Kontrolle – einerseits auf das Verhalten der einzelnen Vorstandsmitglieder und andererseits auf die Willensbildung innerhalb des Vorstands, die in einem Beschluss mündet. So ist die Geschäftsführungsbefugnis der Organmitglieder nach Maßgabe des § 82 Abs. 2 AktG beschränkt.11 Außerdem verpflichtet § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Vorstandsmitglieder zur Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters; danach müssen die Geschäftsleiter das Gesellschaftswohl wahren.12 Als besondere Ausprägung der allgemeinen Sorgfaltspflicht ist die Legalitätspflicht zu nennen: Die Vorstandsmitglieder müssen sich rechtmäßig verhalten und für regelkonformes Verhalten der Gesellschaft sorgen.13 Einen Überblick über die organschaftlichen Pflichten der Vorstandsmitglieder gibt zudem § 93 Abs. 3 AktG, der namentlich an kapitalschützende Gesetzesvorgaben anknüpft und die Geschäftsleiterhaftung für „Todsünden“14 statuiert. Hinzu tritt die organschaftliche Treuepflicht, die zwar nicht ausdrücklich geregelt, aber allgemein anerkannt ist und überdies in §§ 88, 89, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG einen Niederschlag gefunden hat.15 Nach § 88 AktG unterliegen Vorstandsmitglieder einem präventiven Wettbewerbsverbot mit Zustimmungsvorbehalt für den Aufsichtsrat, in § 89 AktG wird die Kreditgewährung an die Vorstandsmitglieder eingeschränkt, in § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG werden diese zur Verschwiegenheit verpflichtet.

11 Im Einzelnen Hüffer/J. Koch AktG § 82 Rn. 8 ff. 12 S. bereits in § 6 III 2 b mit Nachw. in Fn. 54. 13 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 6 mwN. Gegen eine allg. Legalitätspflicht aber etwa Brock, Legalitätsprinzip, S. 58 ff.; Hellgardt, FS Hopt, 2020, S. 403 ff.; Stodolkowitz ZHR 154 (1990), 1, 12. 14 S. Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 68. Zur rechtlichen Bedeutung des § 93 Abs. 3 AktG etwa Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 252 f. 15 Zu §§ 88, 89, 93 Abs. 1 Satz 3 AktG als Ausprägungen der organschaftlichen Treuepflicht Spindler in MüKoAktG § 88 Rn. 1 f., § 89 Rn. 1, § 93 Rn. 125, 130; Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 126; Wiedemann WM 2009, 1, 3. 220

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Gesamtvorstand und seine Mitglieder als Adressaten aktienrechtlicher Vorgaben

Neben diese individuellen Pflichten der Organmitglieder treten Regelungen, die sich an den Vorstand als Gesamtorgan richten und die – wie sogleich in § 7 III ausführlich erläutert wird – im Rahmen der organschaftlichen Willensbildung berücksichtigt werden müssen. So muss der Vorstand nach Maßgabe des § 121 AktG die Hauptversammlung einberufen und gem. § 83 AktG die Hauptversammlungsbeschlüsse vorbereiten und durchführen, etwa eine Satzungsänderung (§ 181 AktG) oder eine Kapitalerhöhung (§ 184 AktG) zum Handelsregister anmelden. Gegenüber der Hauptversammlung treffen ihn vielfältige Berichtspflichten, etwa nach § 71 Abs. 3 AktG (Erwerb eigener Aktien), nach § 176 AktG (Jahresabschluss, Lagebericht usw.) oder nach § 186 Abs.  4 Satz  2 AktG (Bezugsrechtsausschluss). Außerdem ist er gem. §  131 Abs. 1 AktG den Aktionären gegenüber auskunftspflichtig. Der Vorstand wird überdies in §§ 90-92 AktG angesprochen: Er muss als Kollegialorgan an den Aufsichtsrat berichten, die Handelsbücher führen, für ein Risikofrüherkennungssystem sorgen und die Erfüllung der Pflichten in der wirtschaftlichen Krise sicherstellen.16 Freilich darf die Unterscheidung zwischen den Normadressaten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorgaben an das Kollegialorgan und die Einzelmitglieder miteinander verflochten sind. Wenn §§  76, 83, 90-92 AktG den Gesamtvorstand adressieren, folgt daraus für die Vorstandsmitglieder, dass sie derart an der Entscheidungsfindung innerhalb des Gremiums mitwirken müssen, dass dieses seine gesetzlichen Pflichten erfüllen kann.17 Die an das Kol­ legialorgan gerichteten Vorgaben schlagen auf die Pflichtenstellung der ein­ zelnen Organmitglieder durch. Verhindern die Vorstandsmitglieder etwa die Vorbereitung oder Durchführung der Hauptversammlungsbeschlüsse, die Berichterstattung an den Aufsichtsrat oder die Einrichtung eines Risikofrüh­ erkennungssystems, verhalten sie sich pflichtwidrig. Deutlich kommt dieser Zusammenhang zwischen den Pflichten des Gesamtorgans und der Einzelmitglieder am Beispiel des § 92 Abs. 2 AktG zum Ausdruck: § 92 Abs. 2 AktG statuiert zwar Vorgaben an den Gesamtvorstand, aus § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG folgt jedoch, dass jedes einzelne Vorstandsmitglied zur Beachtung der krisenbedingten Zahlungsverbote verpflichtet ist.

16 Ausf. Überblick etwa bei Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 24 ff. 17 Ausf. zu diesem Zusammenhang Wettich, Vorstandsorganisation, S.  271  ff. Für die Pflichten des Gesamt-AR und seiner Mitglieder auch Hommelhoff ZHR 143 (1979), 288, 297. 221

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

III. Kontrolle der kollektiven Willensbildung innerhalb des Vorstands 1. Bedeutung der Fragestellung und Meinungsstand Während die Pflichtenbindung der Vorstandsmitglieder und die damit verbundene Verhaltenskontrolle seit einigen Jahren im Zentrum der Diskussion stehen, fristet die Kontrolle der Willensbildung im Kollegialorgan ein Schattendasein.18 Dies dürfte zum einen daran liegen, dass sich das geschriebene Verbandsrecht – wie bereits in § 2 V 2 c erläutert – nur punktuell mit den Beschlüssen der Verwaltungsorgane befasst.19 Zum anderen interessiert sich die Praxis in erster Linie für die Sanktionierung pflichtvergessenen Vorstands­ handeln, sei es durch Schadensersatzklagen, sei es im Rahmen von Personalmaßnahmen. Dies führt dazu, dass auch die Wissenschaft ihren Blick auf die Verhaltenskontrolle richtet und den dogmatischen Boden für die Sanktions­ instrumente bereitet. Die Kontrolle des Vorstandsbeschlusses, also des Ergebnisses der Willensbildung im Kollegialorgan, wird hingegen seltener in der juristischen Debatte beleuchtet. Wenn die Entscheidungen des Gesamtvorstands zum Gegenstand juristischer Abhandlungen werden, fokussiert sich die Diskussion auf die Frage, in welchen Fällen Organstreitigkeiten und Aktionärsklagen zulässig sind.20 Nach herrschender Auffassung sind diese prozessualen Möglichkeiten begrenzt, so dass die Anforderungen an den Vorstandsbeschluss nur selten in einem gerichtlichen Verfahren diskutiert werden.21 Dies mag auch daran liegen, dass Vorstandsmitglieder wenig Neigung verspüren, etwaige Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Kollegialorgans öffentlich vor Gericht auszutragen. Stattdessen greifen sie auf verbandsinterne Instrumente zurück, etwa indem sie den Aufsichtsrat einschalten, der den Streit im Gesamtvorstand schlichtet.22 Damit fehlt der Wissenschaft offenbar ein Anlass, um sich mit einer solchen rein akademischen Frage eingehend zu 18 So auch der Befund von Bayer, 50 Jahre AktG, S. 199, 219 f. 19 Der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden davon ausgegangen, dass der AG-­ Vorstand als Kollegialorgan qua Beschlusses entscheidet; die Maßnahmen der Vorstandsmitglieder mit Einzelgeschäftsführungsbefugnis werden als Abweichung vom gesetzlichen Regelfall (s. § 77 Abs. 1 AktG) weitgehend außen vor gelassen. 20 Zu den beiden Problemfeldern in § 3 I mit Fn. 6.  21 Ausgeblendet wird im Folgenden der Fall, in dem die einzelne Stimmabgabe fehlerhaft ist und sich der Mangel auf das Beschlussergebnis auswirkt. Vgl. dazu etwa Kort in GK-AktG § 77 Rn. 17. 22 Zum Vorrang gesellschaftsinterner Instrumente ausf. Wettich, Vorstandsorganisation, S. 277 ff.; s. auch bereits im Kontext des Rechtsschutzbedürfnisses § 3 VIII 4. 222

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Kontrolle der kollektiven Willensbildung innerhalb des Vorstands

beschäftigen.23 Trotz dieser Zurückhaltung des Schrifttums wird im Folgenden beleuchtet, wann ein Vorstandsbeschluss an einem Fehler leidet. Zwar mag diese Frage für den Vorstand praktisch wenig bedeutsam sein, die weitere Untersuchung wird jedoch zeigen, dass an diese Ausführungen bei einem Verwaltungsorgan angeknüpft werden kann, das für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern mehr anfällig ist als der Vorstand: dem Aufsichtsrat. Ein Pendelblick zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat ermöglicht es, ein kohärentes Beschlussmängelrecht der Verwaltungsorgane herauszuarbeiten. Nähert man sich dem Beschlussmängelrecht des AG-Vorstands, findet man in der Kommentarliteratur zunächst eine lapidare Aussage: Ein Vorstandsbeschluss könne an Verfahrensfehlern und inhaltlichen Mängeln leiden.24 Meist fokussieren sich die Ausführungen auf das unzureichende Beschlussverfahren und bejahen die Rechtswidrigkeit des Beschlusses insbesondere in Fällen, in denen das Mitwirkungsrecht eines Vorstandsmitglieds verletzt wurde; als Beispiel wird die fehlende Einladung zur Vorstandssitzung genannt. Im Zentrum steht dabei die prozessuale Seite des Problems. Nach herrschender Auffassung kann nur das betroffene Mitglied einen solchen Beschlussfehler geltend machen.25 Das überzeugt zwar im Ergebnis, in dogmatischer Herleitung ist es aber schwer mit der weit verbreiteten Vorstellung zu vereinbaren, dass gesetzeswidrige Beschlüsse als Rechtsgeschäfte gem. § 134 BGB per se nichtig sind.26 Neben den Verfahrensmängeln stehen inhaltliche Beschlussfehler, die aber meist nicht näher erläutert werden; vereinzelt wird auf Gesetzes- und Satzungsverstöße verwiesen.27 Auch hier konzentriert sich das Schrifttum auf prozessrechtliche Überlegungen und stellt insoweit nahezu einhellig fest, dass die Nichtigkeit eines inhaltlich fehlerhaften Beschlusses  – anders als bei bloßen Verfahrensfehlern – von jedem Vorstandsmitglied im Rahmen einer Feststellungsklage geltend gemacht werden kann.28 Wann ein Gesetzes- oder Sat23 Zu den Gründen der Zurückhaltung s. Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 217 ff. Zum Zusammenhang zwischen Gerichtsurteilen und verstärkten Aktivität des Schrifttums vgl. schon die Beobachtung in § 2 V 2 c. 24 Statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 28. 25 Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 28; Kort in GK-AktG § 77 Rn. 18; Mertens/Cahn in KK-AktG § 77 Rn. 47; Spindler in MüKoAktG § 77 Rn. 29; Hölters/M. Weber AktG § 77 Rn. 26. 26 Zu diesen Unstimmigkeiten und Vorschlägen de lege ferenda J. Koch, DJT-Gutachten, S.  95  ff. Für die Nichtigkeit ab dem Zeitpunkt der Geltendmachung aber Hölters/​ M. Weber AktG § 77 Rn. 26. 27 So Mertens/Cahn in KK-AktG §  77 Rn.  48; Wettich, Vorstandsorganisation, S.  289. Vgl. ferner Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 522: „Verstoß gegen materielles Recht“. 28 Mertens/Cahn in KK-AktG § 77 Rn. 48. 223

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

zungsverstoß einen Inhaltsfehler provoziert, wird meist nicht ausführlich erläutert. 2. Vorgaben an den Gesamtvorstand und Beschlussmängel Vergleichsweise einfach ist die Feststellung eines inhaltlichen Beschlussfehlers, wenn das Gesetz oder die Satzung eine Vorgabe an den Gesamtvorstand formuliert und der Vorstandsbeschluss dieser Vorgabe widerspricht. Missachtet der Beschluss zwingende Regelungen außerhalb des Aktienrechts, zum Beispiel wenn er den Abschluss einer kartellrechtswidrigen Vereinbarung vorbereitet, steht das Legalitätsprinzip der Wirksamkeit entgegen; in einem solchen Fall kann zudem § 134 BGB herangezogen werden.29 Außerdem ist ein Vorstandsbeschluss nichtig, dessen Gegenstand in den Kompetenzbereich des Aufsichtsrats oder der Hauptversammlung fällt.30 Die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung ist eine gesetzliche Vorgabe, über die sich der Vorstand nicht qua Beschlusses hinwegsetzen kann. Beschließt der Vorstand etwa eine Maßnahme, die die qualitativen und quantitativen Kriterien der Holzmüller/ Gelatine-Rechtsprechung erfüllt, und sieht der Beschluss vor, dass keine Zustimmung der Hauptversammlung eingeholt wird, leidet der Beschluss wegen Missachtung der ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen an einem Inhaltsfehler und ist nichtig. Ein materieller Beschlussfehler ist auch zu bejahen, wenn der Vorstand entscheidet, einen rechtmäßigen Hauptversammlungsbeschluss, der ihm keine Spielräume eröffnet, entgegen § 83 Abs. 2 AktG nicht auszuführen, etwa eine Satzungsänderung nicht zum Handelsregister anzumelden (§ 181 Abs. 1 AktG) oder eine Kapitalerhöhung nicht durchzuführen (§§ 185 ff. AktG).31 Ein Beschlussmangel liegt ferner vor, wenn der Vorstand die Grenzen eines ausführungsbedürftigen Hauptversammlungsbeschlusses überschreitet, etwa wenn er, gestützt auf ein genehmigtes Kapital (§§ 202 ff. AktG), eine Sachkapitalerhöhung beschließt, obwohl ihn die Hauptversammlung nur zu einer Barkapi29 Vgl. Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 522, die überdies auf §§ 138, 242 BGB hinweisen. Für Lösung über §§ 134, 138 BGB auch Hüffer ZGR 2001, 833, 869 ff. Auf § 134 BGB im Zusammenhang mit einem AR-Beschluss abstellend OLG Zweibrücken NZG 2011, 433, 434. 30 Missachtet der Vorstand dabei die Kompetenzen des AR, kann dieser ebenfalls gegen den Beschluss vorgehen, vgl. § 3 V 3. Bei Verletzung der HV-Kompetenzen können die Aktionäre eine Feststellungsklage erheben und sie auf Verletzung des Mitgliedschaftsrechts stützen, s. die Nachw. in § 3 I Fn. 6. 31 Freilich wird der Vorstand in einer solchen Situation oft keinen förmlichen Beschluss fassen, sondern schlicht untätig bleiben. 224

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Kontrolle der kollektiven Willensbildung innerhalb des Vorstands

talerhöhung ermächtigt hat.32 Dies gilt auch für einen Bezugsrechtsausschluss im Rahmen des genehmigten Kapitals, der sachlich nicht gerechtfertigt ist.33 Ebenfalls nichtig ist ein Beschluss, den Aufsichtsrat nicht nach Maßgabe des § 90 AktG zu informieren oder keine Hauptversammlung einzuberufen, obwohl „ein Verlust in Höhe der Hälfte des Grundkapitals“34 besteht (§ 92 Abs. 1 AktG).35 3. Sorgfalts- und Treuepflichten der Vorstandsmitglieder und Beschlussmängel Schwieriger gestaltet sich die Begründung eines Inhaltsfehlers, wenn der Vorstand eine Maßnahme beschließt, die sich im Rahmen der an das Kollegialor­ gan ausdrücklich aufgestellten Vorgaben bewegt, die aber nicht im Interesse der Gesellschaft liegt.36 Als ein Beispiel mag ein Fall dienen, in dem der Vorstand den Abschluss eines Spekulationsgeschäfts beschließt, das noch innerhalb des Unternehmensgegenstandes liegt, dessen Risiko jedoch außer Verhältnis zu den Gewinnaussichten steht. Ein weiteres Beispiel ist der Beschluss, ein Unternehmen zu übernehmen, ohne sich über dessen finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse informiert zu haben.37 Auch die Entscheidung, einen nutzlosen Beratungsvertrag abzuschließen oder ein wertloses Patent zu erwerben, liegt wegen Verschwendung der Gesellschaftsmittel nicht im wohlverstandenen Unternehmensinteresse und wirft daher Fragen nach der Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Beschlusses auf. Ein erster Impuls geht dahin, den Beschlussfehler in den Beispielsfällen über § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zu begründen. Unverhältnismäßige Spekulationsgeschäfte, unvorbereitete Unternehmenskäufe und Verschwendung des Gesellschaftsvermögens begründen eine Sorgfaltspflichtverletzung der Vorstands32 Zur inhaltlichen Grenzen der Ermächtigung vgl. etwa Hüffer/J. Koch AktG §  202 Rn. 15 f. 33 Hierzu ausf. in § 20 III 2. 34 Diese missverständliche Formulierung ist nach hA dahingehend auszulegen, dass das Gesellschaftsvermögen nur noch die Hälfte des Nennkapitals deckt; s. nur Hüffer/​ J. Koch AktG § 92 Rn. 2. 35 Freilich ist in diesen Fällen  – wie bei der unterlassenen Ausführung eines HV-Beschlusses (Fn. 31) – zu untersuchen, ob der Vorstand einen (konkludenten) Beschluss gefasst hat oder ob er schlicht untätig geblieben ist. Zur Zulässigkeit konkludenter Vorstandsbeschlüsse Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 22. 36 Folgende Beispiele für Sorgfaltspflichtverletzungen nach Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 106, 108, 111. 37 Zu den Spielräumen des Vorstands in diesen Fällen s. noch ausf. in § 11 II 2. 225

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mitglieder und können deshalb nicht wirksam beschlossen werden.38 So naheliegend dieses Ergebnis ist, so schwierig gestaltet sich die dogmatische Begründung, wieso ein Pflichtverstoß der einzelnen Organmitglieder auf den Beschluss als Ergebnis der kollektiven Willensbildung durchschlagen soll.39 § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG adressiert die einzelnen Vorstandsmitglieder, formuliert aber keine Anforderungen an den Beschluss des Gesamtvorstands.40 Greifbare inhaltliche Vorgaben sind auch weder in § 76 Abs. 1 noch in § 77 Abs. 1 AktG verankert. Aus dem Wortlaut des § 76 Abs. 1 AktG ergibt sich lediglich, dass der Vorstand die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten hat, es fehlen aber explizite Vorgaben zur Art und Weise der Leitung.41 Auch § 77 AktG, der die Geschäftsführungsbefugnis des Vorstands regelt, gibt keine Antwort auf die Frage, an welchem Maßstab die Entscheidungen des Gesamtorgans gemessen werden. Gleichwohl greift man zu kurz, wenn man lediglich auf den Wortlaut des § 76 Abs. 1 AktG abstellt. Um die Bedeutung der organschaftlichen Leitungspflicht zu erfassen, muss man vielmehr hinter die Regelung schauen. Aus § 76 Abs. 1 AktG leitet die ganz herrschende Auffassung her, dass der Vorstand im Einklang mit dem Gesellschaftswohl handeln muss.42 Damit verlaufen die Pflichten des Gesamtvorstands und der einzelnen Vorstandsmitglieder parallel. Vor diesem Hintergrund wäre es widersprüchlich, wenn sich die einzelnen Organmitglieder sorgfältig verhalten müssten, das Ergebnis der organschaftlichen Willensbildung aber auf eine bestandskräftige Kollegialentscheidung hinauslaufen dürfte, die den Anforderungen des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht ge-

38 So J. Wilhelm KapGesR Rn. 1041. 39 Konstruktiv wäre es denkbar, schon die Stimmabgabe – die nach hA eine Willenserklärung ist (s. nur Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 24) – wegen Verstoßes gegen § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gem. § 134 BGB für nichtig zu erklären und den Beschluss zum Fall zu bringen, wenn die wirksamen Stimmen die erforderliche Mehrheit nicht erreichen. Allerdings wird in § 17 V 3 im Zusammenhang mit den Gesellschafterbeschlüssen erläutert, dass die Anknüpfung an die Stimmabgabe bei Inhaltsfehlern nicht überzeugt. 40 Darauf stellt Götz, FS Lüke, S. 167, 184 ab, der zugleich feststellt, dass § 93 AktG die Sorgfaltspflichten und Verantwortung der Vorstandsmitglieder regele, aber keinen Maßstab für die rechtlichen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Beschlüssen fasse. 41 Anders noch § 70 Abs. 1 AktG 1937, der auf das Wohl des Betriebs, seiner Gefolg­ schaft und der Allgemeinheit abgestellt hat. 42 Vgl. bereits in § 6 III 2 b. Freilich ist umstritten, wie das Gesellschaftswohl zu definieren ist; s. dazu noch in § 8 I 1. 226

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nügt.43 Um die Kohärenz zwischen den Verhaltensvorgaben an die Organmitglieder und den Anforderungen an die Wirksamkeit des Organbeschlusses sicherzustellen, ist von der Fehlerhaftigkeit eines Vorstandsbeschlusses auszugehen, wenn ein Vorstandsmitglied, das einzelgeschäftsführungsbefugt wäre und die Entscheidung allein getroffen hätte, sich damit sorgfaltswidrig verhalten hätte. Da die Einhaltung der Sorgfaltspflicht davon abhängt, ob das Vorstandsmitglied im Unternehmenswohl gehandelt hat,44 ist ein Vorstandsbeschluss dann materiell rechtswidrig, wenn der Beschlussinhalt nicht dem Wohl der Gesellschaft entspricht. Dieselben Grundsätze gelten für Verstöße gegen die Treuepflicht, die ebenfalls auf die Sicherung des Gesellschaftswohls abzielt. Diese abstrakten Aussagen lassen sich am folgenden, einfach gestrickten Beispielsfall veranschaulichen: Die A-AG hat einen fünfköpfigen Vorstand, der nach Satzung qua Mehrheitsbeschlusses entscheidet; sie ist zu 100% an der T-GmbH beteiligt. Der Vorstand erwägt, die Anteile an T zu veräußern. Ein Zustimmungsvorbehalt des Aufsichtsrats ist für eine solche Maßnahme nicht vorgesehen, die Schwellen für die ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz nach den Holzmüller/Gelatine-Grundsätzen sind nicht erreicht. In einer ordnungsgemäß einberufenen Vorstandssitzung stimmen vier Vorstandsmitglieder für die Veräußerung, ein Mitglied ist dagegen. Damit fasst der Vorstand einen positiven Beschluss und bildet dadurch den Willen der A-AG, die Tochtergesellschaft zu veräußern. Geht das opponierende Mitglied gegen diesen Beschluss gerichtlich vor, hat das Gericht auf der materiell-rechtlichen Ebene zu prüfen, ob die Veräußerung der T dem Gesellschaftswohl entspricht. Trifft dies zu, ist der Beschluss wirksam; anderenfalls ist er nichtig. Herrscht im Vorstand entsprechend der Grundregel in § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG das Einstimmigkeitsprinzip und stimmt ein Mitglied der Veräußerung der T-GmbH nicht zu, fasst der Vorstand einen negativen Beschluss; der Antrag wird abgelehnt.45 Damit bildet der Vorstand als Organ den Willen der A-AG, das Tochterunternehmen nicht zu veräußern. Will die Mehrheit ihre Veräußerungspläne durchsetzen, kann sie ebenfalls gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen und eine positive Beschlussfeststellungsklage erheben.46 Auch in diesem Fall ist auf materiell-rechtlicher Ebene maßgeblich, was dem Gesell43 Für eine solche Parallelität – ohne auf die unterschiedlichen Normadressaten in § 76 Abs.  1 und §  93 AktG einzugehen  – augenscheinlich auch Meyer-Landrut in GKAktG, 3. Aufl., § 76 Anm. 8. 44 Dazu bereits in § 6 III 2 b. 45 Zur Unterscheidung zwischen positiven und negativen Beschlüssen vgl. bereits §  2 V 2 a. 46 Zur positiven Beschlussfeststellungsklage s. schon in § 2 V 2 a. 227

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schaftswohl entspricht: die Beibehaltung oder die Veräußerung des Tochterunternehmens?

IV. Leitungsautonomie und Business Judgment Rule 1. Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Autonomie und Bindung? Versucht man, aus dem vorstehend skizzierten Spannungsverhältnis zwischen Leitungsautonomie und organschaftlicher Pflichtenbindung Erkenntnisse herzuleiten, die bei der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte hinsichtlich der Verwaltungsentscheidungen helfen, ist von der Beobachtung auszugehen, dass der Gesetzgeber den Gesamtvorstand und seine Mitglieder auf zwei unterschiedliche Arten steuert. Einerseits erlässt er Vorschriften, die auf konkrete Situationen zugeschnitten sind, andererseits operiert er mit Generalklauseln. In die erstgenannte Gruppe gehören zum einen Regelungen, die das Zusammenspiel zwischen den Gesellschaftsorganen gestalten: §§ 83, 121, 176 AktG normieren das Verhältnis zwischen dem Vorstand und der Hauptversammlung, §  90 AktG sichert die Informationsversorgung des Aufsichtsrats. Zum anderen reagieren manche Vorgaben auf spezifische Gefährdungslagen: §§ 88, 89 AktG wollen Interessenkonflikten und § 91 Abs. 2 AktG den Bestandsrisiken vorbeugen; § 92 AktG will die finanzielle Grundausstattung der Gesellschaft und § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG ihre Geheimhaltungsinteressen sichern. Neben diesen, auf konkrete Situationen zugeschnittenen Normen stehen die Leitungspflicht aus § 76 Abs. 1 AktG und die allgemeine Sorgfaltspflicht aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, deren offener Charakter dem Umstand geschuldet ist, dass der Gesetzgeber die Konfliktlagen in einem Verband nicht vorhersehen und präzise steuern kann. Aus diesem Grund ist er gezwungen, die Geschäftsleiter auf ein abstraktes Ziel zu verpflichten: das Gesellschaftswohl. Will man überprüfen, ob die Geschäftsleiter dieser Vorgabe nachgekommen sind, muss man in zwei Schritten vorgehen. Zunächst muss man definieren, was das Gesellschaftswohl ausmacht; in diesen Kontext ist die endlose Diskussion über das Unternehmensinteresse einzuordnen.47 Sodann muss man überlegen, auf welchem Weg das Gesellschaftswohl in der konkreten Situation verwirklicht werden konnte. Mit einer so umschriebenen Aufgabe ist aber noch nicht geklärt, wer das Gesellschaftswohl definieren und feststellen darf, ob der Vorstand und seine Mitglieder danach gehandelt haben. Die Antwort fällt schwer, weil ein latentes Spannungsverhältnis zwischen der Leitungsautonomie und 47 Zur monistischen und pluralistischen Zielkonzeption s. noch in § 8 I 1. 228

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der rechtlichen Bindung besteht.48 Während die Leitungsautonomie für die Definitionskompetenz des Vorstands spricht, deutet die organschaftliche Sorgfaltspflicht darauf hin, dass den Gerichten  – zumindest in bestimmten Fällen – die Aufgabe zukommt, das Gesellschaftswohl zu definieren. Dies provoziert die Frage, ob ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Leitungsautonomie und Pflichtenbindung besteht. Gelingt es, eine solche Rangordnung aufzustellen, kann man sich auf dieser Grundlage der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte nähern. Ist die gesetzliche Bindung die Regel, spricht dies dafür, den Gerichten eine intensivere Kontrolle des Vorstandshandelns zu gestatten. Hält man aber die Handlungsfreiheit des Vorstands für den Regelfall, ist die richterliche Kontrolle zu lockern. Im Schrifttum werden beide Ansätze verfolgt. So vertritt etwa Thomas Raiser die These, die Bindung an die Interessen der Aktionäre sei die Regel und das unternehmerische Ermessen die Ausnahme.49 In eine ähnliche Richtung geht Andrea Lohse, die in Anlehnung an die (im Verwaltungsrecht entwickelte) normative Ermächtigungslehre dem Vorstand nur dann eine Einschätzungsprärogative einräumen will, wenn der Gesetzgeber dies vorgesehen hat: Der Umstand, dass der Vorstand die Gesellschaft nach § 76 Abs. 1 AktG unter eigener Verantwortung zu leiten habe, erlaube allein noch nicht den Schluss, dass er über Entscheidungsspielräume verfüge.50 Auf der anderen Seite sind einige Stimmen der Ansicht, dass der Vorstand im Hinblick auf § 76 Abs. 1 AktG im Regelfall die Leitungsautonomie genießt und die rechtliche Bindung die (begründungsbedürftige) Ausnahme ist.51 Ein Blick auf den aktienrechtlichen Regelungsfundus lässt zweifeln, ob sich ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis in die eine oder andere Richtung ausmachen lässt. Die in § 76 Abs. 1 AktG angelegte Gestaltungsfreiheit des Vorstands ist durch so viele gesetzliche Vorgaben eingeschränkt, dass das Bild eines frei handelnden Vorstands nur schwer mit der Gesetzeslage zu vereinbaren ist. Aber auch die Vorstellung, dass der Vorstand in erster Linie gebunden ist und seine Spielräume stets einer normativen Ermächtigung bedürfen, vermag im 48 Zutr. M. Arnold in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 22.16 f. 49 Th. Raiser NJW 1996, 552, 553. Ausf. bereits in § 4 II 2. Vgl. ferner Kaulich, Haftung, S. 182 f., der auf den allgemeinen Geltungsanspruch der Rechtsordnung verweist. Für die Einschränkung der Kontrolle als begründungsbedürftige Ausnahme auch M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 237. 50 Lohse, Ermessen, S. 60 f., 70 ff. 51 So insb. die Autoren, die im Zusammenhang mit dem Ermessen der Verwaltungsorgane einem Wertungstransfern aus dem öffentlichen Recht skeptisch gegenüberstehen, s. dazu in § 4 II 2 und 3. 229

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Hinblick auf den Auftrag zur eigenverantwortlichen Leitung und den privatrechtlichen Charakter seiner Tätigkeit nicht vollends zu überzeugen. Sowohl die Leitungsbefugnis des Vorstands als auch die organschaftliche Pflichtenbindung sind in Generalklauseln gegossen, die nach der gesetzlichen Systematik nebeneinander stehen, so dass sich eine Rangordnung nicht ausmachen lässt, wenn keine spezielle Regelung einschlägig ist. Deshalb sind die Leitungsbefugnis und die Sorgfaltspflicht im Anschluss an Markus Roth als Einheit zu behandeln.52 2. Business Judgment Rule bei Individualentscheidungen der Vorstandsmitglieder Der Umstand, dass weder der Leitungsautonomie noch der Pflichtenbindung ein „natürlicher“ Vorrang gebührt, erschwert die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte. Da der Gesetzgeber die verbandsrechtlichen Konfliktlagen nicht im Detail vorhersehen kann, muss er mit Generalklauseln arbeiten,53 die den Rechtsanwender vor eine anspruchsvolle Konkretisierungsaufgabe stellen. Diese Aufgabe wird seit dem Inkrafttreten des UMAG durch die Business Judgment Rule erleichtert.54 Nach §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG liegt eine Pflichtverletzung nicht vor, wenn ein Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln; als ungeschriebene Voraussetzung nennt die herrschende Auffassung die Freiheit von Interessenkonflikten. Zwar setzt sich die Business Judgment Rule aus unbestimmten Rechtsbegriffen zusammen und ist dadurch wertungsbedürftig,55 jedoch ist ihr Konkretisierungsgrad höher als bei § 76 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 Satz  1 AktG, die keine subsumtionsfähigen Tatbestandsmerkmale enthalten und deshalb auf eine Fallgruppenbildung angewiesen sind. Die standardisierte Prüfung entlang der Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG reduziert die Komplexität, die durch zwei Generalklauseln hervorgerufen wird; dadurch wird die Rechtssicherheit gefördert.56 52 M. Roth, Ermessen, S. 48 ff. 53 Hierzu bereits § 6 III 2 a mit dem Gedanken Lutters (AcP 180 [1980], 84, 91 ff.), dass der Verband nach vorne offen ist. S. ferner Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 697 ff. 54 S. M. Arnold in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 22.18: BJR löse das Spannungsverhältnis zwischen Pflichtenbindung und Leitungsautonomie auf. 55 Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  10: Merkpostengesetzgebung. Zu den einzelnen Vo­ raussetzungen s. § 8. 56 Dieser Vorteil der Kodifizierung ist auch dann zentral, wenn man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit einer verbreiteten Auffassung (s. nur Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 40) 230

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Mit der Kodifizierung der Business Judgment Rule wird die § 76 Abs. 1 AktG innewohnende Dichotomie zwischen Leitungsautonomie und Leitungspflicht in § 93 Abs. 1 AktG fortgeschrieben: Während Satz 1 die Vorstandmitglieder auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters verpflichtet, gewährt ihnen Satz  2 unternehmerisches Ermessen. Die in §  76 Abs. 1 AktG verankerte Leitungsautonomie des Gesamtvorstands wird in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch den Organmitgliedern eingeräumt und zugleich konkretisiert.57 Die janusköpfige Struktur des §  76 Abs.  1 AktG („Pflichtrecht“) und das Zusammenspiel zwischen der Sorgfaltspflicht und der Business Judgment Rule zeigen abermals, dass der Vorstand und seine Mitglieder zwischen Bewegungsfreiheit und gesetzlichen Schranken stehen. Da die Business Judgment Rule systematisch an die Sorgfaltspflichten der einzelnen Vorstandsmitglieder anknüpft, wirkt sie sich unmittelbar auf die Verhaltenskontrolle aus. Geht es um die Frage, ob sich ein Geschäftsleiter sorgfaltskonform verhalten hat, setzt die gerichtliche Prüfung bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG an. Das Gericht kontrolliert danach eine Individualentscheidung eines einzelnen Vorstandsmitglieds,58 die in unterschiedlichen Ausprägungen denkbar ist. Prüfungsgegenstand kann zunächst eine Entscheidung eines einzelgeschäftsführungsbefugten Geschäftsleiters sein, etwa eines solchen, dem ein bestimmtes Ressort zugewiesen wurde.59 Davon zu unterscheiden sind Entscheidungen der Vorstandsmitglieder, die für das Ressort nicht zuständig sind, die aber aufgrund des Grundsatzes der Gesamtverantwortung zur Überwachung des primär zuständigen Geschäftsleiters verpflichtet sind.60 Schließlich kommt eine Individualentscheidung auch dann in Betracht, wenn der Voreinen lediglich suggestiven Charakter beimisst, vgl. Ph. Scholz, Haftung, S. 92 f.; Ihrig WM 2004, 2098, 2102. S. auch Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 9: Kodifizierung sei sinnvoll, weil Gesetzestext selbst zum Ausdruck bringen solle, dass es für unternehmerische Entscheidungen einen Freiraum gebe. Krit. aber Druey, FS Goette, S. 57, 71, der eine übermäßige Formalisierung bemängelt. 57 Zum Zusammenhang zwischen Leitungsermessen in §  76 Abs.  1 AktG und BJR Nietsch ZGR 2015, 631, 635. 58 Zur individuellen Ausrichtung der BJR J. Koch, FS Säcker, S. 403, 407 ff.; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 718. Zur Qualifizierung der Entscheidung als unternehmerisch s. noch in § 8 II. 59 Zur Einzelgeschäftsführungsbefugnis und Ressortverteilung s. bereits oben in § 2 V 3 b. Steht den Vorstandsmitgliedern ein Widerspruchsrecht zu (s. § 2 V 3 b bb), kann die BJR auch auf die Entscheidung, einen Widerspruch einzulegen, anwendbar sein. So auch augenscheinlich für das Vetorecht M. Seidel, Vetorecht, S. 142. Das Problem wird noch in § 13 II im Kontext des Personengesellschaftsrechts vertieft behandelt. 60 Zu solchen „unternehmerischen Überwachungsentscheidungen“ s. Linnertz, Delegation, S. 280 f. und in § 11 I 3 (zur Compliance-Pflicht). 231

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stand als Gesamtorgan über eine Maßnahme bestimmt. In diesem Fall ist zu trennen zwischen der Stimmausübung in einer Vorstandssitzung, die als eine Individualentscheidung eines jeden Vorstandsmitglieds von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfasst sein kann, und der Entscheidung des Gesamtvorstands, die in einem Beschluss verkörpert ist.61 3. Business Judgment Rule bei Kollektiventscheidungen des Gesamtvorstands Auf die letztgenannte Ausprägung einer Vorstandsentscheidung – also auf den Beschluss des Gesamtvorstands – ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG seinem Wortlaut nach nicht anwendbar. Der Beschluss ist eben nicht eine Entscheidung eines einzelnen Vorstandsmitglieds, sondern das Ergebnis der kollektiven Willensbildung. Trotz der Ausrichtung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf das einzelne Organmitglied ist die Business Judgment Rule dennoch mittelbar auch für die Willensbildungskontrolle im Kollegialorgan bedeutsam.62 So wie der Sorgfaltsstandard des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG aufgegriffen werden kann, um einen inhaltlichen Fehler des Vorstandsbeschlusses zu begründen,63 so kann §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG den Vorstandsbeschluss vor Unwirksamkeit schützen.64 Diese Rückkoppelung mag auf den ersten Blick überraschen, weil die gängigen rechtspolitischen Begründungsmuster, die für die Business Judgment Rule in ihrem haftungsrechtlichen Kontext formuliert werden,65 nicht auf die Beschlusssituation passen.66 Ein zentrales Argument für die Anerkennung der Business Judgment Rule ist die Vermeidung der Erfolgshaftung, die zu einer

61 Dies berücksichtigt etwa Bernd Scholl nicht hinreichend, der von einer einheitlichen Entscheidung des Gesamtvorstands ausgeht (Scholl, Vorstandshaftung, S.  238). Zu den Konsequenzen dieses Fehlverständnisses s. noch in § 8 V. Zur „Vermehrung“ von unternehmerischen Entscheidungen bei Vorstandsbeschlüssen Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 259 ff. 62 Hierzu schon Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 223 f. 63 Dazu bereits in § 7 III 3. 64 Vor diesem Hintergrund überzeugt es nicht, die BJR innerhalb des Haftungstatbestandes in § 93 Abs. 2 AktG zu verorten (so aber der Vorschlag bei Ulmer ZHR 163 [1999], 290, 299; Regierungskommission Corporate Governance BT-Drucks. 14/7515, S. 51; Loth, Haftung, S. 9 f.; ähnlich Kutscher, Organhaftung, S. 148). 65 S. den umfassenden Überblick bei Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 63. 66 Dies gilt auch für die Anwendung der BJR auf Unterlassungsansprüche der Gesellschaft gegen die Vorstandsmitglieder, die ex ante geltend gemacht werden, s. dazu § 2 IV 2. 232

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übermäßigen Risikoaversion der Geschäftsleiter führen könnte.67 Da es aber im Rahmen der Willensbildungskontrolle „nur“ um die Wirksamkeit des Vorstandsbeschlusses geht und nicht um die Haftung, ist der Bestandsschutz des Beschlusses nicht zwingend geboten, um die Risikobereitschaft der Vorstandsmitglieder zu stärken. Hierzu würde es ausreichen, wenn § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Haftungsrisiken und sonstige Sanktionsmöglichkeiten beschränkt.68 Auch sind bei der Willensbildungskontrolle keine Rückschaufehler zu befürchten.69 Während die Verhaltenskontrolle in der Regel ex post ansetzt, so dass die Gefahr besteht, dass der Richter aus einer nachteiligen Entwicklung auf die Pflichtverletzung des Geschäftsleiters schließt, wird ein Beschluss meist aus der ex-ante-Perspektive überprüft.70 In einem solchen Fall wird sich ein Schaden regelmäßig noch nicht realisiert haben, so dass die richterliche Urteilsbildung nicht durch spätere Ereignisse beeinflusst wird.71 Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangslage ist es dennoch geboten, die Bestandskraft eines Vorstandsbeschlusses qua § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu wahren. Bei der Business Judgment Rule geht es nämlich nicht nur um die Eindämmung der Haftungsrisiken, die aus einer unternehmerischen Tätigkeit resultieren und die durch etwaige Rückschaufehler des Gerichts potenziert werden, sondern um einen umfassenden Schutz der Vorstandsentscheidungen,72 der auch und gerade in der ex-ante-Situation erforderlich ist. Erkennt man die Zulässigkeit eines Intraorganstreits an, ist es (theoretisch) möglich, dass ein Vor67 Statt vieler Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 63; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 13; Scholl, Vorstandshaftung, S. 173 ff. Zu diesem Verständnis s. noch in § 7 V 1 und 2 sowie die Nachw. in Fn. 92. 68 Bei Lichte besehen bedarf es § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus dogmatischer Perspektive gar nicht, um die Risikoaversion der Geschäftsleiter zu dämmen, s. noch in § 7 V 2. 69 Dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG gerichtliche Rückschaufehler eindämmen soll, ist im Schrifttum konsentiert, s. nur Fleischer, FS Wiedemann, S. 827, 829 ff.; Scholl, Vorstandshaftung, S.  171  ff. Zum Phänomen der Rückschaufehler s. etwa Oeberst RW 2019, 180  ff.; Zur BJR als Debiasing-Strategie Korch, Haftung, S.  195  ff.; Falk RW 2019, 204, 222 ff.; Ott/Klein AG 2017, 209, 220 f.; Roberto/Grechenig ZSR 2011, 5, 23 f. 70 Dieser Umstand wird im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse aufgegriffen, um die Anwendbarkeit der BJR abzulehnen; s. Köster, Rechtsschutz, S. 51; Mayer, Beschlusskontrolle, S. 191. 71 Dieselbe Aufgabe hat ein Gericht im Rahmen des Unterlassungsanspruchs zu bewältigen  – wenn man mit der hier vertretenen Auffassung einen solchen Anspruch grundsätzlich anerkennen will, vgl. dazu in § 2 IV 2. 72 S. schon Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 13; dens., FS Säcker, S. 403, 411 ff.; Voigt, Haftung, S. 192, 323 f.; Paefgen AG 2004, 245, 250 f. Für Anwendung der BJR auf Geschäftsleiterbeschlüsse auch Hofmann, Minderheitsschutz, S. 263 (allerdings mit einschränkender Tendenz). 233

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standsbeschluss, dessen Auswirkungen noch ungewiss sind, Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens wird. Die gerichtliche Kontrolle des Vorstandsbeschlusses ist auch im Rahmen einer Aktionärsklage denkbar.73 In solchen Fällen gebietet die in § 76 Abs. 1 AktG verankerte Leitungsautonomie, dass diese Entscheidung als Ergebnis der verbandsrechtlichen Willensbildung grundsätzlich respektiert und nicht ohne Not in Frage gestellt wird. Könnte ein Gericht unter Berufung auf die organschaftliche Sorgfaltspflicht die Nichtigkeit des Beschlusses feststellen, wäre die Leitungsautonomie des Kollegialorgans in Gefahr.74 Deshalb ist es konsequent, die Business Judgment Rule auch bei der Willensbildungskontrolle anzuwenden.75 Als Illustration dieser These mag ein Fall dienen, in dem ein Vorstand, der nach der Satzung seine Beschlüsse mit einfacher Mehrheit fasst, über die Veräußerung eines Tochterunternehmens zu einem Preis entscheidet, der nach einer externen Unternehmensbewertung marktgerecht ist. Während die Mehrheit der unbefangenen Vorstandsmitglieder zum Abschluss des Geschäfts ­tendiert, beanstandet das opponierende Mitglied, dass die Veräußerung des Tochterunternehmens dem Gesellschaftswohl widerspreche, weil dieses in der Zukunft höhere Erträge erzielen werde, als im Bewertungsgutachten angenommen. Kommt der Vorstandsbeschluss, der die Veräußerung verbandsintern besiegelt, mit der erforderlichen Mehrheit zustande, schützt § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG den Beschluss vor einem gerichtlichen Eingriff, den das überstimmte Mitglied im Wege des Intraorganstreits initiieren könnte. Die Business Judgment Rule stellt sicher, dass die Vorstandsmehrheit das Sagen über die Leitung der Gesellschaft hat und nicht das überstimmte Vorstandsmitglied, das mit gerichtlicher Hilfe den Veräußerungsbeschluss verhindern will. Um den Mehrheitswillen und damit die Leitungsautonomie des Vorstands vor ge73 Zutr. Paefgen AG 2004, 245, 250  f. Implizit auch Hofmann, Minderheitsschutz, S. 262 f. 74 Diese Überlegungen gelten auch, wenn man einen Unterlassungsanspruch der Gesellschaft analog § 93 Abs. 2 AktG im Ausgangspunkt anerkennt (s. bereits § 2 IV 2): Erhebt die Gesellschaft (vertreten durch den AR, § 112 AktG) eine Unterlassungsklage, die auf Verletzung der Sorgfaltspflicht gestützt ist, muss das Gericht aus einer ex-ante-Perspektive bestimmen, ob die Vorstandsmitglieder das Wohl der Gesellschaft verfolgen. 75 Ist in den folgenden Ausführungen von der Willensbildungskontrolle die Rede, ist der Fall gemeint, in dem der Vorstand einen Mehrheitsbeschluss fasst. Die Überlegungen gelten aber freilich auch dann, wenn der Vorstand nach § 77 Abs. 1 AktG einstimmig entscheidet und ein Vorstandsmitglied der geplanten Maßnahme widerspricht. In einem solchen Fall schützt die BJR die Entscheidung des Einzelmitglieds, die geplante Maßnahme nicht mitzutragen. 234

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richtlicher Intervention zu schützen, ist also § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Rahmen der Willensbildungskontrolle zu berücksichtigen.76 Wie in ihrem originären Anwendungsbereich formuliert die Business Judgment Rule auch bei der Beschlusskontrolle die Kriterien für die Beurteilung einer unternehmerischen Geschäftsleitermaßnahme, die präziser gefasst sind als der generalklauselartig formulierte § 76 Abs. 1 AktG. Diese Überlegungen mögen als ein rein akademisches Glasperlenspiel erscheinen, weil Streitigkeiten innerhalb des Vorstands in der Praxis so gut wie nie vor Gericht ausgefochten werden. Sie können aber bedeutsam sein, wenn eine vorstandsfremde Person ausnahmsweise befugt ist, die Rechtmäßigkeit eines Vorstandsbeschlusses gerichtlich überprüfen zu lassen, was etwa in Fällen des Bezugsrechtsausschlusses bei Ausübung des genehmigten Kapitals möglich ist;77 gerade im letztgenannten Fall wird die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kontrovers diskutiert.78 Überdies sind die Überlegungen zum Schutz des Vorstandsbeschlusses durch die Business Judgment Rule ein Referenzmodell für Konstellationen, in denen die Willensbildungskontrolle im Kollegialorgan praktisch eine größere Rolle spielt, nämlich bei Aufsichtsrats- und Gesellschafterbeschlüssen. Als Beispiel mag das ARAG/Garmenbeck-Verfahren dienen, dessen Gegenstand nicht die Haftung eines Vorstandsmitglieds war, sondern der Beschluss des Aufsichtsrats, Schadensersatzansprüche gegen pflichtvergessene Vorstandsmitglieder nicht zu verfolgen. Wie selbstverständlich ging das damalige Schrifttum davon aus, dass das unternehmerisches Ermessen des Aufsichtsrats – wollte man es im Zusammenhang mit der Vorstandsverfolgung anerkennen – die Funktion hat, den (Nicht)Verfolgungsbeschluss vor gerichtlicher Korrektur zu schützen;79 die Haftung der Aufsichtsratsmitglieder stand eher im Hintergrund.80 Diese Funktion des Ermessens ist mit der Einführung 76 Spiegelbildlich ist die Situation zu beurteilen, wenn der Vorstand nach dem Leitbild des § 77 Abs. 1 AktG einstimmig entscheidet und das skeptische Vorstandsmitglied gegen die Veräußerung votiert: In einem solchen Fall schützt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Entscheidung des Mitglieds, ein Geschäft nicht einzugehen; s. schon Fn. 75. 77 S. die Nachw. in § 3 I Fn. 6. 78 Zum Meinungsstand s. § 20 III 2 a. 79 So der Schwerpunkt der Beiträge von: Dreher ZHR 158 (1994), 614, 618 ff.; dems. JZ 1997, 1074 ff.; Götz NJW 1997, 3275, 3276 f.; Heermann AG 1998, 201, 202 ff.; Horn ZIP 1997, 1129, 1136 ff.; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, 1157, 1158 ff.; Lutter ZIP 1995, 441 f. 80 So geht etwa Meinrad Dreher in seiner Anmerkung zur ARAG-Entscheidung des BGH nur beiläufig auf die AR-Haftung ein, s. Dreher JZ 1997, 1074, 1075. Ähnlich Götz NJW 1997, 3275, 3277 f.; Horn ZIP 1997, 1129, 1137. Vgl. ferner Sünner ZHR 163 (1999), 364, 368. 235

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des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der im haftungsrechtlichen Kontext eingebettet ist, zum Teil in Vergessenheit geraten und soll deshalb in Erinnerung gerufen werden.81 Allerdings wird die Untersuchung zeigen, dass die Anwendung der Business Judgment Rule auf Entscheidungen eines mehrköpfigen Vorstands schwierig ist, weil § 93 Abs. 1 AktG aus der Perspektive des Vorstandsmitglieds formuliert ist und auf die Besonderheiten einer Kollegialentscheidung keine Rücksicht nimmt.82 An dieser Stelle sei nur vorausgeschickt, dass man § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG gedanklich umformulieren muss, wenn man ihn auf den Vorstandsbeschluss anwendet. Ein Beschlussfehler liegt nicht vor, wenn der Vorstandsbeschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat, die an der Beschlussfassung beteiligten Vorstandsmitglieder nicht von Sonder­ interessen beeinflusst sind83 und vernünftigerweise davon ausgehen dürfen, auf Grundlage angemessener Information84 einen Beschluss zu fassen, der dem Gesellschaftswohl entspricht.

V. Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG 1. Überblick über den Meinungsstand Die vorstehenden Ausführungen zu den Auswirkungen der Business Judgment Rule auf die Verhaltenskontrolle sind weitestgehend konsentiert. Liegen die Voraussetzungen des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG vor, handelt ein Vor­ standsmitglied sorgfaltskonform und kann für die gegebenenfalls nachteiligen Folgen seiner Entscheidungen nicht zur Verantwortung gezogen werden.85 81 De lege ferenda ist freilich zu überlegen, ob man die BJR aus ihrem haftungsrechtlichen Kontext löst und dort verortet, wo sie dogmatisch hingehört: in §  76 Abs.  1 AktG. Ein solcher Schritt wäre zugleich eine Gelegenheit, den Unterschied zwischen den objektiven Pflichten des Vorstands und dem subjektiven Sorgfaltsmaßstab stärker zu akzentuieren. Dem Vorschlag Uwe Hüffers folgend sollte § 76 Abs. 1 AktG als Pflichtenquelle und §  93 Abs.  1 Satz  1 AktG als Verschuldensmaßstab ausgestaltet werden (s. dazu Hüffer AktG, 10. Aufl., § 93 Rn. 32; dens., FS Raiser, S. 163, 165 ff.). 82 Zu den einzelnen Problemen s. noch in § 8 V. 83 Zum Verhältnis zwischen Sonderinteressen und Intensität der Beschlusskontrolle s. § 8 V 4 b. 84 Zum Einfluss der Informationsgrundlage auf Intensität der Beschlusskontrolle s. § 8 V 4 c. 85 Freilich ist wiederum umstritten, wie dieses Ergebnis technisch erreicht wird: Einige sehen in §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einen Tatbestandsausschluss (so etwa Bürgers in Bürgers/Körber AktG § 93 Rn. 10; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG 236

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Ebenfalls ist sich das Schrifttum darüber einig, dass die Business Judgment Rule lediglich eine Klarstellungsfunktion hat. Das unternehmerische Ermessen sei spätestens seit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung anerkannt, der Gesetzgeber habe es mit Art.  1 Nr.  1a UMAG in Gesetzesform gegossen.86 Diese Feststellung kann mit einem Verweis auf die Gesetzesmaterialien mühelos belegt werden,87 so dass daran nicht zu rütteln ist. Sie ist aber dennoch durch die Beobachtung zu ergänzen, dass sie in einer eigentümlichen Diskrepanz zu der wissenschaftlichen Energie steht, die das Schrifttum in die Durchdringung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG investiert. Obwohl die kodifizierte Business Judgment Rule nichts Neues sagen soll, hat sich die von den Urhebern des UMAG-Referentenentwurfs aufgestellte Prognose, die Neuregelung werde  einen breiten fachjuristischen Tintenfluss auslösen,88 eindrucksvoll bewahrheitet. Es ist nicht nur jedes Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG umstritten, sondern auch seine Funktionsweise und dogmatische Einordnung. So wird seit jeher darüber debattiert, ob § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG über die Klarstellung hinaus eine sinnvolle Funktion zukommt. Einige halten die Regelung für überflüssig, weil sie lediglich das umschreibe, was ohnehin nach § 93 Abs. 1 Satz  1 AktG gelte: die Haftung für einfache Fahrlässigkeit;89 die kodifizierte  Business Judgment Rule soll gar für die Unternehmensorgane kein gutes

Rn. 19; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 74 f.; Taube, Business Judgment Rule, S. 105 f.; Winnen, Innenhaftung, S. 102 ff., 283), während andere von einer unwiderlegbaren Vermutung pflichtkonformen Verhaltens ausgehen (so etwa Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn.  14; Heidel/U. Schmidt AktG §  93 Rn.  79; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 140 ff.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 297; Hopt ZIP 2013, 1793, 1797; Kuntz DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 39 f.). 86 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  93 AktG Rn.  17  f.; Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 40; Hölters AktG § 93 Rn. 29; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 8; Altmeppen ZIP 2016, 97, 98 („Selbstverständlichkeit“). 87 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 88 Seibert/Schütz ZIP 2004, 252, 254. S. auch Seibert, FS Priester, S. 763, dessen Hinweis auf 1500 Seiten Stellungnahmen zum UMAG, von denen viele die BJR betreffen, schon 2007 seine Einschätzung aus dem Jahr 2004 bestätigt hat. 89 von Falkenhausen NZG 2012, 644, 648  ff.; Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2120 („Luftschloss“); C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1258. Für Einordnung als Haftung für einfache Fahrlässigkeit auch Bahnsen, Haftung, S.  25; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 130 ff.; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 721. Sympathisierend mit der These, dass die Anforderungen innerhalb und außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gleich sind: Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 47; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1528; Cahn WM 2013, 1293, 1295; ders., FS Stilz, S. 99; Habersack ZHR 177 (2013), 782, 798 f. 237

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Geschäft sein.90 Andere verneinen zwar ebenfalls eine konstitutive Privilegierungswirkung, messen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aber einen suggestiven Charakter bei: Die Business Judgment Rule bekräftige gegenüber den handelnden Organen die Bedeutung eines angemessenen Informationsmanagements; außerdem hebe sie die Gefahr eines Rückschaufehlers hervor.91 Teilweise wird die Business Judgment Rule mit der Vermeidung der Erfolgshaftung in Verbindung gebracht,92 teilweise wird sie als eine Konkretisierung des organschaftlichen Sorgfaltsstandards eingeordnet.93 Von einigen wird vertreten, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG habe den Sorgfaltsmaßstab auf grobe Fahrlässigkeit herabgesetzt.94 Schließlich stehen manche auf dem Standpunkt, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab unangetastet lässt, ­dafür aber die gerichtliche Prüfungsdichte lockert, indem sie den Blick des Richters weg vom Entscheidungsergebnis hin zum Entscheidungsprozess lenkt.95 90 So Druey, FS Goette, S. 57, 69. 91 Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 40. S. auch Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1528: Signal an die Praxis; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 324: Signalwirkung. 92 Diesen Zusammenhang bringen ins Spiel: Regierungskommission Corporate Governance BT-Drucks. 14/7515, S. 50 f.; RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG Rn. 18; Hölters AktG § 93 Rn. 31; Winnen, Innenhaftung, S.  88  f.; Ihrig WM 2004, 2098, 2099.  In diese Richtung auch Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 13: keine Vorstandshaftung für negatives Ergebnis einer unternehmerischen Entscheidung. Krit. Horn, FS H.P. Westermann, S. 1053, 1062 f. 93 Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  67 (anders aber noch M. Roth BB 2004, 1066, 1068: Differenzierung zwischen objektivem Pflichtverstoß [standard of conduct] und Haftung [standard of review]); Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  46; D. Beisel in W. Beisel/Klumpp § 2 Rn. 28; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 206 f.; Eisele, Hafen, S. 323 ff.; Jena, Business Judgment Rule, S. 194 ff.; Kaulich, Haftung, S. 88; Ph. Scholz, Haftung, S. 86 ff.; ders. AG 2015, 222 ff.; ders. AG 2018, 173, 176 ff.; Schrage, Steuergestaltungen, S.  198  f.; Widmann, Risikomanagement, S.  78; Bayer NJW 2014, 2546, 2547; Cahn Der Konzern 2015, 105; Kocher CCZ 2009, 215, 216 (der aber zugleich von einer Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte ausgeht). So wohl auch N. Fischer, Vorstandshaftung, S. 67 ff.; von Falkenhausen NZG 2012, 644, 649. S. ferner Bahnsen, Haftung, S. 23 (eigenständiger Haftungsstandard) und S. 25 (Verschuldensmaßstab); Hemeling ZHR 175 (2011), 368, 378 (faktische Konkretisierung der Sorgfaltsanforderungen). 94 Dafür S. Binder, Vorstandshaftung, S. 138 ff.; Kutscher, Organhaftung, S. 59 ff.; Lohse, Ermessen, S.  43  ff.; Pfertner, Entscheidungen, S.  71  ff.; Bachmann, FS Stilz, S.  25, 31 ff.; ders. WM 2015, 105, 106. Ähnlich Horn, FS H.P. Westermann, S. 1053, 1063: Einschränkung der Fahrlässigkeitshaftung. 95 Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  81; Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  9; Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 1528; Eckervogt, Innenhaftung, S. 146 f., 164 f.; Rahlmeyer, 238

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2. Verhinderung der Erfolgshaftung als Motiv für die Business Judgment Rule So vielfältig der Meinungsstand erscheinen mag, so gleichförmig sind bei Lichte besehen die Grundannahmen der meisten Autoren. Die Business Judgment Rule wird als ein haftungsrechtliches Institut verstanden und im Zu­ sammenhang mit dem (objektiven oder subjektiven  – hier weichen die ­Stellungnahmen wieder voneinander ab) Sorgfaltsmaßstab gelesen, den die Vorstandsmitglieder zu beachten haben.96 Beide Annahmen haben einiges für sich. Der UMAG-Gesetzgeber hat die Kodifizierung der Business Judgment Rule unter anderem mit der Verschärfung des Verfolgungsrechts der ­Aktionäre begründet,97 so dass die schadensrechtliche Einbettung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG plausibel ist. Zudem justiert ein Gesetzgeber, der die Akteure in eine bestimmte Richtung durch Haftungstatbestände steuern will, in der Regel den Sorgfaltsmaßstab. Bei einer Gefährdungshaftung hat der Norm­ adressat den Anreiz, das schadensträchtige Verhalten gänzlich zu unterlassen oder solche Sorgfaltsanstrengungen zu unternehmen, die kostenträchtige Schadensfälle verhindern.98 Im Rahmen der Verschuldenshaftung wird er versuchen, das rechtlich geforderte Sorgfaltsniveau zu erreichen.99 Teilt man diese beiden Grundannahmen, ist es konsequent, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung zu verstehen, die die unternehmerische Initiative der Vorstandsmitglieder stärken soll, indem sie die Gefährdungshaftung vermeidet. Freilich ist im Kontext des § 93 Abs. 2 AktG nicht klassisch zivilistisch von

Vorstandshaftung, S.  74  f.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  130  ff.; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 297 f. (der aber die Abgrenzung zwischen Inhalts- und Verfahrenskontrolle für schwer durchführbar hält  – S.  89  f.); Scholl, Vorstandshaftung, S. 296 f.; Jungmann, FS K. Schmidt, 2009, S. 831, 833. In diese Richtung auch Winnen, Innenhaftung, S. 89, 283; Druey, FS Goette, S. 57, 68 Fn. 48. Ferner Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 271 ff.: Schaffung eines neuen Überprüfungsmaßstabs. Vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Lüpkemann, Ermessen, S. 41 ff. Ähnlich im GmbH-Recht Taube, Business Judgment Rule, S. 105 f.; s. ferner Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG §  43 Rn.  110  ff.; Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn. 61: Kontrolle des Entscheidungsprozesses statt des Entscheidungsergebnisses. 96 In diese Richtung auch die Beobachtung von Nietsch ZGR 2015, 631, 634 f. 97 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  11; aus dem Schrifttum s. Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 10. 98 Vgl. Wagner in MüKoBGB Vor § 823 Rn. 57 f.: optimales Aktivitätsniveau durch Gefährdungshaftung. 99 Überblick bei Wagner in MüKoBGB Vor § 823 Rn. 53 ff. Im Kontext der Vorstandshaftung Langenbucher DStR 2005, 2083, 2086. 239

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der Gefährdungshaftung, sondern von der Erfolgshaftung die Rede.100 Was sich unter dem Begriff der Erfolgshaftung verbirgt, wird meist nicht erklärt, aus einer Zusammenschau der Äußerungen  – insbesondere aus der in den 1930er Jahren geführten Diskussion101 – lässt sich aber herleiten, dass es um eine Situation geht, in der die Vorstandsmitglieder für die Ergebnisse der Gesellschaft haften, wenn sie die wahrscheinlichen Folgen einer geschäftlichen Maßnahme falsch beurteilen.102 In einem solchen Regime läge der Haftungsgrund nicht in einer Sorgfaltspflichtverletzung, sondern schlicht in der Übernahme und Ausübung der Geschäftsleitertätigkeit; eine solche Konstruktion ist für die meisten Tatbestände der Gefährdungshaftung kennzeichnend.103 Gewiss hilft die Business Judgment Rule dabei, die Gefährdungshaftung der Geschäftsleiter zu vermeiden, indem sie akzentuiert, dass die Vorstandsmitglieder nicht zu Verantwortung gezogen werden können, wenn sie bestimmte Standards einhalten; damit wird die unternehmerische Risikobereitschaft gestärkt. Um dieses Ziel zu erreichen, sind aber § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und die mit ihm verbundenen Einschätzungsprärogativen nicht zwingend erforderlich. Dies zeigen bereits die Überlegungen des Gesetzgebers in der Amtlichen Begründung zu § 84 AktG 1937, der das Verschulden als den Anknüpfungspunkt gewählt hat, um einer Erfolgshaftung der Vorstandsmitglieder vorzubeugen und ihren Wagemut zu stärken;104 auch die ältere Literatur hat sich mit

100 Vgl. bereits die Nachw. in Fn. 92. Wie hier Wiedemann, Organverantwortung, S. 13: Gefährdungshaftung. Vgl. ferner Paefgen, Entscheidungen, S. 175, der von einer Garantiehaftung spricht, was eher den klassischen zivilrechtlichen Kategorien entspricht als die Erfolgshaftung. 101 Vgl. insb. Erster Bericht des Vorsitzenden des Ausschußes für Aktienrecht der ADR, S. 20 f. (abgedruckt bei Schubert, ADR I, S. 492 f.); Zweiter Bericht des Vorsitzenden des Ausschußes für Aktienrecht der ADR, S. 11 f. (abgedruckt bei Schubert, ADR I, S.  507  f.); s. ferner Bayer/Engelke in AktR im Wandel Bd. I Kap. 15 Rn.  22.  Aufschlussreich sind auch die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuss des Vorläufigen Rechtswirtschaftsrats. Für eine merkliche Verschärfung der Organhaftung namentlich der Gewerkschaftsvertreter Georg Friedrich Baltrusch, s. das Protokoll bei Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 190 f. Dagegen der Präsident der IHK Breslau, Bernhard Grund, s. das Protokoll bei Schubert/Hommelhoff aaO S. 239 f. 102 So die Umschreibung bei Brodmann AktienR HGB § 241 Anm. 1c; Schlegelberger/ Quassowski AktG § 84 Anm. 4. 103 Zum Zurechnungsgrund bei der Gefährdungshaftung etwa Wagner in MüKoBGB Vor § 823 Rn. 19. 104 Klausing AktG S. 71 f. 240

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dem nötigen unternehmerischen Mut im Zusammenhang mit dem Verschulden auseinandergesetzt.105 In diesem Sinne ist § 93 Abs. 2 AktG als Verschuldenshaftung ausgestaltet, so dass ein Vorstandsmitglied nur dann auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden kann, wenn er die Pflichtverletzung zu vertreten hat. Er haftet also auch ohne § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht für einen etwaigen Misserfolg, sondern nur für fehlerhaftes, subjektiv vorwerfbares Verhalten. Demnach kann die Erfolgshaftung bereits dann vermieden werden, wenn der Verschuldensmaßstab richtig justiert ist.106 Werden an die Vorstandsmitglieder im Rahmen der Verschuldensprüfung keine exorbitant hohen Anforderungen gestellt, ist es sicher, dass sie nicht für den ausbleibenden Erfolg haften. Bringt man die Business Judgment Rule mit der Verhinderung der Erfolgshaftung in Verbindung, beschreibt man zwar ihre praktische Wirkung, leistet aber keinen Beitrag für ihre dogmatische Einordnung. 3. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Regelung der einfachen Fahrlässigkeit? Geht man davon aus, dass das Verschulden – wie im Zivilrecht üblich – ein ausreichendes Korrektiv ist, um die übermäßig scharfe Haftung zu vermieden, kann man dazu neigen, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Verschuldensnorm einzuordnen. Hierzu tendiert augenscheinlich Joachim von Falkenhausen, der die besonders weitgehende These forciert, die Situation innerhalb und außerhalb der Business Judgment Rule sei gleich. Diese These beruht auf der Annahme, dass es dem Gesetzgeber nicht gelungen sei, den vom II. Zivilsenat in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung entwickelten Haftungsfreiraum in Gesetzestext zu gießen: Der BGH habe in diesem Urteil einen weiteren Rahmen setzen wollen, als er gesagt habe, dass die Grenzen des unternehmerischen 105 So etwa Brodmann AktienR HGB § 241 Anm. 1c; von Godin/Wilhelmi AktG § 84 Anm. I; Meyer-Landrut in GK-AktG, 3. Aufl., § 93 Anm. 15; Schilling in GK-AktG, 2. Aufl., § 84 Anm. 15; Schlegelberger/Quassowski AktG § 84 Anm. 1. Vgl. ferner R.  Teichmann/Koehler AktG §  84 Anm. 2a. Zum AR und §  249 HGB aF RG JW 1911, 223, 224: In einer unrichtigen Beurteilung der wahrscheinlichen Folgen einer geschäftlichen Maßnahme liege in der Regel noch keine Fahrlässigkeit. 106 Zutr. Korch, Haftung, S. 201 f., der auf die „angemessene Beurteilung der Frage der Fahrlässigkeit“ abstellt. Dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erforderlich ist, um die Erfolgshaftung der Vorstandsmitglieder zu vermeiden, erkennt auch Kutscher, ­Organhaftung, S. 53 ff., der aber nicht auf das Verschulden abstellt, sondern auf das in §  76 Abs.  1 AktG verankerte Leitungsermessen des Vorstands. S.  ferner Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 1527: keine „Erfolgshaftung“ jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 241

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Handelns „deutlich“ überschritten sein müssten; der Gesetzgeber habe dies jedoch in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht übernommen. Die Worte „vernünftigerweise annehmen durfte“ würden auf vernünftiges Handeln abstellen. Handeln, das nicht vernünftig sei, genüge nicht dem Pflichtenmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, der wiederum dem Verschuldensmaßstab der einfachen Fahrlässigkeit entspreche. Die Business Judgment Rule in der Fassung, in der sie Gesetz geworden sei, setze also den Sorgfaltsmaßstab nicht herab; es werde für einfache Fahrlässigkeit gehaftet.107 Trifft diese Argumentation zu, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht nur obsolet und viele Bibliothekregale sind mit Makulatur gefüllt. Die Auswirkungen sind deutlich gravierender: Wenn es dem UMAG-Gesetzgeber in der Tat nicht gelungen ist, die ARAG-Grundsätze in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu kodifizieren, hat sich die Lage der Vorstandsmitglieder trotz der gesetzgeberischen Inten­ tion verschlechtert.108 Dieser Gedanke lässt sich gewiss mit dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vereinbaren, beruht aber auf einer Auslegung, die in einem deutlichen Widerspruch zum Gesetzgeberwillen steht. Es ist nämlich sprachlich nicht zwingend, den Passus „vernünftigerweise annehmen durfte“ mit vernünftigem Handeln gleichzusetzen.109 Der Gesetzestext kann auch ­anders gedeutet werden, ohne dass man über die Wortlautgrenze hinweggeht. Es ist ein Allgemeinplatz juristischer Methodik, dass die grammatikalische Auslegung kein Begriffsverständnis der Umgangssprache gebietet.110 Deshalb spricht nichts dagegen, das unvernünftige Handeln im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als völlig unverantwortliches, irrationales Handeln zu verstehen. Ein solches Verständnis hat den Vorteil, dass es den vom Gesetzgeber intendierten Zweck erreicht. Es ist in den UMAG-Gesetzesmaterialien angelegt111 und geeignet, die Kontinuität zwischen der ARAG/Garmenbeck-Rechtsprechung und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu wahren. Auch der II. Zivilsenat hat auf 107 von Falkenhausen NZG 2012, 644, 648  f. Dem folgend Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2121. S. auch schon C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1258, der „vernünftigerweise“ mit „ohne Fahrlässigkeit“ gleichsetzen will. 108 Vor diesem Hintergrund wird die Behauptung Jean Nicloas Drueys verständlich, die kodifizierte BJR sei für die Unternehmensorgane kein gutes Geschäft (so Druey, FS Goette, S. 57, 69). 109 Bachmann, FS Stilz, S.  25, 31.  Zur systematischen Kritik s. auch S.  Binder, Vorstandshaftung, S. 140 ff. Vgl. ferner Taube, Business Judgment Rule, S. 110. 110 Statt vieler Möllers, Methodenlehre, § 4 Rn. 48, 62. 111 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  11: „Das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals [„vernünftigerweise“  – Anm. des Verf.] wäre etwa dann zu verneinen, wenn das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt worden ist (vgl. BGHZ 135, 244, 253).“ 242

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unverantwortliches Handeln abgestellt,112 woran der Gesetzgeber anknüpfen wollte.113 Kann ein Gesetzesbegriff so ausgelegt werden, wie es der gesetzgeberischen Intention entspricht, ist dieser Auslegung der Vorzug zu geben gegenüber einer Deutung, die das legislative Konzept gänzlich in Frage stellt oder gar in sein Gegenteil verkehrt.114 Selbst wenn man das enge Begriffsverständnis von Falkenhausens teilt, ist die juristische Arbeit noch nicht beendet. Unterstellt man dem UMAG-Gesetzgeber, dass er es nicht geschafft hat, das ARAG/Garmenbeck-Urteil in Gesetzesbuchstaben zu gießen, erlaubt es die methodische Trickkiste, im Wege der Rechtsfortbildung nachzubessern.115 Wenn der Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die weite Deutung des Tatbestandsmerkmals „vernünftigerweise an­ nehmen durfte“ in der Tat nicht erlaubt, liegt die planwidrige Regelungslücke darin, dass die kodifizierte Business Judgment Rule gegenüber der organschaftlichen Sorgfaltspflicht keinen sinnvollen Anwendungsbereich hat und die Vorstandsmitglieder dadurch schlechter stehen als nach Maßgabe der ARAG-Rechtsprechung. Dies hat der Gesetzgeber gewiss nicht bezweckt, so dass unvernünftiges Handeln im Kontext des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG praeter legem als völlig unverantwortliches Handeln zu verstehen ist und die Vorstandsmitglieder im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule nicht für einfache Fahrlässigkeit haften. 4. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Lockerung des Verschuldensmaßstabs? Teilt man die Auffassung, dass sich die Bedeutung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht darin erschöpft, die Geschäftsleiterhaftung für einfache Fahrlässigkeit zu wiederholen, ist der Frage nachzugehen, ob die Business Judgment Rule eine Haftungsmilderung dergestalt regelt, dass der Verschuldensmaßstab auf grobe Fahrlässigkeit herabgesetzt wird. Diese These wird am prononciertesten von

112 BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926. 113 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11: „Auch insofern [hinsichtlich des Merkmals „vernünftigerweise“ – Anm. des Verf.] wird auf Ausführungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung im ARAG/Garmenbeck-Urteil Bezug genommen.“ 114 Zutr. Bachmann WM 2015, 105, 106: Es sei methodisch verkehrt, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erst eng auszulegen, um dem Gesetzgeber sodann vorzuenthalten, er habe sein Ziel verfehlt. Vgl. ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  75; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 127; Eisele, Hafen, S. 328; Bachmann, FS Stilz, S. 25, 31 f. 115 Zur Überwindung der Wortlautgrenze durch Rechtsfortbildung Möllers, Methodenlehre, § 4 Rn. 42, § 13 Rn. 14. 243

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Gregor Bachmann vertreten:116 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in der Fassung des Referentenentwurfs zum UMAG habe einen sicheren Hafen für Vorstandsmitglieder geschaffen, die „ohne grobe Fahrlässigkeit“ gehandelt hätten.117 Der Passus „ohne grobe Fahrlässigkeit“ sei im Regierungsentwurf durch das Merkmal „vernünftigerweise“ ersetzt worden, um der dogmatischen Kritik vorzubeugen, der Gesetzgeber vermenge die dogmatischen Kategorien der Pflichtwidrigkeit und des Verschuldens.118 Im Bereich des Verhaltensunrecht fielen aber die (objektive) Pflichtwidrigkeit und der (subjektive) Sorgfaltsverstoß praktisch zusammen, so dass es ehrlicher sei, die Geschäftsleiterhaftung für unternehmerische Entscheidungen auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken, statt das Gemeinte mit schwammigen Vokabeln zu verbrämen. Das Schrifttum fülle das Tatbestandsmerkmal „vernünftigerweise“ ohnehin mit denselben Kriterien aus, die für grobe Fahrlässigkeit typisch seien. Die Argumente Bachmanns sind nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es spricht in der Tat viel dafür, dass der UMAG-Gesetzgeber inhaltlich den Verschuldensmaßstab auf grobe Fahrlässigkeit beschränken wollte, unter dem Eindruck dogmatischer Kritik dann zwar eine andere Begrifflichkeit gewählt hat, in der Sache aber doch bei seiner ursprünglichen Konzeption bleiben wollte.119 Allerdings ist diese Deutung nur dann plausibel, wenn man §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG allein durch die haftungsrechtliche Brille liest. Versucht man, die Business Judgment Rule in den Kontext der Willensbildungskontrolle einzuordnen,120 lässt sich das Tatbestandsmerkmal „vernünftigerweise“ nicht als „ohne grobe Fahrlässigkeit“ übersetzen: Ein Beschluss kann rechtmäßig oder rechtswidrig, wirksam oder unwirksam, anfechtbar oder unanfechtbar sein – er kann aber nicht mit dem Prädikat „fahrlässig“ versehen werden.

116 Zum Folgenden Bachmann, FS Stilz, S. 25, 31 ff.; ders. WM 2015, 105, 106. S. ferner die Nachw. in Fn. 94. 117 S.  RefE UMAG S.  1, 17 (abrufbar unter http://www.gesmat.bundesgerichtshof.de/ gesetzesmaterialien/15_wp/umag/refe.pdf) und die authentische Interpretation von Seibert/Schütz ZIP 2004, 252, 254: Verschuldensmaßstab werde gelockert. 118 Diese Kritik hat bekanntlich Fleischer ZIP 2004, 685, 689 vorgetragen. Zust. Ihrig WM 2004, 2098, 2106; Weiss/Buchner WM 2005, 162, 164.  119 Krit. aber Ulmer DB 2004, 859, 862, der die Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich der Informationsbeschaffung für sachlich unangemessen hält. Dem folgend Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 150 f.; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 165 f.; Langenbucher DStR 2005, 2083, 2086; krit. auch Voigt, Haftung, S. 193. Dagegen zutr. S. Binder, Vorstandshaftung, S. 147 ff.; Kutscher, Organhaftung, S. 143 f. 120 Zu den Auswirkungen auf die Willensbildungskontrolle s. bereits oben in § 7 IV 2. 244

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Die Fahrlässigkeit ist im Zivilrecht eine Verschuldenskategorie.121 Die unterschiedlichen Fahrlässigkeitsgrade umschreiben die Intensität des Vorwurfs, der dem Normadressaten gemacht wird.122 Anknüpfungspunkt ist ein Verhalten einer Person im Rechtsverkehr, was insbesondere in §  276 Abs.  2 BGB zum Ausdruck kommt: Fahrlässig handelt derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Ein Beschluss ist aber eine Schöpfung der Rechtsordnung, die gar nicht handeln, geschweige denn die Sorgfalt außer Acht lassen kann. Fahrlässig handeln können nur die Vorstandsmitglieder, die den Beschluss gefasst haben. Freilich besteht ein Zusammenhang zwischen einem (objektiv) pflichtwidrigen Verhalten der Organmitglieder und der Wirksamkeit des Beschlusses. Wie bereits in § 7 III 3 erläutert, ist der Vorstandsbeschluss rechtswidrig und damit nichtig, wenn sich die Vorstandsmitglieder bei der Beschlussfassung über ihre organschaftlichen Pflichten hinweggesetzt haben. Die Rechtswidrigkeit des Beschlusses hängt aber nicht davon ab, ob man den am Willensbildungsprozess beteiligten Personen einen persönlichen Vorwurf machen kann.123 Befreit man also die Vorstandsmitglieder qua § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur vom Vorwurf grober Fahrlässigkeit, bleibt der Makel der Rechtswidrigkeit bestehen,124 so dass die Bestandskraft des Vorstandsbeschlusses nicht geschützt ist. Damit hätte die Business Judgment Rule ihre Wirkung verfehlt; sie kann deshalb nicht als eine bloße Haftungsmilderung begriffen werden. 5. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Konkretisierung des objektiven Pflichtenstandards? a) Von der negativen zu der positiven Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Ordnet man die Business Judgment Rule nicht als eine bloße Lockerung des Verschuldensmaßstabs ein, kann man sie mit einer weit verbreiteten Auffas121 S. nur Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 50 ff. Anders die strafrechtliche Lehre, die die Fahrlässigkeit als einen komplexen Begriff einordnet, der sowohl Unrechtsals auch Schuldelemente enthält, vgl. nur Eisele in Schönke/Schröder StGB vor §§ 13 ff. Rn. 30, 55 mwN. 122 S. Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 94: „Die grobe Fahrlässigkeit ist eine Steigerung der leichten, ein besonders schwerer Verstoß gegen die objektiv erforderliche Sorgfalt.“; Lorenz in BeckOK BGB §  276 Rn.  19: „Das fahrlässige Verhalten kann graduell verschieden sein.“ Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 154: Gesteigerter Vorwurf als Kriterium der groben Fahrlässigkeit. 123 Insoweit zutr. Kindler ZHR 162 (1998), 101, 116. 124 Zum Verhältnis zwischen (grober) Fahrlässigkeit und Rechtswidrigkeit Deutsch, Fahrlässigkeit, S. 195 ff., 436 f. 245

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sung als eine Konkretisierung des objektiven Pflichtenstandards begreifen.125 Ein solches dogmatisches Verständnis des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ist nicht denselben Einwänden ausgesetzt wie die vorstehend behandelten Ansätze. Zum einen sieht die Konkretisierungsthese in der Business Judgment Rule mehr als eine sinnlose Bestimmung, die den Grundsatz der Haftung für einfache Fahrlässigkeit wiederholt, und widerspricht damit nicht der gesetzgeberischen Intention. Zum anderen knüpft sie an den objektiven Pflichtenmaßstab an und wirkt sich damit auch im Rahmen der Willensbildungskontrolle aus. Auch wenn die Konkretisierungsthese weit verbreitet ist, eingehend begründet hat sie bislang lediglich Philipp Scholz,126 dem überdies der Verdienst gebührt, die Inkonsequenz der bis dahin nahezu einhelligen Auffassung aufzudecken.127 Das Schrifttum misst nämlich dem Streit um die dogmatische Einordnung der Business Judgment Rule keine praktische Bedeutung bei.128 Diese These trifft jedenfalls dann zu, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vorliegen. In einem solchen Fall ist es in der Tat bedeutungslos, wie die Business Judgment Rule dogmatisch zu qualifizieren ist, weil das Wesentliche feststeht: Das Vorstandsmitglied handelt nicht pflichtwidrig, der Vorstandsbeschluss ist wirksam. Der Streit wirkt sich aber aus, wenn § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt ist. Ordnet man die Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des organschaftlichen Pflichtenmaßstabs ein, ist es widersprüchlich, einerseits die Geschäftsleiterpflichten gem. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu bestimmen, andererseits aber in einem Atemzug zu behaupten, dass der Geschäftsleiter nicht zwingend pflichtwidrig handelt, wenn er den in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG formulierten Vorgaben nicht nachkommt.129 Will man solche Inkonsequenzen vermeiden, sind zwei Wege gangbar. Zum einen kann man mit Scholz an der dogmatischen Qualifizierung der Business Judgment Rule als Konkretisierung der organschaftlichen Sorgfaltspflichten festhalten und konsequent einen Pflichtenverstoß bejahen, wenn ein Vor-

125 Nachw. in Fn. 93. 126 Ph. Scholz, Haftung, S. 70 ff., insb. S. 86 ff.; ders. AG 2015, 222 ff.; ders. AG 2018, 173, 176 ff. 127 Die Widersprüche, in die die Vertreter der Konkretisierungsthese geraten, erkennt auch Loth, Haftung, S. 52. 128 Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  67; Mertens/Cahn in KK-AktG §  93 Rn.  15; Kaulich, Haftung, S. 88; Haarmann/Weiß BB 2014, 2115, 2120. 129 So aber etwa Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 67, 116; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 46 f.; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 206 f. 246

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standsmitglied die Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht umsetzt;130 dann ist „Die Haftung bei Verstößen gegen die Business Judgment Rule“131 denkbar. Zum anderen bietet es sich an, die Konkretisierungsthese zu verwerfen und in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine Regelung zu erkennen, die den Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG unangetastet lässt, aber die gerichtliche Kontrolldichte lockert.132 Beide Lösungswege haben ihre Schwächen. Verfolgt man konsequent die Konkretisierungsthese, ist man gezwungen, sich über den Wortlaut und die Systematik des § 93 Abs. 1 AktG hinwegzusetzen. Nimmt man die Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ernst, ist ein „Verstoß gegen die Business Judgment Rule“ nicht möglich: Rechtsverkehrsteilnehmer können nur gegen Normen verstoßen, die den Adressaten ein Verhalten verbieten oder gebieten. In systematischer Hinsicht enthält nur § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG Verhaltensanforderungen, die die Geschäftsleiter einzuhalten haben. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schreibt dagegen den Vorstandsmitgliedern kein bestimmtes Verhalten vor, sondern er stellt lediglich Voraussetzungen auf, unter denen das Geschäftsleiterhandeln jedenfalls nicht als pflichtwidrig gilt. Aus einer negativ formulierten Regelung lassen sich keine Pflichten ableiten.133 Scholz tritt diesen grammatikalischen und systematischen Argumenten mit der Behauptung entgegen, die negative Formulierung der Business Judgment Rule versperre keineswegs die Ableitung positiver Pflichten. Denn ein Handeln, das nicht gegen die gebotene Sorgfalt verstoße, entspreche dieser. Lege das Gesetz also einen abstrakten Maßstab fest, bei dessen Einhaltung keine Pflichtverletzung vorliege, so sei damit gleichzeitig ein Sorgfaltsmaßstab umschrieben. Um keine Pflichtverletzung zu begehen, müsse das Vorstandsmitglied eine unternehmerische Entscheidung so vorbereiten und treffen, dass es vernünftigerweise annehmen dürfe, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG lasse sich auch ohne Sinnverlust so positiv umformulieren, dass er einen allgemein

130 Deutlich hinsichtlich der Informationsbeschaffung Ph. Scholz AG 2018, 173, 183 f. Für eine Pflichtverletzung bei Ermessensfehlern bereits C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257. 131 So der Aufsatztitel von Ph. Scholz AG 2015, 222. Vgl. ferner BGH NJW 2017, 578 Rn. 31. 132 S. schon die Nachw. in Fn. 95. Dazu noch in § 7 V 6. 133 Zutr. Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 73; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 128. Dies gesteht aus einer formallogischen Perspektive auch Philipp Scholz (AG 2015, 222). 247

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gültigen Sorgfaltsmaßstab umschreibe; die Anforderungen an die Vorstandsmitglieder würden sich in einem solchen Fall nicht ändern.134 Um den von Scholz eingeschlagenen Weg verständlicher zu machen, verlässt die Untersuchung die mystische Diskussion um die dogmatische Qualifizierung der Business Judgment Rule und begibt sich auf ein bodenständigeres Rechtsgebiet: das Straßenverkehrsrecht. Die straßenverkehrsrechtliche Grundregel in § 1 StVO lässt sich auf eine stark vereinfachte Formel bringen, die in etwa lautet: „Wer am Straßenverkehr teilnimmt, muss sich ständig vorsichtig verhalten“; sie wird um zahlreiche Detailregelungen zu Geschwindigkeit, Abstand, Überholen, Vorbeifahren usw. ergänzt. Der Gesetzgeber hat theoretisch die Möglichkeit, die Detailregelungen in §§ 3 bis 6 StVO zu streichen und sie durch eine – freilich wenig sinnhafte – „Safe harbor“-Vorschrift zu ersetzen, wonach ein Verstoß gegen die straßenverkehrsrechtliche Grundregel nicht vorliegt, wenn ein Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit von 20 km/h nicht überschreitet, einen Abstand von mindestens 200 Meter zu einem vorausfahrenden Fahrzeug einhält und weder überholt noch an anderen Fahrzeugen vorbeifährt. Folgt man der Scholz‘schen Argumentation, ließe sich die fiktive Neuregelung ohne Sinnverlust positiv formulieren und als ein verkehrsrechtlicher Sorgfaltsmaßstab verstehen: Wer im Straßenverkehr vorsichtig handeln will, muss die Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h sowie einen Abstand von mindestens 200 Meter zu einem vorausfahrenden Fahrzeug einhalten und darf weder überholen noch an anderen Fahrzeugen vorbeifahren. Ein solcher Gedanke ist gewöhnungsbedürftig. Wieso ist jemand unvorsichtig, wenn er außerhalb geschlossener Ortschaft auf einer Landstraße ohne Gegenverkehr mit 50 km/h ein Fahrzeug überholt, dessen Fahrer auf den sicheren Hafen schwört und seinen Tempomat auf 18 km/h einstellt? b) Umformulierung der Business Judgment Rule als Rechtsfortbildung Genau das postuliert aber Scholz im verbandsrechtlichen Kontext, wenn er den negativ gefassten § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG positiv formuliert. Er will eine Vorschrift, die den Vorstandsmitgliedern unter bestimmten Voraussetzungen ­einen Freibrief erteilt, als eine Norm verstehen, die die Geschäftsleiter zur ­Einhaltung dieser Voraussetzungen verpflichtet.135 Gewiss ist eine solche Um134 Ph. Scholz, Haftung, S.  84  ff.; ders. AG 2015, 222, 223.  Großzügiger Umgang mit dem Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch bei Ph. Scholz AG 2018, 173, 181 f. 135 Vor diesem Hintergrund stimmt die These Walter Bayers nicht, die positive Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ziehe keine inhaltlichen Änderungen nach sich (so aber Bayer NJW 2014, 2546, 2547). 248

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formulierung der Business Judgment Rule möglich. Da die Rechtswissenschaft bekanntlich eine Disziplin ist, die nicht streng formallogisch arbeitet, sondern Wertungen zugänglich ist,136 beenden die grammatikalischen und systematischen Erwägungen nicht die Diskussion um die dogmatische Einordnung der Business Judgment Rule. Gleichwohl wirft das Wortlautargument eine Frage auf, die Scholz nicht beantwortet: Welches methodisches Instrument erlaubt es, eine negativ gefasste Gesetzesbestimmung so zu deuten, dass sie einen positiven Einschlag hat und damit in das eigene dogmatische Konzept passt? Die Antwort ist einfach, provoziert aber eine Reihe weiterer, weitaus schwierigerer Fragen. Wer die Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des organschaftlichen Sorgfaltsmaßstabs versteht und von einem Pflichtenverstoß ausgeht, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt sind, betreibt Rechtsfortbildung. Nach dem klassischen Verständnis der juristischen Methodenlehre markiert der Wortlaut die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.137 Formuliert man die Business Judgment Rule ins Positive um, überschreitet man die Wortlautgrenze des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und legt damit das Gesetz nicht mehr aus, sondern korrigiert es. Dies bedingt eine erhöhte Argumentationslast.138 Wer rechtsfortbildend tätig ist, muss belegen, dass dem Gesetzgeber bei der Fassung einer Norm planwidrig ein Fehler unterlaufen ist und dass dieser Fehler zu Ergebnissen führt, die mit dem Telos der Norm nicht zu vereinbaren sind.139 Sieht man in der Umformulierung der Business Judgment Rule eine Rechtsfortbildung, fällt es bereits schwer, einen unbeabsichtigten Fehler des Gesetzgebers zu identifizieren. Es ist nämlich zu beachten, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon in der Fassung des UMAG-Referentenentwurfs negativ formuliert war und der Gesetzgeber trotz anderslautender Vorschläge während des Ge136 Zum Übergang von Begriffsjurisprudenz zur Interessenjurisprudenz und sodann zur Wertungsjurisprudenz statt vieler Möllers, Methodenlehre, §  4 Rn.  109, §  5 Rn. 19 ff. 137 Statt vieler Möllers, Methodenlehre, § 4 Rn. 36, § 13 Rn. 14; Wiedemann NJW 2014, 2407, 2409. 138 Zum Verhältnis zwischen der Auslegung und Rechtsfortbildung aus dem Blickwinkel der Argumentationslast Möllers, Methodenlehre, §  13 Rn.  10  f., der auf unterschiedlich hohen Begründungsaufwand hinweist. 139 Zu den einzelnen Schritten Möllers, Methodenlehre, §  6 Rn.  87  ff. Im klassischen Fall der Analogie wird diese Umschreibung dahingehend konkretisiert dass eine planwidrige Regelungslücke und vergleichbare Interessenlage erforderlich sind (statt vieler Möllers aaO § 6 Rn. 92 ff.). Bei einer teleologischen Reduktion wird der Nachweis gefordert, dass eine Norm planwidrig zu viele Fälle erfasst, die aus Wertungsgründen nicht unter die Norm passen (s. nur Möllers aaO § 6 Rn. 118). 249

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setzgebungsverfahrens – Scholz selbst weist auf ein Petitum des DAV-Handelsrechtsausschusses140 hin, das nicht aufgegriffen wurde141  – an dieser Formulierung festgehalten hat. Man mag diesem Umstand keine große Bedeutung beimessen, ist es doch nicht ungewöhnlich, dass sich der Gesetzgeber nicht mit allen Formulierungsvorschlägen auseinandersetzt, die ihm zugetragen werden. Speziell im Fall der Business Judgment Rule hat die Bundesregierung aber die dogmatische Kritik des Schrifttums am Referentenentwurf aufgegriffen und namentlich das zentrale Merkmal „ohne grobe Fahrlässigkeit“ durch den (ungewöhnlichen) Begriff „vernünftigerweise“ ersetzt.142 Die Vorschläge des Schrifttums sind also nicht auf taube Ohren des Gesetzgebers gestoßen, sondern wurden aus rein dogmatischen Gründen durchaus punktuell umgesetzt. Diese Zusammenschau der Diskussion während des Gesetzgebungsverfahrens weckt Zweifel daran, dass es sich bei der negativen Fassung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG um einen planwidrigen Formulierungsfehler handelt, der im Wege der Rechtsfortbildung behoben werden muss. Diese Zweifel werden verstärkt, wenn man sich der Frage widmet, ob die Deutung der Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des organschaftlichen Sorgfaltsmaßstabs tatsächlich teleologische Vorteile nach sich zieht. Im Gegenteil: Die Umformulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG führt zu Anwendungsproblemen, die vermieden werden können, wenn man es bei der negativen Fassung der Regelung belässt. Sie blendet die Möglichkeit aus, dass eine unternehmerische Entscheidung auch dann dem Gesellschaftswohl entsprechen kann, wenn sich die Vorstandsmitglieder unzureichend informiert haben. So wie man in einem Multiple-Choice-Test die richtige Antwort erraten kann, ohne ein Kenner des Testgebiets zu sein, so kann man eine „richtige“ Entscheidung treffen, ohne dass man den Informationsbeschaffungsobliegenheiten des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG genügt.143 Versteht man aber die Business Judgment Rule konsequent als eine Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabs, folgt aus unzureichender Information automatisch ein Pflichtverstoß. Man schneidet den Geschäftsleitern von vornherein die Option ab, ihre Entscheidung mit dem Argument zu verteidigen, sie entspreche dennoch dem Gesellschaftswohl.144 140 DAV-Handelsrechtsausschuss NZG 2004, 555, 556.  141 Ph. Scholz, Haftung, S. 85; ders. AG 2015, 222, 223. 142 S. schon oben in § 7 V 4. 143 Dies zeigt nicht zuletzt ein Urteil des OLG München zum AR-Beschluss über die Bestellung eines Vorstandsmitglieds (ZIP 2017, 372), auf das in § 15 I 1 zurückzukommen sein wird. 144 Hierzu noch in § 9 IV 4. 250

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Diese Möglichkeit mag bedeutungslos sein, wenn man die Business Judgment Rule nur als ein haftungsrechtliches Instrument begreift. Ist die auf unzureichender Informationsgrundlage getroffene Entscheidung „richtig“, entsteht der Gesellschaft kein Schaden, so dass ohnehin eine Voraussetzung des § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG fehlt. Auch ist es denkbar, auf die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens zurückzugreifen, um die haftungsrechtlichen Folgen der Informationspflichtverletzung einzudämmen.145 Diese Überlegungen sind aber hinfällig, wenn man die Auswirkungen der Business Judgment Rule auf die Willensbildungskontrolle in die Überlegungen einbezieht. Wie bereits in § 7 IV 3 erläutert, erfolgt die Willensbildungskontrolle in der Regel ex ante. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob eine unternehmerische Entscheidung in der fernen Zukunft einen Schaden nach sich ziehen wird; auch hilft das rechtmäßige Alternativverhalten als eine haftungsrechtliche Figur nicht weiter.146 Das Gericht kann aber aus der ex ante-Perspektive erwägen, ob die Entscheidung trotz unzureichender Information noch dem Wohl der Gesellschaft entspricht oder unvertretbar ist. Auch der Umgang mit Interessenkonflikten wird durch die Umdeutung der Business Judgment Rule ohne Not erschwert. Nach ganz herrschender Auffassung ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur dann einschlägig, wenn das Vorstands­ mitglied frei von Sonderinteressen gehandelt hat.147 Wollte man die Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des organschaftlichen Sorgfaltsstandards qualifizieren, handelte ein Vorstandsmitglied bereits dann pflichtwidrig, wenn er eine Entscheidung treffen würde, obwohl er sich in einem Interessenkonflikt befände.148 Eine solche Deutung steht allerdings nicht mit dem Leit145 Insoweit zutr. Ph. Scholz AG 2015, 222, 227. S. ferner Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 49, die den Schutzzweckgedanken aufgreifen, um die Haftungsfrage zu lösen. 146 Die Relevanz oder (potentielle) Kausalität, die im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht als Korrekturkriterien diskutiert werden (s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 12 f.), sind zwar mit der Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens funktional vergleichbar, spielen aber nur für Verfahrensfehler eine Rolle (s. Drescher in Beck­ OGK AktG §  243 Rn.  160; K. Schmidt in GK-AktG, 4.  Aufl., §  243 Rn.  40; für AR-Beschlüsse Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 166). Bei der BJR geht es hingegen um Inhaltsfehler. 147 Ausf. Darstellung mit Nachw., auch zu den abweichenden Stimmen, in § 8 IV 1. 148 In diese Richtung aber Ph. Scholz AG 2018, 173, 178 und 182, der augenscheinlich das Handeln ohne den Einfluss sachfremder Interessen als Gebot ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiterhandelns im unternehmerischen Bereich versteht (so wohl auch Arden, Haftung, S. 33). Allerdings relativiert Scholz diese strikte Aussage auf S. 184, indem er die Frage aufwirft, unter welchen Umständen konfliktbefangene Vorstandsmitglieder doch noch annehmen dürfen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Noch anders Ph. Scholz, Haftung, S. 102 f.; ders. AG 2015, 222, 229: Ver251

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bild des Aktiengesetzes im Einklang. Das Aktienrecht verbietet es befangenen Vorstandsmitgliedern nicht schlechthin, Entscheidungen für die Aktienge­ sellschaft zu treffen,149 sondern es erhöht die Warnstufe und setzt besondere Sicherheitsvorkehrungen in Gang.150 Bei Geschäften mit dem Vorstands­ mitglied wird die Gesellschaft nach § 112 AktG vertreten, in sonstigen Konfliktsituationen dient die organschaftliche Treuepflicht als Schutzinstrument zugunsten der Gesellschaft. Überdies verliert ein konfliktbefangenes Vorstandsmitglied die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Dieses fein austarierte System wird außer Kraft gesetzt, wenn man die Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des Pflichtenkanons deutet. Da die konsequent verfolgte Konkretisierungsthese diese Erwägungen nicht erlaubt, führt sie bei der Beschlusskontrolle zu sachwidrigen Ergebnissen und ist deshalb nicht geeignet, die Business Judgment Rule aus allen Blickwinkeln dogmatisch zu erfassen. 6. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Regelung der gerichtlichen Kontrolldichte a) Grundzüge der Konzeption Diese Ungereimtheiten kann man vermeiden, indem man die Business Judgment Rule – im Anschluss an Holger Fleischer,151 der sich seinerseits auf die US-amerikanischen Überlegungen gestützt hat152 – als eine Regelung versteht, die die Pflichten der Vorstandsmitglieder unangetastet lässt, die aber die gerichtliche Prüfungsdichte gegenüber dem Kontrollstandard des §  93 Abs.  1 stoß gegen versteckte Kompetenzregelung beim Handeln im verdeckten Interessenkonflikt. Im letztgenannten Fall spielt die Frage nach den Sorgfaltspflichten freilich eine untergeordnete Rolle, weil das Vorstandsmitglied nach herrschender Auffassung gegen die organschaftliche Treuepflicht verstößt, wenn er einen Interessenkonflikt nicht offenlegt (statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  161; Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 1527). 149 Ganz hM, s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 25 aE; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 105; Unmuth, Vergleich, S. 262 f.; Winnen, Innenhaftung, S. 253; Habersack ZHR 177 (2013), 782, 798; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 336; C. Schäfer ZGR 2014, 731, 744. AA Lutter, FS Priester, S. 417, 419, der befangenen Organmitgliedern die Mitwirkung an den fraglichen Maßnahmen untersagen will, ohne diese scharfe Rechtsfolge normativ zu verankern (anders aber augenscheinlich Lutter, FS Canaris II, S. 245, 250 f.). 150 Ausf. Darstellung der Schutzinstrumente bei Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 65 ff. 151 Fleischer ZIP 2004, 685, 689. S. auch M. Roth BB 2004, 1066, 1068, der aber später von dieser Einordnung abgerückt ist (s. nun Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 67). 152 Hierzu statt vieler Jena, Business Judgment Rule, S. 106 ff.; Eisenberg Der Konzern 2004, 386 ff. mwN. 252

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Satz 1 AktG lockert. Folgt man diesem Vorschlag, ist die Richtschnur für das Vorstandshandeln und damit auch für die gerichtliche Kontrolle innerhalb und außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG grundsätzlich gleich. Sieht man von der Legalitätspflicht ab,153 ist maßgeblich, ob die Geschäftsleiter zum Wohle der Gesellschaft handeln. Der Unterschied liegt aber darin, wer die Definitionsmacht hinsichtlich des Gesellschaftswohls hat. Im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule obliegt es den Geschäftsleitern festzulegen, was das Gesellschaftswohl ausmacht und wie es verwirklicht wird. Die Gerichte haben sich aus diesem Vorgang fernzuhalten und dürfen lediglich kontrollieren, ob die Geschäftsleiter nicht in einem Interessenkonflikt verwickelt waren und vernünftigerweise annehmen durften, auf angemessener Informationsgrundlage das Unternehmenswohl zu fördern.154 Ordnet man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung der gerichtlichen Prüfungsdichte ein, ist insbesondere zu klären, was man unter „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ versteht. Das Schrifttum liest diese Formulierung wie ein klassisches Tatbestandsmerkmal,155 was konsequent ist, wenn man die Business Judgment Rule im haftungsrechtlichen Kontext verortet und die Frage stellt, ob ein Vorstandsmitglied pflichtwidrig gehandelt hat. Bei einer solchen Lesart ist das Handeln zum Wohl der Gesellschaft eine Voraussetzung, die erfüllt sein muss, um eine Vermutung sorgfältigen Verhaltens aufstellen bzw. um einen Tatbestandsausschluss annehmen zu dürfen.156 Diese Deutung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist jedoch nicht zwingend. Begreift man die Business Judgment Rule als eine Regelung der gerichtlichen Kontrolldichte, umschreibt die Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ das gerichtliche Kontrollpro153 Begründet man die Legalitätspflicht mit der wohl herrschenden Auffassung mit dem allgemeinen Geltungsanspruch der Rechtsordnung (so Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  6; Holle, Legalitätskontrolle, 36 ff.), determiniert nicht das Gesellschaftswohl das Vorstandshandeln, sondern entscheidend sind allein die Gesetzesvor­ gaben; s. etwa Adolff, FS Baums, S. 31, 33; Holle AG 2011, 778, 784. Für eine rein gesellschaftsrechtliche Begründung der Legalitätspflicht Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 89 ff. 154 In diese Richtung auch Paefgen AG 2004, 245, 249. 155 So etwa Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 84; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 15; Sailer-Coceani in K.  Schmidt/Lutter AktG §  93 Rn.  13; Wachter/Link AktG §  93 Rn.  24; M. Arnold in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  22.19.  Für die GmbH Scholz/​ U.H. Schneider GmbHG § 43 Rn. 55. 156 Zur Einordnung der BJR als unwiderlegbare Vermutung oder Tatbestandsausschluss s. die Nachw. in Fn. 85. 253

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gramm und ist damit auf der Rechtsfolgenseite verortet. Trifft das Vorstandsmitglied eine unternehmerische Entscheidung und hält es dabei die proze­ duralen Vorgaben des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ein, wird die richterliche Prüfungsdichte hinsichtlich des Entscheidungsinhalts gelockert. §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG bringt zum Ausdruck, dass das Wohl der Gesellschaft der Referenzpunkt der gerichtlichen Inhaltskontrolle ist; „vernünftigerweise annehmen dürfen“ legt die Prüfungsdichte fest.157 Die dogmatische Einordnung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG als Regelung der richterlichen Prüfungsdichte weist im Vergleich zu den anderen Deutungsmustern eine Reihe von Vorzügen auf. Zunächst ermöglicht sie, die übermäßige Schärfe der Geschäftsleiterhaftung zu mildern und steht damit – anders als der Ansatz Joachim von Falkenhausens  – im Einklang mit der gesetzgeberischen Intention sowie der systematischen Verortung der Business Judgment Rule. Versteht man die Formulierung „vernünftigerweise annehmen dürfen“ nicht allzu eng,158 gewährt man den Vorstandsmitgliedern einen hinreichend großen sicheren Hafen. Damit hat diese Konzeption in der praktischen Rechtsanwendung alle Vorteile der Lesart Gregor Bachmanns, sie knüpft aber nicht an den Verschuldensmaßstab an und trägt dadurch dem Umstand Rechnung, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch im Rahmen der Willensbildungskontrolle eine maßgebliche Rolle spielt. Schließlich lässt sie sich ohne weiteres mit der negativen Gesetzesfassung vereinbaren und zeigt somit, dass die Rechtsfortbildung, die mit der von Philipp Scholz favorisierten Umformulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einhergeht, unnötig ist. Trotz dieser Vorzüge mag die Abspaltung des Sorgfaltsmaßstabs von der Intensität der richterlichen Kontrolle Abwehrreflexe auslösen, weil ein solcher Vorgang sonst im deutschen Zivilrecht unüblich ist. Stellt eine zivilrechtliche Norm Verhaltensanforderungen auf, prüft das Gericht in einer Prozesssituation, ob der Normadressat diese Anforderungen erfüllt hat. Überlegungen, wie intensiv die richterliche Kontrolle sein darf, sind aus einer klassisch zivilistischen Perspektive ungewöhnlich.159 Gleichwohl zeigt ein Blick auf die öffentlich-rechtliche Diskussion, dass eine solche Abkoppelung nicht nur theoretisch denkbar ist, sondern zum Standardrepertoire der Fachdisziplin gehören 157 Hierzu noch ausf. in § 8 I. 158 Dazu in § 8 I 2. 159 Krit. deshalb S. Binder, Vorstandshaftung, S. 151; Eisele, Hafen, S. 233; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 270 f.; Kutscher, Organhaftung, S. 55 Fn. 125; Freitag/ Korch ZIP 2012, 2281, 2282. So ferner von Falkenhausen NZG 2012, 644, 651: „für das deutsche Zivilrecht durchaus neuartig“ – gleichwohl mit dem Vorschlag, gesetzlich den richterlichen Überprüfungsstandard einzuschränken. 254

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Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

kann. Ist man dem intradisziplinären Gedankentransfer nicht gänzlich abgeneigt, spricht nichts dagegen, auch im Verbandsrecht ähnliche Wege zu gehen, zumal die Einordnung der Business Judgment Rule als Regelung der richterlichen Prüfungsdichte – wie soeben dargelegt – sich mit dem Wortlaut und der Systematik des § 93 Abs. 1 AktG vereinbaren lässt und geeignet ist, das vom Gesetzgeber intendierte Regelungsziel zu erreichen, den Geschäftsleitern einen sicheren Hafen zu gewähren. b) Abspaltungslösung als Anerkennung „haftungsfreier Pflichtverletzung“? Mehr dogmatisches Gewicht als das Unbehagen, neue Wege zu gehen, hat die Sorge, die zuerst Christoph Brömmelmeyer geäußert hat: Die Entkoppelung des Pflichtenstandards von der richterlichen Kontrolldichte führe dazu, dass schuldhafte Pflichtverletzungen im Einzelfall ungeahndet bleiben könnten und §  93 Abs.  1 AktG zu einer lex imperfecta verkommen würde.160 Dieses Argument knüpft an eine Debatte aus dem ARAG-Zeitalter an, in dem manche Autoren die Figur des „haftungsfreien Fehlverhaltens“ anerkennen wollten,161 dieser Vorschlag aber im Schrifttum auf Kritik gestoßen ist.162 Es stimmt in der Tat bedenklich, ein Vorstandsmitglied, das sich pflichtwidrig und schuldhaft verhalten hat, sehenden Auges nicht haften zu lassen. Eine solche Situation droht aber nicht, wenn man den Sorgfaltsstandard von der gerichtlichen Kontrolldichte abkoppelt. Bei Lichte betrachtet hat diese dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entgegen der missverständlichen Deutung Brömmelmeyers nichts mit der Figur des „haftungsfreien Fehlverhaltens“ zu tun.163 Hat ein Gericht nach einer weniger intensiven, an § 93 Abs. 1 160 Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 2069.  Dem folgend S.  Binder, Vorstandshaftung, S. 151; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 268 ff. In diese Richtung auch Eisele, Hafen, S. 232 f.; Loth, Haftung, S. 52; Winnen, Innenhaftung, S. 101, 105 (alle zur Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als unwiderlegbare Vermutung). 161 So etwa Horn ZIP 1997, 1129, 1133: Es sei an Fälle zu denken, in denen selbst ein solches unternehmerisches Verhalten haftungsfrei bleiben müsse, das man an sich als grob fahrlässig einstufen könne. Nach Kodifizierung der BJR Horn, FS H.P. Westermann, S. 1053, 1062 f.: Auch im haftungsprivilegierten Bereich des Ermessens lägen „an sich“ Pflichtverletzungen vor, für die aber eine Haftung ausgeschlossen werde. S.  ferner zum US-amerikanischen Recht Hopt, FS Mestmäcker, S.  909, 920: Haftungsfreiraum bis in den Bereich der groben Fahrlässigkeit. 162 Krit. Kindler ZHR 162 (1998), 101, 104. Im Anschluss an Kindler auch M. Roth, Ermessen, S. 37, 98 („Problem einer haftungsfreien Pflichtverletzung“). 163 Anders wohl Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 75, der der Entkoppelungsthese folgt und zugleich das Konzept der haftungsfreien Pflichtverletzung gutheißt. 255

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

Satz  2 AktG ausgerichteten Prüfung festgestellt, dass ein Vorstandsmitglied den Anforderung der Business Judgment Rule genügt hat, gilt dessen Verhalten als pflichtenkonform; ein etwaiger Vorstandsbeschluss ist wirksam. Da sich die Kontrollmöglichkeiten anderer Organmitglieder und Organe  – wie bereits in § 2 VI herausgearbeitet – nach der Intensität der gerichtlichen Prüfung richtet, kann keine Instanz die Vorstandsentscheidung als pflichtwidrig deklarieren.164 Es liegt schlicht keine schuldhafte Pflichtverletzung vor, die haftungsfrei bleibt. Schränkt man also die richterliche Kontrolldichte ein, weitet man automatisch den Bereich aus, in dem das Vorstandshandeln als pflichtenkonform gilt. c) Materiell-rechtliche Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Hindernis? Gegen die Einordnung der Business Judgment Rule als Lockerung der gerichtlichen Kontrolldichte bringt zudem Sabrina Binder vor, dass der Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG für eine materiell-rechtliche Qualifizierung spreche und im Aktienrecht eine mit § 114 VwGO vergleichbare Vorschrift fehle, die an das Gericht adressiert sei.165 Dieser Einwand beruht auf einem doppelten Missverständnis: Zum einen wird das Zusammenspiel zwischen dem materiellen Recht und der gerichtlichen Kontrolldichte fehlgedeutet, zum anderen wird die Funktion des § 114 Satz 1 VwGO unzutreffend erfasst. Auch wenn die Letztentscheidungskompetenzen der Verbandsrechtsakteure einen materiell-rechtlichen Charakter haben, wirken sie sich auf die gerichtliche Kontrolldichte aus. Ein ähnliches Zusammenspiel zwischen der materiell-rechtlichen und prozessualen Ebene erfolgt im Beweisrecht. Es entspricht der herrschenden Auffassung, dass Beweislastregeln ihren Ursprung im materiellen Recht haben, wenn die Norm, deren Voraussetzungen nicht feststellbar sind, dem materiellen Recht angehört.166 Dies ändert nichts daran, dass sie ihre Bedeutung vor allem im gerichtlichen Verfahren offenbaren, wenn es um 164 Dies berücksichtigt etwa Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 207 nicht. 165 So S. Binder, Vorstandshaftung, S. 150 f. In diese Richtung (wenn auch ohne Bezugnahme auf § 114 VwGO) ferner Möslein, Leitungsmacht, S. 46 f.: Verortung auf Ebene der Pflichtbindung führe nicht zur Einschränkung der richterlichen Kontrolldichte. 166 BGH NJW-RR 1988, 831; BGH NJW 2014, 2275 Rn. 11. S. ferner Prütting in MüKoZPO §  286 Rn.  140  ff.: Beweislastnormen seien Teil des Rechts der jeweils anzu­ wendenden Materie. Zu abweichenden Stimmen s. Prütting in HdB der Beweislast Kap. 11 Rn. 16. 256

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Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

die Frage geht, welche Partei das Risiko eines non liquet tragen muss;167 eine im materiellen Recht angesiedelte Beweislastregel beeinflusst die richterliche Entscheidungsfindung. Nach einem ähnlichen Muster funktioniert §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG, der den Vorstandsmitgliedern auf materiell-rechtlicher Ebene eine Letztentscheidungskompetenz einräumt und sich damit auf die gerichtliche Tätigkeit auswirkt.168 „Materiell-rechtliche“ Einschätzungsprärogativen und „prozessuale“ Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte sind zwei Seiten derselben Medaille.169 Dies gilt auch dann, wenn das Prozessrecht keine Norm enthält, die den Umfang der gerichtlichen Kontrolle ausdrücklich festlegt. Auch in dieser Hinsicht ist eine intradisziplinäre Analyse hilfreich. Wie bereits in § 5 I erläutert, regelt § 40 VwVfG das Rechtsfolgenermessen der Verwaltungsbehörden auf der materiell-rechtlichen Ebene; sein prozessuales Pendant ist in § 114 Satz 1 VwGO verortet. Diese Doppelung mag bei einer vordergründigen Betrachtung – die nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass das gesellschaftsrechtliche Schrifttum einer intradisziplinären Analyse skeptisch gegenübersteht170 – einen tieferen Sinn ergeben: Was materiell-rechtlich angeordnet ist, wird im Prozessrecht gespiegelt. Eine eingehende Lektüre des verwaltungsrechtlichen Schrifttums zeigt aber, dass § 114 Satz 1 VwGO inzwischen bedeutungslos und nur entstehungsgeschichtlich zu erklären ist. Als die Verwaltungsgerichtsordnung 1960 in ihrer Ursprungsfassung verabschiedet wurde,171 war das Rechtsfolgenermessen der Verwaltungsbehörden als allgemeiner Grundsatz des Verwaltungsrechts anerkannt, aber nicht gesetzlich festgeschrieben.172 Der Gesetzgeber wollte mit 167 S. Foerste in Musielak/Voit ZPO § 286 Rn. 32; Laumen in HdB der Beweislast Kap. 9 Rn. 10. 168 Insoweit zutr. Freitag/Korch ZIP 2012, 2281, 2282. 169 Treffend im verwaltungsrechtlichen Kontext Maurer/Waldhoff VerwR § 7 Rn. 6: Die Lockerung der Gesetzesbindung lockere auch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle. Vgl. ferner K. Redeker DÖV 1971, 757: „Je weitere Gewährung von Ermessen, desto geringere Kontrolldichte; je stärker das Ermessen eingeschränkt wird, um so stärkere Kontrolldichte, um so ausgedehnteres Letztentscheidungsrecht der Gerichte.“ Im aktienrechtlichen Kontext in eine ähnliche Richtung Kutscher, Organhaftung, S.  55 Fn.  125: Die Prüfungsdichte hänge von den Vorgaben des materiellen Rechts ab. S. ferner Lüpkemann, Ermessen, S. 41. 170 Zu den krit. Stimmen s. § 4 II 2 und 3. 171 BGBl. I 1960, S. 17. 172 Zur Anerkennung des Ermessens vor Kodifikationen vgl. Sachs in Stelkens/Bonk/ Sachs VwVfG §  40 Rn.  4.  S.  auch zu §  114 Abs.  5 VwGO-E RegBegr VwGO BTDrucks. III/55, S. 32: „Dieser Zusatz ist bei den Vorschriften über den Urteilsinhalt 257

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

§ 114 Satz 1 VwGO klarstellen, dass die Verwaltungsgerichte nur Rechtskon­ trolle und keine Zweckmäßigkeitskontrolle ausüben.173 Erst 1976 wurde das Ermessen in § 40 VwVfG materiell-rechtlich kodifiziert,174 womit § 114 Satz 1 VwGO seine Bedeutung verloren hat.175 Der Gesetzgeber könnte § 114 Satz 1 VwGO streichen, ohne dadurch die gerichtliche Prüfungsdichte auf der Rechtsfolgenseite zu verändern; die Gerichte könnten die Intensität ihrer Kontrolle allein nach § 40 VwVfG bestimmen. Dass eine prozessuale Norm nicht erforderlich ist, um die gerichtliche Prüfungsdichte zu steuern, zeigen auch die sonstigen Arten behördlicher Letztentscheidungskompetenzen.176 Weder für die Beurteilungsermächtigungen auf der Tatbestandsebene noch für das Planungs- oder Regulierungsermessen enthält die Verwaltungsgerichtsordnung eine Vorschrift, die wie §  114 Satz  1 VwGO die Intensität der richterlichen Kontrolle ausdrücklich bestimmt.177 Dennoch werden diese Figuren, die ihren Ursprung im materiellen Recht haben, wie das Rechtsfolgenermessen im Kontext der richterlichen Prüfungsdichte diskutiert. Betrachtet man die verwaltungsrechtliche Entwicklung aus dieser Perspektive, wird deutlich, dass eine prozessrechtliche Norm nicht geboten, weil diese Vorschriften des materiellen Verwaltungsrechts nach der Aufhebung der Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder sonst in keinem formellen Gesetz des allgemeinen Verwaltungsrechts niedergelegt sind und eine Lücke in dieser Hinsicht u. U. unangenehme Folgen haben kann.“ 173 RegBegr VwGO BT-Drucks. III/55, S. 32: „Insbesondere sollte eindeutig klargestellt werden, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit nur Rechtskontrolle ausübt, innerhalb der Ermessensgrenze dagegen Fragen der Zweckmäßigkeit, Unbilligkeit und Angemessenheit außer acht zu lassen hat.“ (zu § 114 Abs. 5 VwGO-E). S. auch Eyermann/ Rennert VwGO § 114 Rn. 1; Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 7. 174 BGBl. I 1976, S. 1253. Zur lediglich klarstellenden Bedeutung des § 40 VwVfG RegBegr VwVfG BT-Drucks. 7/910, S. 61 (zu § 36 VwVfG-E); Eyermann/Rennert VwGO § 114 Rn. 2. 175 Gerhardt in Schoch/Schneider/Bier VwGO, Grundwerk, §  114 Rn.  2; Eyermann/ Rennert VwGO § 114 Rn. 2 f. Mehr Gewicht räumen § 114 Satz 1 VwGO bei: Riese in Schoch/Schneider/Bier VwGO § 114 Rn. 3 f.; Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 7, 15. 176 Zur Unvollständigkeit des § 114 Satz 1 VwGO s. etwa Wolff in Sodan/Ziekow VwGO § 114 Rn. 16. 177 Dies zeigt auch die Streichung des § 4a Abs. 2 UmwRG aF, in dem die gerichtliche Kontrolldichte auf der tatbestandsebene im umweltrechtlichen Fällen kodifiziert wurde. Wie bereits in § 5 V 4 a erläutert, wurde § 4a Abs. 2 UmwRG aF aufgehoben, weil er keinen Mehrwert hatte. Die gerichtliche Kontrolldichte folgt in diesem Bereich ohnehin aus den materiell-rechtlichen Vorgaben, so dass ein prozessrechtliches Pendant nicht erforderlich ist. 258

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Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

zwingend erforderlich ist, um § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine materiell-rechtliche Regelung zu qualifizieren, die die gerichtliche Kontrolldichte bestimmt. d) Praktische Einwände Die Abkoppelung der Kontrollintensität vom Sorgfaltsstandard führt dazu, dass – wie schon in § 7 V 6 a in Grundzügen erläutert – die gerichtliche Prüfungsdichte innerhalb und außerhalb der Business Judgment Rule variiert. Ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, ist die Kontrolle tendenziell locker; greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein, wird die Prüfung intensiviert. Gegen diese Ausdifferenzierung der Kontrollintensität werden Argumente vorgebracht, die eher praktischer Natur sind. So betont Mathias Habersack, dass ein Organmitglied auch jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG keiner Erfolgshaftung unterliege und dass die Sicherheit, die § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG biete, begrenzter Natur sei und allenfalls marginal über derjenigen liege, die das Organmitglied im Rahmen des § 93 Abs. 1 S. 1 AktG genieße.178 Philipp Scholz fügt hinzu, dass eine Differenzierung zwischen unterschiedlich strengen Vertretbarkeitsmaßstäben in Bezug auf den Entscheidungsinhalt – etwa zwischen „vertretbar“ und „nicht schlechterdings unvertretbar“  – rechtspraktisch kaum durchzuhalten sei.179 Überdies sei es bemerkenswert, dass sich die aktienrechtlichen Standardkommentare nicht zu der Frage äußern würden, wie der (gegenüber der Business Judgment Rule subsidiäre) Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG aussehen solle.180 Die These, die Unterschiede zwischen §  93 Abs.  1 Satz  1 und 2 AktG seien marginal, trifft jedenfalls nicht zu, wenn die Geschäftsleiter ihr Handeln nicht nur am Wohl der Gesellschaft auszurichten haben, sondern für die Legalität ihres Handelns sorgen müssen und deshalb keine unternehmerische Entscheidungen treffen.181 Geht es um die Legalitätspflicht, die aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG hergeleitet wird,182 ist nach herrschender Meinung nicht das Gesellschaftswohl entscheidend, sondern die Einhaltung der Rechtsordnung.183 In diesen Fällen unterscheiden sich die Kontrollbefugnisse der Gerichte beträchtlich. Während der von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfasste Bereich einer nur ein178 So Habersack ZHR 177 (2013), 782, 799.  179 Vgl. Ph. Scholz AG 2018, 173, 181: äußerst diffizile Differenzierung. 180 Ph. Scholz AG 2018, 173, 183. 181 Zur Ausgrenzung von Gesetzesvorgaben aus dem Anwendungsbereich der BJR s. noch in § 8 II 1 und 5. 182 Für eine Zuordnung zum allgemeinen Sorgfaltsmaßstab statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 6. 183 S. bereits die Nachw. in Fn. 153. 259

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

geschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt, werden Verstöße gegen die Legalitätspflicht nach überwiegender Ansicht grundsätzlich vollständig überprüft.184 Vor diesem Hintergrund kann der Gleichlauf zwischen §  93 Abs.  1 Satz 1 und 2 AktG nur in Fällen angenommen werden, in denen die Geschäftsleiter unternehmerische Entscheidungen treffen.185 Aber selbst dann, wenn man nur die unternehmerischen Entscheidungen im Blick hat, überzeugt es nicht, die Unterschiede zwischen § 93 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG als bloße Marginalien zu bezeichnen.186 Der Umstand, dass § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG generalklauselartig formuliert ist und deshalb keine handfesten Kriterien für die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte bietet, führt nicht dazu, dass er einen (nahezu) gleichen Inhalt hat wie die Business Judgment Rule. Es zeigt sich insbesondere in Fällen, in denen die einzelnen Vorstandsmitglieder von Sonderinteressen beeinflusst sind, dass ein Bedürfnis dafür besteht, die Intensität der richterlichen Kontrolle zu variieren. Handelt ein Geschäftsleiter unbefangen, ist die Chance, dass er seine Entscheidungen allein am Gesellschaftswohl ausrichtet, höher, als wenn die Entscheidungsfindung durch Sonderinteressen beeinflusst ist. Bei einem befangenen Organmitglied wächst die Gefahr, dass es (bewusst oder unbewusst) gesellschaftsfremde Interessen dem Unternehmenswohl vorzieht. Im Hinblick darauf ist es gerechtfertigt, die gerichtliche Kontrolle über das in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG festgelegte Niveau zu intensivieren und nicht bereits dann von einem pflichtkonformen Handeln auszugehen, wenn das Vorstandsmitglied „vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“.187 Ebenfalls spricht viel dafür, die richterliche Kontrolle zu intensivieren, wenn das Vorstandsmitglied nicht davon ausgehen durfte, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Freilich erweist sich die Differenzierung zwischen der gerichtlichen Kontrolldichte innerhalb und außerhalb der Business Judgment Rule als anspruchsvoll. Die praktischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs sind aber kein hinreichender Grund, um auf einem Gleichlauf zwischen § 93 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG zu beharren.188 Die Probleme, die mit der Abgrenzung unterschiedlicher dogmatischer Kategorien einhergehen, sind 184 Zum Streit über die Behandlung unbestimmter Rechtsbegriffe s. noch § 8 II 5. 185 Davon geht augenscheinlich auch Ph. Scholz AG 2018, 173, 174 aus, der sich mit § 93 Abs. 1 AktG ausschließlich im Hinblick auf unternehmerische Entscheidungen beschäftigt. 186 So auch Bachmann WM 2015, 105, 111. 187 S. dazu noch § 8 IV 1. 188 In diese Richtung auch Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 159 ff. 260

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Dogmatische Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

keine Besonderheit des Aktienrechts, sondern sie begegnen den Rechtsanwender an verschiedenen Stellen. So gehört es zu den Standardaufgaben des deutschen Arbeitsrechts, im Kontext der beschränkten Arbeitnehmerhaftung zwischen der groben, mittleren und leichten Fahrlässigkeit zu differenzieren.189 Diese Aufgabe müssen auch diejenigen Gesellschaftsrechtler bewältigen, die für eine Regressreduzierung im Rahmen der Vorstandshaftung plädieren.190 Im Zivilrecht wie im Strafrecht ist es mühsam, den Unterscheid zwischen bedingtem Vorsatz, bewusster Fahrlässigkeit und unbewusster Fahrlässigkeit zu erkennen.191 Trotz dieser Schwierigkeiten verzichtet die Rechtsordnung nicht auf diese Kategorien, sondern sie versucht, die zwischen ihnen verlaufenden Grenzen präziser zu zeichnen. Vor diesem Hintergrund sollte man nicht vor der Aufgabe kapitulieren, die gerichtliche Prüfungsdichte innerhalb des sicheren Hafens der Business Judgment Rule von der Kontrollintensität in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abzugrenzen. Diese Herausforderung haben die Rechtsprechung und das Schrifttum angenommen. Schon ein flüchtiger Blick in die aktienrechtlichen Kommentare zeigt, dass die an der Diskussion beteiligten Akteure nicht nur §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG in den Griff bekommen wollen, sondern darüber hinaus – entgegen der Behauptung von Scholz192 – versuchen, die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG zu konkretisieren, und zwar auf dieselbe Art und Weise, wie sonstige zivilrechtliche Generalklausel ausgefüllt werden: durch Fallgruppenbildung. Diese Vorgehensweise, die für § 242 BGB oder § 826 BGB kennzeichnend ist,193 mag nicht optimal sein, sie ist aber dem Umstand geschuldet, dass der Gesetzgeber nicht alle Lebenssituationen durch klar konturierte Normen erfassen kann und die Konkretisierungsaufgabe auf die Ebene der Rechtsanwendung delegiert. In einem solchen Fall kann weder von den 189 Statt vieler Baumgärtner in BeckOK BGB § 611a Rn. 75; Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 50 ff., 83 ff., 108 f.; Mayer-Maly AcP 163 (1964), 114 ff. Auf die Unschärfen bei der Bestimmung des Fahrlässigkeitsmaßstabs weist im Kontext des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 339 hin. 190 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 51 f. mwN. 191 Zur theoretischen Unterscheidung etwa Lorenz in BeckOK BGB § 276 Rn. 18; Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/Schröder StGB § 15 Rn. 72 ff., 203. Zu den Schwierigkeiten in der praktischen Anwendung im Zivilrecht Harnos BKR 2012, 185, 187 ff.; ders. ZBB 2015, 176, 180 f. 192 Dass diese Behauptung nicht zutrifft, wird überdies in § 9 IV 1 deutlich. Dort wird der kontroverse Meinungsstand zu der Frage dargestellt, wie mit den Fällen umzugehen ist, in denen die prozeduralen Voraussetzungen der BJR nicht vorliegen. 193 Exemplarisch Wendtland in BeckOK BGB §  138 Rn.  63  ff.; Spindler in BeckOGK BGB § 826 Rn. 30 ff. 261

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Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder

Gerichten noch von der Literatur gefordert werden, Aussagen über den Anwendungsbereich einer Vorschrift mit mathematischer Präzision zu treffen. Vielmehr beschränkt sich die Aufgabe der Rechtsanwender darauf, den abstrakt gefassten Vorgaben schrittweise mehr Konturen zu verleihen und für einzelne Fallgruppen zu bestimmen, wann der Normadressat die Grenzen des Zulässigen überschritten hat.194 Einen weiteren Baustein bei der Konkretisierung des gerichtlichen Prüfungsprogramms innerhalb und außerhalb der Business Judgment Rule will die ­vorliegende Untersuchung liefern. Die vorstehenden Überlegungen haben angedeutet, dass die Intensität der gerichtlichen Kontrolle in mehrere Stufen unterteilt werden kann. Der gerichtliche Zugriff ist am lockersten, wenn alle Voraussetzungen des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG erfüllt sind; Einzelheiten hierzu werden in § 8 ausbuchstabiert. Ist die Business Judgment Rule nicht einschlägig, verändert sich das gerichtliche Prüfungsprogramm. Es wird in § 9 herausgearbeitet, dass die gerichtliche Prüfungsdichte zwischen der vollen rechtlichen Kontrolle und der Vertretbarkeitskontrolle variiert, je nachdem, an welchem Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Anwendung der Business Judgment Rule scheitert.

194 Bei Lichte besehen bemüht sich auch die Kommentarliteratur im Zusammenhang mit der BJR um Fallgruppenbildung, s. nur Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 77 ff. Die Arbeitsweise ist also innerhalb und außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ähnlich. 262

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§ 8 Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Gerichtliches Prüfungsprogramm nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG 1. Referenzpunkt: Wohl der Gesellschaft Die Untersuchung der gerichtlichen Prüfungsdichte im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule setzt zweckmäßigerweise an der Rechtsfolge des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG an: Erst wenn man herausgefunden hat, welche Intensität der gerichtlichen Kontrolle § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zulässt, kann man die Reichweite der einzelnen Tatbestandsmerkmale im Lichte teleologischer Erwägungen bestimmen. Wie bereits erläutert, konkretisiert die Business Judgment Rule das gerichtliche Prüfungsprogramm: Das Wohl der Gesellschaft beschreibt den Referenzpunkt und „vernünftigerweise annehmen dürfen“ die Kontrollintensität. Die Schwierigkeiten der richterlichen Kontrollaufgabe zeigen sich bereits bei der Bestimmung des Referenzpunkts. Es ist bis heute nicht klar herausgearbeitet, was das Wohl der Gesellschaft ausmacht. Die UMAG-Gesetzesmaterialien sprechen von der „langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen“.1 Diese Umschreibung erleichtert eine erste Annäherung an den Begriff des Gesellschaftswohls, verdunkelt aber den Zusammenhang zwischen dem Wohl der Gesellschaft im Sinne des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG und der Diskussion um das Unternehmensinteresse, die im Kontext des § 76 Abs. 1 AktG geführt wird.2 Bei Lichte betrachtet geht es in § 76 Abs. 1 und § 93 Abs. 1 AktG um dieselbe Frage:3 Welches Ziel muss der Vorstand im Rahmen der Leitung und Ge1 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 2 S. aber Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 320 ff., der in der Wortwahl des Gesetzgebers ein Zeichen dafür sieht, dass dieser den Streit zwischen der monistischen und pluralistischen Konzeption im Kontext des § 76 Abs. 1 AktG bewusst nicht entscheiden wollte. 3 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  93 AktG Rn.  23; Hölters AktG §  93 Rn.  37; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 98; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 24; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 199; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 80 f.; Holle AG 2011, 778, 784; J. Koch ZGR 2006, 769, 790. In diese Richtung auch Sailer-Coceani in K.  Schmidt/Lutter AktG §  93 Rn.  18; Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  54; Eisele, Hafen, S. 228 (erhebliche Überschneidung zwischen § 93 Abs. 1 Satz 2 und § 76 Abs. 1 AktG); M. Roth, Ermessen, S. 88 f. Diesen Zusammenhang bestreitet aber etwa Sey263

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

schäftsführung der Gesellschaft verfolgen? Während die Vertreter der monistischen Zielkonzeption auf dem Standpunkt stehen, der Vorstand müsse im Sinne eines shareholder-value-Ansatzes vorrangig die Interessen der Aktionäre verfolgen und den Ertragswert des Unternehmens erhöhen,4 befürwortet die wohl herrschende Ansicht eine interessenpluralistische Konzeption und räumt dem Vorstand die Befugnis ein, zwischen den Interessen der betroffenen stakeholder – also nicht nur der Aktionäre, sondern auch der Arbeitnehmer, Gläubiger, Kunden und des Gemeinwohls – abzuwägen.5 Das Aktiengesetz und seine Entstehungsgeschichte liefern eine Fülle von Argumenten, die sowohl für die eine als auch für die andere Auffassung aufgegriffen werden können.6 Die seit den 1920er Jahren geführte7 und durch größere und kleinere Aktienrechtsreformen immer wieder aufs Neue befeuerte Debatte hat das Problem nicht gelöst und wird es – vorbehaltlich einer eindeutigen Positionierung durch den Gesetzgeber – auch in der Zukunft nicht lösen. Deshalb erscheint es müßig, diesen Streit in aller Ausführlichkeit noch einmal auszubreiten, zumal dessen praktischer Ertrag gering ist, weil sich die gegenläufigen Positionen im Laufe der Zeit stark aneinander angenähert haben. Die Befürworter der monistischen Zielkonzeption stellen auf das langfristige Aktionärsinteresse ab, was dazu führt, dass der Vorstand auch die Belange farth VorstandsR §  23 Rn.  30.  Anders auch Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe ­GmbHG §  43 Rn.  112  ff., 130, der das Merkmal „Wohl der Gesellschaft“ allein als Quelle des Loyalitätsgebots versteht (krit. zu dieser Einordnung in § 8 I 2 und IV 1). 4 Dafür insb. Fleischer in BeckOGK AktG § 76 Rn. 29 ff.; Hölters AktG § 93 Rn. 37; Hölters/M. Weber AktG § 76 Rn. 19 ff.; Mülbert, FS Röhricht, S. 421, 424 ff.; Paefgen, Entscheidungen, S. 38 ff.; Lübke, FS Müller-Graff, S. 266, 269 ff. 5 Vgl. statt vieler Hüffer/J. Koch AktG §  76 Rn.  28  ff.; Spindler in MüKoAktG §  76 Rn. 64 ff.; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 325; Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 106 ff. 6 Exemplarisch sei die große Aktienrechtsreform 1965 genannt. Die Streichung der (in § 70 AktG 1937 noch enthaltenen) Gemeinwohlklausel wird unter Berufung auf die RegBegr (s. Kropff AktG S. 97) verbreitet dahingehend verstanden, dass der Gesetzgeber den Gesetzestext von einer Selbstverständlichkeit befreien wollte und der Vorstand deshalb zu einer interessenpluralistischen Leitung verpflichtet ist (so etwa Schrage, Steuergestaltungen, S. 81 f.; Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 106 f.; J. Vetter ZGR 2018, 338, 351  f.). Andere leiten aus einem abgelehnten Änderungsantrag (Kropff AktG S. 97 f. [Ausschußbericht]) her, dass die Gemeinwohlbindung 1965 entfallen ist (so Paefgen, Entscheidungen, S.  48  ff.; Mülbert ZGR 1997, 129, 148; ders. AG 2009, 766, 770). Außerdem wurde etwa das KonTraG als Beleg für die shareholder-Orientierung des Aktienrechts aufgeführt, s. Mülbert, FS Röhricht, S. 421, 433 ff. 7 Überblick über die Diskussion bei Schrage, Steuergestaltungen, S. 65 ff.; Fleischer ZGR 2018, 703, 706 ff. 264

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Gerichtliches Prüfungsprogramm nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

anderer Interessengruppen berücksichtigen darf.8 Der Unterschied scheint lediglich darin zu liegen, dass der monistische Ansatz eine Vorgewichtung zugunsten der Aktionäre vornimmt, während das pluralistische Konzept auf eine solche Vorgewichtung verzichtet. Folgt man diesem moderaten shareholder-value-Ansatz oder der vorherrschenden interessenpluralistischen Konzeption, hat der Vorstand jedenfalls die Aufgabe, die Interessen der shareholder und stakeholder zu berücksichtigen und im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz9 in einen Ausgleich zu bringen. Er muss die durch die geplante Maßnahme potentiell betroffenen B ­ elange ermitteln und gewichten sowie ein Rangverhältnis bestimmen. Innerhalb ­dieses Abwägungsvorgangs konkretisiert er das Gesellschaftswohl:10 Setzt der Vorstand in der jeweiligen Situation das Kapital ein, um Innovationen zu entwickelt, oder bildet er Rücklagen, um auf eine etwaige Krise vorbereitet zu sein? Schlägt er vor, einen etwaigen Überschuss an die Aktionäre auszuschütten, oder erhöht er die Prämien, um die Mitarbeiter zu motivieren? Bemüht er sich um neue, erfahrene Mitarbeiter oder investiert er in die Fortbildung der bestehenden Belegschaft? Kauft er andere Unternehmen oder setzt er auf internes Wachstum? Verlegt er die Produktionsstäten ins Ausland, um die Kosten zu reduzieren, oder bleibt er im Inland, um die Akzeptanz des Unternehmens im Herkunftsstaat zu erhöhen? Die Antwort auf all diese Fragen setzt voraus, dass der Vorstand das Gesellschaftswohl durch Abwägung der widerstreitenden Interessen bestimmt. 2. Prüfungsdichte: Vernünftigerweise annehmen dürfen Das vorstehend skizzierte Verfahren, in dem das Wohl der Gesellschaft in der konkreten Situation festgelegt wird, birgt zwei potentielle Fehlerquellen. Zum einen kann der Geschäftsleiter das Gesellschaftswohl falsch definieren, das heißt Ziele verfolgen, die von vornherein nicht im Verbandsinteresse liegen. Zum anderen kann dem Geschäftsleiter die abstrakte Definition des Gesellschaftswohls zwar gelingen, sein Fehler aber in der Auswahl der Instrumente 8 So etwa Hölters AktG §  93 Rn.  37.  Zur Annäherung der interessenpluralistischen Zielkonzeption und des moderaten shareholder-value-Ansatzes ausf. J. Koch, 50 Jahre AktG, S. 65, 75. 9 Treffend Hopt ZGR 1993, 534, 536; ders. ZGR 2002, 333, 360; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 33; Kort in GK-AktG § 76 Rn. 123; Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 67. 10 Zur Abwägung als „Rangbestimmung zwischen Kriterien“ und Konkretisierungsvorgang vgl. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht, Kap. 4 Rn. 50. Zum Ermessen als „Zuständigkeit zur Rechtskonkretisierung“ im Verwaltungsrecht Strack, FS Sendler, S. 167. Aus dem gesellschaftsrechtlichen Schrifttum etwa Voigt, Haftung, S. 193 f. 265

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liegen, mit denen er das Gesellschaftswohl verfolgen will, etwa weil er im Rahmen des Abwägungsvorgangs die widerstreitenden Interesse nicht in einen angemessenen Ausgleich bringt. Während § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG dem Gericht die Möglichkeit eröffnet, insoweit Vorstandsfehler zu beanstanden, schränkt §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG die richterliche Prüfungsdichte durch die Formulierung „vernünftigerweise annehmen darf “ wieder ein. Nicht die Gerichte sollen darüber bestimmen, welchen Weg das Unternehmen einschlagen soll, sondern es obliegt dem Vorstand, die Weichen für die Entwicklung der Gesellschaft zu stellen, indem er die im Verband gebündelten Interessen in einen angemessenen Ausgleich bringt.11 Die Aufgabe der Judikative liegt allein darin, Grenzüberschreitungen durch den Vorstand festzustellen und gegebenenfalls zu sanktionieren; sie übt also eine Kontrollfunktion aus. Wie intensiv die Judikative ihre Kontrollfunktion ausübt, hängt davon ab, wie man das Tatbestandsmerkmal „vernünftigerweise“ versteht. Die Bandbreite an Vorschlägen ist groß, wobei nicht immer erkennbar ist, ob die einschlägigen Stellungnahmen inhaltlich oder nur sprachlich voneinander divergieren. Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Autoren oft dasselbe meinen, es aber mit unterschiedlichen Worten ausdrücken.12 Zahlreiche Stimmen stellen darauf ab, ob die Annahme des Geschäftsleiters vertretbar,13 nachvollziehbar,14

11 Zu diesem Zusammenhang Taube, Business Judgment Rule, S. 61 f. 12 Dies beobachten auch Eisele, Hafen, S.  300 und Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 250 f. S. ferner Taube, Business Judgment Rule, S. 111: weitestgehende Einigkeit. Ähnlich ist der Meinungsstand im Zusammenhang mit der Frage, ob sich der Vorstand bei unklarer Gesetzeslage für eine „vertretbare“ Rechtsauffassung entschieden hat; s. dazu die Beobachtung von J. Koch, FS Bergmann, S. 413, 429. 13 Hölters AktG § 93 Rn. 39; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 90; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 277 (die auch von Nachvollziehbarkeit spricht); Möslein, Leitungsmacht, S.  48; Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 2068  f.; Kocher CCZ 2009, 215, 221. Für die GmbH Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 43 Rn. 38 (der aber im Kontext der Informationsversorgung von objektiver Nachvollziehbarkeit spricht); Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon GmbHG § 43 Rn. 25, 28 (die auch von Nachvollziehbarkeit spricht); Oetker in Henssler/Strohn GmbHG §  43 Rn.  28; Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn.  61; Strohn/Simon GmbHR 2010, 1181, 1185.  Unklar Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 63 ff. (einerseits Vertretbarkeitskontrolle, andererseits evidente Fehlentscheidungen); LG Essen Urt. v. 8.7.2015 – 42 O 4/14, juris-Rn. 140. 14 OLG Frankfurt NZG 2011, 62, 64; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 90; N. Fischer, Vorstandshaftung, S. 85 ff.; Hieronymi, Haftung, S. 64; Schieders, Haftungsfreiräume, S. 296 f. (großzügiger aber S. 322 ff.); Hamann ZGR 2012, 817, 832 f.; Horn, FS H.P. Westermann, S. 1053, 1060.  266

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rational15 oder plausibel16 war. Andere sind großzügiger und erlauben den Gerichten im Sinne einer Evidenzkontrolle erst dann einen Eingriff in die Leitungsautonomie des Vorstands, wenn die Entscheidung völlig unverantwortlich war.17 Einige wollen der Rechtsprechung jegliche inhaltliche Überprüfung der Entscheidung verbieten und lediglich eine Kontrolle der Entscheidungsprozedur zulassen. So hält Walter Paefgen das Vorstandsverhalten für pflichtgemäß, wenn dieser bei einer unternehmerischen Entscheidung keinem Loyalitätskonflikt unterliegt, den rechtlich vorgegebenen Handlungsrahmen einhält und auf Grundlage angemessener Vorbereitung und Information handelt, auch wenn sich seine Entscheidung als eklatanter Fehlschlag erweist; nicht geschützt seien nur Entscheidungen, die sich unter keinem Umstand rational rechtfertigen ließen.18 Im Hinblick auf den Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist schwer es haltbar, mit der letztgenannten Auffassung die gerichtliche Prüfungsdichte auf eine reine Verfahrenskontrolle der Vorstandsentscheidung zu reduzieren. Auch wenn dieser Ansatz de lege ferenda begrüßenswert ist, weil er den Geschäftsleitern den nötigen Handlungsspielraum einräumt und die Intensität der richterlichen Prüfung auf einem Niveau ansiedelt, das die sachliche Legitimität der Vorstandsmaßnahmen gewährleistet, lässt er doch außer Betracht, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) 15 Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 84 ff.; Hamann ZGR 2012, 817, 826 („rationale Optimierung“); Langenbucher DStR 2005, 2083, 2087. 16 Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 23; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 25 Rn. 59; Dendl, Disposition, S. 36 (mit restriktiver Tendenz); Scholl, Vorstandshaftung, S. 300 (mit großzügiger Tendenz). 17 Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  99; Grigoleit/Tomasic AktG §  93 Rn.  51  f.; Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  124 (die aber zugleich von vernünftiger bzw. nachvollziehbarer Beurteilung sprechen); Hüffer/J.  Koch AktG §  93 Rn.  23; Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 1526; Brock, Legalitätsprinzip, S. 39; Eisele, Hafen, S. 304 ff.; Jena, Business Judgment Rule, S. 163 ff.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 326 ff.; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 322 ff.; Unmuth, Vergleich, S. 226 f.; Winnen, Innenhaftung, S.  247; Ott ZGR 2017, 149, 171.  Zur GmbH Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 12. In diese Richtung auch BGHSt 61, 48 Rn. 57 = NJW 2016, 2585; BGH NJW 2017, 578 Rn. 25; OLG Düsseldorf AG 2016, 410, 412 f.; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 127 f.; Kuntz DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 40 (abwegiges Handeln). Im Kontext der Gesellschafterhaftung Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S. 366 f. Vor Kodifizierung der BJR Hüffer, FS Raiser, S. 163, 180. 18 So vor Kodifizierung der BJR Paefgen, Haftung, S. 176 f., der seine Auffassung im aktien- und GmbH-rechtlichen Kontext fortführt, s. nur Paefgen in Habersack/Casper/ Löbbe GmbHG § 43 Rn. 123 ff.; dens. AG 2004, 245, 255, 261; dens. AG 2014, 554, 563. Ähnlich Thümmel DB 2004, 471, 472: keine inhaltliche Überprüfung. Sympathisierend Holle, Legalitätskontrolle, S. 65 f.; ders. AG 2011, 778, 783 f. 267

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zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ augenscheinlich eine gerichtliche Inhaltskontrolle zulassen wollte. Hätte er mit der Business Judgment Rule eine reine Verfahrenskontrolle implementiert, wäre § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG etwa wie folgt formuliert: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn ein Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung ohne Sonderinte­ ressen und auf der Grundlage angemessener Information gehandelt hat.“ Da das Gesetz aber zusätzlich auf das Gesellschaftswohl – also auf ein inhaltliches Kriterium  – abstellt und dabei nicht nur die rein subjektive Sicht der Vorstandsmitglieder für maßgeblich hält, sondern mit dem Merkmal „vernünftigerweise“ den Kontrollmaßstab verobjektiviert, liegt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht das Konzept einer rein prozeduralen Kontrolle zugrunde.19 Nichtsdestotrotz ist das prozedurale Verständnis der Business Judgment Rule im Ausgangspunkt richtig. Es ist der Gedanke der Legitimation durch Verfahren, der namentlich auf Niklas Luhmann zurückgeht20 und der im Verbandsrecht wie im Verwaltungsrecht die Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte erlaubt.21 Halten sich die Entscheidungsträger an die Vorgaben zum Entscheidungsverfahren, kann man zwar nicht sicher sagen, dass die Entscheidung inhaltlich richtig ist. Allerding ist die Einhaltung der Entscheidungsprozedur ein gewichtiges Indiz dafür, dass auch der Entscheidungsinhalt den gesetzlichen Vorgaben entsprechen wird. Man kann insoweit  – wie im Vertragsrecht  – von einer Richtigkeitschance oder Richtigkeitsvermutung sprechen.22 Diese Vermutung greift allerdings nicht ein, wenn der Richter feststellt, dass der Geschäftsleiter nicht „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“. Das Merkmal „vernünftigerweise“ funktioniert wie eine Notbremse. Die gerichtliche Prüfung bezieht sich zwar in erster Linie auf die Entscheidungsprozedur, sie verliert aber den Entscheidungsinhalt nicht völlig aus dem Blick. Teilt man diesen Standpunkt, ist in einem weiteren Schritt die Intensität der Inhaltskontrolle zu bestimmen. Wie soeben erläutert, reichen die Vorschläge 19 So im Ergebnis auch Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S.  368  ff.; Pfertner, Entscheidungen, S. 67; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 326; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 319 f.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 299 f.; Ott ZGR 2017, 149, 171. Vor Kodifizierung der BJR bereits M. Roth, Ermessen, S.  88.  Gegen die Trennung zwischen Entscheidungsverfahren und Entscheidungsinhalt aber M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 279 ff. 20 S. etwa Luhmann, Legitimation, S. 203 ff. (speziell zum Verwaltungsverfahren). 21 Zum Gedanken der Legitimation durch Verfahren im Verwaltungsrecht in § 5 V 4 b; zur Übertragung dieser Gedanken auf das Verbandsrecht § 6 IV 2. Im Kontext der BJR Kuntz DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 39 mit Fn. 45. 22 Zum Gedanken der Richtigkeitschance im vertraglichen Kontext in § 4 IV 2. 268

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im Schrifttum von der Vertretbarkeit über die Nachvollziehbarkeit, die Plausibilität, die Rationalität bis hin zur völligen Unverantwortlichkeit der Vorstandsentscheidung.23 Innerhalb dieses Meinungsspektrums lassen sich zwei Tendenzen konkretisieren. Eine Gruppe tendiert zu einer Vertretbarkeitskontrolle dergestalt, dass ein objektiver Dritter, der in einer vergleichbaren Situation stünde wie der Geschäftsleiter, die Entscheidung ebenfalls tragen würde. Stellvertretend für diese Auffassung ist Katja Langenbucher, die das in §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG angelegte Kontrollprogramm dahingehend umschreibt, dass das Gericht prüfen muss, von welchen Annahmen der Vorstand ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Handlung führt und ob diese Annahmen vernünftigerweise getroffen werden durften.24 Geht man diesen Weg, erlaubt man dem Gericht einen weitaus intensiveren Zugriff auf die Vorstandsentscheidung als dies bei der Auffassung der Fall ist, die „vernünftigerweise annehmen dürfen“ als „völlig unverantwortlich“ übersetzt; die Unverantwortlichkeit markiert ein großzügigeres Kontrollniveau. Jede völlig unverantwortliche Entscheidung ist unvertretbar, aber nicht jede unvertretbare Entscheidung ist automatisch völlig unverantwortlich.25 Eine Maßnahme ist nicht bereits dann völlig unverantwortlich, wenn ein Dritter von ihrer inhaltlichen „Richtigkeit“ nicht überzeugt ist, sondern erst dann, wenn sie offenkundig abwegig ist.26 Dies ist dann der Fall, wenn die Kon­ trollinstanz, die sich mit der Entscheidung auseinandersetzt, schon auf den ersten Blick die Abwägungsfehler erkennt und nicht erst weitere Überlegungen anstellen muss, um ihre Beanstandungen zu begründen.27 Im Anschluss an 23 Nachw. in Fn. 13 bis 17. 24 Langenbucher DStR 2005, 2083, 2087.  Ähnlich Dendl, Disposition, S.  36; Hamann ZGR 2012, 817, 825  ff.; Horn, FS H.P. Westermann, S.  1053, 1060.  Noch strenger Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 85 f. 25 Zu den Unterschieden auch Eisele, Hafen, S.  306  f.; N. Fischer, Vorstandshaftung, S. 85 ff.; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 339; Korch ZIP 2020, 1596, 1599; Ott ZGR 2017, 149, 170 f. 26 Mit dieser (freilich nicht ganz scharfen) Formel in der Hand lässt sich die Frage beantworten, ob intuitive Entscheidungen durch die BJR geschützt sind (dafür Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV §  25 Rn.  56 aE; J.  Vetter, FS Bergmann, S.  827, 843 ff.; dagegen Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 51; Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 20167; Hamann ZGR 2012, 817, 825 ff. [der auf S. 832 „intersubjektive Vermittelbarkeit“ fordert]): Solange die intuitive Entscheidung nicht offenkundig abwegig ist und die sonstigen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind, liegt sie im sicheren Hafen. 27 S. etwa LG Essen Urt. v. 8.7.2015 – 42 O 4/14, juris-Rn. 140: Leitungsfehler drängt sich förmlich auf. 269

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Jörg Neuner kann man von prognostischer Evidenz sprechen:28 Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die Frage, ob die Abwägung der Belange, die das Gesellschaftswohl konstituieren, offenkundig misslungen ist.29 Dies entspricht dem weit verbreiteten Vorgehen des Gesetzgebers, der Eingriffe in Privatrechtsverhältnisse zu meiden versucht und nur dann interveniert, wenn eine Partei offensichtlich missbräuchlich handelt.30 Die vorstehend skizzierte Evidenzkontrolle entspricht mehr dem prozeduralen Charakter der Business Judgment Rule als die Vertretbarkeitskontrolle und ist deshalb vorzugswürdig. Wie bereits erläutert, sprechen gute rechtspolitische Gründe dafür, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung zu verstehen, die den Gerichten lediglich eine Kontrolle des Entscheidungsverfahrens erlaubt. Auch wenn der Gesetzgeber dieses Konzept nicht vollständig übernommen hat, weil die Verankerung des Gesellschaftswohls im Tatbestand des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Gerichte zu einer inhaltlichen Überprüfung der Vorstandsentscheidung ermächtigt, ist bei der Bestimmung des Kontrollniveaus dem Ansatz Vorzug zu geben, der die inhaltliche Kontrolle auf das nötige Mindestmaß zurückdrängt.31 Im Anschluss an Markus Roth kann man also den in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verankerten Diskretionsspielraum des Vorstands zwischen Vertretbarkeit und Willkür ansiedeln.32 Seine konkrete Ausgestaltung kann nur im Rahmen der Fallgruppenbildung anhand einzelner typischer Vorstandsmaßnahmen erfolgen, die in § 11 und §§ 19 bis 22 an einigen Beispielen noch zu leisten sein wird. 3. Intensivierung gerichtlicher Kontrolle bei bestandsgefährdenden Risiken Fallgruppenübergreifend nimmt ein Teil des Schrifttums ein völlig unverantwortliches Handeln des Vorstands an, wenn dieser Maßnahmen ergriffen hat, die zu einer Bestandsgefährdung der Gesellschaft führen können. Diese An28 Neuner ZfPW 2018, 257, 261 f. zur Evidenz im Privatrecht. 29 Im intradisziplinären Vergleich entspricht dies in etwa der Prüfungsintensität des BVerfG, wenn es darum geht, ob die Prognosen und Tatsachenfeststellungen innerhalb der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative liegen, s. BVerfGE 50, 290, 332 f. = NJW 1979, 699; BVerfGE 123, 186, 241 = NJW 2009, 2033. Das BVerwG greift das Evidenzkriterium etwa im Zusammenhang mit der planungsrechtlichen Abwägungsfehlerlehre auf, s.  BVerfG NVwZ  1998, 1060, 1061; BVerwGE  147, 184 Rn.  36 = NVwZ 2013, 1605; BVerwGE 154, 73 Rn. 52 = NVwZ 2016, 844. 30 Neuner ZfPW 2018, 257, 271. 31 Zutr. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 327: geringste Kontrolldichte. 32 M. Roth, Ermessen, S. 96. 270

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sicht wurde vor allem nach der Finanzmarktkrise mit Nachdruck vertreten33 und damit begründet, dass bestandsgefährdende Maßnahmen so riskant seien, dass sie schlechthin nicht im Unternehmensinteresse lägen und damit nicht von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG umfasst seien.34 Manche teilen grundsätzlich diesen Standpunkt, lassen aber eine Ausnahme zu, wenn die Gesellschaft ohne Eingehen dieser Risiken ebenfalls in der Existenz bedroht ist.35 Die Gegenauffassung lässt die Privilegierung der Business Judgment Rule nicht entfallen: Die Ausklammerung bestandsgefährdender Risiken aus dem sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sei zu pauschal, insbesondere weil sie nicht berücksichtige, dass manchen Geschäftsmodellen eine starke Risikoneigung innewohne.36 ​ ie letztgenannte Auffassung ist im Hinblick auf ihre Flexibilität im AusgangsD punkt vorzugswürdig. Es kann durchaus dem Unternehmenswohl entsprechen, Geschäfte mit hohem Risiko einzugehen, wenn die konkrete Lage der Gesellschaft es erfordert. Eine flexible Sichtweise erlaubt es namentlich, die Wahrscheinlichkeit, mit der das bestandsgefährdende Ereignis eintreten kann, mit dem potentiellen Nutzen der risikobehafteten Maßnahme in ein Verhältnis zu setzen.37 Auf der Grundlage einer solchen Nutzen-Risiko-Analyse kann man in jedem Einzelfall bestimmen, ob der Geschäftsleiter aus einer ex-­antePerspektive vernünftigerweise davon ausgehen durfte, das Gesellschaftswohl zu verwirklichen. Diese Überlegungen zeigen, dass letztlich kaufmännische Gesichtspunkte entscheidend sind; solche Gesichtspunkte sind aber gerade der vollen inhaltlichen Kontrolle durch die Gerichte nicht zugänglich.38 Zudem lässt sich weder aus § 93 Abs. 1 AktG noch aus anderen aktienrechtlichen Vorgaben ein striktes Verbot bestandsgefährdender Maßnahmen herleiten. 33 Exemplarisch Brüning/Samson ZIP 2009, 1089, 1092 f.; Lutter ZIP 2009, 197, 199. 34 So Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 24; Lutter ZIP 2007, 841, 845 („Hazard-Entscheidungen“); B. Peus, Haftung, S. 123 ff. Im Zusammenhang mit der gerichtlichen Bestellung eines Sonderprüfers nach § 142 Abs. 2 AktG OLG Düsseldorf AG 2010, 126, 129. Aus dem Schrifttum zur GmbH Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 16; Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG § 43 Rn. 112.2; Lutter GmbHR 2000, 301, 305. 35 So Hölters AktG §  93 Rn.  32; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  328 f. Ähnlich schon vor Kodifizierung der BJR M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 248. 36 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 105; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 27; Wachter/ Link AktG § 93 Rn. 43 f.; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 64; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV §  25 Rn.  59; Eisele, Hafen, S.  237; Adolff, FS Baums, S.  31, 36  ff.; Schmitz-Remberg BB 2014, 2701, 2703 f. 37 Auf die Wahrscheinlichkeit stellen namentlich ab: Drygala, FS Hopt, 2010, S.  541, 550 ff.; Redeke ZIP 2010, 159, 160 (der zwischen konkreter und abstrakter Bestandsgefährdung differenziert). 38 Adolff, FS Baums, S. 31, 37; Schmitz-Remberg BB 2014, 2701, 2704. 271

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Auch § 91 Abs. 2 AktG, der den Vorstand zur Einführung eines Risikomanagementsystems  verpflichtet und im Schrifttum herangezogen wird, um die Reichweite der Business Judgment Rule zu beschränken,39 verbietet es nicht schlechthin, riskante Entscheidungen zu treffen. Vielmehr hebt §  91 Abs.  2 AktG lediglich hervor, dass der Vorstand die Auswirkungen solcher Maßnahmen im Auge behalten muss. Der Umstand, dass die Entscheidung eine besondere Risikoquelle begründet, führt aber nicht automatisch dazu, dass §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht anwendbar ist.40 Pointiert stellt Thomas Eckhold fest: „Krisenmanagement verlangt Entscheidungsspielräume“.41 Gleichwohl zeigt § 91 Abs. 2 AktG, dass die Existenzgefährdung im Rahmen der Business Judgment Rule eine Sonderbehandlung verdient. Wenn das Aktiengesetz den Gesamtvorstand zu besonderen Anstrengungen verpflichtet, soweit der Bestand der Gesellschaft auf dem Spiel steht, kann dies nicht ohne Auswirkungen auf die gerichtliche Prüfungsdichte bleiben. Dafür spricht auch der Umstand, dass bestandsgefährdende Risiken eine stakeholder-Gruppe besonders stark berühren: die Gläubiger. Das Gesellschaftsrecht ändert seine Wirkungsweise, wenn Gläubigerinteressen betroffen sind.42 Im gesetzlichen Umfeld der Business Judgment Rule ist dies gut am Beispiel des § 93 Abs. 5 AktG sichtbar, der eine stark gläubigerschützende Tendenz aufweist.43 Diese Umformung des Innenhaftungsregimes und die Prägewirkung des § 91 Abs. 2 AktG erlauben eine Anpassung der gerichtlichen Prüfungsdichte im Rahmen der Business Judgment Rule.44 Ergreift der Geschäftsleiter eine bestandsgefährdende Maßnahme, ist „vernünftigerweise annehmen dürfen“ nicht im Sinne der völligen Unverantwortlichkeit zu verstehen, sondern die Gerichte sind zu einer Vertretbarkeitskontrolle befugt. Der Vorstand genießt also weiterhin Entscheidungsspielräume, die aber im Vergleich zum Regelfall intensiver kon-

39 So etwa B. Peus, Haftung, S. 125. Vgl. auch bereits Lutter GmbHR 2000, 301, 305. 40 So auch Drygala, FS Hopt, 2010, S. 541, 551; Redeke ZIP 2010, 159, 161 f. 41 Eckhold ZBB 2012, 364, 365. Ähnlich Wachter/Link AktG § 93 Rn. 43. 42 Zum Ausschluss des unternehmerischen Ermessens wegen Bindung an Gläubigerbelangen im etwa Klöhn in Bork/C. Schäfer GmbHG § 43 Rn. 36. Zurückhaltend aber etwa Seibt ZIP 2013, 1597, 1599. Dagegen Drygala, FS Hopt, 2010, S. 541, 555 f. 43 Zur Diskussion über Treuepflichten gegenüber Gläubigern Wiedemann WM 2009, 1, 3 f. 44 Hierfür spricht nicht zuletzt Art. 19 der Restrukturierungsrichtlinie, der den Gesellschaftern bei drohender Insolvenz zur besonderen Sorgfalt verpflichtet; hierzu Korch ZGR 2019, 1050, 1054 ff. Zu weiteren Beispielen, in denen die Gläubigerbelange für eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle sprechen, s. § 11 I 1 (Einführung eines Bestandssicherungssystems) und § 22 II 2 (Bilanzierungsspielräume). 272

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Sachlicher Anwendungsbereich: unternehmerische Entscheidung

trolliert werden.45 In Anlehnung an die Überlegungen Katja Langenbuchers46 muss das Gericht prüfen, von welchen Annahmen der Geschäftsleiter ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Handlung führt und ob diese Annahmen auch im Hinblick auf die Gläubigerbelange vertretbar sind.

II. Sachlicher Anwendungsbereich: unternehmerische Entscheidung 1. Regelungstechnik und bisherige Definitionsversuche Damit die Intensität der gerichtlichen Kontrolle auf das soeben skizzierte Niveau reduziert werden kann, ist nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erforderlich, dass die Geschäftsleiter eine unternehmerische Entscheidung treffen und dabei vernünftigerweise annehmen dürfen, auf angemessener Informationsgrundlage und ohne Sonderinteressen zu handeln. Bereits am ersten Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – der unternehmerischen Entscheidung – beißt sich das Schrifttum seit der Kodifizierung der Business Judgment Rule die Zähne aus. Es fällt schwer zu definieren, was eine unternehmerische Entscheidung ist. Die Definitionsversuche sind aber bedeutsam, weil dieses Merkmal den sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG markiert. Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle wird nur dann nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gelockert, wenn das Vorstandsmitglied eine unternehmerische Entscheidung trifft bzw. wenn der Vorstandsbeschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat. Das Schrifttum kombiniert in Anlehnung an die Gesetzesmaterialien zum UMAG zwei Ansätze, um den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule zu bestimmen. Auf der einen Seite wird versucht, im Sinne der klassisch juristischen Arbeitsweise das Tatbestandsmerkmal „unternehmerische Entscheidung“ positiv zu definieren, um dem Rechtsanwender einen subsumtionsfähigen Obersatz an die Hand zu geben. Einig ist man sich darüber, dass die Entscheidung eine bewusste Handlung oder ein Unterlassen voraussetzt; ein unbewusstes Verstreichenlassen einer Geschäftschance fällt also nicht

45 So auch im Ergebnis Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 88, 114, 195 (Vertretbarkeit); Adolff, FS Baums, S.  31, 39  ff.; Korch ZGR 2019, 1050, 1064  f. (Verbot sachgrundloser Bestandsgefährdung). Speziell zu bankrechtlichen Einschränkungen der Spielräume Eckhold ZBB 2012, 364, 365 ff. 46 Langenbucher DStR 2005, 2083, 2087. 273

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­ nter § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.47 Schwieriger zu bestimmen ist der unterneh­ u merische Charakter einer Entscheidung. Nach den Gesetzesmaterialien zum UMAG, an die zahlreiche Stimmen im Schrifttum anknüpfen, sind unternehmerische Entscheidungen infolge ihrer Zukunftsbezogenheit48 durch Prognosen und nicht justiziable49 Einschätzungen geprägt.50 Manche stellen darauf ab, ob das Vorstandsmitglied in einer unsicheren Situation handelt51 oder ob die Entscheidung nach Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen ist;52 zum Teil werden diese Kriterien kombiniert.53 Diese positiven Definitionsversuche werden durch Kataloge ergänzt, in denen Beispiele für unternehmerische Entscheidungen aufgeführt werden.54 Auf der anderen Seite geht das Schrifttum negativ vor und zählt Fälle auf, in denen keine unternehmerische Entscheidung vorliegt. Auch diese Vorgehensweise findet ihren Ursprung in den Gesetzesmaterialien zum UMAG, in denen die unternehmerische Entscheidung von der rechtlich gebundenen Entscheidung abgegrenzt wird: § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG „geht von der Differenzierung 47 S.  nur Pfertner, Entscheidungen, S.  97  ff.; Mertens/Cahn in KK-AktG §  93 Rn.  22; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 51. Zur GmbH etwa Paefgen in Habersack/Casper/ Löbbe GmbHG §  43 Rn.  117.  Differenzierend Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 175 ff. 48 Den Zukunftsbezug halten nicht für zwingend: Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn. 84; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 18; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 49. 49 Krit. dazu B. Peus, Haftung, S. 109 f., der diesen Passus der Gesetzesbegründung als eine petitio principii entlarvt. 50 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  11.  Zum prognostischen Charakter unternehmerischer Entscheidungen aus dem Schrifttum (mit Unterschieden im Detail) Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  93 AktG Rn.  20  f.; Grigoleit/Tomasic AktG §  93 Rn.  42; Hölters AktG §  93 Rn.  30; Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  18; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 84; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1523; A. Arnold, Steuerung, S. 177; Eisele, Hafen, S. 149 ff.; Winnen, Innenhaftung, S. 189 ff. Zur GmbH Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn.  56; Michalski/Ziemons GmbHG §  43 Rn. 138. 51 So insb. Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 19; A. Arnold, Steuerung, S. 177; Kutscher, Organhaftung, S. 135 ff.; S.H. Schneider DB 2005, 707, 708 ff.; s. ferner Hüffer/​ J.  Koch AktG §  93 Rn.  18; Eisele, Hafen, S.  153  ff. (Risikoelement); Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 190 ff.; Winnen, Innenhaftung, S. 189 ff.; Habersack, Managerhaftung, S. 5, 15. Dagegen Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 84; Pfertner, Entscheidungen, S. 102 f. 52 So Wachter/Link AktG § 93 Rn. 26; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 15. Krit. Pfertner, Entscheidungen, S. 104 f. 53 So der Vorschlag von Lieder ZGR 2018, 523, 530 ff. 54 Für fallbezogene Konkretisierung insb. Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 86. Vgl. ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 87; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 16 aE. 274

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zwischen fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidungen einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten andererseits (Treuepflichten; Informationspflichten; sonstige allgemeine Gesetzes- und Satzungsverstöße) aus“.55 2. Grenzen der bisherigen Definitionsversuche Im Hinblick auf die soeben skizzierten Definitionsversuche überrascht es nicht, dass im Schrifttum einhellig davon ausgegangen wird, dass es bislang nicht gelungen ist, die unternehmerische Entscheidung zu definieren.56 Die positiven Definitionen sind sprachlich eher unpräzise Umschreibungen des Phänomens der „unternehmerischen Entscheidung“, enthalten aber keine subsumtionsfähigen Merkmale, die es ermöglichen, den sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule zu bestimmen. Beinahe jede menschliche Entscheidung erfolgt in einer unsicheren Situation; unterschiedlich ist nur der Grad der Ungewissheit künftiger Ereignisse. Gerade im Bereich des wirtschaftlichen Handelns fällt es schwer, eine Entscheidungsart zu finden, die keinerlei prognostischen Charakter aufweist oder gar nicht mit Blick auf die Zukunft getroffen wird. Die Unsicherheit, die Zukunftsgerichtetheit und der prognostische Charakter beschreiben zwar die typischen Merkmale einer unternehmerischen Entscheidung, sie sind aber so deutungsoffen, dass sie letztlich nicht als Abgrenzungskriterien taugen.57 Damit verfehlen sie die zentrale Funktion des Tatbestandsmerkmals, den sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu umgrenzen. Auch die negative Vorgehensweise vermag nicht vollends zu überzeugen. Sie hat zwar den Charme, Fälle zu filtern, die nicht unter § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG 55 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  11.  Aus dem Schrifttum Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 73 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 16; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 83; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 49, 52; Eisele, Hafen, S. 157 ff.; Pfertner, Entscheidungen, S. 111 ff.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 181 ff.; Seyfarth VorstandsR §  23 Rn.  21; Ott ZGR 2017, 149, 157  ff.; Paefgen AG 2004, 245, 251.  Zur GmbH Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG §  43 Rn.  117; Michalski/Ziemons GmbHG § 43 Rn. 137; Strohn/Simon GmbHR 2010, 1181, 1185. Krit. aber Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 17 ff. 56 Deutlich Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 49: Das Kriterium der unternehmerischen Entscheidung sei allein kaum aussagekräftig. Zur Unbestimmtheit des Begriffs ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 83; Eisele, Hafen, S. 156; Lohse, Ermessen, S. 76 f.; B. Peus, Haftung, S. 107.  57 Dies stellen auch fest: Pfertner, Entscheidungen, S. 102 ff.; Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 11; Ott ZGR 2017, 149, 153 ff. Krit. ferner Mertens/Cahn in KKAktG § 93 Rn. 17; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 117; Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 93; von Falkenhausen NZG 2012, 644, 647. 275

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zu subsumieren sind, was sich in der Praxis als hilfreich erweist.58 Sie ist aber mit dem Makel behaftet, nicht zu erklären, was sich hinter dem Phänomen der unternehmerischen Entscheidung verbirgt.59 Zudem sind die Kategorien, die im Rahmen der Abgrenzung aufgegriffen werden, nicht trennscharf. Der Gegenpol zur unternehmerischen Entscheidung soll die gebundene Entscheidung sein. Schaut man aber auf die in § 7 II skizzierten Vorgaben an den Vorstand und seine Mitglieder, wird deutlich, dass das Geschäftsleiterhandeln nie gänzlich ungebunden ist. Findet man keine Vorschrift, die an eine konkrete Situation anknüpft, müssen die Vorstandsmitglieder den allgemeinen Sorgfaltsstandard des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG beachten. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG führt dazu, dass letztlich jede Vorstandsmaßnahme rechtlich gebunden ist;60 unterschiedlich ist nur der Grad der rechtlichen Bindung.61 Dies wird auch in dem umgekehrten Fall deutlich, in dem eine spezielle Vorschrift das Vorstandshandeln determiniert, der gesetzliche Tatbestand aber nicht klar um­ rissen ist. Formell ist die Entscheidung gebunden, die fehlende Präzision der gesetzlichen Vorgabe kann aber zu der Annahme verleiten, dass die Geschäftsleiter eine Einschätzungsprärogative genießen sollen und §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG eingreift.62 3. Verfeinerung durch normtheoretische Analyse Trotz dieser Schwächen können die bisherigen Ansätze aufgegriffen werden, um den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einzugrenzen. Auch wenn der Begriff der unternehmerischen Entscheidung sich nicht wie ein gewöhnliches Tatbestandsmerkmal definieren lässt, ermöglichen die Umschreibung der typischen Merkmale einer unternehmerischen Entscheidung sowie die Negativabgrenzung eine erste Annäherung an die Problemlösung, die im Folgenden mit Hilfe einer normstrukturellen Analyse und des Adäquanzgedankens verfeinert werden soll. Damit geht ein Perspektivenwechsel einher. Der Blick richtet sich nicht nur auf die Entscheidung und ihre Eigenschaften, 58 AA Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 17. 59 In diese Richtung auch Eisele, Hafen, S. 149 f. 60 So wohl auch Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 263: Unternehmerisches Ermessen sei immer durch die Sorgfaltspflicht begrenzt. S.  ferner Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 73 und S.H. Schneider DB 2005, 707, 710, die zutr. ausführen, dass § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Vorstandsmitglieder rechtlich binden, daraus aber kein Schluss auf die Unanwendbarkeit der BJR gezogen werden darf, weil §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG sonst obsolet wäre. 61 Insoweit zutr. Ott ZGR 2017, 149, 160 f., der auf die Intensität und den Konkretisierungsgrad jeweiligen der Pflichten abstellt. 62 Zur Behandlung dieser Fälle s. noch in § 8 II 5 und § 9 III. 276

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sondern er schwenkt auf den Gesetzgeber, der über die Bindung der Geschäftsleiter entscheidet.63 Wie schon in § 6 III 2 a skizziert, ist die Normstruktur ein Kriterium, das bei der Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte im Gesellschaftsrecht herangezogen werden kann. Während finale Regelungen für eine geringere Intensität richterlicher Kontrolle sprechen, deuten konditional strukturierte Vorschriften auf eine gesteigerte Prüfungsdichte hin. Greift man diesen Gedanken im Aktienrecht auf, ist die gesetzgeberische Regulierungsstrategie maßgeblich: Wollte der Gesetzgeber die Vorstandsmitglieder final steuern oder hat er sie an ein Konditionalprogramm gebunden? Als eine finale Norm wurde in § 6 III 2 b insbesondere § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG identifiziert. Es handelt sich um eine Generalklausel, bei deren Ausfüllung in erster Linie maßgeblich ist, ob das handelnde Vorstandsmitglied das Wohl der Gesellschaft im Blick behalten hat. Die Förderung des Gesellschaftswohls ist also das Regelungsziel des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.64 Auf welchem Weg und mit welchen Instrumenten die Geschäftsleiter dieses Ziel erreichen, hat der Gesetzgeber – abgesehen von Sondertatbeständen, die in spezifischen Situationen eingreifen – nicht geregelt. Diese Struktur des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG deutet darauf hin, dass die Prüfungsdichte gelockert wird, wenn ein Gericht beurteilen soll, ob ein Vorstandsmitglied den allgemeinen Sorgfaltsanforderungen entsprochen hat. Die Intensität der richterlichen Kontrolle wird in Fällen der organschaftlichen Sorgfaltspflicht in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geregelt. Das Gericht darf in erster Linie prüfen, ob das Vorstandsmitglied die Vorgaben an die Entscheidungsprozedur eingehalten hat, und ist in inhaltlicher Hinsicht lediglich zu einer Evidenzkontrolle befugt. Die systematische Anknüpfung der Business Judgment Rule an den final formulierten §  93 Abs.  1 Satz  1 AktG erlaubt den Schluss, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG immer dann die Intensität der gerichtlichen Verhaltenskontrolle bestimmt, wenn das Gesetz dem Vorstandsmitglied lediglich als Regelungsziel vorgibt, das Gesellschaftswohl zu verwirklichen, ohne dass das Vorstandsmitglied in ein „Wenn-dann“-Schema gepresst wird. In einem solchen Fall ist der Geschäftsleiter befugt, durch Abwägung der Vorund Nachteile einer bestimmten Maßnahme das Gesellschaftswohl zu konkre-

63 Freilich ist in anderen Gesellschaftsformen zu beachten, dass neben dem Gesetzgeber die Gesellschafter die Spielräume der Geschäftsleiter eingrenzen können; zum GmbH-­ Geschäftsführer s. § 37 Abs. 1 GmbHG und die Ausführungen in § 12 III 2. Im Aktienrecht ist die Gestaltungsmacht der Gesellschafter wegen des Grundsatzes der Satzungsstrenge (§ 23 Abs. 5 AktG) und der beschränkten HV-Kompetenzen kleiner. 64 Vgl. schon die Nachw. in § 6 III 2 b Fn. 54. 277

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tisieren, ohne durch näher umrissene Handlungsdirektiven eingeschränkt zu sein.65 Das Abwägungsergebnis darf nur nicht völlig unverantwortlich sein. Hat sich der Gesetzgeber entschlossen, den Abwägungsprozess durch ein Konditionalprogramm in schärfer umrissene Bahnen zu lenken, indem er die Abwägungskriterien in subsumtionsfähige Tatbestandsmerkmale gegossen hat, ist die Konkretisierungsbefugnis des Vorstands eingeschränkt. Der Gesetzgeber hat für eine typisierte Situation deutlich gemacht, welche Aspekte für die Konkretisierung des Gesellschaftswohls in die Abwägung einzubeziehen sind. Diese Vorgewichtung führt zu einer Intensivierung der richterlichen Kontrolle. Die Gerichte müssen sich nicht auf die Feststellung beschränken, ob das Vorstandsmitglied im Sinne einer Evidenzkontrolle „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“, sondern sie haben die Vorstandsentscheidung enger an den im Gesetz angelegten Regelungszielen und Kriterien zu messen.66 Diese Überlegung können aufgegriffen werden, um den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu bestimmen. Eine Entscheidung ist unternehmerisch, soweit das Vorstandsmitglied lediglich durch finale Normen programmiert ist, die ihm als Ziel die Verwirklichung des Gesellschaftswohls vorgeben.67 Umgekehrt liegt keine unternehmerische Entscheidung vor, soweit das Vorstandsmitglied im Rahmen der Entscheidungsfindung Konditionalnormen beachten muss, die ihm genauere Vorgaben zur Erreichung des Gesellschaftswohls vorschreiben oder gar dazu anhalten, gesellschaftsfremde Ziele zu verfolgen;68 die Business Judgment Rule ist dann nicht anwendbar.69 Wie 65 Zum Zusammenhang zwischen Anwendungsbereich der BJR und der Abwägung widerstreitender Interessen Habersack, Managerhaftung, S. 5, 15. 66 S. dazu noch § 9 III. 67 Auf die Finalität im Kontext der Finanzierungsverantwortung des Vorstands abstellend Ekkenga in KK-AktG Vor §  182 Rn.  61.  In diese Richtung ferner Kühnberger/ Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 12, die zwar nicht auf die Finalität abstellen, aber mit der prinzipienbasierten Normierung ein wesensverwandtes Kriterium aufgreifen (s. § 6 III 2 a). 68 Ähnlich Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 94 ff., die danach differenziert, ob die Pflichtvorgaben das Ziel und Mittel des Vorstandshandelns determinieren. 69 Folgt man dieser Deutung, erfüllt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Gesellschaftsrecht dieselbe Funktion wie die planungsrechtliche Abwägungsfehlerlehre. Er definiert das gerichtliche Prüfungsprogramm im Zusammenhang mit einer final formulierten Vorschrift, wobei er den Referenzpunkt nennt (Gesellschaftswohl als Regelungsziel)  und die Prüfungsdichte festlegt („vernünftigerweise annehmen durfte“). Den Vergleich mit Planungsermessen zieht auch Barry, Gleichbehandlung, S.  234  f. mit Fn. 969. 278

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sich die Differenzierung zwischen den Konditional- und Finalnormen auf die Prüfung der Business Judgment Rule auswirkt, wird noch in § 11 an einigen Beispielen dargestellt. Der Vorschlag, im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine normstrukturelle Analyse durchzuführen, darf nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Business Judgment Rule insgesamt nicht anwendbar ist, wenn der Geschäftsleiter eine komplexe Maßnahme trifft und dabei hinsichtlich mancher Aspekte Konditionalnormen beachten muss, sich hinsichtlich anderer Aspekte allein am Gesellschaftswohl orientieren darf. Wie bereits in § 6 II 2 erläutert, ist ein einheitlicher Lebenssachverhalt in Einzelteile zu zerlegen, um bestimmen zu können, bei welchen Teilaspekten es sich um eine unternehmerische Entscheidung handelt. Der Umstand, dass eine Teilentscheidung keine unternehmerische im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist, führt nicht dazu, dass andere Teilentscheidungen ihren unternehmerischen Charakter verlieren. Als Beispiel mag etwa eine komplexe M&A-Transaktion dienen, deren Wirksamkeit von kartell- und bankaufsichtsrechtlichen Genehmigungen abhängig ist. Die Frage, ob die Wettbewerbs- und Bankaufsichtsbehörde die Transaktion genehmigen, wird durch die Anwendung von Konditionalnormen beantwortet, so dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG insoweit nicht anwendbar ist. Ob die Transaktion für die Gesellschaft wirtschaftlich lohnend ist, bestimmt sich allein nach dem Gesellschaftswohl. Der Vorstand wird final programmiert, so dass seine Entscheidung insoweit im sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt.70 4. Adäquanzgedanke Der These, dass ein Zusammenhang zwischen der Normstruktur und dem Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG besteht, lässt sich mit dem Adäquanzgedanken untermauern. Wie bereits in §  6 III 3 erläutert, spielen etwa die Bezugnahme auf außerrechtliche Maßstäbe und der gestalterische Einschlag bei der Entscheidungsfindung eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte. In § 7 I wurde ausgeführt, dass die Leitungsautonomie des Vorstands eine besondere Art der Privatautonomie ist. Die Aktionäre legen die Aufgabe, den Gesellschaftszweck zu verfolgen und den Unternehmensgegenstand zu verwirklichen, in die Hände des Vorstands, der sich am Wohl der Gesellschaft orientieren muss. Um diesen Auftrag zu 70 Die Möglichkeit, einen komplexen Sachverhalt in mehrere Einzelteile zu zergliedern, die dann mit unterschiedlicher Intensität überprüft werden, zieht etwa Ott ZGR 2017, 149, 158 nicht in Betracht. 279

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erfüllen, muss der Vorstand das Unternehmenswohl definieren. Dies ist aber keine rein juristische, sondern in erster Linie eine betriebswirtschaftliche Frage. Das Aktienrecht nimmt also Bezug auf außerrechtliche Kategorien, und zwar in einer Disziplin, in der sich hinsichtlich der Art und Weise der Unternehmensführung kein allgemein anerkannter Wissensstand etabliert hat. Trotz der lang anhaltenden Diskussion in der betriebswirtschaftlichen Lehre gibt es nämlich keine allgemein konsentierten Grundsätze der Unternehmensführung, die von den Gerichten herangezogen werden können, um zu bestimmen, ob ein Geschäftsleiter ordnungsgemäß gehandelt hat. Auch die zahlreichen Regeln guter Unternehmensführung sind keine sicheren Erfolgsformeln, die in jedem Fall zu tragbaren Ergebnissen führen werden. Im Gegenteil: Der Erfolg der unternehmerischen Tätigkeit kann gerade darin begründet sein, dass sich der Geschäftsleiter von den Fesseln befreit, die die bisherigen Führungsgrundsätze nach sich ziehen. Der Markt belohnt Innovationen, die aber insbesondere dann konzipiert und eingeführt werden können, wenn der Unternehmer bereit ist, die herkömmlichen Denkmuster aufzubrechen und etwas Neues zu schaffen, was bisher niemand gewagt hat. Vor diesem Hintergrund kann man von einem Erkenntnisvakuum71 in der betriebswirtschaftlichen Lehre sprechen.72 Die Konzepte guter Unternehmensführung sind so vielfältig, dass ein Gericht kein Sachverständigengutachten zu der Frage einholen kann, ob das Vorstandshandeln das Unternehmenswohl ordnungsgemäß verfolgt hat. Insoweit kann es sich keinen Wissensvorsprung erarbeiten und keine bessere Entscheidung treffen als das Vorstandsmitglied. Hinzu kommt, dass Entscheidungen des Vorstands, die auf die Verwirklichung des Gesellschaftswohls abzielen, einen starken gestalterischen Einschlag aufweisen. Der Geschäftsleiter kann sich nicht darauf beschränken, das gesetzlich angeordnete Pflichtenprogramm abzuarbeiten, sondern er muss das wirtschaftliche Geschehen aktiv steuern. Die Bezugnahme auf außerrechtliche Maßstäbe und der gestalterische Charakter von Entscheidungen, die sich allein am Gesellschaftswohl auszurichten haben, deuten darauf hin, die richterliche Kontrolldichte bei final gesteuerten Geschäftsleitermaßnahmen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu bestimmen.

71 Diesen griffigen Begriff verwenden Jacob/Lau NVwZ 2015, 241, 247 im Zusammenhang mit naturschutzrechtlichen Beurteilungsermächtigungen. 72 Zur fehlenden Festigkeit betriebswirtschaftlicher Grundsätze Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 45. 280

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5. Business Judgment Rule und unbestimmte Rechtsbegriffe Schließt man sich der Ansicht an, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Fälle anwendbar ist, in denen der Gesetzgeber den Vorstand final steuert, erweitert man die Argumentationsbasis, auf die man bei der Lösung besonders umstrittener Probleme zurückgreifen kann. So ist sich das Schrifttum seit der Kodifizierung der Business Judgment Rule nicht einig, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen unbestimmte Rechtsbegriffe zu Schwierigkeiten bei der Normanwendung führen. Muss der Vorstand unter eine Norm subsumieren, deren Voraussetzungen nicht scharf umrissen sind, plädieren zahlreiche Autoren für die (gegebenenfalls analoge) Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, während sich der BGH und ein anderer Teil des Schrifttums auf den Standpunkt stellen, es handele sich um keine unternehmerische Entscheidung, so dass die Business Judgment Rule nicht einschlägig sei; den rechtlichen Unsicherheiten sei stattdessen auf der Verschuldensebene Rechnung zu tragen.73 Der Verfasser hat bereits an einer anderen Stelle ausführlich dargelegt, dass eine rechtlich gebundene Entscheidung auch dann nicht im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt, wenn sich die Anwendung der bindenden Rechtsnorm als schwierig erweist.74 Hat ein Gericht festgestellt, dass sich eine Vorstandsentscheidung mit dem Gesetz nicht vereinbaren lässt, handeln die Vorstandsmitglieder pflichtwidrig und ein etwaiger Vorstandsbeschluss ist nichtig. Eine ausufernde Geschäftsleiterhaftung für Gesetzesverstöße kann – wie im Zivilrecht sonst – auf der Verschuldensebene verhindert werden. Bei Tatbeständen, die verschuldensunabhängig sind, aber eine grobe Pflichtverletzung voraussetzen (wie etwa die Abberufung des Vorstands aus wichtigem Grund nach § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG oder bei der gerichtlichen Bestellung eines Sonderprüfers nach § 142 Abs. 2 AktG), können rechtliche Unsicherheiten berücksichtigt werden, wenn es um die Qualifizierung des Pflichtenverstoßes als „grob“ geht.75 So lässt sich erreichen, dass die Vorstandsmitglieder keine per73 Für das Erste exemplarisch Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 21 ff.; Spindler in MüKo­ AktG § 93 Rn. 89; Cahn WM 2013, 1293, 1294 f.; Nietsch ZGR 2015, 631, 650 ff.; Ott ZGR 2017, 149, 158 f. Für das Zweite BGH NZG 2011, 1271 Rn. 18; BGH NZG 2015, 792 Rn. 28 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 19, 44 ff. Ausf. Überblick über den Meinungsstand bei Hüffer/J.  Koch AktG §  93 Rn.  19; dems., FS Bergmann, S.  413, 415 Fn. 16; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 118 ff. 74 Zum Folgenden vgl. im Einzelnen Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 125 ff. S. ferner Holle AG 2016, 270, 272 ff.; J. Koch, FS Bergmann, S. 413, 416 ff.; Verse ZGR 2017, 174, 184 ff. 75 Speziell zum Verhältnis zwischen Verschulden und grober Pflichtverletzung Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 151 ff.; Heermann AG 1998, 201, 208; Verse ZGR 2017, 174, 192. 281

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sönlichen Konsequenzen tragen, wenn ihnen hinsichtlich der Rechtsermittlung kein persönlicher Vorwurf gemacht werden kann, zugleich aber die Entscheidung als solche – etwa der Vorstandsbeschluss – nicht in Bestandskraft erwächst und deshalb gerichtlich korrigiert werden kann.76 Der Gedanke, dass Ermessensspielräume nicht nur die Entscheidungsträger vor Haftung, sondern die Entscheidungen vor richterlicher Korrektur schützen sollen, wird im Lichte der intradisziplinären Analyse bekräftigt. Wie schon in § 6 I ausgeführt, dreht sich die öffentlich-rechtliche Diskussion in erster Linie um die Bestandskraft der Verwaltungsentscheidungen, nicht um die Verantwortlichkeit des Staates oder der einzelnen Staatsbediensteten. Die Frage lautet in der Regel nicht „Haftet jemand, weil er einen unbestimmten Rechtsbegriff anders ausgelegt hat als das kontrollierende Gericht?“, sondern: „Kann ein Gericht eine behördliche Entscheidung verwerfen, weil die Behörde den Tatbestand einer Ermächtigungsgrundlage falsch beurteilt oder eine falsche Rechtsfolge ausgewählt hat?“ Geht es um die Staatshaftung bei unklarer Rechtslage, werden die Letztentscheidungskompetenzen der Verwaltung nicht bemüht, sondern es wird – wie hier für das Verbandsrecht vorgeschlagen – das Verschuldensprinzip herangezogen, um eine übermäßig scharfe Haftung zu verhindern.77 Diese Lösung kann durch eine normstrukturelle Analyse abgesichert werden. Die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hängt davon ab, wie der Gesetzgeber den Vorstand mit der (unscharf gefassten) Norm programmiert. Formuliert das Gesetz nur ein Regelungsziel – im verbandsrechtlichen Bereich die Verfolgung des Gesellschaftswohls – und lässt es dem Vorstand offen, wie dieser das Ziel erreicht, trifft der Vorstand eine unternehmerische Entscheidung und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist anwendbar. Weist die unklare Regelung hingegen eine konditionale Struktur auf, kann sich der Vorstand auch dann nicht auf die Business Judgment Rule berufen, wenn er auf der Tatbestandsebene mit unbestimmten Rechtsbegriffen hantieren muss oder auf der Rechtsfolgenseite einen Entscheidungsspielraum hat.78 Dies gilt unabhängig davon, ob die Kon76 S. dazu Holle AG 2016, 270, 276 f. 77 Papier/Shirvani in MüKoBGB § 839 Rn. 288 ff. 78 Wie hier augenscheinlich Breitenfeld, Binnenhaftung, S.  121, 127  f.; Eisele, Hafen, S. 162 ff., 333 f. AA etwa Pfertner, Entscheidungen, S. 121 ff., Winnen, Innenhaftung, S. 179 f. und W. Müller, LA Happ, S. 179, 181, die bei Pflichtaufgaben mit Gestaltungsspielräumen §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG anwenden wollen; ähnlich im GmbH-Recht ­Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn.  56: Grundsatz des unternehmerischen Ermessens lebe wieder auf. Nach Schutzzweck differenzierend Scholl, Vorstandshaftung, S.  199  ff. Auf Unsicherheit abstellend Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  190  ff. 282

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ditionalnorm einen „schlichten“ unbestimmten Rechtsbegriff enthält oder der Vorstand einen Beurteilungs- oder Gestaltungsspielraum genießt.79 Auch der Adäquanzgedanke spricht gegen die Anwendung der Business Judgment Rule, soweit das Vorstandsmitglied im Rahmen der Entscheidungsfindung eine Konditionalnorm anwenden muss. Es gehört zu den ureigenen Aufgaben der Gerichte, konditional strukturierte Rechtssätze zu zergliedern und die Reichweite der Tatbestandsmerkmale im Wege der Auslegung zu bestimmen. Auch wenn manche Tatbestandsmerkmale an außerrechtliche Maßstäbe anknüpfen oder das Vorstandsmitglied auf der Rechtsfolgenseite einen Gestaltungsauftrag hat, bleibt der Weg über § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versperrt. Der konditionale Charakter der einschlägigen Vorschrift ist ein Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber den Prüfungsauftrag an die Gerichte vergeben hat, die – anders als bei der bloßen Bestimmung des Gesellschaftswohls – gerade hinsichtlich der Rechtsprüfung besonders befähigt sind. Stößt die Judikatur bei der Anwendung einzelner Gesetzesbestimmungen an ihre Funktionsgrenzen, kann dieser Umstand auf eine andere Art und Weise berücksichtigt werden als mit dem Rückgriff auf die Business Judgment Rule. Wie schon in § 6 II 1 erläutert, ist in Anlehnung an die verwaltungsrechtlichen Erkenntnisse die gerichtliche Kontrolldichte auszudifferenzieren.80 6. Unternehmerische Entscheidungen trotz Treuepflicht Die normstrukturelle Analyse legt es überdies nahe, das Verhältnis zwischen Treuepflicht und Business Judgment Rule zu überdenken. Nach einer weit verbreiteten Auffassung, die sich auf die Gesetzesmaterialien zu UMAG stützen kann,81 sind Treuebindungen des Vorstandsmitglieds gesetzliche Vorgaben, die einen Rückgriff auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versperren, weil in einem solchen Fall keine unternehmerische Entscheidung vorliegt.82 Bei näherem HinNoch anders Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 75, die bei Pflichtaufgaben mit Ermessensspielraum § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG grundsätzlich anwenden wollen, aber die gerichtliche Kontrolldichte je nach Ausgestaltung der Norm erhöhen; ähnlich der Ansatz von Jena, Business Judgment Rule, S. 147 ff.; für aufsichtsrechtliche Organisationsvorgaben auch Ott ZGR 2017, 149, 170 ff. 79 Zur Abgrenzung dieser Konstellationen noch in § 9 III 2 a. 80 Zu den Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG s. noch in § 9 III. 81 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11: „Die Regelung geht von der Differenzierung zwischen fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidungen einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten andererseits (Treuepflichten; […]) aus“. 82 Statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 85; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 16; Winnen, Innenhaftung, S.  183  ff., 250  f.; Hüttemann/Herzog NPLY 2006, 33, 39; 283

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

sehen erweist sich diese Begründung als nicht überzeugend.83 Sie trägt das Ergebnis nur, wenn die Treuepflicht in konditional formulierte Vorschriften wie etwa das Wettbewerbsverbot in § 88 AktG oder das Kreditgewährungsverbot in § 89 AktG gegossen wurde.84 In solchen Fällen hat der Gesetzgeber den Interessenwiderstreit zwischen den Vorstandsmitgliedern und der Gesellschaft so konkret verarbeitet, dass die Gerichte §§ 88, 89 AktG klassisch anwenden können;85 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG greift nicht ein.86 Geht es aber um die Einhaltung der ungeschriebenen organschaftlichen Treuepflicht, kann die Anwendbarkeit der Business Judgment Rule nicht mit dem Argument abgelehnt werden, das Vorstandsmitglied habe keine unternehmerische Entscheidung getroffen. Der Inhalt des Loyalitätsgebots wird im Schrifttum (ungeachtet der Differenzen im Detail) dahingehend definiert, dass die Vorstandsmitglieder in allen Angelegenheiten, die das Interesse der Gesellschaft berühren, deren Wohl und nicht ihren eigenen oder fremden Nutzen verfolgen dürfen.87 Sie hat zwei Stoßrichtungen: Zum einen verpflichtet sie die

­ ieder ZGR 2018, 523, 529; Wiedemann WM 2009, 1, 3. Jedenfalls unpräzise formuL liert sind die mancherorts anzutreffenden Behauptungen, die BJR sei bei Treuepflichtverletzungen nicht anwendbar (so etwa Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 41; Kuntz DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 40 f.; Wallisch, Entscheidungen, S. 95; s. auch die Überschrift bei Fleischer, FS Wiedemann, S.  827, 843). Eine solche Formulierung läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Das Ziel der Prüfung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt gerade darin herauszufinden, ob eine Pflichtverletzung vorliegt. Stellt man von vornherein fest, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei einer Treuepflichtverletzung nicht anwendbar ist, nimmt man das Ergebnis der Prüfung vorweg. 83 So auch Jena, Business Judgment Rule, S.  152  f.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 183 f.; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1256; Thümmel DB 2004, 471, 472; krit. ferner Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 25: „missverständliche[r] Hinweis in der Gesetzesbegründung“. In diese Richtung auch Eisele, Hafen, S. 206 ff.; Mann, Treuepflicht, S. 40; Horn, FS H.P. Westermann, S. 1053, 1064. 84 §  88 AktG lässt sich wie folgt formulieren: Willigt der AR nicht ein, darf ein Vorstandsmitglied weder ein Handelsgewerbe betreiben noch im Geschäftszweig der Gesellschaft für eigene oder fremde Rechnung Geschäfte machen. Auch §  89 Abs.  1 Satz 1 AktG ist konditional aufgebaut: Wenn der AR keinen Beschluss gefasst hat, der den Anforderungen des § 89 Abs. 1 Satz 2 bis 5 AktG entspricht, darf ein Vorstandsmitglied bei der Gesellschaft keinen Kredit aufnehmen. 85 Zur gerichtlichen Kontrolldichte im Zusammenhang mit Zustimmungsentscheidungen des AR s. § 15 II. 86 Ähnlich Eisele, Hafen, S. 206 ff. 87 Statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  144; Spindler in MüKoAktG §  93 Rn. 125. 284

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Sachlicher Anwendungsbereich: unternehmerische Entscheidung

Vorstandsmitglieder, Interessenkonflikte zu vermeiden, zum anderen statuiert sie ein Verbot von Sondervorteilen.88 Vor dem Hintergrund dieser Umschreibung ist die Treuepflicht ein Paradebeispiel für eine final strukturierte Vorgabe. Wie bei der Sorgfaltspflicht ist das Gesellschaftswohl das Regelungsziel. Wie in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG hat der Gesetzgeber den Vorstandsmitgliedern die Wahl der Mittel überlassen, mit denen sie das Gesellschaftswohl verfolgen. Legt man das Merkmal der unternehmerischen Entscheidung im Lichte der normstrukturellen Analyse aus, fallen Vorstandsmaßnahmen, die treuepflichtrelevant sind, im Ausgangspunkt in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Diese Überlegungen lassen sich durch den Adäquanzgedanken untermauern. Bei der Treuepflicht geht es um die Frage, auf welchem Weg das Gesellschaftswohl verfolgt wird, was angesichts des „betriebswirtschaftlichen Wissensvakuums“ richterliche Zurückhaltung gebietet. Gleichwohl versagt die herrschende Auffassung Vorstandsmitgliedern, die im konkreten Fall die organschaftlichen Treuebindungen beachten müssen, zu Recht die Einfahrt in den sicheren Hafen. Auch wenn man treuepflichtrelevante Entscheidungen mit der hier vertretenen Auffassung als unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG qualifiziert, scheitert die Anwendung der Business Judgment Rule an einer ungeschriebenen Voraussetzung: der Freiheit von Sonderinteressen.89 Die soeben erwähnte Definition der organschaftlichen Treuepflicht zeigt, dass diese eingreift, wenn der Geschäftsleiter zwischen den Belangen der Gesellschaft einerseits und den eigenen oder fremden Interessen andererseits entscheiden muss.90 In diesen Fällen kann der unternehmerische Charakter der Entscheidung nicht a priori verneint werden, die gerichtliche Kontrolle ist aber im Hinblick auf den Interessenkonflikt zu intensivieren.91 Als Veranschaulichung dieses abstrakten Gedankens mag folgendes Beispiel dienen: Der Vorstand der A-AG will die Anteile an der 100%-igen Tochtergesellschaft T-GmbH verkaufen, die nach einer externen, unvoreingenommenen Unternehmensbewertung ca. 50 bis 60 Mio. Euro wert sind. Der Interessent I ist bereit, für die Anteile 58 Mio. Euro zu bezahlen, der Interessent S, der Schwager eines Vorstandsmitglieds der A-AG, bietet 52 Mio. Euro. Verkauft 88 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 151 ff. 89 So auch Jena, Business Judgment Rule, S. 153. 90 Liegt gar eine Treuepflichtverletzung vor, hat sich die bloße Gefahr einer pflichtwidrigen Entscheidung realisiert (insoweit zutr. Winnen, Innenhaftung, S. 253). Zum Interessenkonflikt als Vorstufe der Treuepflichtverletzung s. noch § 8 IV 2. 91 Zur gerichtlichen Kontrolldichte in diesem Fall s. noch in § 9 IV 3. 285

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

der Vorstand die T-GmbH an I, trifft er eine unternehmerische Entscheidung. Verkauft er aber an S, liegt im Hinblick auf die verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Käufer und einem Vorstandsmitglied ein Treuepflichtverstoß nahe, weil der Vorstand nicht den optimalen Preis erzielt hat. Wie soeben erläutert, führt die Treuepflichtverletzung nach herrschender Auffassung dazu, dass keine unternehmerische Entscheidung vorliegt. Dieses Ergebnis leuchtet nicht ein. Die Qualifizierung der Verkaufsentscheidung als unternehmerisch kann nicht davon abhängen, wer der potentielle Vertragspartner ist. Vielmehr liegt in beiden Fällen eine unternehmerische Entscheidung vor, die aber beim Verkauf an S nicht durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt ist, weil der Vorstand nicht frei von Sonderinteressen handelt.92

III. Informationsgrundlage 1. Anforderungen an die Angemessenheit Ist die Geschäftsleiterentscheidung eine unternehmerische, hängt die richterliche Prüfungsdichte zunächst davon ab, ob das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Setzt man sich mit dieser prozeduralen Vorgabe auseinander, ist zwischen zwei Fragen zu trennen. Zum einen ist der Umfang der erforderlichen Informationen zu bestimmen, zum anderen ist festzulegen, wie intensiv ein Gericht die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen durch die Geschäftsleiter kontrollieren kann.93 Dabei sind die Anforderungen an den Umfang der Informationsbeschaffung Gegenstand einer uferlosen Diskussion zwischen der Rechtsprechung und dem Schrifttum, die im Rahmen dieser Untersuchung nur skizziert werden kann. Diese Debatte entzündet sich am Merkmal der Angemessenheit. Der BGH hat 2008 im GmbH-rechtlichen Kontext ausgeführt, der Geschäftsleiter könne sich nur dann auf unternehmerisches Ermessen berufen, wenn er in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausgeschöpft habe.94 Ein Teil des Schrifttums hat diesen Passus dahingehend verstanden, dass der II. Zivilsenat den sicheren Hafen nur dann eröffnet, wenn der Geschäftsleiter 92 Zu den Auswirkungen der Sonderinteressen eines Vorstandsmitglieds auf seine Kollegen s. noch in § 8 V 3 b. Zu den Auswirkungen auf den Vorstandsbeschluss s. § 8 V 4 b. 93 Die Notwendigkeit dieser Differenzierung heben zutr. hervor: Baur/Holle AG 2017, 597, 604. 94 BGH NJW 2008, 3361 Rn. 11. So auch etwa Kinzl DB 2004, 1653, 1654. 286

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Informationsgrundlage

alle denkbaren Quellen ausgewertet hat; entsprechend laut waren die kritischen Stimmen.95 Eine so umfassende Informationsbeschaffungsobliegenheit wäre in der Tat nicht zielführend, wurde aber vom BGH bei Lichte besehen nicht bezweckt. Der BGH stellt auf die konkrete Entscheidungssituation ab, was eine flexible Beurteilung der Informationsbeschaffung ermöglicht.96 Dies liegt auf einer Linie mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Sachverhaltsvermittlung bei Planungsentscheidungen. Wie in §  5 III 2 ­erläutert, müssen die Planungsbehörden nicht alle potentiell relevanten In­ formationen besorgen. Vielmehr dürfen sie die Sachverhaltsaufklärung nur insoweit betreiben, als dies für eine sachgerechte Entscheidung und eine zweckmäßige Gestaltung des Planungsverfahrens erforderlich ist. Wenn im Verwaltungsrecht – das im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG durch hohe Kon­ trollintensität geprägt ist – eine vollständige Informationsgrundlage nicht erforderlich ist, muss dies erst recht für das Aktienrecht gelten.97 2. Kontrolldichte hinsichtlich der Informationsbeschaffung Eine weitere Abschwächung der Anforderungen an die Informationsbeschaffung erlaubt das Merkmal „vernünftigerweise annehmen dürfen“. Diese Formulierung verdeutlicht, dass die angemessene Informationsgrundlage nicht objektiv vorliegen muss.98 Wie im Zusammenhang mit der Verfolgung des Gesellschaftswohls ist im Ausgangspunkt die subjektive Sicht des Vorstandsmit95 So etwa die Deutung bei Hopt ZIP 2013, 1793, 1801; Seibt, FS Seibert, S. 825, 827 f. 836.  S.  ferner Grunewald/Hennrichs, FS Maier-Reimer, S.  147, 148, 156: möglichst breite Informationsgrundlage. 96 Hierzu etwa OLG Köln NZG 2020, 110, 113; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 105; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 20; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 55 ff.; Krieger in HdB Managerhaftung Rn.  3.13 Fn.  5; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 210 ff.; Bachmann WM 2015, 105, 110; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 722; Paefgen AG 2014, 554, 562. S. auch zur Genossenschaft BGH DStR 2009, 176 Rn. 3: „Für die Ausübung unternehmerischen Ermessens ist erst dann Raum, wenn der Vorstand die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig ermittelt (…) hat.“ Auf Flexibilität zielt auch der Ansatz des 5. Strafsenats ab, s. BGH NJW 2017, 578 Rn. 34. Deutlich in diese Richtung für die GmbH Ingo Drescher, der aktuelle Vorsitzende des II. Zivilsenats, s. Drescher, Haftung, Rn. 139. 97 Bedenkenswerter Vorschlag zur Konkretisierung des Angemessenheitskriteriums bei Seibt, FS Seibert, S. 825, 835 ff. 98 In diese Richtung aber W. Goette ZGR 2008, 436, 448 Fn. 46, der sehenden Auges die Wortlautgrenzen sprengt und sich überdies über den Gesetzgeberwillen hinwegsetzt (zum subjektiven Einschlag RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  12). Wie hier etwa Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  90; K. Schmidt, FS  Haarmann, S.  194, 204. Mit W. Goette sympathisierend Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 9. 287

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

glieds entscheidend („annehmen dürfen“);99 die Beurteilung wird aber durch das Wort „vernünftigerweise“ verobjektiviert.100 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass im Schrifttum ein Streit darüber entfacht ist, ob die Vorstandsmitglieder ein Ermessen hinsichtlich der Informationsbeschaffung genießen. Während eine Ansicht wortlautgetreu dafür plädiert, die gerichtliche Prüfungsdichte auf demselben Niveau wie beim Unternehmenswohl zu halten und eine „informationelle Business Judgment Rule“ anzuerkennen,101 will die Gegenauffassung eine engmaschigere Kontrolle der Informationsbeschaffung zulassen.102 Die Gesetzespassage „vernünftigerweise annehmen dürfen“ bezieht sich sowohl auf die Informationsgrundlage als auch auf das Unternehmenswohl. Deshalb geht der erste Impuls dahin, dass die Geschäftsleiter erst dann den sicheren Hafen verlassen, wenn sie die Angemessenheit der Informationsgrundlage völlig unverantwortlich falsch einschätzen.103 Dies gilt umso mehr, als die UMAG-Gesetzesmaterialien zum Ausdruck bringen, dass eine übermäßige Verrechtlichung der Informationsbeschaffung vermieden werden soll.104 Die 99 Trotz dieser subjektiven Ausrichtung wird in den folgenden Ausführungen der sprachlichen Einfachheit halber häufig verkürzt von „angemessener Informationsgrundlage“ die Rede sein. 100 Zu dieser objektiv-subjektiven Prägung nur Hölters AktG § 93 Rn. 35; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 21; Paefgen AG 2014, 554, 561 f. 101 Dafür etwa Hölters AktG § 93 Rn. 35; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 113 ff.; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  178  ff. („Business Judgment Rule innerhalb der Business Judgment Rule“); Pfertner, Entscheidungen, S.  85  ff.; Freitag/Korch ZIP 2012, 2281, 2282  ff.; Grunewald/Hennrichs, FS Maier-Reimer, S.  147, 149; Kocher CCZ 2009, 215, 221; Lutter ZIP 2007, 841, 844 f.; Schima, Business Judgment Rule, S. 369, 396 f. Im Sinne grober Fahrlässigkeit auch Bachmann, FS Stilz, S. 25, 41 f.; ders. WM 2015, 105, 110 (vorsichtig in eine andere Richtung aber Bachmann ZHR 177 [2013], 1, 11). Für einen Gleichlauf ferner Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 276, die aber in der Sache eine höhere Kontrolldichte befürwortet als die vorgenannten Autoren (S. 277 f.). 102 So Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 91; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 21; Eckervogt, Innenhaftung, S. 160 ff.; Eisele, Hafen, S. 308 f.; N. Fischer, Vorstandshaftung, S. 85 ff.; Loth, Haftung, S. 69 f.; Baur/Holle AG 2017, 597 ff.; Redeke ZIP 2011, 59, 61 ff. In diese Richtung ferner Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 334 f.: Ermessensgrenzen seien bei Informationsgrundlage viel enger. So wohl auch Spindler in MüKo­ AktG § 93 Rn. 57. So wohl auch im GmbH-Recht Drescher, Haftung, Rn. 139. 103 Insoweit zutr. Bachmann, FS Stilz, S. 25, 42; Paefgen AG 2014, 554, 562; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 332. So auch Redeke ZIP 2011, 59, 61. Das Wortlautargument relativieren aber Baur/Holle AG 2017, 597, 600. 104 RegBegr UMAG BT-Drucks. 11/5092, S.  12.  Auf die Gesetzgebungsgeschichte abstellend etwa Pfertner, Entscheidungen, S.  86.  Dies relativierend Baur/Holle AG 2017, 597, 600 f. 288

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Informationsgrundlage

ses Ziel lässt sich dadurch erreichen, dass man die gerichtliche Prüfungsdichte so lockert, wie § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG es für das Gesellschaftswohl vorgibt. Das Vorstandsmitglied darf sich auf die Business Judgment Rule erst dann nicht berufen, wenn es völlig unverantwortlich verkannt hat, auf einer unzureichenden Informationsgrundlage zu entscheiden. Und doch ist eine informationsrechtliche Business Judgment Rule trotz der grammatikalischen und historischen Argumente nicht anzuerkennen. Die ­juristische Methodenlehre lässt es nämlich zu, ein Tatbestandsmerkmal kontextabhängig gespalten auszulegen.105 Eine solche Lösung ist unter dem Gesichtspunkt der Normklarheit nicht elegant, sie ist aber für die deutsche Rechtsordnung nicht gänzlich unüblich106 und insbesondere dann zu wählen, wenn systematisch-teleologische Argumente gegen ein einheitliches Begriffsverständnis sprechen. Im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist der Gedanke der Richtigkeitschance für die gespaltene Auslegung des Merkmals „vernünftigerweise“ ausschlaggebend. Wie bereits in § 8 I 2 erläutert, lockert die Business Judgment Rule die richterliche Prüfungsdichte hinsichtlich des Entscheidungsinhalts, wenn hinreichend gewichtige Gründe die Vermutung tragen, dass die Vorstandsmaßnahme in der Sache richtig ist, weil sie in einem ordnungsgemäßen Verfahren getroffen wurde; die prozedurale Kontrolle kompensiert die Einschränkungen bei der Inhaltskontrolle. Dieses Zusammenspiel ist bei der systematisch-teleologischen Auslegung des Merkmals „vernünftigerweise annehmen dürfen“ im Kontext der Informationsbeschaffung zu berücksichtigen. Da die Beschaffung und Auswertung der entscheidungserheblichen Informationen Bestandteile eines optimalen Entscheidungsprozesses sind, kann nur dann von einer Kompensation der Schutzdefizite, die mit einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle des Entscheidungsinhalts einhergehen, ausgegangen werden, wenn sich das Gericht intensiver mit der Informationsgrundlage beschäftigt. Reduziert man insoweit die richterliche Prüfungsdichte, wie es die Befürworter der „in105 Möllers, Methodenlehre, § 6 Rn. 27. 106 Als Beispiel mag hier die BGH-Rspr. zum Aus- und Einbau im Rahmen der Nacherfüllung dienen. Vor Einführung des Aufwendungsersatzanspruchs in § 439 Abs. 3 BGB im Jahr 2018 hat der VIII. Zivilsenat § 439 Abs. 1 BGB gespalten ausgelegt: Im b2c-Bereich hat er den Nacherfüllungsanspruch im Hinblick auf die Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie weit, im (durch Europarecht nicht geprägten) b2b- und c2c-Bereich eng verstanden (s. BGHZ 195, 135 Rn. 14 ff. = NJW 2013, 220; Möllers, Me­ thodenlehre, §  8 Rn.  90  ff.). Weitere Beispiele bei Möllers aaO §  6 Rn.  28.  Zur gespaltenen Auslegung im Finanzaufsichtsrecht hinsichtlich der Einordnung von Bitcoins s. etwa Danwerth/Hildner BKR 2019, 57, 60. 289

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

formationsrechtlichen Business Judgment Rule“ vorschlagen, steht der Gedanke der Richtigkeitschance auf einem brüchigen Fundament; der Entscheidung fehlt eine hinreichende prozedurale Legitimation. Kontrollieren die Gerichte die Informationsbeschaffung aber strenger und hält das Vorgehen der Geschäftsleiter der richterlichen Überprüfung stand, wird die Lockerung der gerichtlichen Kontrolle des Entscheidungsinhalts ausreichend kompensiert und die Maßnahme dadurch legitimiert.107 Freilich führt diese Feststellung nicht dazu, dass die Informationsbeschaffung durch den Vorstand einer vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Gerichte dürfen ihre eigenen Vorstellungen über das erforderliche Ausmaß der Informationsbeschaffung nicht an die Stelle der vorstandseigenen Einschätzung setzen. Eine solche Deutung würde die subjektive Komponente im Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und die gesetzgeberische Intention, die in den UMAG-Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gekommen ist, sehenden Auges missachten. Das Ziel des Gesetzgebers, die Informationsbeschaffung nicht zu stark zu verrechtlichen, lässt sich auch dadurch erreichen, dass man dem Vorstandsmitglied zwar keine „informationsrechtliche Business Judgment Rule“ gewährt, aber die gerichtliche Prüfungsintensität auf ein Niveau absenkt, dass zwischen der vollständigen Kontrolle und der Evidenzkontrolle verortet ist.108 Auf einem solchen Niveau ist die Vertretbarkeitskontrolle angesiedelt. Es muss für einen Dritten im Einzelnen nachvollziehbar sein, welche Erwägungen der Geschäftsleiter im Rahmen der Informationsbeschaffung angestellt hat.109

IV. Freiheit von Sonderinteressen 1. Verortung und teleologische Grundlage des Tatbestandsmerkmals Neben der hinreichenden Information gehört die Freiheit von Sonderinteressen zu den weiteren prozeduralen Voraussetzungen, unter denen die gerichtliche Kontrolldichte nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gelockert wird. Bei unbefangener Lektüre des Gesetzeswortlauts ist diese Feststellung überraschend, weil § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG den Interessenkonflikt der Vorstandsmitglieder nicht erwähnt. Dennoch leitet das Schrifttum – den UMAG-Gesetzesmaterialien folgend110 – aus dem Passus „Wohl der Gesellschaft“ her, dass die 107 Ausf. Baur/Holle AG 2017, 597, 602 ff. 108 Aus praktischen Gründen krit. Bachmann, FS Stilz, S. 25, 42. 109 Insoweit zutr. Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S.  277  f. Ähnlich Taube, Busi­ness Judgment Rule, S. 91 ff. 110 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 290

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Freiheit von Sonderinteressen

Vorstandsmitglieder unbefangen sein müssen, um sich auf die Business Judgment Rule berufen zu können.111 Diese Herleitung überzeugt nicht.112 Versteht man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung der gerichtlichen Kontrolldichte, ist die Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ – wie schon in § 7 V 6 a erläutert – kein echtes Tatbestandsmerkmal, sondern eine Umschreibung des gerichtlichen Prüfungsprogramms, das dann gilt, wenn der Tatbestand der Business Judgment Rule erfüllt ist. Überdies kann ein Geschäftsleiter, der in einem Interessenkonflikt entscheidet, durchaus vernünftigerweise davon ausgehen, das Unternehmenswohl zu verwirklichen, etwa wenn er in der Lage ist, seine eigenen Belange auszublenden.113 Im Hinblick darauf bestreitet ein Teil des Schrifttums, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG immer dann ausscheidet, wenn ein Vorstandsmitglied durch Sonderinteressen beeinflusst ist.114 Auch wenn die dogmatische Anknüpfung der herrschenden Auffassung nicht überzeugend ist, geht die letztgenannte Ansicht zu weit. Der Umstand, dass sich die Freiheit von Sonderinteressen nicht aus dem Passus „Wohl der Gesellschaft“ herleiten lässt, führt nicht automatisch dazu, dass befangene Vorstandsmitglieder sich auf die Business Judgment Rule berufen können. Vielmehr ist die Unbefangenheit des Vorstandsmitglieds ein eigenständiges, ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal,115 das in den UMAG-Gesetzesmaterialien hervorgehoben wird und das sich überdies auf die Teleologie und Funktionsweise des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG stützen lässt.116 Formuliert man § 93 111 So etwa Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 44; Hölters AktG § 93 Rn. 38; Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  25; S.  Binder, Vorstandshaftung, S.  107; Seyfarth VorstandsR §  23 Rn.  28; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  292  ff.; Wallisch, Entscheidungen, S. 64 f.; Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 2068; Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 603. Im GmbH-Recht Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 43 Rn. 57. 112 So auch Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 204, der das „Wohl der Gesellschaft“ als materielles, die Konfliktfreiheit als formelles Merkmal der BJR begreift. Krit. ferner Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 127, 129. Zurückhaltend auch J. Koch ZGR 2014, 697, 701 f. 113 Insoweit zutr. Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 19; Krieger in HdB Managerhaftung Rn. 3.15. S. ferner Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 204; J. Koch, FS Säcker, S. 403, 406. AA Lutter, FS Priester, S. 417, 419 f. 114 So Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 19; Krieger in HdB Managerhaftung Rn. 3.15; Thomas, Haftungsfreistellung, S. 50, 263. Sympathisierend Wachter/Link AktG § 93 Rn. 46. 115 In diese Richtung Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 92: Das Tatbestandsmerkmal sei eigenständig und als solches zu erfüllen. 116 Freilich wäre es vorzugswürdig, wenn der Gesetzgeber das negative Tatbestandsmerkmal ausdrücklich im Gesetzeswortlaut verankert hätte, statt sich auf eine Aus291

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

Abs. 1 Satz 2 AktG aus der Perspektive eines Gerichts,117 handelt es sich bei dem Passus „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ – wie soeben erwähnt – um die Rechtsfolge der Business Judgment Rule, die darin besteht, dass die richterliche Kontrolle des Entscheidungsinhalts gelockert wird. Eine solche Lockerung kommt aber nur in Betracht, wenn die („echten“) Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind; sie wird – wie schon im Kontext der Informationsgrundlage in § 8 III 2 dargestellt – durch eine strengere Überprüfung der Entscheidungsprozedur kompensiert. Von einer solchen Kompensation der eingeschränkten Inhaltskontrolle kann nur dann ausgegangen werden, wenn eine Vermutung aufgestellt werden kann, dass die Entscheidung dem Gesellschaftswohl entspricht. Eine solche Vermutung – man mag sie auch Richtigkeitsgewähr oder Richtigkeitschance nennen – lässt sich lediglich in Fällen begründen, in denen das Vorstandsmitglied nicht in einen Interessenkonflikt verwickelt ist.118 Ein befangener Geschäftsleiter mag im konkreten Fall in der Lage sein, seine Sonderinteressen auszublenden und ausschließlich zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, in einer solchen Situation fehlt aber eine hinreichend stabile Grundlage, die den Gedanken der Richtigkeitschance trägt. Vielmehr besteht ein Risiko, dass der Geschäftsleiter aus opportunistischen Gründen unsorgfältig handelt,119 was für eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle spricht.120 2. Konfliktbegriff des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Folgt man der herrschenden Auffassung im Ausgangspunkt dahin, dass nur unbefangene Vorstandsmitglieder sich auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen dürfen, ist zu klären, wann ein Geschäftsleiter einem Interessenkonflikt untersage in den Materialien zu beschränken. Für eine explizite Regelung auch Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  127  f.; Brömmelmeyer WM 2004, 2065, 2068; Ihrig WM 2004, 2098, 2105. 117 Dazu schon in § 7 V 6. 118 Zu diesen teleologischen Erwägungen statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 93; ders., FS Wiedemann, S. 827, 841 f.; P. Doralt/W. Doralt in Semler/v. Schenck AR-HdB § 14 Rn. 131; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 129 f.; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 205 f.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 278 f.; J. Koch, FS Säcker, S. 403, 406 f.; Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1351. 119 Zu den Gefahren, die mit einem Interessenkonflikt bei einer Ermessensentscheidung einhergehen, s. Kuhner zfwu 2005, 138, 139 f. 120 Einzelheiten zur gerichtlichen Prüfungsdichte bei befangenen Vorstandsmitgliedern in § 9 IV 3. 292

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Freiheit von Sonderinteressen

liegt.121 Diese Aufgabe ist anspruchsvoll, weil das Aktienrecht – wie das sonstige Verbandsrecht auch  – keine subsumtionsfähige Legaldefinition des Inte­ ressenkonflikts kennt,122 sondern auf einer kasuistischen Regelungstechnik basiert. Der Gesetzgeber statuiert Gebote und Verbote für abstrakt umschriebene Sachverhalte, in denen die Gefahr eines Interessenkonflikts typischerweise groß ist.123 Schickt man sich an, den Konfliktbegriff in einem solchen Regelungsumfeld abstrakt zu definieren, sind Schwierigkeiten vorprogrammiert.124 Diese beginnen beim Aufbau des Meinungsstandes. Zahlreiche Stellungnahmen definieren den Konfliktbegriff des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG nicht, sondern setzen  ihn schlicht voraus.125 Aber auch die bisherigen Definitionsversuche im Schrifttum helfen nur bedingt weiter. Die einschlägigen Stellungnahmen sind sich (zu Recht) darin einig, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingreifen kann, wenn die Interessen der Gesellschaft und des Vorstandsmitglieds gleichläufig sind; in diesem Fall liegt schon begrifflich kein Konflikt vor.126 Jenseits dieses Minimalkonsenses driften die Aussagen auseinander. Einige wenden die Business Judgment Rule nicht an, wenn die Geschäftsleiter die Loyalitätspflicht verletzt haben: Auch unternehmerische Entscheidungen seien auf einen Treuepflichtverstoß hin zu überprüfen.127 Die herrschende Auffassung lässt die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hingegen ohne eine Loyalitätspflichtverletzung entfallen. In Anlehnung an eine von Marcus Lutter aufgestellte Formel128 121 Zur Definition des Interessenkonflikts aus betriebswirtschaftlicher Perspektive Kuhner zfwu 2005, 138. 122 Im Kontext der BJR s. etwa Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 25; C. Schäfer ZGR 2014, 731, 741 ff. 123 Zu dieser Regelungstechnik statt vieler Kumpan, Interessenkonflikt, S. 41; Zöllner, Schranken, S. 161; J. Koch ZGR 2014, 697, 698.  124 Resignierend Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 25: Einzelfallbeurteilung des Richters, die den common law-Wurzeln des legal transplant BJR entspreche. Ebenfalls auf den Einzelfall abstellend Paefgen, Entscheidungen, S. 217. 125 So auch die Beobachtung von C. Schäfer ZGR 2014, 731, 740. In der aktienrechtlichen Kommentarliteratur wird der Konfliktbegriff nicht näher definiert bei: Bürgers in Bürgers/Körber AktG §  93 Rn.  14; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  93 Rn. 24; Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 44; Hölters AktG § 93 Rn. 38; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 90 ff.; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 25 ff. S. ferner Kuhner zfwu 2005, 138. 126 Statt vieler Mertens/Cahn in KK-AktG §  93 Rn.  26; Holtkamp, Interessenkonflikt, S. 40.  127 C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1256; ders. ZGR 2014, 731, 743 ff. Dazu tendieren auch: Eisele, Hafen, S. 229; B. Peus, Haftung, S. 126 f.; Wallisch, Entscheidungen, S. 65. 128 Lutter, FS Priester, S. 417, 423. 293

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

wird ein Interessenkonflikt bereits dann bejaht, wenn bei objektiver Betrachtung nicht sicher ist, dass das betreffende Organmitglied wegen weiterer und objektiv entgegenstehender Belange in seiner Person oder in den ihm nahestehenden Personen und Unternehmen allein die Interessen seiner Gesellschaft vertreten wird.129 Auf dieser Linie liegen Stimmen, die einen relevanten Inte­ ressenwiderstreit bei einer konkreten Gefahr eines Treuepflichtverstoßes annehmen.130 Manche unterstreichen, dass der Konfliktbegriff des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG weit zu fassen sei. Er erstrecke sich auf alle finanziellen und nicht finanziellen Motive des Organmitglieds, die dieses daran hindern würden, das Gesellschaftsinteresse unbefangen zu artikulieren.131 Die vorstehenden Definitionsversuche offenbaren eine gewisse Ratlosigkeit des juristischen Schrifttums.132 Die Formulierungen sind so weich, dass sie keine Subsumtion eines Sachverhalts unter den Konfliktbegriff ermöglichen und den Rechtsanwender zu einer Einzelfallbeurteilung zwingen. Dies kann man als einen Missstand empfinden und nach einer schärferen Definition suchen, man kann sich aber auch mit der Konturlosigkeit des Konfliktbegriffs abfinden und eine Erkenntnis nutzbar machen, die allen Stellungnahmen innewohnt: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Treuepflichtverletzung und dem Interessenkonflikt.133 Zwar ist die organschaftliche Treuepflicht eine Generalklausel, so dass sie ebenfalls keine klassische Subsumtion ermöglicht, die Fallgruppenbildung ist in diesem Bereich aber so weit fortgeschritten, dass der Konfliktbegriff des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf diesem Fundament verfeinert werden kann; dadurch wird die Rechtsanwendung erleichtert. Allerdings wird man nicht so weit gehen können, dass man einen Interessenkonflikt im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erst dann bejaht, wenn ein Vorstandsmitglied die organschaftliche Treuepflicht im konkreten Fall verletzt hat. Wie schon in § 8 IV 1 erläutert, setzt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Unbefangenheit des Vorstandsmitglieds voraus, weil eine Lockerung der gerichtlichen 129 Auf Lutter verweisen etwa: Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  93; Spindler in ­MüKoAktG § 93 Rn. 71; J. Koch ZGR 2014, 697, 703 f. Ähnlich die Formulierungen bei Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn.  1526; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  294; Scholl, Vorstandshaftung, S. 279; Seyfarth VorstandsR § 23 Rn. 28. 130 So H. Diekmann/Fleischmann AG 2013, 141, 143. Ähnlich Winnen, Innenhaftung, S. 252 ff. Vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Semler, FS Ulmer, S. 627, 637: Gefahr eigennütziger Interessenwahrung. 131 Paefgen AG 2014, 554, 563. 132 Zutr. J. Koch ZGR 2014, 697, 707: ernüchterndes Fazit. 133 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 90; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 42; Pfertner, Entscheidungen, S. 89; Ruffner, Grundlagen, S. 215; Scholl, Vorstandshaftung, S. 280. 294

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Freiheit von Sonderinteressen

Inhaltskontrolle nur dann angebracht ist, wenn eine optimale Entscheidungsprozedur gesichert ist. Ist das Vorstandsmitglied befangen, erhöht sich die richterliche Prüfungsdichte. Dieses prozedurale Verständnis der Business Judgment Rule gebietet eine engmaschigere Kontrolle des Entscheidungsinhalts nicht nur in Fällen, in denen der Geschäftsleiter sich illoyal verhalten hat,134 sondern bereits dann, wenn die Gefahr droht, dass das Vorstandsmitglied seine eigenen Belange den Interessen der Gesellschaft vorzieht.135 Der Interessenkonflikt im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist also die Vorstufe eines Treuepflichtverstoßes.136 Geht man von dieser Erkenntnis aus, ist ein Vorstandsmitglied befangen, wenn es sich in einer Situation befindet, die potentiell in eine Treuepflichtverletzung umschlagen kann. Eröffnet sich etwa eine Geschäftschance, die das Vorstandsmitglied zugunsten der Gesellschaft oder für eigene Zwecke nutzen kann,137 ist die Business Judgment Rule nicht erst dann unanwendbar, wenn das Vorstandsmitglied eigennützig handelt, sondern die gerichtliche Kontrolle des Entscheidungsinhalts ist bereits dann zu intensivieren, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Geschäftsleiter die Situation zu seinen Gunsten steuern könnte. Auch wenn die Möglichkeit besteht, dass die Gesellschaftsressourcen anlässlich einer Vorstandsentscheidung in die Tasche des Geschäftsleiters fließen,138 verbleibt für eine bloße Evidenzkontrolle gem. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kein Raum. Im Rahmen der Business Judgment Rule wird also die dogmatische Trennung zwischen den Sorgfalts- und Treuepflichten139 ein Stück weit aufgehoben und ein Zusammenhang zwischen den beiden, im Ausgangspunkt nebeneinander stehenden Kategorien anerkannt.140 Es sind nämlich Fälle denkbar, in denen 134 Bei einer solchen Deutung des Konfliktbegriffs hätte § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG folgenden (wenig sinnvollen) Inhalt: „Eine Sorgfaltspflichtverletzung liegt nicht vor, wenn kein Treuepflichtverstoß vorliegt“. S. dazu J. Koch ZGR 2014, 697, 703. 135 In diese Richtung Heidel/U. Schmidt AktG §  93 Rn.  92.  Ähnlich im Kontext der ­related party transactions RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 77: „Ein Interessenkonflikt ist anzunehmen, wenn Gründe vorliegen, aufgrund derer das Aufsichtsratsmitglied seine Entscheidung nicht allein am Unternehmensinteresse, sondern auch an dem Interesse der nahestehenden Person orientieren könnte.“ 136 S. schon in § 8 II 5. 137 Zur Geschäftschancenlehre als Anwendungsfall der organschaftlichen Treuepflicht s. etwa Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 168 ff. 138 Zu Aneignung der Ressourcen und Loyalitätsgebot Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 186. Treffendes Beispiel bei Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 46 f. 139 Zu dieser Kategorisierung statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 14, 143. 140 Vgl. ferner die Überlegungen bei Paefgen, Haftung, S. 172 ff. 295

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

sich ein Geschäftsleiter in einem Interessenkonflikt befindet, der sich aber noch nicht zu einer Treuepflichtverletzung verdichtet hat. Zugleich begründen die Sonderinteressen die Gefahr, dass der Geschäftsleiter bei der Entscheidungsfindung weniger Sorgfalt im Umgang mit dem Gesellschaftsvermögen walten lässt. Deshalb ist es angezeigt, schon im Vorfeld eines Treuepflichtverstoßes die richterliche Kontrolle hinsichtlich der Sorgfaltspflicht zu intensivieren. 3. Nahe stehenden Personen als Konfliktquelle Die vorstehend aufgestellte Formel ist dahingehend zu ergänzen, dass die Belange, die den Interessenwiderstreit hervorrufen, nicht zwingend unmittelbar in der Person des Vorstandsmitglieds liegen müssen. Vielmehr greift die Business Judgment Rule nach zutreffender herrschender Auffassung auch nicht ein, wenn die Vorstandsmaßnahme Interessen von Personen berührt, die dem Vorstandsmitglied nahe stehen.141 In einem solchen Fall ist der Geschäftsleiter mittelbar betroffen, so dass von optimalen Entscheidungsvoraussetzungen und einer Richtigkeitschance keine Rede sein kann und eine intensivere gerichtliche Inhaltskontrolle gerechtfertigt ist. So konsentiert diese Feststellung ist, so schwer fällt es, den Kreis nahestehender Personen zu umgrenzen. Am ehesten bietet es sich an, Vorschriften heranzuziehen, deren Anwendungsbereich über den unmittelbaren Normadressanten hinaus auf weitere Personen erweitert wird. Im aktienrechtlichen Kontext sind namentlich §  89 Abs.  3 Satz  1 und §  115 Abs.  2 AktG zu nennen, die ­besondere Kautelen für Finanzierungsverträge auf Kredite an den Ehegatten, ­Lebenspartner oder an ein minderjähriges Kind eines Organmitglieds erstreckt.142 Berührt eine Vorstandsentscheidung die Interessen einer Person, die zu dieser Gruppe gehört, zeigt die in § 89 Abs. 3 Satz 1 und § 115 Abs. 2 AktG verankerte Wertung, dass der Geschäftsleiter befangen ist und sich deshalb nicht auf die Business Judgment Rule berufen darf. Außerdem kann §  111a Abs. 1 Satz 2 AktG als Argumentationsstütze dienen, der für die Bestimmung der nahestehenden Personen im Kontext der related party trans­actions auf die

141 Statt vieler Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 48. 142 Diese Personengruppe ist auch in § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 KWG genannt, der sich auf bankaufsichtsrechtlicher Ebene die Vergabe von Organkrediten reguliert. Weitere Beispiele bei Wachter/Link AktG § 93 Rn. 48; Engert, Schutzrecht, S. 59, 65 f.; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 331 f.; J. Koch ZGR 2014, 697, 705. Für Anlehnung an Art. 49 BayGO Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 197 f. 296

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Freiheit von Sonderinteressen

VO (EG) Nr.  1126/2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards143 verweist.144 Freilich definieren § 89 Abs. 3 Satz 1, § 115 Abs. 2 und § 111a Abs. 1 Satz 2 AktG nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, entfalten aber keine abschließende Wirkung dergestalt, dass Personen, die in diesen Vorschriften nicht ­genannt sind, von vornherein keine Konfliktquelle sind.145 Vielmehr können Belange weiterer Familienmitglieder oder gar enger Freunde wegen einer besonderen persönlichen Beziehung einen Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds provozieren.146 Überdies kann auch eine wirtschaftliche oder ideelle Beziehung zwischen dem Geschäftsleiter und einem Verband ausreichen, um die Befangenheit zu begründen, so etwa, wenn das Vorstandsmitglied an einer Gesellschaft beteiligt ist oder dort eine Funktion ausübt und die Vorstandsentscheidung die Interessen dieses Unternehmens berührt.147 4. Relevanz a) Schwere des Interessenkonflikts Während die Einbeziehung der nahestehenden Personen den Konfliktbegriff erweitert, muss in sachlicher Hinsicht eine Einschränkung vorgenommen wer143 Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission vom 3. November 2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates 144 Vgl. IAS 24 Ziff. 9. Dazu aufschlussreich Florstedt ZHR 184 (2020), 10, 21 ff. 145 Insoweit zutr. Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 331 f. S. ferner Unmuth, Vergleich, S. 238 f. 146 Zutr. Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 128; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 51 f.; Unmuth, Vergleich, S. 239; J. Koch ZGR 2014, 697, 705 f. S. auch im Kontext der related party transactions RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 78: „Ein Interessenkonflikt kann auch durch familiäre oder emotionale Beziehungen entstehen. Langjährige freundschaftliche Beziehungen, die über eine alltägliche Bekanntschaft hinausgehen und aufgrund derer eine Beeinflussung der Entscheidung nicht ausgeschlossen erscheint, können die Besorgnis eines Interessenkonflikts ebenfalls begründen. Gerade in solchen Konstellationen droht eine schwerer erkennbare Unterordnung des Unternehmensinteresses unter eine persönliche Verbundenheit.“ Freilich muss in diesem Fall geprüft werden, ob der Interessenwiderstreit ein hinreichend großes Gewicht hat; zur Relevanzschwelle vgl. sogleich in §  8 IV 4.  Enger Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 332: grundsätzlich nur enge Verwandte, verstanden als die in § 89 Abs. 3 Satz 1 AktG genannten Personen auch Geschwister und alle Verwandte in gerader Linie. Noch enger Taube, Business Judgment Rule, S.  71: Qualifiziertes Näheverhältnis, bei dem die Maßnahme einem Eigengeschäft nahekommt. 147 Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  93; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  130  f.; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 52 f. 297

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

den, will man die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht aushebeln. Wollte man jeden noch so kleinen Interessenwiderstreit unter das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal fassen, wäre die Business Judgment Rule praktisch totes Recht. Deshalb ist der Zugriff auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur dann versperrt, wenn die durch die Vorstandsentscheidung betroffenen Belange so gewichtig sind, dass eine Beeinflussung der Entscheidungsfindung ernsthaft zu befürchten ist.148 Mit anderen Worten muss der Konflikt eine Relevanzschwelle überschritten haben.149 Dies ist insbesondere dann bedeutsam, wenn der Interessenkonflikt nicht unmittelbar in der Person des Vorstandsmitglieds oder eines engen Familienangehörigen begründet ist, sondern wenn der Befangenheitsvorwurf auf Belange eines „weiter entfernten“ gesellschaftsfremden Dritten gestützt wird.150 Vorzugswürdig ist ein bewegliches System: Je enger die Konfliktquelle mit dem Vorstandsmitglied verbunden ist, desto tiefer liegt die Relevanzgrenze. Umgekehrt muss der Interessenkonflikt umso gewichtiger sein, je loser die Verbindung zwischen dem Geschäftsleiter und dem gesellschaftsfremden Dritten ist.151 Wann die Relevanzschwelle überschritten ist, sagt das Aktienrecht zwar nicht ausdrücklich, es liefert aber dennoch Anhaltspunkte für die Bestimmung des Befangenheitsgrads. Wie Nico Holtkamp herausgearbeitet hat, kann als normativer Anknüpfungspunkt abermals § 89 AktG dienen, der in Abs. 1 Satz 5 solche Organkredite von den besonderen Kautelen befreit, die ein Monatsgehalt nicht übersteigen. Freilich handelt es sich nicht um eine starre Grenze, sondern das Monatsgehalt erlaubt eine erste Orientierung bei der Bestimmung der Relevanzschwelle, unterhalb derer §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG anwendbar bleibt.152 Wie soeben erläutert, wird sie über das Niveau des § 89 Abs. 1 Satz 5 AktG anzuheben sein, wenn die unternehmerische Entscheidung eine Person betrifft, mit der das Vorstandsmitglied nur lose verbunden ist. b) Zusammenhang zwischen Befangenheit und Entscheidung Bislang wurde die Relevanz in erster Linie im Hinblick auf die Schwere des Interessenkonflikts diskutiert. Sie kann aber auch problematisch sein, wenn 148 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 93; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 70; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 333 f. 149 J. Koch ZGR 2014, 697, 706; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 333. 150 Zutr. Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 332, 335. 151 Ähnlich Taube, Business Judgment Rule, S. 73 ff. 152 Vgl. im Allgemeinen Holtkamp, Interessenkonflikt, S. 53. 298

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Freiheit von Sonderinteressen

kein hinreichend starker Zusammenhang zwischen den Sonderinteressen und der Vorstandsmaßnahme besteht und der Interessenkonflikt deshalb nicht geeignet ist, die Entscheidungsfindung der Geschäftsleiter zu beeinflussen. Ein solcher Zusammenhang kann etwa fehlen bei komplexen Vorstandsentscheidungen, die aus mehreren Teilentscheidungen bestehen.153 Sind Teilaspekte einer komplexen Entscheidung in einem unterschiedlichen Grad von einem Interessenkonflikt beeinflusst, ist die unterschiedliche Prägekraft des Interessenkonflikts bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte zu berücksichtigen. Die Anwendung der Business Judgment Rule kommt umso mehr in Betracht, je schwächer sich die Befangenheit auf eine Teilentscheidung auswirkt. Die Vorstandsentscheidung ist nur insoweit einer vollen gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen, als die Befangenheit das Entscheidungsergebnis unmittelbar betrifft. Steht der Interessenkonflikt in einem eher losen Zusammenhang mit einem Teilaspekt einer komplexen unternehmerischen Entscheidung, greift die Business Judgment Rule ein. Zur Verdeutlichung dieses abstrakten Gedankens kann ein fiktiver Fall dienen, in dem der Vorstand der B-Bank-AG erwägt, den Kunden der B automatisierte Anlage- und Kreditberatung sowie Vermögensverwaltung anzubieten. Die Vorstandsmitglieder sind sich nicht darüber einig, ob eine solche Investition überhaupt durchgeführt werden soll oder ob man auf die klassischen Beratungs- und Verwaltungsleistungen setzen sollte. Überdies wird in den Vorstandssitzungen diskutiert, ob B ein eigenes Robo-Advisor-Team aufbauen oder lieber ein FinTech-StartUp erwerben soll, das sich auf Durchführung von Algorithmus-gestützter Anlageberatung und Vermögensverwaltung spezialisiert. Dabei hat der Vorstand drei Unternehmen (X, Y und Z) identifiziert, deren Technologien sich im Detail unterscheiden. An X ist die Schwester des Vorstandsmitglieds V (S) als stille Teilhaberin beteiligt, was V weiß,154 aber seinen Kollegen verschweigt. Der Preis für X liegt bei 60 Mio. Euro, für Y bei 70 Mio. Euro und Z bei 40 Mio. Euro. Nach ausgiebiger Beratung fasst der Vorstand mit Stimme des V den Beschluss, die automatisierten Finanzdienstleistungen einzuführen und X zu erwerben. X wird als eine 100%ige Tochter-GmbH in die Konzernstruktur der B integriert. Nach einigen Jahren erweist sich die Entscheidung als ein Verlustgeschäft. X kann nicht mal die Kosten erwirtschaften, die B für den Kauf und die Integration des FinTechs investiert hat.

153 Zur Behandlung der Interessenkonflikten bei komplexen Entscheidungen s. auch Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 48 f. 154 Zur Kenntnis des Konflikts s. noch in § 8 IV 5. 299

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

Befasst sich ein Gericht mit der Investition, muss es klären, wie intensiv es die (unternehmerische) Vorstandsentscheidung kontrollieren darf. Geht es um das Verhalten des V, ist die Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wegen Befangenheit problematisch. Die persönliche Nähe zwischen S und V spricht dagegen, die individuelle Entscheidung des V daraufhin zu kontrollieren, ob sie völlig unverantwortlich war. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Erwerb der X auf mehreren Teilentscheidungen beruht: Auf der ersten Ebene geht es um die Frage, ob B überhaupt in automatisierte Finanzdienstleistungen investiert. Ist die Antwort positiv, muss der Vorstand auf der zweiten Ebene entscheiden, ob er eine interne oder externe Lösung präferiert. Bevorzugt er den Erwerb eines Tochterunternehmens, muss er auf der dritten Ebene zwischen drei potentiellen Investitionsobjekten auswählen. Die Investition in X kann also aus mehreren Gründen beanstandet werden: erstens wegen der (abstrakten) Entscheidung, auf neue Technologien zu setzen, zweitens wegen der Festlegung auf eine externe Lösung und drittens wegen der Wahl des (konkreten) Investitionsobjekts. In diesem komplexen Entscheidungsverfahren wirkt sich der Interessenkonflikt des V jedenfalls auf die Auswahl des Zielunternehmens auf der dritten Ebene aus.155 Auch die zweite Ebene, also die Entscheidung zwischen der internen und externen Lösung, wird durch die persönliche Nähe zwischen V und S stark beeinflusst. Legt sich der Vorstand darauf fest, ein eigenes Robo-­AdvisorTeam aufzubauen, erwachsen daraus keine Vorteile für S, was das Verhalten des V prägen kann.156 Geht es aber um die generelle Frage, ob B automatisierte Finanzdienstleistungen anbieten oder sich auf das klassische Geschäft konzen­ trieren soll, steht nicht die Beziehung zwischen V und S im Vordergrund, sondern die Entscheidung für und wider die Einführung von neuen Technologien und über die damit verbundenen Gewinnchancen. Da die Intensität des Inte­ ressenkonflikts schwächer ist als auf der zweiten und dritten Ebene des komplexen Entscheidungsverfahrens, dürfte die Relevanzschwelle nicht überschritten sein. Insoweit dürfte sich V auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen.157 155 Da der Interessenkonflikt des V verborgen blieb, genießen die übrigen Vorstandsmitglieder den Schutz der BJR, wenn die sonstigen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind, s. dazu in § 8 VI 5 c bb. Der Vorstandsbeschluss ist infiziert und liegt nicht im sicheren Hafen, s. noch in § 8 VI 5 d bb. 156 Bejaht man einen Interessenkonflikt, ist aber fraglich, ob die man eine volle gerichtliche Inhaltskontrolle der Entscheidung gestattet oder ob eine Vertretbarkeitskon­ trolle angezeigt ist; s. dazu noch in § 9 IV 3 mit Ausführungen zum Beispielsfall in Fn. 65. 157 Freilich nur dann, wenn er von einer angemessenen Informationsgrundlage ausgehen durfte. 300

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Freiheit von Sonderinteressen

Die Eignung des Interessenkonflikts, die Entscheidungsfindung im Vorstand zu beeinflussen, kann außerdem fehlen, wenn der Konflikt zu einem Zeitpunkt begründet wurde, in dem die Entscheidung bereits feststand. In einem solchen Fall wirkt sich die Befangenheit nicht mehr auf die Willensbildung der Geschäftsleiter aus. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens, den man als Relevanz in zeitlicher Hinsicht etikettieren kann, mag folgendes Beispiel dienen: Die B-Bank-AG will vom Gesellschafter G1 der X-GmbH 30% der Anteile erwerben; die restlichen 70% der Anteile an X liegen in den Händen der Gesellschafter G2 und G3. Der Vorstand der B veranlasst bei der X eine Due Diligence, verhandelt mit G1 über den Kaufpreis und fasst am 31. Januar den Beschluss, die Anteile zu erwerben. Am 10.  Februar sollen G1 und der B-Vorstand den Kaufvertrag bei einem Notar abschließen. Am 5. Februar erwirbt S, die Schwester des Vorstandsmitglieds V, von G2 35% der Anteile an X. Wegen der persönlichen Nähe zu S befindet sich V im Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 10. Februar in einem Interessenkonflikt. Seine Befangenheit ist aber nicht mehr geeignet, die Vorstandsentscheidung über den Anteilserwerb zu beeinflussen, weil der Erwerb am 5.  Februar beschlossen wurde. Da der Interessenkonflikt des V für die Entscheidungsfindung nicht mehr relevant ist, steht er der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht entgegen. Dies mag im vorliegenden Fall selbstverständlich erscheinen. Das Geeignetheitskriterium kann aber in anderen Konstellationen, etwa bei Abwehr feindlicher Übernahmen, eine weitaus größere Rolle spielen; darauf wird in § 11 II 8 c zurückzukommen sein. 5. Objektive oder subjektive Unbefangenheit? Während die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der nahestehenden Personen und der Relevanzschwelle dem generalklauselartigen Charakter des Konfliktbegriffs geschuldet und auf der Detailebene angesiedelt sind, hat ein weiteres Problem eine grundlegende Bedeutung. Das Schrifttum ist sich nämlich nicht darüber einig, ob der Befangenheit ein subjektives Element innewohnt. Während manche Autoren die Business Judgment Rule bereits dann nicht anwenden wollen, wenn der Interessenkonflikt objektiv vorliegt,158 setzen andere 158 Dafür Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 93; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 92; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 74; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 127 ff.; Jena, Business Judgment Rule, S. 176 f.; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 198; Pfertner, Entscheidungen, S. 90; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 79; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257.  Unklar Marcus Lutter, der zwar von „objektiver Betrachtung“ spricht (Lutter, FS Priester, S. 417, 422 f.; ders., FS Canaris II, S. 245, 247), was aber 301

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die Kenntnis des Vorstandsmitglieds von seiner Befangenheit voraus.159 Manche schwächen das subjektive Verständnis dahingehend ab, dass vom Standpunkt eines neutralen und mit den Verhältnissen in einer Aktiengesellschaft vertrauten Betrachters Umstände vorliegen müssen, die geeignet sind, Zweifel an der Unbefangenheit des Vorstandsmitglieds zu begründen; angeknüpft wird also an den objektiv-subjektiven Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.160 Die Lösung des Problems kann weder §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG noch den UMAG-­ Gesetzesmaterialien sicher entnommen werden.161 Leitet man die Freiheit von Sonderinteressen aus der Formulierung „Wohl der Gesellschaft“ her, liegt es nahe, mit der letztgenannten Ansicht konsequent darauf abzustellen, ob das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, nicht von gesellschaftsfremden Belangen beeinflusst zu sein.162 Doch wurde bereits in § 8 IV 1 erläutert, dass eine solche Verortung des negativen Tatbestandsmerkmals wenig glücklich ist. Folgt man der hier vertretenen Ansicht, dass es sich bei der Unbefangenheit um ein selbständiges Tatbestandsmerkmal der Business Judgment Rule handelt, ist es nicht zwingend, den objektiv-subjektiven Maßstab zu übernehmen.163 Auch die Regierungsbegründung ist wenig ergiebig. Dort wird zunächst ausgeführt, dass der Geschäftsleiter unbefangen und unabhängig sein muss,164 was für ein objektives Verständnis spricht.165 In einem Atemzug nicht zwingend bedeutet, dass der Konfliktbegriff keinerlei subjektive Komponenten enthält; s. dazu bereits J. Koch ZGR 2014, 697, 704.  159 So Wachter/Link AktG § 93 Rn. 47; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 27; Seyfarth VorstandsR § 23 Rn. 28; B. Peus, Haftung, S. 129; Unmuth, Vergleich, S. 236; J. Koch ZGR 2014, 697, 703  f.; Paefgen AG 2004, 245, 252.  Noch enger Autoren, die dem Vorstand die Privilegierung nur dann versagen, wenn sich dieser von Eigeninteressen leiten ließ; so im übernahmerechtlichen Kontext Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 126. 160 Eckervogt, Innenhaftung, S.  151; Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S.  59  ff.; Holtkamp, Interessenkonflikte, S.  206; Winnen, Innenhaftung, S.  271  f.; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 329; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 727; Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 613. So wohl auch Dendl, Disposition, S. 37 f. 161 Ebenso Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S. 60. 162 So augenscheinlich Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 25 Rn. 61; Dies berücksichtigt Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 127 nicht, der das objektive Verständnis unterstellt und den Gesetzeswortlaut in sein dogmatisches Konzept zu zwingen versucht. 163 Inkonsequent deshalb Holtkamp, Interessenkonflikte, der auf S. 204 die Zuordnung der Befangenheit zum „Wohl der Gesellschaft“ zu Recht kritisiert, auf S.  206 aber dennoch auf „vernünftigerweise annehmen dürfen“ abstellt. 164 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 165 So die Argumentation bei: Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 93. 302

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erwähnt die Begründung aber im Zusammenhang mit dem Interessenkonflikt die Gutgläubigkeit des Vorstandsmitglieds, was auf ein subjektives Verständnis hindeutet. Vor diesem Hintergrund sind teleologische Erwägungen ausschlaggebend. Auszugehen ist von der Erkenntnis, dass die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle nur dann gelockert werden kann, wenn ein optimales Entscheidungsverfahren die Richtigkeitsvermutung trägt. Ist ein Geschäftsleiter befangen, kann eine solche Vermutung nicht aufgestellt werden, weil die Gefahr besteht, dass er sich von gesellschaftsfremden Erwägungen leiten lässt.166 Ein solches Risiko ist aber nicht begründet, wenn das Vorstandsmitglied arglos ist. Wer keine Kenntnis von etwaigen Sonderinteressen hat, kann diese Interessen nicht in die Entscheidungsfindung einfließen lassen. Ein nur objektiv befangenes Vorstandsmitglied hat keinen Anlass dafür, seine persönlichen Belange dem Gesellschaftswohl vorzuziehen.167 Hinzu kommt, dass subjektive Elemente eine einschränkende Funktion entfalten und deshalb im Hinblick auf den diffusen Charakter des Konfliktbegriffs geboten sind.168 Der Interessenkonflikt wird nämlich – trotz der Relevanzschwelle – tendenziell weit verstanden, was bei einer rein objektiven Deutung der Befangenheit dazu führen könnte, dass die Business Judgment Rule in praktischer Bedeutungslosigkeit versinkt. Insbesondere die Einbeziehung der nahe stehenden Personen als Konfliktquelle hat das Potential, den Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG über Gebühr einzuschränken.169 Lehnt man mit der hier vertretenen Auffassung ein rein objektives Verständnis des Konfliktbegriffs ab, steht man vor der Aufgabe, die Anforderungen an das subjektive Element der Befangenheit zu formulieren. Dabei sollte man dem Geschäftsleiter nicht die Möglichkeit eröffnen, die Privilegierung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit der pauschalen Schutzbehauptung aufrechtzuerhalten, er sei trotz des objektiv vorliegenden Interessenwiderstreits gutgläubig gewesen. Die Gefahr einer solchen Verteidigungsstrategie ist das zentrale Argument der Befürworter eines rein objektiven Konfliktbegriffs,170 das durchaus

166 Hierzu bereits in § 8 IV 1. 167 Überzeugend Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S. 60; Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 206; Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 329 f.; J. Koch ZGR 2014, 697, 704. 168 Zutr. Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 330. 169 Dies zieht etwa C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1258 nicht in Betracht, der augenscheinlich davon ausgeht, dass nur eigene Verhältnisse des Organmitglieds einen Interessenkonflikt begründen können. 170 S. nur C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1258. 303

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ernst zu nehmen ist.171 Könnte das Vorstandsmitglied mit einem bloßen Verweis auf seine Gutgläubigkeit den Vorwurf der Befangenheit erfolgreich bestreiten, wäre das negative Tatbestandsmerkmal praktisch bedeutungslos. Dieser Schutzbehauptung kann man auch auf Grundlage der subjektiven Deutung des Konfliktbegriffs den Boden entziehen, indem man zwischen zwei Elementen des Interessenkonflikts unterscheidet: den tatsächlichen Umständen, aus denen die Befangenheit resultiert, und der rechtlichen Wertung, dass diese tatsächlichen Umstände in der juristischen Welt als Interessenkonflikt qualifiziert werden.172 Die Distinktion zwischen dem Sachverhalt und der rechtlichen Wertung ist nicht ungewöhnlich. Sie wird etwa im schadensrechtlichen Kontext auf Verschuldensebene aufgegriffen. Geht es um die Fahrlässigkeit, ist die Erkennbarkeit im Tatsächlichen und im Rechtlichen erforderlich;173 der Vorsatz setzt die Kenntnis der Tatumstände und der Rechtswidrigkeit voraus.174 In § 826 BGB, § 9 UWG wird differenziert zwischen dem Sachverhalt, aus dem sich die Sittenwidrigkeit bzw. die Unlauterkeit ergibt, und der Bewertung der Tat als sittenwidrig bzw. unlauter;175 in eine ähnliche Richtung gehen die Stellungnahmen zu § 138 BGB.176 In § 814 BGB wird unterschieden zwischen der Kenntnis der tatsächlichen Umstände, aus denen die Unwirksamkeit der Verpflichtung resultiert, und der Kenntnis davon, dass der rechtliche Grund fehlt, was nach herrschender Auffassung eine „Parallelwertung in der Laiensphäre“ erfordert.177 Der Gedanke der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ wird auch im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht aufgegriffen,178 und zwar im Zusam-

171 Dies erkennen auch die Befürworter des subjektiven Verständnisses an, s. nur Dendl, Disposition, S.  37  f.; Harbarth, FS Hommelhoff, S.  323, 330; J. Koch ZGR 2014, 697, 704. 172 Diese Unterscheidung wird von den Befürwortern des subjektiven Verständnisses nicht immer beachtet; ausdrücklich aufgegriffen wird sie nur bei: Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S. 59 ff.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 279; J. Koch ZGR 2014, 697, 704. Überdies kann die Darlegungs- und Beweislastverteilung dabei helfen, die Gefahr der Schutzbehauptungen zu minimieren, s. Dendl, Disposition, S. 37 f. und in § 8 VI 1. 173 So die griffige Formulierung bei Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 68 ff. 174 Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 234 ff. 175 Im Deliktsrecht statt vieler Förster in BeckOK BGB § 826 Rn. 28 ff. Im Lauterkeitsrecht Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen UWG § 9 Rn. 1.17 mwN. 176 Jauernig/Mansel BGB § 138 Rn. 9. 177 S. nur Schwab in MüKoBGB § 814 Rn. 16 f. 178 Rengier in KarlsKommOWiG §  11 Rn.  15; Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/ Schröder StGB § 15 Rn. 43a. 304

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menhang mit sog. normativen Tatbestandsmerkmalen.179 Enthält eine Strafoder Bußgeldnorm ein solches Merkmal, ist nach herrschender Auffassung auf der Ebene des subjektiven Tatbestands (§§ 15, 16 StGB, §§ 10, 11 Abs. 1 OWiG) zum einen zu prüfen, ob der Täter die Tatsachenkenntnis hatte. Zum anderen muss der Täter den sozialen Bedeutungsgehalt seiner Handlung erkennen.180 Schaut man sich die soeben skizzierten Beispiele genauer an, wird deutlich, dass die Rechtsordnung die Folgen von zivil- und strafrechtlichen Vorschriften in vielen Fällen an die Kenntnis oder das Kennenmüssen der tatsächlichen Umstände anknüpft.181 Vor diesem Hintergrund wird man auch im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ein subjektives Element hinsichtlich des Sachverhalts fordern müssen, aus dem sich die Befangenheit ergibt. Um die praktische Bedeutung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals nicht allzu sehr einzuschränken, erscheint es überzeugender, die Berufung auf die Business Judgment Rule bereits dann zu versagen, wenn das Vorstandsmitglied die Konfliktsituation hätte erkennen müssen.182 Folgt man dem, ist die Gefahr von Schutzbehauptungen gebannt. Komplizierter ist die Lage bei der juristischen Wertung, die nur selten dergestalt gefordert wird, dass der Normadressat unter den gesetzlichen Tatbestand exakt subsumieren muss. So hohe Anforderungen an die subjektive Seite ­werden nur im Zusammenhang mit dem zivilrechtlichen Vorsatzbegriff auf­ gestellt, der  – jenseits der eher seltenen Fälle der Rechtsblindheit183  – das ­Unrechtsbewusstsein erfordert.184 Meist wird vorausgesetzt, dass der Norm­ adressat die rechtlichen Folgen des Sachverhalts ungefähr einschätzen muss, was mit der griffigen wie ungenauen Figur der „Parallelwertung in der Lai-

179 Normative Tatbestandsmerkmale zeichnen sich dadurch aus, dass sie wertungs­ bedürftig sind, s. nur Sternberg-Lieben/Schuster in Schönke/Schröder StGB §  15 Rn. 19 f.; krit. zur Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Merkmalen Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 187 ff. mwN. 180 Hierzu statt vieler Kühl in Lackner/Kühl StGB § 15 Rn. 14; Rengier in KarlsKomm­ OWiG §  11 Rn.  15  ff. Krit. zur Irrtumsdogmatik hinsichtlich normativer Tatbestandsmerkmale Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 190 ff. mwN. 181 Die positive Kenntnis der Tatumstände wird vorausgesetzt bei Schadensersatzansprüchen, die Vorsatz voraussetzten, in § 814 BGB sowie in §§ 15, 16 StGB, §§ 10, 11 Abs. 1 OWiG. Das Kennenmüssen ist erforderlich bei Fahrlässigkeitstatbeständen. 182 Ähnlich Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 330: Vorstandsmitglieder dürfe nicht die Augen vor einer nahe liegenden Interessenkollision verschließen. Für positive Kenntnis aber J. Koch ZGR 2014, 697, 704. 183 Hierzu Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 236. 184 Lorenz in BeckOK BGB § 276 Rn. 13. 305

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ensphäre“ umschrieben wird.185 Im Bereich der zivilrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung reicht es aus, wenn der Schuldner die Rechtslage erkennen kann.186 Schließlich wird die Notwendigkeit einer (exakten oder ungefähren) rechtlichen Wertung namentlich in § 138 und § 826 BGB gänzlich in Abrede gestellt; in beiden Fällen ist das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit nicht erforderlich.187 Blendet man von diesen Konstellationen auf die Business Judgment Rule, ist die exakte juristische Subsumtion des Sachverhalts unter den Konfliktbegriff, wie sie bei der zivilrechtlichen Vorsatzhaftung gefordert wird, jedenfalls nicht erforderlich. Wollte man so hohe Anforderungen an die subjektive Seite des Interessenkonflikts aufstellen, räumte man den Geschäftsleitern die Möglichkeit von Schutzbehauptungen ein, die nur durch den Gegeneinwand der Rechtsblindheit zu entkräften wären. Das Haftungsrecht kann mit der Gefahr solcher Schutzbehauptungen leben, weil es ohnehin auf Fahrlässigkeitstatbeständen beruht und die Vorsatzhaftung nur Randbereiche betrifft, in denen die Verschärfung der Anforderungen an die subjektive Tatseite sachlich gerechtfertigt ist.188 Im Rahmen des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG sind die Schutz­ behauptungen dagegen nicht hinnehmbar, weil man auch dann von der inhaltlichen Richtigkeit der Vorstandsentscheidung ausgehen müsste, wenn ein Vorstandsmitglied die konfliktbegründenden Umstände kennen muss und nur eine falsche juristische Wertung trifft. Auf einen so weitgehenden Schutz sind die Geschäftsleiter aber nicht angewiesen, weil der Interessenkonflikt nicht dazu dient, die Haftung der Vorstandsmitglieder zu begründen, sondern Fälle zu filtern, in denen von einer Richtigkeitschance nicht die Rede sein kann. Aber auch ein abgeschwächtes subjektives Element wie die Erkennbarkeit oder die „Parallelwertung in der Laiensphäre“ ist nicht erforderlich, um den Vorstandsmitgliedern die Berufung auf die Business Judgment Rule zu versagen. Wie schon bei der exakten juristischen Wertung ist auch hier ausschlaggebend, dass die Geschäftsleiter eines zusätzlichen Schutzes auf der subjektiven Ebene nicht bedürfen. Im Rahmen der zivil- und strafrechtlichen Sanktionsnormen 185 Die Parallelwertung wird gefordert in § 814 BGB (s. Fn. 177), in § 9 UWG (Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen UWG § 9 Rn. 1.17) und im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht (s. Fn. 178). 186 Statt vieler Grundmann in MüKoBGB § 276 Rn. 73 ff. 187 Zu § 138 BGB Armbrüster in MüKoBGB § 138 Rn. 129 ff. Zu § 826 BGB Spindler in BeckOGK BGB § 826 Rn. 18. 188 Zur Bedeutung der Vorsatzhaftung im Zivilrecht etwa Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 237 ff. 306

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ist ein solches Korrektiv sinnvoll, weil es darüber entscheiden kann, ob eine Person zur Verantwortung gezogen wird. Auch die einschneidende Folge des § 814 BGB – der Verlust des Bereicherungsanspruchs – gebieten es, die Anforderungen an die subjektiven Elemente zu erhöhen. Solche Restriktionen sind aber im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erforderlich, weil der In­ teressenkonflikt als solcher keine Pflichtverletzung begründet, sondern nur zur Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte führt.189 Im Hinblick auf diese Rechtsfolge rechtfertigt bereits der Umstand, dass ein Geschäftsleiter den ­konfliktbegründenden Sachverhalt hätte erkennen müssen, eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle.190 Ob er sich von Eigeninteressen tatsächlich leiten ließ oder sie ausgeblendet hat, spielt keine Rolle;191 das Gericht muss keine Motivforschung betreiben. 6. Konfliktneutralisierung durch Transparenz und Einbeziehung anderer Organe a) Meinungsstand und Abschichtung der Problemfelder Liegt nach den vorstehenden Grundsätzen ein Interessenkonflikt vor, wird diskutiert, ob der befangene Geschäftsleiter dafür sorgen kann, dass die Privi­ legierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG weiterhin zu seinen Gunsten eingreift. So wird in den UMAG-Gesetzesmaterialien ausgeführt, ein befangenes Vorstandsmitglied könne sich auf die Business Judgment Rule berufen, wenn es den Interessenkonflikt offenlege und unter diesen Umständen die Annahme, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, vernünftig und nachvollziehbar erscheine;192 vereinzelte Stimmen schließen sich dieser Einschätzung an.193 Die überwiegende Auffassung ist im Ausgangspunkt strenger: Die bloße Offenlegung eines Interessenkonflikts könne nicht ohne Weiteres zur Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG führen.194 Allerdings wird eine Ausnahme für den

189 S. noch in § 9 IV 3. 190 So auch im Ergebnis J. Koch ZGR 2014, 697, 704, der einen Vergleich mit § 138 BGB zieht. 191 AA augenscheinlich Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 126. 192 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 11.  193 Krieger in HdB Managerhaftung Rn. 3.15. 194 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG Rn. 24; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1526; Eckervogt, Innenhaftung, S. 154; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 346 f.; B. Peus, Haftung, S. 129; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 80; Taube, Business Judgment Rule, S. 76; Winnen, Innenhaftung, S. 256; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257. 307

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

Fall erwogen, dass der Gesamtvorstand,195 die Hauptversammlung196 oder der Aufsichtsrat197 die Entscheidung des befangenen Geschäftsleiters billigt. Will man sich in diesem Streit positionieren, bietet es sich an, mehrere Problemfelder abzuschichten. Zunächst geht es um die Frage, ob die Offenlegung der Sonderinteressen gegenüber dem Gesamtvorstand oder die Zustimmung des Vorstands den Interessenkonflikt eines Mitglieds neutralisiert.198 Sodann ist zu untersuchen, ob die Billigung der Maßnahme durch die Hauptversammlung199 bzw. den Aufsichtsrat200 die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trotz der Befangenheit eines Vorstandsmitglieds aufrechterhält. In einem letzten Schritt ist zu klären, ob der Vorstand die (ungeschriebene) Befugnis hat, eine Entscheidung dem Aufsichtsrat vorzulegen, um den Schutz der Business Judgment Rule nicht zu verlieren.201 195 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 94; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 316 f. So auch im Kontext der related party transactions Verse, FS Hopt, 2020, S.  1335, 1360 f. für den Fall, dass die Mehrheit der unbefangenen Organmitglieder in Kenntnis des Konflikts und auf unabhängig ermittelter Entscheidungsgrundlage zu demselben Ergebnis gelangt wie die befangenen Mitglieder. Gegen eine Konfliktneutralisierung (vor dem UMAG) Paefgen, Entscheidungen, S. 221. 196 Vor UMAG Paefgen, Entscheidungen, S. 219. So wohl auch J. Koch, FS Säcker, S. 403, 414  f., der aber zutr. darauf hinweist, dass die Einschaltung der HV nach §  119 Abs. 2 AktG für die Praxis idR zu schwerfällig sein wird. 197 Für eine solche Ausnahme: Hölters AktG § 93 Rn. 38; Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 93 (AR-Zustimmung unterbreche den Zurechnungszusammenhang); Brock, Legalitätsprinzip, S. 41; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257. Für eine Ausnahme in Fällen, in denen die unbefangenen Vorstandsmitglieder nicht beschlussfähig sind: Hüffer/​ J. Koch AktG § 93 Rn. 26; ders., FS Säcker, S. 403, 417 ff.; Paefgen, Entscheidungen, S.  218  f. (vor Kodifizierung der BJR); Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  319  ff. (die für einen Zustimmungsvorbehalt nach §  111 Abs.  4 Satz  2 AktG plädiert); Scholl, Vorstandshaftung, S. 290; Kock/Dinkel NZG 2004, 441, 444; Semler, FS Ulmer, S. 617, 637 f. (vor Kodifizierung der BJR). Gegen eine Konfliktneutralisierung durch AR-Zustimmung für den Fall, dass der Vorstand wegen Befangenheit seiner Mitglieder beschlussunfähig ist: Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 30; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 75; Pfertner, Entscheidungen, S. 57 f. Offenlassend Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 96. Unklar Hopt/M. Roth, die einerseits eine Ausnahme bei einem Zustimmungsvorbehalt bejahen (in GK-AktG § 93 Rn. 94), andererseits aber bei einem Interessenkonflikt des gesamten Vorstands die BJR nicht eingreifen lassen wollen (in GK-AktG § 93 Rn. 96). 198 Dazu § 8 IV 6 b. 199 S. § 8 IV 6 c. 200 Vgl. § 8 IV 6 d. 201 Hierzu § 8 IV 6 d und e. Die Befugnis, eine Maßnahme der HV vorzulegen, folgt aus § 119 Abs. 2 AktG. 308

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b) Offenlegung gegenüber dem Gesamtvorstand Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass ein Geschäftsleiter, der seine Sonder­ interessen dem Gesamtvorstand offenlegt, sich dennoch nicht auf die Business Judgment Rule berufen darf. In einem solchen Fall vermeidet er zwar einen Treuepflichtverstoß,202 er kann aber eine Lockerung der gerichtlichen Kon­ trolldichte nicht erreichen. Er ist nämlich nach der Offenlegung weiterhin befangen, so dass die optimalen Entscheidungsvoraussetzungen nicht gegeben sind und man deshalb keine Vermutung dahingehend aufstellen kann, dass seine Entscheidung inhaltlich richtig ist. Auch eine etwaige Zustimmung des Gesamtvorstands beseitigt den Interessenkonflikt nicht. Es wird noch in §  8 V 3 b näher erläutert, dass ein Vorstandsmitglied, das eine engmaschige gerichtliche Kontrolle vermeiden will, sich aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen muss. An dieser Stelle sei nur vorausgeschickt, dass ein einzelgeschäftsführungsbefugter Geschäftsleiter die Maßnahme unter Offenlegung des Interessenkonflikts auf den Gesamtvorstand übertragen muss und am Entscheidungsprozess nicht mitwirken darf. In einem solchen Fall leistet er keinen Verursachungsbeitrag, der als Anknüpfungspunkt für die gerichtliche Verhaltenskontrolle dienen kann. c) Billigung der Maßnahme durch die Hauptversammlung Eine andere Beurteilung ist angezeigt, wenn die Hauptversammlung in die Entscheidungsfindung des Vorstands einbezogen ist. Beruht die Entscheidung auf einem gesetzmäßigen Hauptversammlungsbeschluss, etwa nach einer Vorstandsvorlage gem. § 119 Abs. 2 AktG, zeigt schon § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, dass die Billigung der Maßnahme durch die Gesamtheit der Anteilseigner die Geschäftsleiter privilegiert. Wenn ein gesetzmäßiger Hauptversammlungsbeschluss gem. § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG die Schadensersatzhaftung der Vorstandsmitglieder gegenüber der Gesellschaft ausschließt, muss er sich auch jenseits der Haftungsfälle auf die Geschäftsleitermaßnahme auswirken. Hat der Vorstand die Hauptversammlung ordnungsgemäß über die Sonderinteressen seiner Mitglieder informiert203 und ist die Hauptversammlung trotz der Konfliktsituation mit der anvisierten Maßnahme einverstanden, bleibt den 202 Zur Treuepflicht zur Offenlegung des Interessenkonflikts vgl. bereits die Nachw. in § 7 V 5 b Fn. 148. 203 Die ordnungsgemäße Vorbereitung des HV-Beschlusses ist nach zutr. hM eine Voraussetzung der Enthaftung nach § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG, s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 74 mwN. 309

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Vorstandsmitgliedern die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG erhalten.204 Freilich wird diese Lösung in der Praxis nicht in Betracht kommen, weil der Gang in die Hauptversammlung zu schwerfällig ist. Namentlich in börsennotierten Gesellschaften wird die anvisierte Vorstandsmaßnahme faktisch ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, was oft nicht im Unternehmensinteresse liegt. Außerdem sind hierbei die Anfechtungsrisiken nicht zu vernachlässigen. d) Billigung der Maßnahme durch den Aufsichtsrat Da der Weg in die Hauptversammlung theoretisch denkbar, praktisch aber untauglich ist, ist zu untersuchen, ob der Interessenkonflikt neutralisiert werden kann, indem der Aufsichtsrat in die Entscheidungsfindung einbezogen wird. Dabei ist im Ausgangspunkt festzuhalten, dass eine Offenlegung der Sonderinteressen gegenüber dem Überwachungsorgan nicht ausreicht, um die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufrechtzuerhalten. Die bloße Kenntnis des Aufsichtsrats von der Befangenheit der Geschäftsleiter schafft noch keine optimale Entscheidungssituation, die eine Richtigkeitsvermutung trägt. Es besteht weiterhin das Risiko, dass der Geschäftsleiter die persönlichen Interessen dem Wohl der Gesellschaft vorzieht. Außerdem ist festzuhalten, dass der Vorstand grundsätzlich keine Möglichkeit hat, eine Maßnahme dem Aufsichtsrat zur Billigung vorzulegen;205 eine mit § 119 Abs. 2 AktG vergleichbare Norm kennt das Aktienrecht in Bezug auf den Aufsichtsrat nicht. Überdies ist §  111 Abs.  4 Satz  1 AktG, wonach der Aufsichtsrat von der Geschäftsführung ausgeschlossen ist, ein Zeichen gegen eine Vorlagebefugnis des Vorstands. Wollte man den Aufsichtsrat in die Entscheidungsfindung involvieren, wäre dieser befugt, sich in die Geschäftsführung einzumischen.206 Bei Lichte besehen ist eine Vorlagebefugnis nicht erforderlich, um die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG aufrechtzuerhalten. Wie schon in § 8 IV 6 b skizziert, kann sich das befangene Vorstandsmitglied selbst schützen, indem er sich aus dem Entscheidungsprozess zurückzieht. Allerdings kann aus dem Umstand, dass der Vorstand keine Vorlagebefugnis hat, noch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Zustimmung des Auf204 Eine Ausnahme ist zu erwägen, wenn die HV den Zustimmungsbeschluss mit Stimmen von Aktionären fasst, die in einen qualifizierten Interessenkonflikt verstrickt sind. In einem solchen Fall wird schon der HV-Beschluss nicht durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt (s. noch in § 18 V), so dass er die Sonderinteressen eines Vorstandsmitglieds nicht neutralisieren kann. 205 Zu einer Ausnahme bei Befangenheit mehrerer Mitglieder s. § 8 IV 6 d. 206 Zutr. J. Koch, FS Säcker, S. 403, 415. 310

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sichtsrats in jedem Fall nicht ausreicht, um die Befangenheit der Geschäftsleiter zu neutralisieren. Es kann nämlich vorkommen, dass der Aufsichtsrat im Einklang mit der aktienrechtlichen Organisationsverfassung dazu berufen ist, über die anvisierte Vorstandsmaßnahme mitzuentscheiden. Dies ist etwa der Fall, wenn er aufgrund eines Zustimmungsvorbehalts, der in der Satzung oder Geschäftsordnung verankert ist, ohnehin die Entscheidung billigen muss (§ 111 Abs. 4 Satz 2 AktG). In einer solchen Situation ist der Vorstand verpflichtet, die Maßnahme dem Aufsichtsrat vorzulegen, so dass sich die Frage nach der Vorlagebefugnis gar nicht stellt. Hat der Aufsichtsrat die Zustimmung nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG erteilt, spricht viel dafür, dass sich der Vorstand trotz der Befangenheit seiner Mitglieder auf die Business Judgment Rule berufen darf, wenn er seine Sonderinteressen offengelegt hat und der Aufsichtsrat unbefangen ist.207 Sieht die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft die Einbeziehung des Aufsichtsrats vor, ist ein richterlicher Eingriff in die Verbandsautonomie nicht erforderlich, um die Gesellschaft vor opportunistischem Verhalten der Geschäftsleiter zu schützen. Vielmehr ist in erster Linie auf verbandsinterne Konfliktlösungsmechanismen zu vertrauen. Die Richtigkeitschance baut auf dem Umstand auf, dass sich ein zuständiges Organ mit der Angelegenheit auseinandergesetzt und sie für unbedenklich gehalten hat.208 Dagegen könnte man auf den ersten Blick einwenden, dass die Schadensersatzpflicht des Vorstandsmitglieds gem. § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG nicht ausgeschlossen wird, wenn der Aufsichtsrat die schadensstiftende Handlung gebilligt hat. Versteht man §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG als ein haftungsrechtliches Instrument, könnte man § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG die Wertung entnehmen, dass die Billigung durch den Aufsichtsrat auch die Privilegierung der Business Judgment Rule nicht aufrechterhalten kann. Anderenfalls könnte die Zustimmung des Aufsichtsrats entgegen §  93 Abs.  4 Satz  2 AktG faktisch zu einer Enthaftung der Vorstandsmitglieder führen. Ein solcher Schluss wäre indes vorschnell. Die Billigung durch den Aufsichtsrat kann nicht zu einer faktischen Enthaftung führen, weil sie nur punktuell wirkt. Sie neutralisiert zwar den Interessenkonflikt, der Vorstand muss aber nach wie vor für eine angemessene Informationsgrundlage sorgen und darf keine völlig unverantwortlichen Entscheidungen treffen. Vor diesem Hintergrund ist es auch im Lichte

207 Zur Befangenheit der AR-Mitglieder s. noch § 14 IV. 208 So auch Paefgen, Entscheidungen, S. 219. 311

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des § 93 Abs. 4 Satz 2 AktG unbedenklich, der Aufsichtsratszustimmung eine Neutralisierungswirkung beizumessen.209 e) Sonderfall: Vorlagebefugnis bei faktischer Beschlussunfähigkeit Vorstehend wurde erläutert, dass sich ein befangenes Vorstandsmitglied zwar auf die Business Judgment Rule berufen darf, wenn seine Entscheidung durch den informierten und unbefangenen Aufsichtsrat gebilligt wurde, der Vorstand aber die Entscheidung dem Aufsichtsrat nicht initiativ vorlegen darf. Eine solche Vorlagebefugnis ist nicht erforderlich, weil der befangene Geschäftsleiter die Möglichkeit hat, die Entscheidung dem Gesamtvorstand vorzulegen und sich aus dem Entscheidungsprozess zurückzuziehen.210 Eine solche Option besteht nicht, wenn so viele Geschäftsleiter in einen Inte­ ressenkonflikt verstrickt sind, dass der Vorstand nicht beschlussfähig wäre, wenn die befangenen Mitglieder nicht an der Beschlussfassung teilnehmen würden. Besonders deutlich tritt dieses Problem zutage, wenn alle Vorstandsmitglieder durch Sonderinteressen beeinflusst sind. Es kann etwa vorkommen, dass der Gesamtvorstand über den Abschluss einer langfristigen Lieferungsvereinbarung entscheidet und alle Vorstandsmitglieder an den potentiellen Lieferanten maßgeblich beteiligt sind. Wollten alle befangenen Vorstandsmitglieder nicht am Beschluss mitwirken, um den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht zu verlieren, könnte der Vorstand keine Entscheidung treffen.211 Der Vorstand wäre jedenfalls faktisch nicht handlungsfähig.212

209 Allerdings ginge es zu weit, dem AR immer dann den Erlass eines ad-hoc-Zustimmungsvorbehalts zu gestatten, wenn ein einzelnes Vorstandsmitglied befangen ist. Ein solcher Zustimmungsvorbehalt hätte eine überschießende Tendenz und ist bei Lichte besehen nicht erforderlich, weil das befangene Vorstandsmitglied die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG weiterhin genießt, wenn es sich aus dem Entscheidungsprozess zurückzieht; s. J. Koch, FS Säcker, S. 403, 415 f. und in § 8 IV 6 b. 210 Dazu § 8 IV 6 1 b und d sowie § 8 V 3 b. 211 Zutr. J. Koch, FS Säcker, S. 403, 417 f.; Semler, FS Ulmer, S. 617, 637.  212 Von einer rechtlichen Handlungsunfähigkeit ist auszugehen, wenn man mit einer teilweise vertretenen Auffassung den Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds als Grundlage für ein Stimmverbot ansieht, um den übrigen Mitgliedern die Möglichkeit zu verschaffen, den befangenen Kollegen vom Entscheidungsprozess auszuschließen und dadurch den Schutz der BJR zu sichern (s. dazu noch in § 8 V 4 b mit Fn.  268). Sind alle Vorstandsmitglieder befangen, bedarf es keines Stimmverbots, weil der Vorstand ohnehin nicht in der Lage ist, die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufrechtzuerhalten. 312

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Freiheit von Sonderinteressen

Wie bereits in § 8 IV 6 c dargelegt, spricht das geschriebene Aktienrecht – namentlich § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG – gegen die Befugnis des Vorstands, den Aufsichtsrat in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Dabei geht die aktienrechtliche Organisationsverfassung von dem Regelfall aus, in dem der Vorstand handlungsfähig ist und die Entscheidung selbst treffen kann. Der Gesetzgeber hat aber augenscheinlich nicht an einen Fall gedacht, in dem der Vorstand faktisch nicht handlungsfähig ist, weil er einerseits eine unternehmerische Entscheidung treffen soll, andererseits aber seine Mitglieder erhöhten Haftungsrisiken ausgesetzt sind, weil sie sich wegen eines flächendeckenden Interessenkonflikts nicht auf die Business Judgment Rule berufen dürfen. In einer solchen Situation stehen die Geschäftsleiter vor einem Dilemma: Entweder sie treffen aus Angst vor Haftungsgefahren gar keine Entscheidung – was sich gegebenenfalls negativ auf die Gesellschaft auswirken kann und den Vorwurf eines pflichtwidrigen Unterlassens provoziert – oder sie treffen eine Entscheidung ohne die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG. Befolgt der Vorstand strikt die Gesetzesbuchstaben, kann er den Schutz der Business Judgment Rule nur dadurch aufrechterhalten, dass er nach § 119 Abs. 2 AktG die Entscheidung der Hauptversammlung vorlegt. Dass dies in der Praxis regelmäßig kein gangbarer Weg sein wird, wurde schon in § 8 IV 6 b erläutert. Dieses Szenario macht deutlich, dass das geschriebene Aktienrecht eine planwidrige Regelungslücke für den Fall enthält, dass die Handlungsfähigkeit des Vorstands jedenfalls faktisch nicht gewährleistet ist. Diese Lücke kann dadurch geschlossen werden, dass man im Wege der Rechtsfortbildung die Befugnis des Vorstands anerkennt, eine Entscheidung dem Aufsichtsrat zur Billigung vorzulegen. Eine solche Vorlagebefugnis ist im Hinblick auf das aktienrechtliche Gesamtsystem sachgerecht. So belegt § 119 Abs. 2 AktG, dass dem Aktienrecht der Gedanke nicht fremd ist, dass der Vorstand ein anderes Organ in die Entscheidungsfindung einbezieht. Wenn die Hauptversammlung an einer Geschäftsführungsmaßnahme für den Fall mitwirken darf, dass der Vorstand ihr eine Maßnahme zur Zustimmung vorlegt, muss dies in einer Ausnahmesituation für den Aufsichtsrat gelten, der wegen seiner Überwachungstätigkeit deutlich näher am Geschehen ist als die Aktionäre. Dieser Befund wird bestätigt, wenn man den Blick auf Vorschriften erweitert, die Vorkehrungen treffen, um Interessenkonflikte des Vorstands zu neutralisieren. So räumt § 112 AktG die Vertretungsmacht dem Aufsichtsrat ein, wenn die Aktiengesellschaft einem Vorstandsmitglied gegenübertritt. §  89 AktG schreibt eine Beteiligung des Aufsichtsrats vor, wenn die Gesellschaft einem Vorstandsmitglied einen Kredit gewähren soll. Schließlich ist § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zu nennen, der in Übernahmesituationen etwaige Abwehrmaß313

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

nahmen des Vorstands der Zielgesellschaft für zulässig erklärt, wenn der Aufsichtsrat ihnen zugestimmt hat.213 Aus einer Gesamtschau dieser Regelungen lässt sich der allgemeine Rechtsgedanke herausdestillieren, dass der Aufsichtsrat heranzuziehen ist, wenn die Gefahr droht, dass der Vorstand seine eigenen Belange dem Gesellschaftswohl vorzieht. Überträgt man diesen Gedanken auf das hier behandelte Problem, hat der Vorstand eine ungeschriebene Vorlagebefugnis, wenn so viele Vorstandsmitglieder befangen sind, dass die Handlungsfähigkeit des Gesamtorgans faktisch beeinträchtigt ist. Hat das Überwachungsorgan, dessen Mitglieder ihrerseits nicht befangen sind,214 die Vorstandsmaßnahme auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftswohl überprüft und sich mit ihr einverstanden erklärt, wird der Interessenkonflikt der Vorstandsmitglieder neutralisiert.215 7. Keine Ausnahme bei mehreren Handlungsvarianten Eine weitere Einschränkung der Konfliktfolgen wird im Schrifttum für den Fall befürwortet, dass mehrere Handlungsvarianten für eine unternehmerische Entscheidung zur Debatte stehen und ein Organmitglied nur in Bezug auf eine dieser Varianten konfliktbehaftet ist, über die aber nicht beschlossen wird. In einem solchen Fall sei nur die konkret getroffene Entscheidung potentiell haftungsbegründend, so dass bloße Handlungsalternativen, die nicht ergriffen worden seien, per se nicht haftungsrelevant seien; sie seien demgemäß im Rahmen der Business Judgment Rule nicht von Belang.216 Diese Überlegungen greifen zu kurz, weil sie nicht in Betracht ziehen, dass eine Entscheidung für eine Variante zugleich eine Entscheidung gegen die anderen Varianten ist. Der vorgeschlagenen Einschränkung liegt wohl die (stillschweigende) Annehme zugrunde, dass ein Vorstandsmitglied befangen ist, weil die unternehmerische Entscheidung für dieses Mitglied oder eine ihm 213 Allerdings ist der Verweis auf § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG problematisch, weil der AR in einer Übernahmesituation gleichermaßen einem Interessenkonflikt ausgesetzt ist und es deshalb bedenklich erscheint, dass seine Zustimmung die Befangenheit der Vorstandsmitglieder neutralisieren soll; s. dazu in § 15 V 3 und 4. 214 Zur Befangenheit der AR-Mitglieder s. noch § 14 IV. 215 Ähnliche Überlegungen zur Konfliktneutralisierung im GmbH-Recht in § 12 VI 3. 216 C. Schäfer ZGR 2014, 731, 748. In diese Richtung, wenn auch zurückhaltender Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 341: „Werde gar nicht an diejenige Person veräußert, im Hinblick auf die der Interessenkonflikt vorliege, handele es sich nicht um die Realisierung des spezifischen Risikos, dass [wohl eher: das – Anm. des Verf.] das Erfordernis des Fehlens eines Interessenkonflikts im Rahmen der Business Judgment Rule im Blick habe. Frei von Zweifeln ist diese Sicht freilich nicht.“ 314

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Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung

nahestehende Person einen Vorteil bringen kann. Es ist aber denkbar, dass sich ein Geschäftsleiter in einem Interessenkonflikt befindet, weil er einer (nahestehenden) Person nicht wohlgesonnen ist. In Betracht kommt etwa ein Streit zwischen Geschwistern, zwischen Kindern und Eltern oder zwischen Ehegatten, deren Ehe zerrüttet ist. In einer solchen Situation resultiert die besondere Gefahr für das Gesellschaftswohl aus dem Umstand, dass das Vorstandsmitglied bei der Auswahl zwischen den möglichen Optionen zu einer Entscheidung tendiert, die dem gesellschaftsfremden Dritten – ungeachtet des Gesellschaftswohls – wenig Vorteile bringt.217 Wieso das Vorstandsmitglied in einem solchen Fall den Schutz der Business Judgment Rule genießen soll, ist nicht ersichtlich. Aus der Perspektive der Gesellschaft ist es unerheblich, ob das Vorstandsmitglied mit der unternehmerischen Entscheidung einem gesellschaftsfremden Dritten etwas Gutes tun will oder diesen Dritten schädigen möchte.

V. Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung 1. Problemaufriss und Meinungsstand Die vorstehenden Ausführungen zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle der Informationsbeschaffung sowie zur Behandlung von Interessenkonflikten gehen von der individuellen Perspektive des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus und passen vorbehaltslos auf den Fall, in dem ein einzelgeschäftsführungsbefugtes Vorstandsmitglied eine unternehmerische Entscheidung trifft. Die Entscheidung des Organmitglieds unterliegt nur dann einer eingeschränkten Inhaltskontrolle, wenn das unbefangene Mitglied vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Auch die „unternehmerischen Überwachungsentscheidungen“ der primär unzuständigen Vorstandskollegen lassen sich unter § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG subsumieren.218 Anspruchsvoller ist die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte, wenn das Vorstandsmitglied als Teil eines Kollektivs entscheidet und seine Stimm­ ausübung im Rahmen eines Vorstandsbeschlusses der Anknüpfungspunkt für die Verhaltenskontrolle ist. Kommt das Mitglied bereits dann in den Genuss der Business Judgment Rule, wenn deren Voraussetzungen in seiner Person erfüllt sind, oder beeinflussen die unzureichende Informationsbeschaffung und etwaige Sonderinteressen seiner Vorstandskollegen die Intensität der richterlichen Kontrolle eines an sich hinreichend informierten und unbefangenen Mitglieds? Ebenfalls erweist es sich als anspruchsvoll, die gerichtliche Prü217 Zutr. Holtkamp, Interessenkonflikt, S. 51 f. 218 Hierzu im Zusammenhang mit Compliance-Maßnahmen in § 11 I 3. 315

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

fungsdichte hinsichtlich des Vorstandsbeschlusses zu bestimmen: Kann die unzureichende Information oder Befangenheit nur eines Vorstandsmitglieds dazu führen, dass der Beschluss als solcher nicht in den sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gelangt? Die Antwort auf diese Fragen fällt schwer, weil der Gesetzgeber den Umstand, dass Vorstandsmitglieder als Teile eines Kollektivs entscheiden können,219 sowie die Auswirkungen der Business Judgment Rule auf die Beschlusskontrolle trotz Vorschläge aus dem Schrifttum220 nicht im Wortlaut des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG berücksichtigt hat. Die Rechtsprechung hat sich bislang mit diesen Problemen nicht beschäftigt, das Schrifttum setzt sich in erster Linie mit den Auswirkungen der Befangenheit bei Kollektiventscheidungen auseinander. Aus dem undurchsichtigen Meinungsspektrum zum letztgenannten Problem lassen sich zwei zentrale Fragen herauskristallisieren: Wie wirkt sich ein verdeckter Interessenkonflikt auf die unbefangenen Vorstandsmitglieder aus? Was passiert, wenn der befangene Geschäftsleiter den Interessenkonflikt offenlegt oder wenn die Sonderinteressen allgemein bekannt sind? Bei der Suche nach den Antworten differenzieren die meisten Stellungnahmen nicht zwischen der Verhaltenskontrolle und Willensbildungskontrolle, sondern sie gehen allein der Frage nach, wie sich die Sonderinteressen der einzelnen Mitglieder auf ihre Vorstandskollegen auswirken. Geht es um die Auswirkungen eines verdeckten Interessenkonflikts, stehen sich im Wesentlichen zwei Lager gegenüber. Das erste Lager nimmt eine Gesamtbetrachtung vor und versagt allen Vorstandsmitgliedern die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn nur ein Vorstandsmitglied befangen ist und dies nicht offenlegt. Diese „Infizierungsthese“, die auf Marcus Lutter zurückgeht, wird vor allem mit der Erwägung begründet, dass die unbefangenen Vorstandsmitglieder unter einem besonders starken Einfluss des befangenen Mitglieds stünden, weil sie ohne Offenlegung die Argumente des Befangenen nicht kritisch hinterfragen und würdigen könnten.221 Das andere Lager stellt 219 Die Tatsache, dass die Mitglieder der Verwaltungsorgane innerhalb eines Kollektivs entscheiden, wird in den Vorschriften, die sich mit deren Verantwortlichkeit befassen, generell nur unzureichend abgebildet. Deutlich wird dies namentlich bei der ewigen Frage nach der Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und dem Schaden bei Gremienentscheidungen, s. nur Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 264 ff. 220 Einen solchen Vorschlag hat etwa Paefgen AG 2004, 244, 261 unterbreitet. 221 Grundlegend Lutter, FS Canaris II, S. 245, 248 f.; s. ferner Heidel/U. Schmidt AktG § 93 Rn. 94; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 212 f.; Blasche AG 2010, 692, 695; Habersack, Managerhaftung, S. 5, 23; Scholderer NZG 2012, 168, 175; Kumpan, Interessenkonflikt, S. 554 f.; Winnen, Innenhaftung, S. 273 f. In diese Richtung auch Mertens/Cahn in KK-AktG §  93 Rn.  29.  Unklar Walter Paefgen, der sich zwar von der „Infizie316

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Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung

auf den Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ab und bevorzugt eine individuelle Betrachtungsweise: Sei der Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds verborgen und dürften die anderen Mitglieder vernünftigerweise annehmen, ohne Sonderinteressen zu handeln, könnten sich die unbefangenen Mitglieder auf die Business Judgment Rule berufen.222 Auch hinsichtlich der zweiten Frage  – wie ist mit einem offengelegten oder allgemein bekannten Interessenkonflikt umzugehen? – werden im Wesentlichen zwei Meinungen vertreten. Zahlreiche Autoren stehen auf dem Standpunkt, dass alle Vorstandsmitglieder die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verlieren, wenn das befangene Mitglied an der Beratung und Abstimmung mitgewirkt hat. Nur wenn die Konfliktquelle an der Entscheidungsfindung nicht teilnehme, dürften sich die übrigen Geschäftsleiter auf die Business Judgment Rule berufen.223 Andere sind großzügiger und halten die Mitwirkung des befangenen Geschäftsleiters am Entscheidungsprozess für unschädrungsthese“ distanziert (Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 115; ders. AG 2014, 554, 564), der aber die BJR aber nur dann eingreifen lassen will, wenn die entscheidungstragende Mehrheit über den Interessenkonflikt des Einzelmitglieds informiert und deshalb in der Lage ist, von Sonderinteressen unbeeinflusste Artikulation des Gesellschaftsinteresses zu unternehmen (s. Paefgen AG 2004, 245, 253; dens. in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 115). Dies lässt wohl den Schluss zu, dass Paefgen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei verdeckten Interessenkonflikten nicht anwenden will. Im Ergebnis auch Scholl, Vorstandshaftung, S. 288, der zwar im Ausgangspunkt zwischen Einstimmigkeits- und Mehrheitsbeschlüssen differenzieren will (S. 287), bei einem verdeckten Interessenkonflikt aber der Infizierungsthese Lutters folgt. 222 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 95; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 96; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 26; ders., FS Säcker, S. 403, 408 ff.; Wachter/Link AktG §  93 Rn.  49  f.; Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  71; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 25 Rn. 62; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1526; Seyfarth VorstandsR § 23 Rn.  29; S.  Binder, Vorstandshaftung, S.  109  ff.; Dendl, Disposition, S.  39  f.; Eisele, Hafen, S.  235; Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S.  67  f.; Holtkamp, Interessenkonflikte, S.  213  ff.; Pfertner, Entscheidungen, S.  57; Unmuth, Vergleich, S.  240; Bunz NZG 2011, 1294, 1295; H. Diekmann/Fleischmann AG 2013, 141, 150; Lieder ZGR 2018, 523, 573 f. (zum AR); Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 727; Reichert, FS E. Vetter, S.  597, 612  f.; C.  Schäfer ZGR 2014, 731, 746; Verse, FS Hopt, 2020, S.  1335, 1356 f. 223 Bürgers in Bürgers/Körber AktG §  93 Rn.  14; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn.  1526; Lutter, FS Canaris II, S.  245, 249  ff. Tendenziell auch Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn. 26; ders., FS Säcker, S. 403, 415 ff.; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 72; S. Binder, Vorstandshaftung, S.  112  f.; Eckervogt, Innenhaftung, S.  154; B. Peus, Haftung, S.  130; Bunz NZG 2011, 1294, 1296.  Nicht deutlich Scholderer NZG 2012, 168, 175. So auch im Ausgangspunkt Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 25 Rn. 62, 317

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

lich, soweit es um die Kontrolle seiner Kollegen geht.224 Manche stellen darauf ab, ob die entscheidungstragende Mehrheit befangen oder in der Lage war, frei von Sonderinteressen zu handeln.225 Deutlich weniger Autoren setzen sich mit der Frage auseinander, wie sich ein (verborgener oder offengelegter) Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds auf die Intensität der Willensbildungskontrolle auswirkt, mit anderen Worten: ob der Vorstandsbeschluss durch die Business Judgment Rule geschützt ist, wenn ein befangenes Vorstandsmitglied an der Beratung und Beschlussfassung teilgenommen hat. Manche nehmen an, dass die Kollegialentscheidung nicht im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt, wenn nur ein befangenes Vorstandsmitglied an der Entscheidung mitwirkt. In einem solchen Fall lägen die prozeduralen Voraussetzungen nicht vor, die den Gedanken der Richtigkeitsgewähr tragen würden.226 Andere bevorzugen eine Mehrheits­ betrachtung: Wirke ein Vorstandsmitglied, das einem Interessenkonflikt unterliege, an einem Beschluss mit, sei dieser wirksam, wenn er auch ohne die Stimme des befangenen Mitglieds mit der notwendigen Mehrheit zustande gekommen wäre.227 Einzelne Autoren stellen ebenfalls auf die Stimmen unbefangener Mitglieder ab, betonen aber, dass die Beteiligung des befangenen der aber die Beteiligung des befangenen Mitglieds für unschädlich hält, wenn sich dessen Kollegen seine Argumente besonders kritisch gepürft und hinterfragt haben. 224 Fleischer in BeckOGK AktG §  93 Rn.  94; Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  96 (fehlende Mitwirkung empfehlenswert, aber nicht zwingend – strenger aber augenscheinlich Rn. 94); Wachter/Link AktG § 93 Rn. 50; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 29; Seyfarth VorstandsR § 23 Rn. 29; Dendl, Disposition, S. 40; Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S. 65 f.; Kumpan, Interessenkonflikt, S. 555; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 314 f.; Unmuth, Vergleich, S. 242 ff. (der aber einen Ausschluss empfiehlt); J. Bauer VGR 2014, S. 195, 213; Blasche AG 2010, 692, 698 f.; Haarmann, FS Wegen, S. 423, 438 f. (zum AR); Lieder ZGR 2018, 523, 573 f. (zum AR); Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 613 ff.; Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1356. So wohl auch Hölters AktG § 93 Rn. 38.  225 Grundlegend Paefgen AG 2004, 245, 253; ders. AG 2014, 554, 564; s. ferner Katsas, Inhaltskontrolle, S. 154 f.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 289; Winnen, Innenhaftung, S. 276 f. In diese Richtung auch Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 94 (bei großzügigerer Auffassung in Rn. 96); Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 322 f. (die die Mehrheitsbetrachtung unabhängig von der Offenlegung des Interessenkonflikts gelten lassen will); Kock/Dinkel NZG 2004, 441, 444. 226 J. Koch, FS Säcker, S. 403, 413; ders. ZGR 2014, 697, 709. 227 Hölters AktG § 93 Rn. 38. In diese Richtung wohl auch Paefgen AG 2004, 245, 253, ders. AG 2014, 554, 564 und Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  322  f., die aber nicht deutlich machen, ob sich ihre Ausführungen auf die einzelnen Mitglieder oder die Kollektiventscheidung als solche beziehen. 318

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Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung

Mitglieds am Entscheidungsprozess zur Nichtigkeit des Beschlusses führen kann, auch wenn sich das Mitglied enthalten hat.228 Ähnlich dürftig ist das Meinungsbild hinsichtlich der Frage, wie sich die unzureichende Information eines Vorstandsmitglieds auf die übrigen Geschäftsleiter und die Kollektiventscheidung auswirkt. Manche stellen bei Kollektiventscheidungen darauf ab, ob die entscheidungstragende Mehrheit hinreichend informiert war.229 Andere halten die Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der auf den einzelnen Geschäftsleiter abstellt, für ausschlaggebend: Sei ein Vorstandsmitglied für die Informationsbeschaffung zuständig gewesen und habe es seinen Kollegen einen zusammenfassenden Bericht erstattet, könnten sich diese auf die Business Judgment Rule berufen, wenn sie den Bericht vernünftigerweise für plausibel und hinreichend fundiert halten dürften.230 Schließlich wird vorgeschlagen, zwischen Einstimmigkeits- und Mehrheitsbeschlüssen zu differenzieren: Bei einem einstimmigen Beschluss schließe die unzureichende Information eines Vorstandsmitglieder die Business Judgment Rule für alle anderen Mitglieder aus. Habe der Vorstand aber nach dem Mehrheitsprinzip entschieden, sei die Informationsgrundlage der beschlusstragenden Mehrheit maßgeblich. Habe der Vorstand die Informationsbeschaffung an ein Mitglied delegiert, sei die Informationsgrundlage für den ge­samten Vorstand jedenfalls dann unzureichend, wenn das verantwortliche Vorstandsmitglied nicht angemessen informiert gewesen sei.231 2. Unterscheidung zwischen Individual- und Kollektiventscheidungen Nahezu alle vorstehenden Stellungnahmen versuchen, die individuelle Per­ spektive des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit den Besonderheiten einer Beschluss­ situation im Sinne einer Einheitslösung in Einklang zu bringen.232 Diese Vorgehensweise ist zum Scheitern verurteilt, weil sie stillschweigend von der falschen Prämisse ausgeht, dass die Business Judgment Rule auch im Zusam228 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 94. 229 Paefgen AG 2004, 244, 254 f. Ähnlich Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 279 ff. 230 Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 722  ff. Für eine ressortabhängige Betrachtung im GmbH-Recht auch Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn.  58 unter Verweis auf RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 231 So Scholl, Vorstandshaftung, S. 237 ff. Dem folgend Taube, Business Judgment Rule, S. 95. 232 Als Beispiel mögen Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 279 ff., 314 ff. sowie Scholl, Vorstandshaftung, S.  237  ff., 285  ff. dienen, die augenscheinlich davon ausgehen, dass die Besonderheiten der Gremienentscheidung die Kontrolle der einzelnen Gremienmitglieder beeinflussen. 319

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

menhang mit Kollegialentscheidungen des Vorstands ein rein haftungsrechtliches Instrument ist, das die einzelnen Organmitglieder vor übermäßigen Haftungsrisiken schützen soll.233 Besonders deutlich kommen die dogmatischen Klimmzüge, die aus der einseitigen Betrachtung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG resultieren, etwa bei Marcus Lutter zum Vorschein. Lutter geht im Zusammenhang mit Interessenkonflikten von der Notwendigkeit einer Abwägung zwischen dem Interesse der Gesellschaft an insgesamt unbeeinflussten Entscheidungen einerseits und dem Interesse des unbefangenen Organmitglieds auf eine per se-Freistellung von dem Vorwurf der Pflichtwidrigkeit andererseits aus.234 Der von ihm behauptete Interessenwiderstreit existiert bei Lichte besehen nicht. Die Abwägung zwischen entgegengesetzten Belangen des Verbands und der Organmitglieder ist ein Scheinproblem, das sich in Luft auflöst, wenn man in Erwägung zieht, dass bei einem Vorstandsbeschluss mehrere Entscheidungen zusammentreffen, die für sich genommen daraufhin zu untersuchen sind, ob sie den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG genießen. Wie bereits in § 7 IV 2 erläutert, ist die Stimmausübung eines jeden Vorstandsmitglieds eine einzelne Entscheidung, die unter die Business Judgment Rule fallen kann; darauf ist der Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zugeschnitten. Hinzu kommt der Vorstandsbeschluss als eine Kollektiventscheidung, die als solche der gerichtlichen Kontrolle unterfallen und dabei am Maßstab der Business Judgment Rule überprüft werden kann; dieser Fall ist im Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht vorgesehen und wird im Schrifttum vernachlässigt. Hält man sich vor Augen, dass bei einem Vorstandsbeschluss mehrere Entscheidungen zusammentreffen, wird deutlich, dass die Individualentschei­ dungen der einzelnen Vorstandsmitglieder und der Beschluss als Kollektiv­ entscheidung des Gesamtvorstands nicht mit einem Maß gemessen werden können. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der aus der Perspektive eines einzelnen Geschäftsleiters formuliert ist, kann nicht wörtlich auf eine Entscheidung angewendet werden, die ein Resultat einer Abstimmung ist, an der mehrere Personen teilgenommen haben. Es liegt nahe, dass die Business Judgment Rule im Rahmen der Verhaltens- und Willensbildungskontrolle anders gelesen werden muss. 233 Diese Grundannahme kommt deutlich bei Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 718 zum Vorschein. Auf Haftungsfragen fixiert ist auch Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 265 ff. 234 Lutter, FS Canaris II, S. 245, 249. Ähnlich Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 95; Blasche AG 2010, 692, 696 („Wertungsfrage“). 320

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Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung

Folgt man dem, ist es durchaus denkbar, dass ein einzelnes Mitglied sich auf die Business Judgment Rule berufen kann, womit sein Interesse an der Haftungsfreiheit gewahrt ist, der Vorstandsbeschluss aber außerhalb des sicheren Hafens liegt und das Interesse der Gesellschaft an richtigen Entscheidungen berücksichtigt bleibt. Außerdem ist es möglich, dass manche Vorstandsmitglieder haftungsfrei bleiben, weil die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in ihrer Person erfüllt sind, andere hingegen außerhalb des sicheren Hafens entscheiden und deshalb zur Verantwortung gezogen werden können.235 Daher werden im Folgenden zunächst die Voraussetzungen der Business Judgment Rule hinsichtlich der Stimmausübung durch die einzelnen Vorstandsmitglieder präzisiert. Sodann wird der Frage nachgegangen, wie sich der Umstand, dass ein Vorstandsmitglied die Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt, auf die Intensität der gerichtlichen Beschlusskontrolle auswirkt. 3. Intensität der Verhaltenskontrolle bei einer Kollektiventscheidung a) Rechtsfolgen und Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Wendet man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Stimmausübung der einzelnen Vorstandsmitglieder an, ergeben sich keine Besonderheiten hinsichtlich des gerichtlichen Prüfungsprogramms und des Anwendungsbereichs der Business Judgment Rule. Entsprechend den Ausführungen in §  8 I 1 ist das Gesellschaftswohl der Referenzpunkt im Rahmen der richterlichen Kontrolle. Das Gericht überprüft, ob der Geschäftsleiter in der Abstimmung das Wohl der Gesellschaft verfolgt hat. Dabei handelt es sich um eine bloße Evidenzkontrolle,236 deren Intensität sich aber erhöht, wenn der Vorstand über die Eingehung bestandsgefährdender Risiken beschließt.237 Der sachliche Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wird entsprechend den Ausführungen in § 8 II bestimmt. Maßgeblich ist, ob die Abstimmung eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat.238 b) Freiheit von Sonderinteressen Anspruchsvoller ist die Feststellung, ob die an der Abstimmung beteiligten Vorstandsmitglieder die Voraussetzungen der Business Judgment Rule, also die angemessene Informationsgrundlage und Freiheit von Sonderinteressen, 235 Insoweit zutr. Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 724. 236 Ausf. § 8 I 2. 237 Dazu § 8 I 3. 238 So auch Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 722. 321

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

erfüllt haben. Wendet man sich dem im Schrifttum wesentlich besser ausgeleuchteten Interessenkonflikt zu, ist vom Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auszugehen, der auf die Perspektive des einzelnen Geschäftsleiters abstellt. Demnach kann sich jedenfalls das befangene Vorstandsmitglied nicht auf die Business Judgment Rule berufen, seine Befangenheit wirkt sich aber nicht ohne weiteres auf die Vorstandskollegen aus. Allerdings liegt es nicht gänzlich fern, das konfliktbehaftete Vorstandsmitglied als eine nahe stehende Person der übrigen Geschäftsleiter und damit als eine Konfliktquelle anzusehen, die einen Interessenkonflikt provoziert. Wenn die Belange der Arbeitskollegen oder engen Freunden die Befangenheit eines Vorstandsmitglieds hervorrufen können,239 muss dies erst recht für die Vorstandskollegen gelten, denen man ständig begegnet. Im Hinblick auf die enge Verbindung zwischen den Organmitgliedern könnten einzelne von ihnen dazu neigen, ihren Kollegen einen Dienst zu erweisen, etwa um in einer umgekehrten Situation entsprechend behandelt zu werden. Bereits diese Gefahr erlaubt es nicht, die Vermutung einer inhaltlich richtigen Entscheidung aufzustellen.240 Diese Überlegungen werden bestätigt, wenn man einen Blick auf eine Norm wirft, die sich mit einer besonders intensiven Art des Interessenkonflikts beschäftigt: §  112 AktG. Nach §  112 Satz  1 AktG vertritt der Aufsichtsrat die Gesellschaft den Vorstandsmitgliedern gegenüber gerichtlich und außergerichtlich. Dies gilt auch dann, wenn nur ein Geschäftsleiter mit der Gesellschaft ein Rechtsgeschäft eingeht oder einen Prozess führt und seine Kollegen daran nicht beteiligt sind. Besteht der Vorstand aus mehreren Mitgliedern, wäre es theoretisch möglich, ihnen die Befugnis zu belassen, die Gesellschaft gegenüber dem betroffenen Kollegen zu vertreten, und darauf zu vertrauen, dass sie integer sind und sich allein vom Unternehmenswohl leiten lassen. Der Gesetzgeber hat sich aber zu Recht gegen eine solche Gestaltung entschieden, um der Gefahr der Interessenkonflikte im Kollegialorgan vorzubeugen.241 Nach einer typisierten Betrachtung liegt es nahe, dass die Vorstandsmitglieder 239 Zum Kreis der nahestehenden Personen s. oben in § 8 IV 3. 240 Der Umstand, dass schon die Gefahr einer nicht allein am Unternehmenswohl ausgerichteten Entscheidung die Anwendung der BJR verbietet (s. §  8 IV 1), macht deutlich, dass es nicht darauf ankommt, ob ein konkretes Organmitglied in der Lage ist, die Sonderinteressen seiner Kollegen auszublenden. Maßgeblich ist eine typisierte Betrachtung, nicht anthropologische oder psychologische Überlegungen über die Fähigkeiten der Führungskräfte, mit Interessenkonflikten umzugehen. Mit diesem Ansatz setzt sich etwa Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 613 ff. nicht auseinander. 241 Eine ähnliche Wertung liegt wohl § 111b Abs. 2 AktG zugrunde, der die befangenen AR-Mitglieder aus der Zustimmungsentscheidung über related party transactions ausschließt. 322

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Business Judgment Rule bei einer Kollektiventscheidung

nicht unbefangen agieren, wenn sie mit einem Kollegen kontrahieren oder gegen ihn einen Prozess führen.242 Hält man sich diese Wertung des § 112 AktG vor Augen, ist es konsequent, das befangene Vorstandsmitglied im Kontext des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Konfliktquelle anzusehen, die einen Interessenkonflikt der übrigen Organmitglieder auslösen kann.243 Allerdings ist zu beachten, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ein subjektives Verständnis des Interessenkonflikts gebietet. Die Lockerung der gerichtlichen Inhaltskontrolle kommt nur dann nicht in Betracht, wenn das Vorstandsmitglied die tatsächlichen Umstände, aus denen der Interessenwiderstreit resultiert, hätte erkennen müssen.244 Überträgt man diesen Gedanken auf die Situation im Gesamtorgan, greift die Business Judgment Rule folgerichtig erst dann nicht ein, wenn ein Vorstandsmitglied hätte erkennen müssen, dass ein anderes Mitglied in einem Interessenkonflikt steckt.245 Dabei ist es unerheblich, ob der Geschäftsleiter, der als Konfliktquelle identifiziert wurde, selbst seine Befangenheit kennt oder kennen muss. Die Vermutung einer inhaltlich richtigen Entscheidung darf bereits dann nicht aufgestellt werden, wenn die Gefahr besteht, dass ein an sich unbefangenes Organmitglied sich von gesellschaftsfremden Belangen leiten lässt, weil er die objektive Konfliktlage seines Kollegen 242 Dies gilt selbst für ausgeschiedene Vorstandsmitglieder, s. statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 112 Rn. 2. 243 Dagegen kann nicht angeführt werden, dass § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG die Beteiligung von befangenen Aufsichtsratsmitgliedern im Related-Party-Transaction-Ausschuss hinnimmt und die „Infizierungsthese“ deshalb zu verwerfen ist (so aber Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1356). Es ist schon zweifelhaft, ob die BJR in Fällen des §  107 Abs.  3 Satz  6 AktG herangezogen werden kann (s. dazu §  15 II 4 c). Selbst wenn man die BJR auf die Ausschussentscheidung anwenden möchte, bietet § 107 Abs.  3 Satz  6 AktG eine zu schwache normative Basis, um daraus weitreichende Schlüsse auf die Auswirkungen von Interessenkonflikten im Kollegialorgan zu ziehen: § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG ist rechtspolitisch zweifelhaft (s. Hopt ZGR 2019, 507, 536 f. Fn. 135; Tarde NZG 2019, 488, 493; Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1343), was darauf hindeutet, dass die ihm zugrunde liegenden Wertungen nur zurückhaltend auf andere Konstellationen übertragen werden sollten. Überdies kommt in § 111b Abs.  2 und §  112 AktG zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber der Beteiligung von befangenen Organmitgliedern an der Entscheidungsfindung kritisch gegenübersteht. Vor diesem Hintergrund leuchtet es nicht ein, wieso die rechtspolitisch zweifelhafte Regelung in § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG im Kontext der BJR den Ausschlag geben sollte. Es liegt näher, der Wertung des §  111b Abs.  2 AktG und des §  112 AktG – die rechtspolitisch unumstritten sein dürften – mehr Gewicht zu verleihen. 244 Hierzu bereits oben in § 8 IV 5. 245 Ähnlich Dendl, Disposition, S. 38; Unmuth, Vergleich, S. 240; Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 612 f. Wohl strenger Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 155, der augenscheinlich die positive Kenntnis des fremden Interessenkonflikts voraussetzt. 323

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kennen muss und deshalb geneigt sein könnte, diesem Kollegen ein Gefallen zu tun. Dieses Risiko besteht unabhängig davon, ob das „primär“ befangene Vorstandsmitglied den Interessenkonflikt kennt. Folgt man der subjektiven Betrachtung, führt die Offenlegung des Interessenkonflikts durch den befangenen Geschäftsleiter folgerichtig dazu, dass die übrigen Vorstandsmitglieder ebenfalls befangen sind. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die infizierten Geschäftsleiter eine Entscheidung treffen können, ohne die Privilegierung der Business Judgment Rule zu verlieren. Gegen eine solche Möglichkeit sprechen auf den ersten Blick die Ausführungen in § 8 IV 6 b. Dort wurde herausgearbeitet, dass ein befangenes Vorstandsmitglied nicht allein dadurch im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verbleiben kann, dass er seine Befangenheit gegenüber dem Gesamtvorstand offenlegt; es muss sich aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen. Überträgt man diesen Gedanken konsequent auf die infizierten Vorstandsmitglieder, stünden diese vor der Wahl, den Beschluss ohne den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu fassen und gegebenenfalls einer intensiveren gerichtlichen Kontrolle ausgesetzt zu sein oder sich aus dem Entscheidungsvorgang ebenfalls zurückzuziehen, was aber dazu führen würde, dass der Vorstand als Leitungsorgan faktisch nicht handlungsfähig wäre.246 Im letztgenannten Fall wäre zu überlegen, ob der Aufsichtsrat einen „Notvorstand“ bestellt, die Entscheidung an sich zieht oder sie billigt mit der Folge, dass die Vorstandsmitglieder sich auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen.247 Eine solche Lösung – so konsequent sie erscheinen mag – wäre zu einschneidend, wenn man bedenkt, dass ein Handeln im Interessenkonflikt als solches nicht pflichtwidrig ist.248 Der Umstand, dass ein Vorstandsmitglied konfliktbehaftet ist und dies offenlegt, um seiner organschaftlichen Treuepflicht nachzukommen,249 hätte eine erhebliche Fernwirkung: Das Haftungsrisiko der an sich unbefangenen Geschäftsleiter würde steigen oder die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft wäre auf den Kopf gestellt. Es erscheint systemgerech246 Zu ähnlichen Überlegungen im Zusammenhang mit Sonderinteressen eines Geschäftsleiters s. schon bereits oben in § 8 IV 6 e. Der Unterschied zwischen den Konstellationen liegt darin, dass dort alle Geschäftsleiter „originär“ befangen sind, hier hingegen der Interessenkonflikt primär durch ein Vorstandsmitglied hervorgerufen und wegen der Offenlegung auf die anderen Mitglieder erstreckt wurde. 247 Zu den möglichen Lösungswegen s. auch Katsas, Inhaltskontrolle, S. 156 f.; Semler, FS Ulmer, S. 617, 637 f. Zur Befugnis, eine Entscheidung dem AR zur Billigung vorzulegen, wenn der Vorstand wegen Interessenkonflikte faktisch nicht handlungsfähig ist, s. in § 8 IV 6 e. 248 Dazu § 7 V 5 b mit Nachw. in Fn. 149. 249 S. die Nachw. in § 7 V 5 b Fn. 148. 324

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ter, wenn man die Privilegierung der Business Judgment Rule aufrechterhält, soweit sich die Konfliktquelle aus der Beratung und Entscheidung zurückzieht.250 In einem solchen Fall können die infizierten Vorstandsmitglieder die Angelegenheit ohne äußeren Druck besprechen, so dass man auf ihre Integrität vertrauen und eine Richtigkeitsvermutung aufstellen kann. Sollten die Geschäftsleiter die Interessen der Gesellschaft hinter die Belange ihres Vorstandskollegen zurückstellen, steht die organschaftliche Treuepflicht als Korrektiv bereit. c) Informationsgrundlage Auch im Zusammenhang mit der Informationsgrundlage ist vom Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auszugehen. Demnach ist es maßgeblich, ob das jeweilige Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen darf, auf Grundlage angemessener Information zu entscheiden. Dafür sprechen auch die UMAG-Gesetzesmaterialien, wonach sich das individuell angemessene Informationsniveau bei jedem einzelnen Vorstandsmitglied ressortabhängig beurteilt.251 Die Anwendung dieser Regel ist unproblematisch, wenn die einzelnen Geschäftsleiter unabhängig voneinander die für den Beschluss nötigen Informationen beschaffen sollen. In einer solchen Situation hat jedes Vorstandsmitglied die Kontrolle über seine Aktivitäten, so dass es konsequent ist, die angemessen informierten Mitglieder nicht für etwaige Nachlässigkeiten ihrer Kollegen mit dem Entzug der Privilegierung zu sanktionieren.252 Freilich wird ein solches Vorgehen nur selten in Betracht kommen. Sind den Vorstandsmitgliedern einzelne Ressorts zugeteilt und wird eine unternehmerische Entscheidung dennoch zur Angelegenheit des Gesamtvorstands,253 bietet es sich in praktischer Hinsicht an, die grundsätzliche Aufgabenteilung auch im Rahmen der Informationsbeschaffung zu beachten und das Vorstandsmit250 Zur Möglichkeit, das befangene Vorstandsmitglied vom Entscheidungsprozess fernzuhalten, s. J. Koch ZGR 2014, 697, 719 ff. 251 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 252 AA Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  279  ff. und Scholl, Vorstandshaftung, S. 237 ff., die augenscheinlich davon ausgehen, dass die Entscheidung des Kollektivs das individuelle Verhalten der einzelnen Vorstandsmitglieder „überspielen“ kann, ohne dass sie sich aber mit der Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auseinandersetzen, die allein auf das einzelne Organmitglied abstellt. 253 Dies kann etwa vorkommen, wenn die Entscheidung ein solches wirtschaftliches Gewicht hat, dass sie nach der Geschäftsordnung durch den Gesamtvorstand entschieden werden muss. Auch ist es denkbar, dass der Gesamtvorstand eine Maßnahme, die in ein Ressort fällt, im Einzelfall an sich zieht, s. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 255 f. 325

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

glied, in dessen Zuständigkeit der Beschlussgegenstand primär fällt, mit der Vorbereitung des Vorstandsbeschlusses zu betrauen.254 In einem solchen Fall besteht typischerweise ein Informationsgefälle zwischen dem „Berichterstatter“255 und den übrigen Vorstandsmitgliedern. Die Arbeitsteilung innerhalb des Vorstands trägt nur dann Früchte, wenn sich der Gesamtvorstand auf die Ergebnisse des „Berichterstatters“ verlassen kann, ohne dass alle Geschäftsleiter sich vollständig in die Informationsgrundlage einarbeiten.256 Wie sich die Arbeitsteilung auf die Business Judgment Rule auswirkt, haben Marc Löbbe und Jonas Fischbach im Detail herausgearbeitet.257 Der „Berichterstatter“ bewegt sich nur dann im sicheren Hafen, wenn er – entsprechend den Ausführungen in § 8 III – vernünftigerweise davon ausgehen durfte, dass er alle Informationen gesammelt hat, die in der konkreten Entscheidungssituation erforderlich sind; das Gericht kontrolliert die Informationsbeschaffung auf ihre Vertretbarkeit. Kommt das Gericht im Rahmen der Vertretbarkeitskon­ trolle zu dem Schluss, dass die Informationsgrundlage unzureichend war, kann sich der „Berichterstatter“ nicht auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen. Freilich führt dieser Umstand nicht automatisch dazu, dass sich auch die übrigen Vorstandsmitglieder außerhalb des sicheren Hafens bewegen. Auch hier ist die subjektive Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausschlaggebend. Maßgeblich ist, ob die Geschäftsleiter vernünftigerweise annehmen durften, dass der „Berichterstatter“ sie mit hinreichenden Informationen versorgt hat, wobei die Intensität der richterlichen Prüfung auf dem Niveau der Vertretbarkeitskontrolle angesiedelt ist. Hätten die Vorstandsmitglieder aus einer ex-ante-­ Perspektive erkennen müssen, dass die Vorarbeiten des „Berichterstatters“ unzureichend sind, kommt ihnen die Business Judgment Rule nicht zugute. 4. Intensität der Willensbildungskontrolle bei Kollektiventscheidung a) Rechtsfolgen und Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Geht man von der Kontrolle der einzelnen Vorstandsmitglieder zur Willensbildungskontrolle im Kollegialorgan über, steht man vor der Schwierigkeit, 254 Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 231 f., die aber bei gewichtigen Entscheidungen, die an der Schnittstelle zwischen den Ressorts angesiedelt sind, die Einführung des „Vier-Augen-Prinzips“ empfiehlt. Zu den praktischen Vorgängen instruktiv Schlimm aaO S. 244 ff.; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 722 f. 255 Treffend Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 722. 256 Allerdings ist zu verlangen, dass alle Vorstandsmitglieder ein Mindestinformationsniveau erreichen; zutr. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 232. 257 Zum Folgenden Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 723 f. 326

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dass sich das Schrifttum bislang nicht ausführlich mit der Frage beschäftigt hat, wie § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Rahmen der Beschlusskontrolle im Einzelnen angewendet werden kann.258 Festzuhalten ist im Ausgangspunkt, dass auch der Vorstandsbeschluss durch die Business Judgment Rule geschützt wird, weil die in § 76 Abs. 1 AktG verankerte Leitungsautonomie anderenfalls gefährdet wäre.259 Außerdem ist daran zu erinnern, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG die Perspektive der einzelnen Vorstandsmitglieder annimmt und auf die Kollegialentscheidung nicht passt. Dennoch können einige Grundsätze, die im Kontext der Verhaltenskontrolle gelten, auf die Beschlusskontrolle übertragen werden. Zunächst ist der sachliche Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG unabhängig davon zu bestimmen, ob das einzelne Vorstandsmitglied oder der Beschluss kontrolliert wird. Die gerichtliche Prüfungsdichte wird nur dann gelockert, wenn der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat.260 Greift die Business Judgment Rule ein, ist überdies das Prüfungsprogramm des Gerichts bei der Verhaltens- und Beschlusskontrolle dasselbe. Das Gesellschaftswohl ist der Referenzpunkt der richterlichen Prüfung, die dieselbe Intensität aufweist wie bei der Kontrolle der Vorstandsmitglieder. Das Gericht ist lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle dahingehend befugt, ob der Beschlussinhalt völlig unverantwortlich ist.261 Ist §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einschlägig, wird vermutet, dass der Beschluss dem Gesellschaftswohl entspricht und damit wirksam ist. Umgekehrt führt der Umstand, dass die Business Judgment Rule nicht erfüllt ist, freilich nicht automatisch zur Nichtigkeit des Beschlusses. Auch hier ist also die negative Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu beachten. Liegt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht vor, wird die gerichtliche Inhaltskontrolle intensiviert.262 b) Freiheit von Sonderinteressen Schwierigkeiten bei der Anwendung der Business Judgment Rule auf einen Vorstandsbeschluss bereiten die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, die einen subjektiven Einschlag aufweisen: die Freiheit von Sonderinteressen und die angemessene Informationsgrundlage. Wendet man § 93 Abs. 1 258 S. schon die Darstellung des dürftigen Meinungsstands in § 8 V 1 und Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 227 f. 259 Dazu schon oben in § 7 IV 3. 260 S. § 8 II. 261 Dazu § 8 I 2. 262 S. noch § 9. 327

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Satz 2 AktG auf einzelne Vorstandsmitglieder an, kann man die Frage aufwerfen, ob ein Vorstandsmitglied von den Umständen wissen musste, die seine Befangenheit begründen, und ob es vernünftigerweise annehmen durfte, angemessen informiert gewesen zu sein. Eine solche Fragestellung funktioniert im Rahmen der Beschlusskontrolle nicht. Ein Beschluss kann weder befangen noch informiert sein. Er kann nicht wissen oder vernünftigerweise davon ausgehen, dass bestimmte tatsächliche Umstände vorliegen. Es handelt sich um ein rechtliches Produkt, das aus den Willensäußerungen mehrerer Personen entsteht, die über den erforderlichen Wissensstand – bezogen auf die Entscheidungsgrundlagen oder etwaige Sonderinteressen – verfügen oder nicht verfügen. Vor diesem Hintergrund ist zu untersuchen, wie sich der Wissensstand der Vorstandsmitglieder auf die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle des Vorstandsbeschlusses auswirkt.263 Setzt man sich dabei zunächst mit dem Zusammenhang zwischen der Befangenheit der einzelnen Vorstandsmitglieder und dem Schutz des Beschlusses vor engmaschiger gerichtlicher Kontrolle auseinander, mag man zu einer Mehrheitsbetrachtung neigen und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG dann eingreifen lassen, wenn die Mehrheit der beschlusstragenden Vorstandsmitglieder nicht durch Sonderinteressen beeinflusst war.264 Eine solche Lösung führte allerdings dazu, dass ein Vorstandsmitglied, das einem verborgenen Interessenkonflikt unterliegt, es in der Hand hätte, die Mehrheit seiner ahnungslosen und damit unbefangenen265 Vorstandskollegen durch geschickte Argumentation auf seine Seite zu ziehen. In einem solchen Fall wäre der Beschluss zwar formell mit den Stimmen der unbefangenen Mitglieder zustande gekommen, aus einer materiellen Perspektive stünde er aber maßgeblich unter dem Einfluss des konfliktbehafteten Geschäftsleiters. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, eine Vermutung dahingehend aufzustellen, dass der Beschlussinhalt dem Wohl der Gesellschaft entspricht und damit inhaltlich richtig ist. Wollte man §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG anwenden, unterläge der Beschluss lediglich einer Evidenzkontrolle; das Gericht dürfte  die Gremienentscheidung nur kursorisch überprüfen. Nimmt man diese 263 Hierzu schon in verknappter Form im Hinblick auf den Interessenkonflikt Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 228. 264 Nachw. in Fn. 227. 265 Dazu bereits in § 8 IV 5 und V 3 b. Freilich wäre eine Ausnahme zu erwägen, wenn der Vorstand – der gesetzlichen Regel in § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG entsprechend – einstimmig entscheidet. In einem solchen Fall bliebe für eine Mehrheitsbetrachtung kein Raum, so dass schon ein befangenes Mitglied den Vorstandsbeschluss infizieren würde. 328

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Lockerung der richterlichen Kontrolldichte ernst, wäre es dem Gericht ver­ boten, vertieft der Frage nachzugehen, welche Gesichtspunkte in der Vorstandssitzung berücksichtigt wurden und wie stark die einzelnen Vorstandsmitglieder die Entscheidungsfindung beeinflusst haben. Im Lichte dieser Rechtsfolgenbetrachtung spricht mehr dafür, dass ein verborgener Interessenkonflikt zwar nicht die unbefangenen Vorstandsmitglieder, aber den Beschluss infiziert.266 Dies führt dazu, dass die Business Judgment Rule nicht eingreift und das Gericht zu einer engmaschigeren Kontrolle des Beschlussinhalts befugt ist. Es kann also vorkommen, dass die Mehrheit der Vorstandsmitglieder bei einem verborgenen Interessenkonflikt eines Kollegen haftungsfrei bleibt, das befangene Mitglied aber zur Verantwortung gezogen wird und der Beschluss nach einer intensiveren richterlichen Prüfung verworfen wird. Anders ist die Rechtslage zu beurteilen, wenn ein Vorstandsmitglied seine Sonderinteressen offenlegt und weder an der Beratung noch an der Abstimmung teilnimmt. In einem solchen Fall ist es seinen Vorstandskollegen zuzutrauen, dass sie bei der Entscheidungsfindung die Belange des befangenen Mitglieds ausblenden können und allein das Wohl der Gesellschaft im Blick behalten.267 Damit besteht eine hinreichend stabile Grundlage für die Richtigkeitsvermutung, so dass sowohl die unbefangenen Vorstandsmitglieder als auch der Vorstandsbeschluss durch §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG geschützt sind. Wirkt der konfliktbehaftete Geschäftsleiter aber am Entscheidungsprozess mit, besteht das Risiko, dass seine Sonderinteressen die Entscheidungsfindung beeinflussen. Unter diesen Umständen kann von einer Richtigkeitschance keine Rede sein, so dass dem Gericht eine intensivere Kontrolle des Beschlussinhalts zu gestatten ist; auch das Verhalten aller Vorstandsmitglieder wird enger kontrolliert. Bei einem offengelegten Interessenkonflikt ist also die gerichtliche Prüfungsdichte hinsichtlich der (an sich unbefangenen) Vorstandsmitgliedern und des Beschlusses gleich. Freilich hat der Umstand, dass ein befangenes Mitglied am Entscheidungsprozess teilnimmt, nicht automatisch zur Folge, dass der Beschluss nichtig ist. Wie schon in § 8 V 4 a erläutert, ist auch hier die negative Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausschlaggebend. Der Beschluss ist am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und der organschaftlichen Treuepflicht zu überprüfen. Ergibt die Beschlusskontrolle, dass der Beschlussinhalt dem Wohl der Gesellschaft und dem Loyalitätsgebot entspricht, kann die Befangenheit nur dann zur Nichtigkeit des Beschlusses führen, wenn aus ihr ein Stimmverbot resul266 So bereits zutr. J. Koch, FS Säcker, S. 403, 413; ders. ZGR 2014, 697, 709. 267 Zu diesem Gesichtspunkt bereits oben in § 8 V 3 b. 329

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tiert268 und der Beschluss ohne die Stimme des befangenen Geschäftsleiters nicht gefasst worden wäre.269 c) Informationsgrundlage Wendet man sich der Frage zu, wie sich die unzureichende Informationsbeschaffung auf die Intensität der Beschlusskontrolle auswirkt,270 mag man dazu neigen, dieselben Grundsätze anzuwenden, die soeben für die Befangenheit des Vorstandsmitglieds entwickelt wurden.271 Geht man so vor und folgt man der soeben vorgeschlagenen Lösung, läge der Vorstandsbeschluss außerhalb des sicheren Hafens, wenn nur ein Geschäftsleiter nicht auf einer hinreichenden Informationsgrundlage abgestimmt hätte. Ein solches Ergebnis wäre freilich nicht sachgerecht. Die Befangenheit eines Vorstandsmitglieds wirkt sich auf die Entscheidungsfindung im Gesamtvorstand anders aus als eine unzureichende Informationsgrundlage. Während bei einem verborgenen Interessenkonflikt die Gefahr besteht, dass der befangene Geschäftsleiter seine Vorstandskollegen im Rahmen der Entscheidungsfindung subtil beeinflusst, um seine Belange vor das Gesellschaftswohl zu stellen, ist ein solches Beeinflussungsrisiko geringer, wenn nicht alle Vorstandsmitglieder auf Grundlage angemessener Information entscheiden.272 Im letztgenannten Fall haben die hinreichend informierten Geschäftsleiter einen besseren Überblick über die Entscheidungssituation und sind deshalb typischerweise in der Lage, die Ent-

268 Wann ein solches Stimmverbot angenommen werden kann, ist umstritten. Die herkömmliche Auffassung lehnt sich an § 34 BGB an und schließt das Vorstandsmitglied von der Abstimmung nur bei Insichgeschäften und Streitigkeiten in eigener Sache aus (statt vieler Kort in GK-AktG § 77 Rn. 14; Holtkamp, Interessenkonflikte, S.  159  ff.; Löbbe/Fischbach AG 2014, 717, 726, 728; Reichert, FS E. Vetter, S.  597, 601). Überzeugender erscheint es, die Anforderungen an das Stimmverbot zu reduzieren, um den unbefangenen Vorstandsmitgliedern den Ausschluss des befangenen Kollegen zu ermöglichen und den Schutz der BJR aufrechtzuerhalten, s. dazu J. Koch ZGR 2014, 697, 719 ff. 269 H. Diekmann/Fleischmann AG 2013, 141, 150. Allg. zu den Auswirkungen nichtiger Stimmen auf den Bestand des Vorstandsbeschlusses Fleischer in BeckOGK AktG § 77 Rn. 27. 270 Hierzu schon Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 228 ff. 271 Für eine parallele Behandlung des Interessenkonflikts und der unzureichenden Information im Kontext der Verhaltenskontrolle etwa Paefgen AG 2004, 244, 255; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  322.  Gegen eine Gleichbehandlung im haftungsrechtlichen Zusammenhang Scholl, Vorstandshaftung, S. 287 ff. 272 In diese Richtung auch Scholl, Vorstandshaftung, S. 288. 330

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scheidungsfindung zu beeinflussen und das Gesellschaftswohl zu verwirklichen. Folgt man dem, bietet es sich an, zunächst in Anlehnung an die Überlegungen von Bernd Scholl danach zu differenzieren, ob der Beschluss nach dem Einstimmigkeits- oder Mehrheitsprinzip gefasst wurde und wie der Vorstand die Informationsbeschaffung im Vorfeld der Beschlussfassung geregelt hat.273 Handelt es sich um einen einstimmigen Beschluss, greift die Business Judgment Rule schon dann nicht ein, wenn nur ein Vorstandsmitglied nicht vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Informationen abzustimmen.274 In einem solchen Fall ist es denkbar, dass der uninformierte Geschäftsleiter anders abgestimmt hätte, wenn es sich über die Entscheidungsgrundlagen im Klaren wäre. Diese Möglichkeit verbietet es, die Vermutung einer inhaltlich richtigen Entscheidung aufzustellen. Der Beschluss unterliegt also einer intensiveren gerichtlichen Kontrolle. Gilt für die Beschlussfassung das Mehrheitsprinzip, ist danach zu differenzieren, ob die Vorbereitung der Entscheidungsgrundlagen einem Vorstandsmitglied auferlegt wurde und die übrigen Geschäftsleiter sich auf die Vorarbeiten des „Berichterstatters“ verlassen haben oder ob jedes einzelne Vorstandsmitglied für die Informationsbeschaffung zuständig war. Im erstgenannten Fall ist auf das Informationsniveau des „Berichterstatters“ abzustellen. Darf dieser nicht vernünftigerweise davon ausgehen, auf Grundlage angemessene Information zu handeln, wird der Vorstandsbeschluss infiziert. Da die Vorstandsmitglieder, die nicht mit der Informationsbeschaffung betraut wurden, sich auf die Vorarbeiten des „Berichterstatters“ verlassen dürfen,275 hat dieser einen Informationsvorsprung und damit einen so großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung im Gesamtvorstand, dass man keine Richtigkeitsvermutung hinsichtlich des Entscheidungsinhalts aufstellen kann, wenn er unzureichend informiert war. Es kann also vorkommen, dass der „Berichterstatter“ und der Beschluss nicht im sicheren Hafen liegen, die übrigen Vorstandsmitglieder sich aber auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen. Waren alle Vorstandsmitglieder für die Informationsbeschaffung zuständig, unterliegt der Beschluss jedenfalls dann einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, 273 S. Scholl, Vorstandshaftung, S. 237 ff., der sich aber nicht zur Beschlusskontrolle äußert, sondern nur die Haftungssituation im Blick hat. Vgl. ferner Taube, Business Judgment Rule, S. 95. 274 Wie schon in § 8 III 2 erläutert, unterliegt die Informationsbeschaffung einer Vertretbarkeitskontrolle. 275 Hierzu bereits oben in § 8 V 3 c. 331

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

wenn jedes Vorstandsmitglied die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig aufgearbeitet hat. Im umgekehrten Extremfall – also wenn alle Vorstandsmitglieder sich nicht vorbereitet haben – greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein. Schwieriger ist die Konstellation zu beurteilen, in der nur einzelne Geschäftsleiter unzureichend informiert waren. So ist es denkbar, dass die informierten Vorstandsmitglieder im Rahmen der internen Diskussion ihren unvorbereiteten Kollegen die erforderlichen Erkenntnisse vermittelt haben und das Gremium insgesamt nun auf angemessener Informationsgrundlage entscheidet. In einem solchen Szenario läge es nahe, die Business Judgment Rule anzuwenden. Allerdings liegt eine negative Entwicklung nicht völlig fern. Die nicht vorbereiteten Geschäftsleiter können  – etwa aufgrund ihrer Autorität  – die Entscheidungsfindung so stark beeinflussen, dass die gut informierten Stimmen untergehen. Auch wenn dieses Risiko – wie schon zu Beginn dieses Abschnitts festgestellt wurde – nicht übermäßig groß sein dürfte, fällt es dennoch schwer, ohne weiteres von einer optimalen Entscheidungsprozedur auszugehen und zu vermuten, dass die Kollektiventscheidung inhaltlich richtig ist. Der Schlüssel zur Problemlösung liegt in der konsequenten Anwendung des Mehrheitsprinzips. Eine Mehrheitsbetrachtung schlägt etwa Walter Paefgen vor, der die Business Judgment Rule auf den Vorstandsbeschluss bereits dann anwenden will, wenn die für das Zustandekommen der Entscheidung erforderliche Anzahl von Vorstandsmitgliedern annehmen darf, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln.276 Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Fall eines fünfköpfigen Vorstands, der nach dem Mehrheitsprinzip entscheidet und in dem drei Mitglieder angemessen informiert sind, unabhängig von dem Abstimmungsverhalten der Geschäftsleiter einschlägig ist. So verstanden, würde die Business Judgment Rule eingreifen, wenn der Beschluss mit den Stimmen eines informierten und zwei uninformierten Mitglieder und gegen die Stimmen der zwei informierten Mitglieder zustande gekommen wäre. Die für das Zustandekommen der Entscheidung erforderliche Anzahl von Vorstandsmitgliedern – nämlich drei – wäre auch in einer solchen Konstellation hinreichend informiert. Es leuchtet aber nicht ein, wieso ein Beschluss der inhaltlichen Evidenzkontrolle unterliegen soll, obwohl sich die Mehrheit der informierten Mitglieder gegen den Antrag ausgesprochen hat. Um solche Wertungswidersprüche zu vermeiden, ist das Abstimmungsverhalten der informierten Mitglieder zu berücksichtigen. Von einem optimalen Entscheidungsverfahren kann lediglich dann ausgegangen werden, wenn so 276 Paefgen AG 2004, 244, 255 und 261. 332

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

viele informierte Mitglieder für den Antrag abgestimmt haben, dass sie alleine die Entscheidung tragen können. Nur in einem solchen Fall ist gewährleistet, dass die unvorbereiteten Mitglieder keinen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis nehmen können. Hat ein fünfköpfiger Vorstand einen Beschluss mit den Stimmen der zwei informierten und zwei uninformierten sowie gegen die Stimme eines informierten Mitglieds gefasst, kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die uninformierten Mitglieder auf einer angemessenen Entscheidungsgrundlage anders abgestimmt hätte. In einer solchen Situation kann nicht vermutet werden, dass der Beschluss inhaltlich richtig ist, so dass eine intensivere richterliche Inhaltskontrolle geboten erscheint. Bei Lichte besehen handelt es sich um dieselbe Wertung wie bei Einstimmigkeitsbeschlüssen.277 Besteht das Risiko, dass die uninformierten Mitglieder das Beschluss­ ergebnis beeinflussen, darf die gerichtliche Kontrolldichte nicht gelockert werden.

VI. Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule 1. Schadensersatzprozess: § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG In den vorstehenden Ausführungen wurden die Funktionsweise und die Vo­ raussetzungen der Business Judgment Rule auf der theoretischen Ebene herausgearbeitet. Nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG unterliegt eine Vorstandsentscheidung einer gerichtlichen Evidenzkontrolle, wenn unbefangene Vorstandsmitglieder zu einer vertretbaren Einschätzung gelangen, dass sie auf Grundlage angemessener Information handeln. Für die praktische Rechtsanwendung nicht minder bedeutsam ist die Frage nach der Beweislast für die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Diese Frage wurde bislang meist aus einer haftungsrechtlichen Perspektive beantwortet. Nach herrschender Auffassung, die auf die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG abstellt und sich ergänzend auf die UMAG-Gesetzesmaterialien278 beruft, müssen die Vorstandsmitglieder die Voraussetzungen der Business Judgment Rule darlegen und beweisen.279 277 S. die Ausführungen unter diesem Gliederungspunkt bei Fn. 273. 278 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S.  12: Da der Haftungsfreiraum des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Ausnahme und Einschränkung gegenüber § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG formuliert sei, liege die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale beim betroffenen Organ. 279 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 12, 54; M. Arnold in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  22.49; Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV §  25 Rn.  63; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 158 ff.; Winnen, Innenhaftung, S. 279 ff. In diese Richtung auch BGH NZG 2011, 549 Rn. 17 ff. 333

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

Nach der Gegenansicht ist das Ermessen bei unternehmerischen Entscheidungen die Regel, so dass – in Anlehnung an das US-amerikanische Recht280 – eine Vermutung dahingehend aufzustellen ist, dass das Vorstandsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Den Geschäftsleiter treffe nur eine sekundäre Darlegungslast. Erst wenn die Gesellschaft dargelegt habe, dass das Organmitglied einem Interessenkonflikt unterlegen habe oder seiner Informationsbeschaffungspflicht nicht nachgekommen sei, müsse dieses den Beweis für pflichtkonformes Verhalten erbringen.281 Die letztgenannte Auffassung will bei Lichte betrachtet § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG teleologisch reduzieren.282 Aus systematischer Perspektive erstreckt sich die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG in Haftungsfällen auch auf die Voraussetzungen der Business Judgment Rule, so dass die Vorstandsmitglieder insoweit konsequent darlegungs- und beweisbelastet sind; dieses Ergebnis wird zudem durch den gesetzgeberischen Willen getragen. Vor diesem Hintergrund bedarf es stichhaltiger teleologischer Argumente, um zu begründen, dass der Gesetzgeber die Reichweite der von ihm gewollten Beweislast­ regel  planwidrig verkannt hat und dass es der Gesellschaft obliegen muss, die  Haftungsprivilegierung zu entkräften. Aus rechtspolitischer Perspektive spricht die Effektivität der Business Judgment Rule dagegen, die Darlegungsund Beweislast für die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG den Vorstandsmitgliedern aufzuerlegen. Folgt man der Gesetzessystematik und den UMAG-Gesetzesmaterialien, könnte sich die Business Judgment Rule für die Vorstandsmitglieder als ein unzureichendes Schutzinstrument erweisen, wenn sie nicht in der Lage sind, den Darlegungs- und Beweislastanforderungen des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zu genügen.283 Im Hinblick darauf wäre es in der Tat erwägenswert, die Beweislastumkehr einzuschränken. Gleichwohl sind diese teleologischen Argumente nicht gewichtig genug, um von der Anwendung des §  93 Abs.  2 Satz  2 AktG im Rahmen der Business 280 Dazu instruktiv Eisele, Hafen, S. 94 ff.; Jena, Business Judgment Rule, S. 109 ff. 281 So Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  439; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 209; ders. NZG 2009, 891, 893 ff.; Eisele, Hafen, S. 358 ff. Vor dem UMAG Katsas, Inhaltskontrolle, S. 165. S. ferner die krit. Untersuchung von Jena, Business Judgment Rule, S. 255 ff. 282 So auch ausdrücklich Eisele, Hafen, S. 360 ff. Vgl. ferner Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 209: teleologische Einschränkung. 283 Deutlich Paefgen NZG 2009, 891, 893: probatio diabolica. S.  ferner Eisele, Hafen, S. 360 f., der auf Grundlage seines (fehlerhaften – s. § 7 V 5) Verständnisses der BJR als Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabs (S.  323  ff.) von einer Vermutung sorgfaltswidrigen Verhaltens spricht. 334

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

Judgment Rule abzusehen.284 Im Gegenteil: Die Beweislastumkehr ist auch im Hinblick auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sachlich gerechtfertigt. Setzt man sich mit den Beweisanforderungen an das Vorstandsmitglied vertieft auseinander, wird deutlich, dass die Effektivität der Business Judgment Rule nicht durch §  93 Abs. 2 Satz 2 AktG gefährdet ist. Beginnt man mit der unternehmerischen Entscheidung als dem Tatbestandsmerkmal, das den sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule markiert, hat der Geschäftsleiter keine Beweisprobleme zu befürchten, weil es in diesem Zusammenhang weniger um den Sachverhalt geht als um die rechtliche Wertung. Es ist nämlich allgemein anerkannt, dass die Gesellschaft – neben dem kausalen Schaden – das potentiell pflichtwidrige Verhalten des Vorstandsmitglieds beweisen muss.285 Hat die Gesellschaft den Beweis insoweit erbracht, steht auf der tatsächlichen Ebene fest, welche Entscheidung des Vorstandsmitglieds der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Geht es um die Anwendung der Business Judgment Rule, muss nur noch auf der rechtlichen Ebene geklärt werden, ob die Vorstandsentscheidung als unternehmerisch zu qualifizieren ist.286 Über das Recht wird aber grundsätzlich kein Beweis erhoben.287 Auch im Hinblick auf die Befangenheit ist die Gefahr einer Beweisnot auf Seiten der Geschäftsleiter gering, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Freiheit von Sonderinteressen um eine negative Tatsache handelt288 und den Geschäftsleiter deshalb nach allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen eine Beweis­ erleichterung zugute kommt. Zwar müssen auch negative Tatsachen durch die beweisbelastete Prozesspartei bewiesen werden,289 so dass das Vorstands284 Die eindeutige Positionierung in den Gesetzesmaterialien (RegBegr UMAG BTDrucks. 15/5092, S. 12) spricht schon gegen die Annahme, dass die Beweislastumkehr planwidrig zu weit geraten sei; zutr. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 165. 285 Statt vieler Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 208. 286 So wohl auch im Kontext der Bilanzierungsentscheidungen Merkt Der Konzern 2017, 353, 358. Insoweit ist es missverständlich, wenn im Schrifttum behauptet wird, dass der Geschäftsleiter das Vorliegen einer unternehmerischen Entscheidung beweisen muss (so etwa Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 438; vgl. ferner Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 159; Taube, Business Judgment Rule, S. 102; W. Müller, LA Happ, S. 179, 196). 287 Zu diesem Grundsatz und den Ausnahmen statt vieler Prütting in MüKoZPO § 284 Rn. 43. 288 Gegenstand des Beweises ist die Tatsache, dass ein bestimmter Umstand der Außenwelt – ein Interessenkonflikt – nicht vorhanden ist; hierzu und zur weiteren Konturierung des Begriffs „negative Tatsachen“ Stieper ZZP 123 (2010), 27, 29 f. 289 Inzwischen ganz hM, s. nur BGH NJW-RR 2009, 1142 Rn.  19; BGH NJW 2011, 2130 Rn. 19; BGH NJW 2014, 2275 Rn. 11; Bacher in BeckOK ZPO § 284 Rn. 75; Prütting in MüKoZPO § 284 Rn. 41; Stieper ZZP 123 (2010), 27, 32 ff. 335

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

mitglied das Gericht davon überzeugen muss, dass er nicht in einen Interessenkonflikt verstrickt war. Die praktischen Schwierigkeiten, die mit einem solchen Negativbeweis einhergehen, werden aber durch die sekundäre Darlegungslast des Prozessgegners abgemildert.290 Da es dem Vorstandsmitglied faktisch nicht möglich ist, den Beweis hinsichtlich aller denkbaren Konfliktquellen zu führen, obliegt es der Gesellschaft, substantiiert konkrete Umstände darzulegen, aus denen sich die Sonderinteressen des Vorstandsmitglieds ergeben.291 Es wird also der Grundsatz durchbrochen, dass die Darlegungslast der Beweislast folgt,292 was im Rahmen der Geschäftsleiterhaftung nicht völlig ungewöhnlich ist.293 Nur wenn der Gesellschaft ein substantiierter Vortrag hinsichtlich etwaiger Interessenkonflikte des Vorstandsmitglieds gelingt, muss dieses reagieren und beweisen, dass es im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht befangen war.294 Dem Geschäftsleiter stehen insoweit zwei Optionen offen: Zum einen kann er beweisen, dass (objektiv) kein relevanter Interessenkonflikt vorlag, zum anderen kann er den Beweis darüber erbringen, dass er (subjektiv) von seinen Sonderinteressen keine Kenntnis haben musste.295 Dabei erscheint es gerechtfertigt, die Beweislast für die subjektive Seite des Interessenkonflikts dem Vorstandsmitglied aufzuerlegen, weil die konfliktbegründenden Umstände in dessen Sphäre liegen.296 Auf diesem Weg kann das Risiko von Schutzbehauptungen, das mit dem subjektiven Konfliktbegriff verbunden ist, verringert werden.297

290 BGHZ 185, 1 Rn. 20 = NJW 2010, 1813; BGH NJW 2011, 2130 Rn. 20; BGH NJW 2014, 2275 Rn. 17; Bacher in BeckOK ZPO § 284 Rn. 86; Stieper ZZP 123 (2010), 27, 36 ff. Im Kontext der Vorstandshaftung OLG Köln NZG 2020, 110, 112. 291 Zutr. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  170; Taube, Business Judgment Rule, S. 103; L. Bauer NZG 2015, 549, 550; Paefgen NZG 2009, 891, 893. S. auch Dendl, Disposition, S. 38. Für die Darlegungs- und Beweislast der Vorstandsmitglieder aber etwa Unmuth, Vergleich, S. 243. 292 Zu diesem Grundsatz Prütting in MüKoZPO § 286 Rn. 138. 293 Zur sekundären Darlegungslast hinsichtlich der Pflichtverletzung s. etwa BGHZ 152, 280, 284 f. = NJW 2003, 358; Bachmann, DJT-Gutachten, S. 34 f. 294 Strenger wohl Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 29 und S. Binder, Vorstandshaftung, S. 110, die die Beweislast den Vorstandsmitgliedern auferlegen, ohne auf etwaige Erleichterungen auf der Ebene der Darlegungslast einzugehen. 295 Insoweit zutr. Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 25; Wachter/Link AktG § 93 Rn. 47. 296 Im Ergebnis auch Fütterer, Drittanstellungsvertrag, S.  61  f.; Unmuth, Vergleich, S. 236. 297 S.  dazu in §  8 IV 5.  Zum Zusammenhang zwischen der Beweislastverteilung und Vermeidung von Schutzbehauptungen auch Dendl, Disposition, S. 38. 336

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

Letztlich wirkt sich die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auf nur zwei Tatbestandsmerkmale der Business Judgment Rule aus: die Informationsgrundlage und die Verwirklichung des Gesellschaftswohls.298 Das Vorstandsmitglied muss zunächst Umstände darlegen und beweisen, aus denen sich ergibt, dass es vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Es muss also Tatsachen in den Prozess einführen, die die Annahme rechtfertigen, dass seine Einschätzung hinsichtlich der Informationsgrundlage ex ante vertretbar war.299 Die Lockerung der gerichtlichen Überprüfung des Entscheidungsinhalts auf das Evidenzniveau wirkt sich auch auf die Darlegungs- und Beweisanforderungen aus. Der Geschäftsleiter muss nicht beweisen, dass seine Entscheidung inhaltlich richtig war, weil das Gericht lediglich davon überzeugt sein muss, dass er sich nicht völlig unverantwortlich verhalten hat. Deshalb reicht es aus, wenn er Umstände vorträgt, die die von ihm ergriffenen Maßnahmen plausibilisieren. Gelingt ihm dies, muss die Gesellschaft beweisen, dass der Geschäftsleiter die Grenzen des unternehmerischen Spielraums überschritten hat. Die Anforderungen an die Beweisführung dürfen insoweit nicht überspannt werden; anderenfalls werden die materiell-rechtlichen Wirkungen der Business Judgment Rule auf der Beweislastebene konterkariert.300 Die vorstehend skizzierte Beweislastverteilung erfordert eine penible Dokumentation des Entscheidungsprozesses, was wegen der Kombination mit den Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage mancherorts kritisch beäugt wird.301 Diese Haltung ist unberechtigt, wenn man bedenkt, dass die Alternative zur Dokumentation der Entscheidungsfindung nicht zwingend „weniger Kontrolle“ lautet. Die Lockerung der gerichtlichen Prüfung des Entscheidungsinhalts ist  – wie schon in §  8 I 2 erläutert  – nur deshalb gerechtfertigt, weil die Entscheidungsprozedur einer engmaschigeren richterlichen Kontrolle unterzogen wird. Insoweit ist es konsequent, dem Vor-

298 Zutr. Taube, Business Judgment Rule, S. 104. 299 Einzelheiten bei Fest NZG 2011, 540, 541 f. Zur Vertretbarkeitskontrolle hinsichtlich der Informationsgrundlage oben in § 8 III 2. 300 So auch Taube, Business Judgment Rule, S. 102 f. S. ferner Schlimm, Geschäftsleiter­ ermessen, S. 170: Anforderungen an den Entscheidungsinhalt seien nahezu zu vernachlässigen. Einzelheiten bei Fest NZG 2011, 540, 541 f. 301 Möslein, Leitungsmacht, S.  49 (Erhöhung des Dokumentationsaufwands); Taube, Business Judgment Rule, S.  104; Kinzl DB 2004, 1653, 1654; Weiss/Buchner WM 2005, 162, 165; Seibt, FS Seibert, S. 825, 827 f. („Dokumentations- und Sachverständigenkultur“). 337

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

standsmitglied die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände aufzuerlegen, die die Einhaltung der Entscheidungsprozedur belegen. Diese Überlegungen werden durch einen Seitenblick auf die öffentlich-rechtliche Dogmatik bestätigt. So hat das BVerwG im Zusammenhang mit der Sicherheitsüberprüfung nach §§ 5, 14 Abs. 2 SÜG die Einschätzungsprärogative des Bundesnachrichtendienstes unter der Maßgabe bejaht, dass der Bundesnachrichtendienst im Prozess die Verwaltungsvorgänge und Akten vollständig vorlegt.302 Im regulierungsrechtlichen Kontext kompensiert das BVerwG die Spielräume der Bundesnetzagentur mit erhöhten Anforderungen an die Entscheidungsbegründung.303 Obwohl die Urteile unterschiedliche Bereiche des besonderen Verwaltungsrechts betreffen, kann man ihnen den Grundsatz entnehmen, dass eine eingeschränkte, nachvollziehende Kontrolle des Verwaltungsaktes nur dann möglich ist, wenn die Verwaltung ihre Entscheidung begründet und die Entscheidungsgrundlagen offengelegt hat (vgl. §  39 Abs.  1 Satz 3 VwVfG). Anderenfalls kann das Gericht nicht erkennen, welche Beweggründe der Entscheidung zugrunde liegen. Dieser Gedanke ist kein Spezifikum des Verwaltungsrechts, sondern kann auch aufgegriffen werden, wenn es um die richterliche Inhaltskontrolle einer Vorstandsentscheidung geht: Es obliegt dem Geschäftsleiter, Umstände darzulegen und zu beweisen, aus denen sich ergibt, auf welcher Grundlage er die Entscheidung getroffen hat und wieso er meinte, das Gesellschaftswohl zu verwirklichen. Diese Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast erhöhen zwar die Arbeitsbelastung innerhalb des Vorstands, haben aber zugleich – wie es in der Praxis festgestellt wird – eine hygienische Wirkung: Halte sich der Vorstand an die Kriterien der Business Judgment Rule, werde der Prozess der Entscheidungsbildung bewusster organisiert, was die Entscheidungsqualität durchaus verbessern könne.304 Aus diesem Grund könnte die teleologische Reduktion des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG einen unerwünschten Nebeneffekt haben. Müsste die Gesellschaft darlegen und beweisen, dass der Geschäftsleiter nicht vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zum Wohl der Gesellschaft zu handeln, wäre es für die Vorstandsmitglieder ein Anreiz, die Strukturierung der Entscheidungsfindung zu vernachlässigen, 302 BVerwGE 153, 36 Rn.  37  ff. = NVwZ 2016, 327.  Zum Beurteilungsspielraum bei §§ 5, 14 Abs. 2 SÜG s. bereits in § 5 II 2. 303 Hierzu BVerwGE 148, 48 Rn. 37 ff. = NVwZ 2014, 589; BVerwGE 151, 56 Rn. 38 = NVwZ 2015, 967; BVerwGE 156, 75 Rn. 24 ff. = NVwZ 2017, 557; Franke Verw 49 (2016), 25, 40 ff.; Gärditz NVwZ 2009, 1005, 1010. S. dazu bereits § 5 IV 4 c. 304 So die Beobachtung von Hemeling ZHR 175 (2011), 368, 377 f. S. auch Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1528; Brömmelmeyer WM 2005, 2065, 2067. 338

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

was sich nachteilig auf die Entscheidungsqualität auswirken könnte. Vor diesem Hintergrund spricht mehr dafür, die Beweislastumkehr nicht zu korrigieren. Dies gilt umso mehr, als das Vorstandsmitglied in der Regel einen besseren Zugang zu den maßgeblichen Unterlagen hat als die Gesellschaft.305 Insoweit wird es dem Geschäftsleiter typischerweise leichter fallen, zur Informationsgrundlage und zum Gesellschaftswohl vorzutragen,306 was ebenfalls gegen die teleologische Reduktion des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG im Zusammengang mit der Business Judgment Rule spricht. Dagegen kann man nicht einwenden, dass ausgeschiedene Vorstandsmitglieder keinen Zugriff auf die Unternehmensinterna haben. Hierbei handelt es sich nicht um eine Besonderheit der Business Judgment Rule, sondern um ein allgemeines Problem des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG. 2. Keine Anwendung des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG jenseits der Haftungsfälle Weniger gut ausgeleuchtet ist die Frage, wer die Voraussetzungen der Business Judgment Rule außerhalb eines Schadensersatzprozesses darlegen und beweisen muss. Die Darlegungs- und Beweislast kann etwa relevant werden, wenn der Aufsichtsrat ein Vorstandsmitglied wegen einer groben Pflichtverletzung abberuft307 oder einen Unterlassungsanspruch analog § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG geltend macht. Außerdem kann die Beweislastverteilung eine Rolle spielen, wenn ein Vorstandsmitglied gegen den Mehrheitsbeschluss vorgeht.308 Folgende Ausführungen fokussieren sich auf Beweislastfragen im Rahmen der Unterlassungsansprüche und der Willensbildungskontrolle. 305 Der Gedanke der Sachnähe steht generell hinter § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, s. nur Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 267; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 53; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 203 f. 306 Zutr. Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 161; Winnen, Innenhaftung, S. 282. 307 Ist §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG erfüllt, liegen keine Pflichtverletzung und damit kein Abberufungsgrund vor. Davon ist die Frage zu trennen, ob sich der AR auf die BJR berufen darf; s. dazu in § 15 I 3. 308 Die Ausführungen zur Beweislastverteilung bei einer Beschlussmängelklage eines Vorstandsmitglieds gelten spiegelbildlich für den Fall, in dem der Vorstand nach dem Leitbild des § 77 Abs. 1 AktG einstimmig entscheidet und ein Mitglied der geplanten Maßnahme nicht zustimmt. In einem solchen Fall sind nur die Prozessrollen vertauscht: Auf der Klägerseite steht die Vorstandsmehrheit, die eine positive Beschlussfeststellungsklage erhebt. Das Vorstandsmitglied, das gegen die Maßnahme votiert, beruft sich auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 339

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

Es wäre ein Leichtes, die Darlegungs- und Beweislast zu bestimmen, wenn § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG bei Unterlassungs- und Beschlussmängelklagen anwendbar wäre. Das auf Unterlassen in Anspruch genommene Vorstandsmitglied bzw. die Vorstandsmehrheit müsste darlegen und beweisen, dass die Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt sind. Allerdings erweist sich die Beweislastumkehr in beiden Fällen als problematisch, weil §  93 Abs.  2 Satz  2 AktG auf den Haftungsprozess zugeschnitten ist.309 Er geht von einer Situation aus, in der die Gesellschaft einen bereits entstandenen Schaden, der auf eine potentiell pflichtwidrige Entscheidung eines Vorstandsmitglieds zurückgeht, liquidieren will. In einem solchen Fall erlaubt der Umstand, dass die Gesellschaft eine kausale Vermögenseinbuße erlitten hat, die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit und des Verschuldens zu Lasten der Geschäftsleiter umzukehren. Bei einer Unterlassungs- und Beschlussmängelklage ist die Ausgangslage anders. Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist nicht der Ausgleich einer Vermögenseinbuße, sondern die Unterbindung einer Vorstandsentscheidung, die der Kläger für rechtswidrig hält. Das Gericht setzt sich nicht aus einer ex-post-Perspektive mit einem bereits (weitgehend) abgeschlossenen Sachverhalt auseinander. Vielmehr soll es ex ante bestimmen, ob die Individualentscheidung eines Geschäftsleiters oder der Vorstandsbeschluss dem Gesellschaftswohl entsprechen. Da die Gesellschaft in einer solchen Situation meist noch keinen Schaden erlitten hat, fehlt der Umstand, der die Beweislastumkehr trägt, so dass § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nicht herangezogen werden kann. Vielmehr ist die Darlegungs- und Beweislast außerhalb des Schadensersatzprozesses nach allgemeinen Grundsätzen zu ermitteln. 3. Beweislast bei Unterlassungsansprüchen Zu den allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts gehört nach inzwischen nahezu unbestrittener Auffassung, dass der Anspruchsteller die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatbestandsmerkmale trägt, während der Anspruchsgegner für die rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Merkmale beweisbelastet ist.310 Außerdem ist es anerkannt, dass Formulierungen wie „Dies gilt nicht, wenn“, „Diese Vorschrift findet keine Anwendung“ oder „Der Anspruch entfällt, wenn“ für die Beweislast des Anspruchsgegners sprechen.311 309 So auch im Kontext der HV-Beschlüsse Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 169. 310 Hierzu statt vieler Prütting in MüKoZPO § 286 Rn. 113 ff. 311 S. nur Prütting in MüKoZPO § 286 Rn. 117. 340

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

Wendet man diese Grundsätze zunächst auf den Unterlassungsanspruch der Gesellschaft analog § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG an, ist im Ausgangspunkt zu beachten, dass dieser Anspruch begründet ist, wenn die geplante Maßnahme eine Verletzung des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nach sich ziehen würde. Der drohende Sorgfaltspflichtverstoß ist also ein Umstand, der für die Gesellschaft günstig ist, so dass diese insoweit beweisbelastet ist. Schwieriger ist die Bestimmung der Beweislast hinsichtlich der Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Geht man von Wortlaut und Systematik des § 93 Abs. 1 AktG aus, spricht viel dafür, die Beweislast für die Tatbestandsmerkmale der Business Judgment Rule den Geschäftsleitern aufzuerlegen, die auf Unterlassen in Anspruch genommen wurden. Die systematische Anknüpfung an die Umschreibung des Sorgfaltsmaßstabs in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG legt den Schluss nahe, dass die Business Judgment Rule mit rechtsvernichtenden Tatbestandsmerkmalen vergleichbar ist und deshalb die Beweislast für ihre Voraussetzungen den Vorstandsmitgliedern obliegt; in dieselbe Richtung deutet die Formulierung „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn“ hin.312 Dieses Ergebnis kann man mit einem Verweis auf die UMAG-Gesetzesmaterialien untermauern. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Haftungsfreiraum des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Ausnahme und Einschränkung gegenüber § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG formuliert ist und die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der Business Judgment Rule deshalb beim betroffenen Organ liegt.313 Die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle ist für die Vorstandsmitglieder in der Tat günstig, so dass es angezeigt erscheint, auch außerhalb des Haftungsprozesses ihnen die Beweislast für die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufzubürden. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Schluss aber als vorschnell. Versteht man die Business Judgment Rule als eine Regelung, die nicht nur die Geschäftsleiter vor einer Haftung schützt, sondern überdies hohe Hürden an einen Unterlassungsanspruch der Gesellschaft stellt,314 spricht mehr dafür, der klagenden Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast dafür aufzuerlegen, dass die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt sind. In § 2 IV 2 wurde erläutert, dass ein Unterlassungsanspruch der Gesellschaft, der auf den Vorwurf sorgfaltswidrigen Verhaltens gründet, nicht unproblematisch ist, weil er in die aktienrechtliche Organisationsverfassung eingreift. Die Gesellschaft wird nach §  112 AktG vom Aufsichtsrat vertreten, der aber nach 312 So auch im haftungsrechtlichen Kontext Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 160. 313 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 314 Hierzu bereits in § 2 IV 2 b. 341

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG von der Geschäftsführung ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund ist die Leitungskompetenz des Vorstands auch in der ex-ante-Situation mit Hilfe der Business Judgment Rule zu schützen. Dieser Schutz ist nur dann vollständig, wenn man die Beweislast hinsichtlich der Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG richtig justiert. Wollte man die Beweislast den Geschäftsleitern auferlegen, könnte das Gericht ex ante die Vorstandsentscheidung bereits dann einer intensiven Inhaltskon­ trolle unterwerfen, wenn nach der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung nicht erwiesen wäre, dass die Entscheidung den prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entspricht. Die Vorstandsmitglieder trügen das Risiko, dass sich die Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht beweisen lassen.315 Eine solche Risikoverteilung und die damit einhergehende gerichtliche Einmischung in die Angelegenheiten der Gesellschaft sind aber fehl am Platz, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der auf Unterlassen in Anspruch genommene Geschäftsleiter das Gesellschaftswohl missachtet hat. Um die aktienrechtliche Organisationsverfassung zu schützen, ist die Beweislast für die Tatbestandsmerkmale des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG der Gesellschaft aufzuerlegen. Will die Gesellschaft erreichen, dass sich das Gericht eingehend mit der angegriffenen Vorstandsentscheidung befasst, muss sie Umstände darlegen und gegebenenfalls beweisen, aus denen sich ergibt, dass die Entscheidungsprozedur nicht ordnungsgemäß war. Sie kann etwa den Interessenkonflikt des Entscheidungsträgers belegen oder nachweisen, dass die Informationsbeschaffung nicht dem Standard des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entsprach. Auch ist es denkbar, dass die Gesellschaft den Beweis für unverantwortliches Handeln des Vorstandsmitglieds erbringt. Ist ihr die Beweisführung nicht gelungen, kann sich der auf Unterlassen in Anspruch genommene Geschäftsleiter auf die Busi­ ness Judgment Rule berufen. Einer solchen Beweislastverteilung stehen insbesondere die UMAG-Gesetzesmaterialien nicht entgegen: Der Gesetzgeber hat § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG lediglich im haftungsrechtlichen Kontext eingeordnet,316 so dass seine Äußerungen in anderen Kontrollsituationen irrelevant sind.

315 Zur Beweislast als eine Form der gesetzlichen Risikoverteilung Prütting ZZP 123 (2010), 135, 143. 316 S. RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12: „Haftungsfreiraum“. 342

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Darlegungs- und Beweislast bei der Business Judgment Rule

4. Beweislast bei der Willensbildungskontrolle Geht man zur Beweislastverteilung bei der Willensbildungskontrolle über, ist im Ausgangspunkt daran zu erinnern, dass ein Vorstandsbeschluss an einem Inhaltsfehler leidet und deshalb rechtswidrig ist, wenn das Abstimmungsergebnis mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters nicht zu vereinbaren ist.317 Der Sorgfaltsverstoß ist also ein Umstand, der für das unterlegene Vorstandsmitglied günstig ist, so dass dieses – wendet man die allgemeinen Beweislastgrundsätze an – insoweit beweisbelastet ist. Hinsichtlich der Business Judgment Rule ist im Ausgangspunkt auf die Überlegungen zu verweisen, die im Zusammenhang mit dem Unterlassungsanspruch angestellt wurden: Der Wortlaut und die Systematik des §  93 Abs.  1 AktG sprechen dafür, dass die Business Judgment Rule ein Verteidigungsin­ strument der Vorstandsmehrheit ist und diese deshalb die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beweisen muss. Anders als beim Unterlassungsanspruch führt diese Beweislastverteilung nicht zu einer vergleichbaren Störung der aktienrechtlichen Organisationsverfassung, weil auf der Klägerseite nicht der Aufsichtsrat steht (§ 112 AktG), der nach § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG von der Geschäftsführung ausgeschlossen ist. Vielmehr geht die Initiative von einem überstimmten Vorstandsmitglied aus, dem die Zuständigkeit für die Leitung der Gesellschaft nicht ohne weiteres abgesprochen werden kann. Gleichwohl greift diese Beweislastverteilung in die Binnenorganisation des Vorstands ein. Folgt aus der Satzung oder Geschäftsordnung, dass der Vorstand per Mehrheitsbeschluss entscheidet, ist diese organisatorische Grundregel auch auf der Ebene der Beweislast zu respektieren. Wollte man die Beweislast der Vorstandsmehrheit auferlegen, könnte das Gericht ex ante den Vorstandsbeschluss bereits dann einer intensiven Inhaltskontrolle unterwerfen, wenn nach der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung nicht erwiesen wäre, dass die Entscheidung den prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entspricht. Auch hier ist der Gedanke der Risikoverteilung durch Beweislast ausschlaggebend. Hat die Mehrheit eine Entscheidung getroffen, soll sie nicht das Risiko tragen, dass die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht bewiesen werden können. Versteht man die Business Judgment Rule als eine Regelung, die nicht nur die Geschäftsleiter vor Haftung schützt, sondern überdies den Vorstandsbeschluss vor engmaschiger gerichtlicher Kontrolle ab-

317 Zum Zusammenhang zwischen den Inhaltsfehlern und der Sorgfaltspflicht s. oben in § 7 III 3. 343

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Prüfungsdichte im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

schottet,318 spricht also mehr dafür, dem überstimmten Vorstandsmitglied die Darlegungs- und Beweislast dafür aufzuerlegen, dass die Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt sind. Außerdem kann man auf den Gedanken der Sachnähe verweisen, um die Beweislast dem überstimmten Vorstandsmitglied aufzuerlegen. Dieser Gedanke wird etwa im Zusammenhang mit § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG aufgegriffen, um die Beweislastumkehr zu Lasten der Vorstandsmitglieder rechtspolitisch zu plausibilisieren. Da die Geschäftsleiter eine größere Sachnähe zu den Angelegenheiten der Gesellschaft haben als die zur Haftungsverfolgung berufenen Personen, sollen sie die Beweislast auch hinsichtlich der Business Judgment Rule tragen. Handelt es sich um einen Intraorganstreit, greift diese Argumentation nicht durch. Geht ein Vorstandsmitglied gegen einen Vorstandsbeschluss vor, weil es diesen für nichtig hält, haben sowohl das klagende Mitglied als auch die den Beschluss tragenden Vorstandsmitglieder dieselbe Sachnähe zum Klagegegenstand. Deshalb erscheint es ausgewogen, dem überstimmten Vorstandsmitglied die Beweislast aufzuerlegen.

318 Dazu in § 7 IV 3. Freilich ist auch hier zu beachten, dass bei einem einstimmigen Beschluss (§  77 Abs.  1 AktG) die unternehmerische Entscheidung des Vorstandsmitglieds geschützt wird, eine Maßnahme nicht mitzutragen. 344

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§ 9 Gerichtliche Prüfungsdichte außerhalb des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG I. Kategorisierung der möglichen Fälle Sind die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, unterliegt die Entscheidung des Vorstandsmitglieds bzw. der Vorstandsbeschluss einer richterlichen Evidenzkontrolle. Das Gericht darf lediglich überprüfen, ob die Maßnahme völlig unverantwortlich war.1 Haben die Geschäftsleiter den Anforderungen der Business Judgment Rule nicht genügt, ist die Vorstandsentscheidung nach der ganz herrschenden Auffassung nicht automatisch rechtswidrig, sondern sie wird am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG kontrolliert.2 Dazu haben bereits mehrere Autoren herausgearbeitet, dass Entscheidungen, die außerhalb des sicheren Hafens der Business Judgment Rule liegen, nicht immer der vollen richterlichen Kontrolle unterliegen. Vielmehr handele es sich bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG um eine Teilkodifikation des unternehmerischen Ermessens, die weitere Entscheidungsspielräume nicht ausschließe.3 Ausgehend von dieser These wird deshalb im Folgenden untersucht, mit welcher Intensität ein Gericht die Vorstandsmaßnahmen überprüfen darf, wenn eine Voraussetzung der Business Judgment Rule nicht erfüllt ist. Um die unterschiedlichen Konstellationen abzuschichten, erfolgt die Untersuchung in mehreren Schritten. Zunächst wird der Frage nachgegangen, was gilt, wenn ein Vorstandsmitglied nicht vernünftigerweise annehmen darf, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Sodann wird die gerichtliche Kontrolldichte für den Fall bestimmt, dass der Vorstand keine unternehmerische Entscheidung trifft. Schließlich wird geklärt, wie intensiv das Gericht die Vorstandsmaßnahme überprüfen darf, wenn die prozeduralen Voraussetzungen des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG nicht erfüllt sind, das heißt, wenn die Entscheidung unter Einfluss eines Interessenkonflikts getroffen wurde oder wenn die Anforderungen an die Informationsgrundlage verfehlt wurden.

1 Dazu bereits oben in § 8 I 2. 2 Dazu und zur entgegenstehenden Konzeption, die § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Konkretisierung der organschaftlichen Sorgfaltspflichten versteht, s. § 7 V 5. 3 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 88; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 116 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 11; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 124 ff.; Eisele, Hafen, S. 303 ff.; Habersack, Managerhaftung, S. 5, 17 f.; Holle AG 2011, 778, 785. 345

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Die vorstehende Kategorisierung ist nicht zwingend, sie erleichtert aber die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte unter dem Gesichtspunkt der Argumentationslast.4 Handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung, die unbefangen und auf Grundlage angemessener Information getroffen wurde, haftet das Vorstandsmitglied dann nicht, wenn es darlegt und beweist, dass es nicht völlig unverantwortlich gehandelt hat. Um die Privilegierung der Business Judgment Rule nicht auf der Ebene der Beweislast auszuhebeln, dürfen die Anforderungen an die Beweisführung hinsichtlich des unverantwortlichen Handelns nicht überspannt werden. Die Argumentationslast liegt also trotz der Beweislastumkehr in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nicht beim Vorstandsmitglied, sondern bei der Gesellschaft.5 Anders ist die Lage, wenn § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht einschlägig ist – sei es, weil die Vorstandsentscheidung nicht unternehmerisch ist, sei es, weil die prozeduralen Anforderungen an die Entscheidungsfindung nicht eingehalten wurden. In einem solchen Fall verschiebt sich die Argumentationslast zugunsten der Gesellschaft, weil es nun dem kontrollierten Geschäftsleiter obliegt zu erläutern, wieso das Gericht seine Entscheidung weniger intensiv kontrollieren darf, obwohl die Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht erfüllt sind.6 Deshalb muss er begründen, dass ihm ein ungeschriebener diskretionärer Spielraum zusteht. Wie noch zu zeigen sein wird, variieren die Anforderungen an das Vorstandsmitglied je nachdem, an welchem Merkmal die Anwendung der Business Judgment Rule scheitert.

II. Überschreiten der Ermessensgrenzen bei Evidenzkontrolle Beginnt man die Untersuchung mit dem Handeln zum Wohl der Gesellschaft und stellt dabei auf den Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ab, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass der Geschäftsleiter pflichtwidrig handelt, wenn das Gericht im Rahmen der Evidenzkontrolle feststellt, dass er 4 Zum Gedanken der Argumentationslast und richterlichen Prüfungsdichte im öffentlichen Recht § 5 V 2. 5 Zur Darlegungs- und Beweislast s. schon in § 8 VI. Außerhalb des Schadensersatzprozesses muss die Gegenseite den Beweis für das unverantwortliche Handeln der Geschäftsleiter führen, so dass sie die Argumentationslast trägt, s. § 8 VI 2 bis 4. 6 In diese Richtung Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 47: Vorstandsmitglied hafte zwar nicht per se, die Begründungslast verschieb sich aber erheblich zu seinen Lasten. S.  ferner Habersack, Managerhaftung, S.  5, 18: Ermessen außerhalb des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG als begründungsbedürftige Ausnahme. AA bei unzureichender Informationsbeschaffung Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 50, die aber eine Beweiserleichterung erwägen. 346

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nicht vernünftigerweise annehmen durfte, das Gesellschaftswohl zu fördern.7 Die negative Formulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verbietet auf den ersten Blick einen solchen Schluss. Dies entspricht der herrschenden Ansicht im Schrifttum, die das Handeln zum Wohl der Gesellschaft als ein Tatbestandsmerkmal der Business Judgment Rule qualifiziert8 und zugleich betont, dass die Pflichtwidrigkeit am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG geprüft werden muss, wenn eine Voraussetzung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt ist.9 Dieses Ergebnis löst ein Störgefühl aus. In § 8 I 2 wurde herausgearbeitet, dass die gerichtliche Inhaltskontrolle bei unternehmerischen Entscheidungen, die unter Einhaltung der prozeduralen Vorgaben getroffen wurden, auf die Frage beschränkt ist, ob sich das Vorstandsmitglied völlig unverantwortlich verhalten hat. Stellt ein Gericht nach einer bloßen Evidenzkontrolle fest, dass ein Geschäftsleiter das Gesellschaftswohl evident verfehlt und damit die Ermessensgrenzen überschritten hat, erübrigt sich eine weitere Prüfung am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Bescheinigt das Gericht einem Vorstandsmitglied ein völlig unverantwortliches Handeln, kann es nicht zugleich das Vorstandsverhalten als sorgfaltskonform qualifizieren. Eine evidente Überschreitung der Ermessensgrenzen ist immer pflichtwidrig.10 Überdies führt sie zur Nichtigkeit des Vorstandsbeschlusses.11

III. Nicht-unternehmerische Entscheidungen 1. Präzisierung der Fragestellung Eine separate Prüfung des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ist freilich dann angezeigt, wenn der Anwendungsbereich der Business Judgment Rule nicht eröffnet ist, 7 So ausdrücklich Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 76. 8 S. bereits in § 7 V 6 a mit Nachw. in Fn. 155. 9 Nachw. in § 7 V 5 a Fn. 129. 10 Insoweit zutr. Eisele, Hafen, S.  327; Jena, Business Judgment Rule, S.  182; Unmuth, Vergleich, S. 260 ff.; Bachmann WM 2015, 105, 111; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257. So wohl auch der 5.  Strafsenat des BGH, der missverständlich formuliert, wenn er sagt, dass bei einem Verstoß gegen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG stets eine „gravierende“ bzw. „evidente“ Pflichtverletzung vorliege, s. BGH NJW 2017, 578 Rn. 25, 31; ähnlich der 3. Strafsenat in BGHSt 61, 48 Rn. 60 = NJW 2016, 2585. S. ferner Horn, FS H.P. Westermann, S.  1053, 1061.  Weicher Scholl, Vorstandshaftung, S.  293: in der Regel pflichtwidrig. Vor Kodifizierung der BJR ähnlich Hüffer, FS Raiser, S. 163, 178 f. 11 Zur Überschreitung der Ermessensgrenzen als Nichtigkeitsgrund im Kontext der AR-Beschlüsse Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 108 Rn. 40; Habersack in MüKo­ AktG § 108 Rn. 80; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 173 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 108 Rn. 27; Drygala/Staake/Szalai KapGesR § 21 Rn. 180. 347

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weil das Vorstandsmitglied keine unternehmerische Entscheidung trifft. Wie schon unter § 8 II 3 ausgeführt, ist die Frage, ob § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwendbar ist, vor allem im Lichte einer normstrukturellen Analyse zu bestimmen. Sind die Geschäftsleiter final programmiert – insbesondere durch eine Vorschrift, die allein auf das Gesellschaftswohl abstellt  – bestimmt sich die richterliche Prüfungsdichte nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Steuert der Gesetzgeber die Geschäftsleiter hingegen konditional, bleibt für die Anwendung der Business Judgment Rule kein Raum. Ob und inwieweit das Vorstandsmitglied einen diskretionären Spielraum genießt, ergibt sich nicht aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG selbst, sondern aus der jeweils einschlägigen Konditionalnorm.12 Will man die gerichtliche Kontrolldichte in Fällen der konditionalen Steuerung des Vorstandshandelns ausloten, sind zwei Fragen zu beantworten. In einem ersten Schritt ist zu klären, ob eine Konditionalnorm dem Geschäftsleiter einen richterlich eingeschränkt überprüfbaren Spielraum einräumt. Ist dies der Fall, muss in einem zweiten Schritt untersucht werden, mit welcher Intensität die Gerichte die Vorstandsmaßnahme einer inhaltlichen Prüfung unterziehen können. Bei beiden Fragen bietet es sich an, im Anschluss an die öffentlich-rechtliche Dogmatik zwischen der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite zu differenzieren.13 So kann das Gesetz dem Vorstandsmitglied einerseits einen Spielraum bei der Subsumtion unter einen unbestimmten Rechtsbegriff einräumen. Andererseits kann der Geschäftsleiter befugt sein, auf der Rechtsfolgenseite zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen auszuwählen. 2. Kontrolldichte auf der Tatbestandsebene a) Unbestimmte Rechtsbegriffe und Einschätzungsprärogativen Beginnt man mit der Frage, ob die Intensität der richterlichen Kontrolle auf der Tatbestandsebene gelockert ist, besteht die Schwierigkeit darin, eine echte Einschätzungsprärogative von einem schlichten unbestimmten Rechtsbegriff 12 So auch etwa Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  121; Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn. 11; Taube, Business Judgment Rule, S. 111 f.; Holle AG 2011, 778, 785. Auch im öffentlichen Recht wird auf die Prägewirkung der unbestimmten Rechtsbegriffe mit Beurteilungsspielraum hingewiesen, die stärker sei als das Rechtsfolgenermessen, vgl. etwa Brohm JZ 1995, 369, 373. AA insb. Cahn, FS Stilz, S. 99, 100 und von Falkenhausen NZG 2012, 644, 649, die auf dem Standpunkt stehen, dass die Anforderungen innerhalb und außerhalb der BJR im Wesentlichen gleich seien; in diese Richtung auch Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 39; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1526. Dagegen bereits oben in § 7 V 3. 13 Für eine Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Grundsätze zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 90. 348

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abzugrenzen, bei dem die richterliche Prüfungsdichte nicht eingeschränkt wird und etwaige Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung auf der Verschuldensebene berücksichtigt werden.14 Eine solche Abgrenzung ist erforderlich, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung die Unterschiede zwischen der Verhaltenskontrolle und Willensbildungskontrolle ernst nimmt. Lockert das Gesetz die richterliche Prüfungsdichte und bewegen sich die Geschäftsleiter innerhalb des diskretionären Spielraums, handeln sie pflichtenkonform und können nicht zur Verantwortung gezogen werden. Außerdem kann ein et­ waiger Vorstandsbeschluss als Ergebnis der kollektiven Willensbildung nicht korrigiert werden. Wenden die Geschäftsleiter aber einen unbestimmten Rechtsbegriff falsch an, können die Haftungsrisiken auf der Verschuldens­ ebene begrenzt werden. Ihre Entscheidung bleibt aber rechtswidrig, so dass ein etwaiger Vorstandsbeschluss nichtig ist.15 Bei der Lektüre einschlägiger Stellungnahmen fällt auf, dass die Existenz der tatbestandlichen Beurteilungsspielräume jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zwar von vielen konsentiert ist, aber nicht gesagt wird, wann ein solcher Spielraum angenommen werden kann. Die meisten Autoren zählen einige Fälle auf, in denen die gerichtliche Kontrolldichte eingeschränkt ist.16 Sie nennen aber keine abstrakten Kriterien, die es ermöglichen, die Einschätzungsprärogative von einem unbestimmten Rechtsbegriff abzugrenzen.17 Um diese Lücke zu füllen, erscheint es angezeigt, abermals an die öffentlich-­ rechtliche Überlegungen anzuknüpfen. Die vielerorts vorgebrachten Argumente gegen die Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Dogmatik – namentlich die Besonderheit des unternehmerischen Handelns und die (angebliche) Ge-

14 Dass es sich um unterschiedliche Konstellationen handelt, die dogmatisch anders zu behandeln sind, kommt (ggf. implizit) zum Ausdruck bei: Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  126  f.; Eisele, Hafen, S.  178  ff., 190  f.; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 143 ff. (Beurteilungsspielraum), 149 ff. (Rechtsunsicherheit wegen unbestimmter Rechtsbegriffe). Für einen Gleichlauf dieser beiden Konstellationen aber augenscheinlich V. Berger, Vorstandshaftung, S. 322 ff.; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 122 ff. 15 Zu den Unterschieden Holle AG 2016, 270, 276 f.; im Zusammenhang mit der BJR auch Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 13. Speziell zum Finanz- und Versicherungsaufsichtsrecht s. § 11 I 2 b. 16 So etwa Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 120, 126; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 143 ff. Eine beispielhafte Zuordnung der einzelnen Vorschriften zu den jeweiligen Kategorien erfolgt in § 11 und in §§ 19-22. 17 Wenig scharf etwa Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  188: Regelungen, die dem Vorstand zwar eine verbindliche Leitlinie zur Verfügung stellen, ihm aber keine konkrete Vorgaben machen. Vgl. ferner Kaulich, Haftung, S. 183 ff. 349

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fahr einer übermäßigen Verrechtlichung18  – greifen jedenfalls im hiesigen Kontext nicht durch.19 Da die Geschäftsleiter bei nicht-unternehmerischen Entscheidungen gesetzlich gebunden sind, unterscheidet sich ihre Lage nicht grundlegend von der Position der Exekutive. Nicht ein Wertungstransfer aus dem Verwaltungsrecht, sondern der Erlass einer gesetzlichen Vorgabe führt dazu, dass das Vorstandshandeln verrechtlicht wird. Die Einschränkung der Handlungsfreiheit und der Leitungsautonomie folgt aus einer Entscheidung des Gesetzgebers, der es – wie für das Verwaltungsrecht – in der Hand hat, die Intensität der gerichtlichen Kontrolle für jeden Tatbestand zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund ist daran zu erinnern, dass die herrschende Auffassung im Verwaltungsrecht zwischen der Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs und der Subsumtion unter eine Vorschrift differenziert und etwaige diskretionären Spielräume nur hinsichtlich des Subsumtionsvorgangs gewährt; die Auslegung einer unklaren Norm bleibt die Domäne der Gerichte. Außerdem lockert die überwiegende Ansicht die gerichtliche Prüfungsdichte nicht bei jedem unbestimmten Rechtsbegriff, sondern sie sucht nach einer materiellen Ermächtigung für die Letztentscheidungskompetenz der Exekutive. Die Einschränkung der richterlichen Kontrolle muss auf einem hinreichenden Sachgrund beruhen und darf nicht dazu führen, dass die Behörden im gänzlich kontrollfreien Raum agieren.20 Als solche Gründe für die Anerkennung der tatbestandlichen Einschätzungsprärogativen, die sich unter dem Begriff der funktionellen Adäquanz zusammenfassen lassen, werden im öffentlichen Recht genannt: der finale Charakter einer Konditionalnorm, der politisch-gestalterische Einschlag bei der Entscheidungsfindung, die Komplexität des zu beurteilenden Sachverhalts, die Erforderlichkeit einer flexiblen Entscheidung, die besondere Sachkunde der Verwaltung, die sich das Gericht auch unter Hinzuziehung von Sachverständigen nicht aneignen kann, die Zuweisung der Entscheidung an ein unabhängiges Kollegialorgan und die fehlende Reproduzierbarkeit der behördlichen Entscheidung im Gerichtssaal.21 In all diesen Fällen stößt die Rechtsprechung an ihre Funktionsgrenzen.22

18 Dazu ausf. in § 4 II 2 und 3. 19 Dass die Vorbehalte gegen den intradisziplinären Ansatz nicht überzeugen, wurde bereits in § 4 VI erläutert. 20 Dazu in § 5 II 1. 21 Ausf. zu diesen Kriterien bereits in § 5 V 3 b. 22 Zum Gedanken der Funktionsgrenzen der Rspr. in § 5 II 2 (Nachw. in Fn. 40), in § 5 V 3 b sowie in § 6 III 3. 350

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Überträgt man diese Gedanken auf das Vorstandsrecht, ist nach einem Sachgrund zu suchen, der es erlaubt, die gerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Anwendung einer unbestimmten Vorschrift einzuschränken. Ein solcher Grund kann zunächst darin liegen, dass eine Konditionalnorm starke finale Züge aufweist. Es ist nämlich denkbar, dass der Gesetzgeber die Tatbestandsmerkmale einer Vorschrift so formuliert, dass sie zwar subsumtionsfähig sind, aber den Geschäftsleiter dennoch vor die Aufgabe stellen, zwischen widerstreitenden Interessen abzuwägen, die das Gesellschaftswohl konstituieren. In einem solchen Fall spricht die finale Prägung der Konditionalnorm dafür, die gerichtliche Prüfungsdichte zu lockern.23 Überdies kann der Adäquanzgedanke aufgegriffen werden, um die schlichten  unbestimmten Rechtsbegriffe, die auf der Verschuldensebene eine Rolle  spielen können, von Beurteilungsspielräumen abzugrenzen, die die Vor­ standsentscheidung als solche vor gerichtlichem Zugriff schützen. Stößt die Rechtsprechung bei der Anwendung eines Tatbestandsmerkmals an ihre Funktionsgrenzen – etwa wenn das Merkmal dem Geschäftsleiter einen Gestaltungsauftrag erteilt, wenn die Vorstandsentscheidung nicht im Gerichtssaal reproduzierbar ist oder wenn das Gericht sich keinen besseren Wissensstand erarbeiten kann als das Vorstandsmitglied – spricht vieles dafür, eine Einschätzungsprärogative des Vorstands anzuerkennen. Wollte man in solchen Fällen eine vollständige richterliche Inhaltskontrolle einer Vorstandsentscheidung zulassen, könnte das Gericht seine eigene Wertung an Stelle der gestalterischen Maßnahme des Vorstands setzen, ohne dass damit ein Erkenntnisgewinn verbunden wäre. Kann die gerichtliche Entscheidung nicht besser sein als die des Vorstands, ist dem Geschäftsleiter eine Einschätzungsprärogative zu gewähren und die gerichtliche Kontrolldichte einzuschränken.24 b) Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte  Sprechen die normtheoretische Analyse und der Gedanke der funktionellen Adäquanz für eine Einschätzungsprärogative der Geschäftsleiter auf der Tatbestandsebene einer Konditionalnorm, ist in einem weiteren Schritt zu bestimmen, wie intensiv ein Gericht die Vorstandsentscheidung kontrollieren darf. Die bisherigen Versuche, die gerichtliche Kontrolldichte bei tatbestandli23 In diese Richtung auch Eisele, Hafen, S. 346 und Kaulich, Haftung, S. 185 ff.: Beurteilungsspielräume bei Konkretisierung des Gesellschaftsinteresses. Zu den Konditionalnormen mit finaler Prägung s. bereits in § 5 V 3 und § 6 III 3. 24 Auf den Adäquanzgedanken stellt bei Lichte besehen Eisele, Hafen, S. 345 f. ab. Die Funktionsgrenzen der Rspr. im Gesellschaftsrecht betont Kaulich, Haftung, S. 183. 351

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chen Einschätzungsprärogativen festzulegen, sind bislang schlagwortartig geblieben. Zum Teil wird vorgebracht, dass sich die gerichtliche Kontrolldichte nicht abstrakt festlegen lässt: Anders als in Fällen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beschränke sich die richterliche Kontrolle nicht auf den Entscheidungsprozess, sondern das Gericht könne auch den Entscheidungsinhalt überprüfen. Dabei habe sich die Inhaltskontrolle an Sinn und Zweck der jeweiligen gesetzlichen Regelung zu orientieren.25 Zum Teil wird die gerichtliche Prüfungsdichte ­dahingehend umschrieben, dass die Vorstandsentscheidung vertretbar sein muss.26 Der Maßstab der Vertretbarkeit ist insoweit überzeugend, als er deutlich macht, dass die richterliche Kontrolle des Entscheidungsinhalts bei tatbestandlichen Einschätzungsprärogativen intensiver ausfällt als im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Denn an eine vertretbare Entscheidung sind höhere Anforderungen zu stellen als an eine Entscheidung, die nicht völlig unverantwortlich ist.27 Gleichwohl driften die Vorstellungen darüber, was eine vertretbare Entscheidung ist, mitunter auseinander.28 Deshalb ist ein Versuch zu wagen, die Anforderungen an die Vertretbarkeit weiter zu präzisieren. Wie bereits erläutert, bietet sich dabei ein Blick auf die öffentlich-rechtliche Dogmatik an. So ist im Verwaltungsrecht wie im Aktienrecht danach zu differenzieren, ob das Gericht die (abstrakte) Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs oder die (konkrete) Subsumtion unter diesen Begriff kon­ trolliert. Räumt das Gesetz dem Geschäftsleiter eine tatbestandliche Ein­ schätzungsprärogative ein, bezieht sich die Lockerung der richterlichen Kon­ trolle nur auf den Subsumtionsvorgang, nicht aber auf die Ermittlung des Begriffsverständnisses.29 Die Gerichte behalten damit die Möglichkeit, dem Rechtsverkehr abstrakte Hinweise zum Umgang mit interpretationsbedürftigen Vorschriften zu liefern, ohne damit die Spielräume der Geschäftsleiter im konkreten Einzelfall über Gebühr einzuschränken.30 25 Holle AG 2011, 778, 785. In diese Richtung auch Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 97. 26 So Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 123, 126; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 128; Eisele, Hafen, S.  345  ff.; Schima, Business Judgment Rule, S.  369, 396.  Sympathisierend Holle AG 2011, 778, 785. 27 S. schon § 8 I 2 mit Nachw. in Fn. 25. 28 Dies tritt besonders deutlich im Kontext des entschuldbaren Rechtsirrtums zutage, s. hierzu die aufschlussreiche Zusammenstellung bei J. Koch, FS Bergmann, S. 413, 425.  29 So im aktienrechtlichen Kontext V. Berger, Vorstandshaftung, S. 324 f. Für Bilanzierungsentscheidungen auch Baums, Innenfinanzierung, S.  31  f. (der freilich die BJR anwenden will). 30 Darin liegt der dogmatische Unterschied zwischen den tatbestandlichen Beurteilungsspielräumen und Rechtsirrtümern. Ein Rechtsirrtum liegt vor, wenn der Rechts352

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Als Inspirationsquelle können auch die Kontrollkriterien dienen, die im Verwaltungsrecht im Zusammenhang mit den tatbestandlichen Beurteilungsspielräumen genannt werden. Nach der Lehre von der Beurteilungsermächtigung dürfen Verwaltungsgerichte kontrollieren, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Wertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere keine sachfremden Erwägungen angestellt hat. Um dem Gericht eine substantielle Kontrolle zu ermöglichen, muss die Behördenentscheidung hinreichend begründet und dokumentiert sein.31 Lehnt man sich an diese Grundsätze an, kann ein Zivilgericht das Vorstandshandeln zunächst daraufhin überprüfen, ob die Vorstandsmitglieder den Sachverhalt ausermittelt haben, der ihrer Entscheidung zugrunde liegt. Die Bedeutung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen für die richterliche Kontrolle ergibt sich aber nicht nur aus intradisziplinären Erwägungen, sondern folgt überdies aus einem Vergleich mit der Business Judgment Rule. Wenn der sichere Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur für den Fall geöffnet ist, dass die Vorstandsentscheidung auf angemessener Informationsgrundlage erfolgte, ist die Lockerung der richterlichen Prüfungsintensität bei konditionalen Normen erst recht nur dann geboten, wenn die Geschäftsleiter den maßgeblichen Sachverhalt kennen. Freilich müssen die Vorstandsmitglieder nicht alle theoretisch relevanten Informationen besorgen, um den diskretionären Spielraum sachgerecht auszunutzen. Vielmehr reicht es aus, wenn sie den Sachverhalt nur insoweit erforschen, als dies für eine sachgerechte Entscheidung erforderlich ist. Allerdings haben die Vorstandsmitglieder – anders als im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG32 – keine eingeschränkte Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Angemessenheit der Informationsgrundlage. Da die Entscheidung durch den gesetzlichen Tatbestand vorgeprägt ist, haben die Geschäftsleiter hinreichend feste Anhaltspunkte dafür, in welche Richtung sie die Sachverhaltsermittlung betreiben dürfen. Demnach können sie sich nur dann auf den tatbestandlichen Spielraum berufen, wenn die Informationsgrundlage objektiv angemessen ist.

anwender einen Gesetzesbegriff (abstrakt) falsch ausgelegt hat. Ein Beurteilungsspielraum setzt eine zutreffende Auslegung eines Gesetzesbegriffs voraus und schützt die Subsumtion im konkreten Fall vor einer zu engmaschigen gerichtlichen Kontrolle. 31 Ausf. dazu in § 5 II und V 4. 32 S. § 8 III 2. 353

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Neben der Kontrolle der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen erstreckt sich die gerichtliche Prüfung auf die Frage, ob der Geschäftsleiter das Tatbestandsmerkmal, das ihm eine Einschätzungsprärogative einräumt, zutreffend ausgelegt hat. Nur wenn das Vorstandsmitglied die Reichweite des Tatbestands auf einer abstrakten Ebene richtig erfasst hat, ist es in der Lage, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob sich die von ihm geplante Maßnahme in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung hält. Hier zeigt sich, dass ein diskretionärer Spielraum auf der Tatbestandsebene mit dem unbestimmten Rechtsbegriff wesensverwandt ist: Auch bei Einschätzungsprärogativen kann es erforderlich sein, nach den sog. ISION-Kriterien einen Rechtsrat einzuholen.33 Wenn der Geschäftsleiter im Rahmen der rechtlichen Prüfung seine Entscheidungsspielräume abstrakt ausgelotet hat, kann er bestimmen, ob die avisierte Maßnahme vom Tatbestand der Konditionalnorm erfasst ist. An dieser Stelle ist die gerichtliche Kontrolldichte eingeschränkt. Das Gericht darf nicht überprüfen, ob die getroffene Entscheidung aus seiner Sicht optimal ist, sondern die Prüfung beschränkt sich darauf, ob sich die Vorstandsmaßnahme in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung bewegt und ob sie sich mit dem Zweck der angewendeten Regelung vereinbaren lässt. Die Geschäftsleiter müssen ihre Letztentscheidungskompetenz so ausüben, wie es den gesetzlichen Zielvorgaben entspricht. Hat die normstrukturelle Analyse ergeben, dass die konditionale Vorschrift starke finale Züge aufweist, erstreckt sich die Kontrolle insbesondere auf die Frage, ob die Entscheidung dem Gesellschaftswohl entspricht. Dabei kann man sich an den Ausführungen von Katja Langenbucher zum Kontrollniveau des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG orientieren. Während Langenbuchers Prüfungsprogramm im Zusammenhang mit der Business Judgment Rule zu streng ausfiel,34 trifft es bei tatbestandlichen Einschätzungsprärogativen das Richtige. Das Gericht muss der Frage nachgehen, von welchen Annahmen der Geschäftsleiter ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Handlung führt und ob diese Annahmen vertretbar sind.35 Dabei sind die Erwägungen, die der Geschäftsleiter im Rahmen der Entscheidungsfindung angestellt hat, zu dokumentieren, damit das Gericht anhand der Begründung die Sachgerechtigkeit der Entscheidung nachvollziehen kann. 33 Dazu BGH NZG 2011, 1271 Rn. 16 f.; BGH NZG 2015, 792 Rn. 28 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 44a. 34 Vgl. § 8 I 2. 35 S. Langenbucher DStR 2005, 2083, 2087. 354

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3. Kontrolldichte auf der Rechtsfolgenseite  Die gerichtliche Prüfungsdichte kann auch gelockert sein, wenn eine Konditionalnorm den Geschäftsleitern auf der Rechtsfolgenseite Entscheidungsspielräume gewährt. Die Identifizierung solcher Spielräume ist in der Regel einfacher als die Abgrenzung der tatbestandlichen Einschätzungsprärogativen von schlichten unbestimmten Rechtsbegriffen. Sieht eine Vorschrift vor, dass der Vorstand oder seine Mitglieder unter bestimmten Voraussetzungen eine Maßnahme treffen „dürfen“ oder „können“, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut, dass die Normadressanten eine gewisse Handlungsfreiheit genießen. Dies gilt auch dann, wenn die Geschäftsleiter eine Maßnahme treffen „sollen“. In einem solchen Fall sind die Spielräume enger, weil die Normadressanten für den Regelfall vorprogrammiert sind. In atypischen Ausnahmesituationen dürfen sie aber von der Standardvariante abweichen und eine passendere Handlungsalternative wählen. Im Anschluss an die verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeiten kann bei Soll-Vorschriften vom gebundenen Rechtsfolgenermessen gesprochen werden.36 Um Rechtsfolgenermessen handelt es sich schließlich bei Normen, die dem Vorstand oder seinen Mitgliedern auferlegen, eine „geeignete“ oder „angemessene“ Maßnahme zu treffen. Räumt eine Konditionalvorschrift den Geschäftsleitern einen solchen Spielraum ein, kann die Intensität der gerichtlichen Kontrolle nicht pauschal nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bestimmt werden, weil der Gesetzgeber mit dem Erlass einer Norm deutlich gemacht hat, dass sich die Geschäftsleiter nicht allein am Gesellschaftswohl orientieren dürfen, sondern die Vorgaben der Ermächtigungsgrundlage berücksichtigen müssen.37 Deshalb ist die richterliche Prüfung nicht allein auf die Frage beschränkt, ob die Vorstandsmitglieder völlig unverantwortlich gehandelt haben. Vielmehr liegt es nahe, auch hier an die verwaltungsrechtliche Dogmatik anzuknüpfen und die Grundsätze der Ermessensfehlerlehre in das Aktienrecht zu transponieren.38 Demnach kann das Gericht kontrollieren, ob die Geschäftsleiter ihre Handlungsoptionen erkannt haben, ob sie die in der Regelung angelegten Grenzen eingehalten haben, ob sie den Entscheidungssachverhalt ausermittelt haben und ob sie keine 36 Ähnlich im Zusammenhang mit AR-Entscheidungen Lieder ZGR 2018, 523, 549, der allerdings vom „intendierten Ermessen“ spricht und dabei nicht beachtet, dass diese Figur im Verwaltungsrecht gerade nicht aufgegriffen wird, um die behördlichen ­Letztentscheidungskompetenzen bei Soll-Normen zu umschreiben. Zur Unterscheidung zwischen gebundenem und intendiertem Ermessen s. § 5 I mit Fn. 9 und 10. 37 Treffend Eisele, Hafen, S. 348, 352: Vorkonkretisierung des Unternehmensinteresses durch den Normgeber. 38 Hierzu in § 5 I. 355

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sachfremden Erwägungen angestellt haben. Dabei ist hinsichtlich der Informationsgrundlage auf die Ausführungen in § 9 III 2 b zu verweisen. Geht es um die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle, wird meist die Frage nach etwaigen sachfremden Erwägungen im Zentrum der Überle­ gungen stehen. Dieses Kriterium ermöglicht eine dynamische Bestimmung des richterlichen Prüfungsauftrags, die von der Ausgestaltung der konkreten Norm abhängig ist. Hat der Gesetzgeber präzise Handlungsdirektiven vorgesehen, ist das Gericht zu einer entsprechend intensiven Kontrolle der Vorstandsentscheidung befugt. Ist die Rechtsfolgenbestimmung allgemein gehalten, weist dies darauf hin, dass die Vorstandsmitglieder nach ihrer Vorstellung das Gesellschaftswohl verwirklichen sollen. In einem solchen Fall kann die richterliche Prüfungsdichte in vorsichtiger Anlehnung an die Business Judgment Rule gelockert werden. Das Gericht darf lediglich kontrollieren, ob die vom Vorstandsmitglied gewählte Rechtsfolge völlig unverantwortlich ist.

IV. Fehler im Entscheidungsverfahren 1. Meinungsstand Anders als die nicht-unternehmerischen Entscheidungen sind die Fälle gelagert, in denen die gerichtliche Evidenzkontrolle einer Vorstandsmaßnahme nicht in Betracht kommt, weil die Vorstandsmitglieder die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht eingehalten haben. In einer solchen Situation kann die richterliche Inhaltskontrolle nicht mit dem Argument ge­ lockert werden, der Gesetzgeber habe ungeschriebene Letztentscheidungskompetenzen der Geschäftsleiter in einer Konditionalnorm vorgesehen. Die Vorstandsmitglieder haben gerade eine Vorschrift, die ihnen breite diskretionäre Spielräume bei der Anwendung einer finalen Norm gewährt, nicht erfüllt, weil sie entweder befangen waren oder nicht vernünftigerweise davon ausgehen durften, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Will man die Intensität der richterlichen Prüfung im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut festlegen, scheint die Lösung klar zu sein. Ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt, greift § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ein und die Entscheidung unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Legt man das Gesetz beiseite und wertet man die juristische Literatur aus, stellt man allerdings fest, dass die Behandlung der Fehler im Entscheidungsverfahren umstritten ist. Dabei hängen die Lösungsvorschläge von der dogmatischen Qualifizierung der Business Judgment Rule ab. Wer mit Philipp Scholz konsequent die Konkretisierungsthese verfolgt, muss die Entscheidung für pflichtwidrig halten, wenn das Vor356

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standsmitglied nicht vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage ­angemessener Information zu handeln, oder wenn es befangen ist.39 Die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte erübrigt sich, weil das Gericht die Vorstandsmaßnahme nicht mehr nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG kontrollieren muss. Wer mit Gregor Bachmann § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Regelung der groben Fahrlässigkeit ansieht, muss bei nicht angemessener Informationsgrundlage von einem (schwerwiegenden) Sorgfaltsverstoß ausgehen.40 Auch nach dieser Ansicht muss also für den Fall der unzureichenden Informationsbeschaffung nicht mehr festgelegt werden, wie intensiv das Gericht die Vorstandsmaßnahme kontrollieren darf. Die herrschende Auffassung geht einen anderen Weg. Sie folgt dem Gesetzeswortlaut und stellt sich auf den Standpunkt, dass die Vorstandsentscheidung nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG kontrolliert wird, wenn die prozeduralen Vorgaben der Business Judgment Rule nicht eingehalten wurden,41 was wohl dahin zu verstehen ist, dass die richterliche Prüfung intensiviert wird.42 Manche Autoren sind gar der Ansicht, dass eine Pflichtverletzung naheliegt, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt 39 Dazu oben in § 7 V 5 a. In diesem Sinne auch Arden, Haftung, S. 32 f.; Jena, Business Judgment Rule, S. 182 f. 40 Bachmann WM 2015, 105, 110 f., der aber bei Befangenheit des Vorstandsmitglieds nicht von einer Pflichtverletzung ausgeht und einen eingeschränkten Spielraum befürwortet (Bachmann NZG 2013, 1121, 1124). Für die Pflichtwidrigkeit bei unzureichender Information auch OLG Köln NZG 2020, 110, 113; Kuntz DB-Sonderbeil. 2/2017, S.  37, 41; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257.  S.  ferner LG Duisburg, Urt. v. 13.4.2017 – 21 O 93/13, juris-Rn. 260: § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG statuierte eine Pflicht der Vorstandsmitglieder zur Informationsbeschaffung. 41 S.  schon oben in §  7 V 5 a mit Nachw. in Fn.  129.  Ferner BGH NJW 2017, 578 Rn. 30 f.; Bürgers/Körber AktG § 93 Rn. 10; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 12; Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 15; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn.  14; Seyfarth VorstandsR §  23 Rn.  20; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S.  76; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 127 ff.; Scholl, Vorstandshaftung, S. 292 ff.; Winnen, Innenhaftung, S. 283 f.; Habersack, Managerhaftung, S. 5, 23 f.; ders. ZHR 177 (2013) 782, 798; Ihrig WM 2004, 2098, 2103. Auf Interessenkonflikt bezogen Thomas, Haftungsfreistellung, S. 50 Fn. 213; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 211; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 329; Scholderer NZG 2012, 168, 175. Für die GmbH etwa Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG § 43 Rn. 114; Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 43 Rn. 60. 42 Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  207: unbelastete, neutrale Prüfung. Großzügiger wohl Grunewald/Hennrichs, FS Maier-Reimer, S.  147, 149: Entscheidung werde da­ raufhin überprüft, ob sie gut vorbereitet und inhaltlich zumindest vertretbar gewesen sei. 357

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sind;43 dieser Schluss wird jedenfalls bei unzureichender Informationsbeschaffung explizit gezogen.44 Andere stehen einem Automatismus zwischen unzureichender Informationsbeschaffung und Pflichtverletzung skeptisch gegenüber. So führt Georg Seyfarth aus, es gebe Fälle, in denen das Vorstandsmitglied nicht annehmen dürfe, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln, seine Entscheidung entspreche aber dennoch dem Gesellschaftswohl.45 Hans Christoph Grigoleit und Lovro Tomasic wollen dem Vorstandsmitglied auch bei unzureichender Informationsgrundlage einen Beurteilungsspielraum gewähren, der sich im Wesentlichen mit dem Maßstab des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG deckt.46 Marcus Wandrey plädiert für eine Vertretbarkeitskontrolle.47 Auch bei befangenen Vorstandsmitgliedern tut sich das herrschende Schrifttum schwer, automatisch einen Sorgfaltsverstoß anzunehmen. Entscheidet das Vorstandsmitglied in einem Interessenkonflikt, wird vielerorts betont, dass die Befangenheit keine Pflichtverletzung indiziert.48 Dabei sind manche Autoren der Ansicht, dass die Maßnahme eines konfliktbehafteten Geschäftsleiters der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt.49 Einige Stimmen befürworten hingegen einen eingeschränkten unternehmerischen Spielraum und sprechen sich dafür aus, dass die Vorstandsentscheidung lediglich auf ihre Vertret­barkeit oder Plausibilität überprüft wird.50 Was darunter zu verstehen ist, wird meist 43 Mertens/Cahn in KK-AktG § 93 Rn. 15; Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 76 (Regelfall); Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 127. 44 BGH NJW 2017, 578 Rn.  31; Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  47; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn.  1527 (die auch bei Befangenheit zur Pflichtverletzung tendieren); Scholl, Vorstandshaftung, S. 293. Differenzierend Unmuth, Vergleich, S. 263 f. 45 Seyfarth VorstandsR § 23 Rn. 20. Ähnlich Rahlmeyer, Vorstandshaftung, S. 73. Zum AR-Beschluss auch OLG München ZIP 2018, 372, 375. 46 Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 39, 49, 51. 47 Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163. 48 Vgl. die Nachw. in § 7 V b Fn. 149; s. ferner Jena, Business Judgment Rule, S. 183 ff.; Pfertner, Entscheidungen, S. 58; Scholl, Vorstandshaftung, S. 294; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 211. Strenger wohl Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1527. 49 N. Fischer, Vorstandshaftung, S.  88  f.; Paefgen, Entscheidungen, S.  176; Scholl, Vorstandshaftung, S. 289 f.; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 211; Engert, Schutzrecht, S. 59, 65; Holle ZHR 182 (2018), 569, 579 f. Für eine gerichtliche Kontrolle iSe Drittvergleiches auch Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  129  f.; Schnieders, Haftungsfreiräume, S. 346. Unklar OLG Frankfurt BeckRS 2017, 124842: Maßnahme müsse fair und angemessen sein. Für den AR ebenso v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 319. 50 Jena, Business Judgment Rule, S. 188 (weitgehender Gleichlauf mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG); Taube, Business Judgment Rule, S. 78 ff. (eingeschränktes Ermessen eigener 358

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nicht näher erläutert.51 Lediglich Stephan Harbarth beschäftigt sich eingehend mit der richterlichen Kontrolldichte bei Befangenheit: Ein pflichtwidriges Verhalten des Geschäftsleiters scheide trotz eines Interessenkonflikts aus, wenn ex ante zu erwarten sei, dass das gewählte Szenario in seinem Chance-Risiko-Mix die übrigen in Betracht kommenden Szenarien aus Sicht des Unternehmensinteresses deutlich überwiege. Bei einer geringfügigen Vorteilhaftigkeit der gewählten Option sei zu erwägen, ob eine noch sorgfältigere Entscheidungsvorbereitung erforderlich sei, um eine erhöhte Richtigkeitsgewähr der Maßnahme sicherzustellen.52 2. Vorbehalte gegen die Inhaltskontrolle Besinnt man sich auf den Wortlaut und die Systematik des § 93 Abs. 1 AktG, ist im Ausgangspunkt der herrschenden Ansicht zu folgen. Der Umstand, dass ein Vorstandsmitglied befangen war oder nicht vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zu handeln, führt nicht dazu, dass seine Entscheidung pflichtwidrig ist. Wie bereits in § 7 V 4 und 5 erläutert, handelt es sich bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG weder um eine Lockerung des Verschuldensmaßstabs noch um eine Konkretisierung der objektiven Sorgfaltspflichten. Deshalb ist die Vorstandsentscheidung nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG auf ihre Sorgfaltskonformität zu prüfen, wenn die prozeduralen Vorgaben der Business Judgment Rule nicht erfüllt sind. Dies gilt auch, wenn nicht die individuelle Geschäftsleitermaßnahme kontrolliert wird, sonArt); Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163 (Vertretbarkeitskontrolle); Bachmann NZG 2013, 1121, 1124 (Drittvergleich); Lutter, FS Canaris II, S. 245, 247 mit Fn. 23 (Drittvergleich, Plausibilität); ders. ZIP 2007, 841, 845  f. (Vertrag at arm’s length, Marktpreis); Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1352 (Vertretbarkeit). Für eingeschränktes Ermessen wohl auch Hopt/M. Roth in GK-AktG §  93 Rn.  118.  S.  ferner Barry, Gleichbehandlung, S. 234 ff.; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 125.  51 Manche erwägen die Anwendung der BJR unter Ausblendung der vom Interessenkonflikt betroffenen Aspekte, s. von Falkenhausen NZG 2012, 644, 648. In diese Richtung wohl auch Habersack ZHR 177 (2013) 782, 798: Maßgeblich sei, dass sich der Interessenkonflikt nicht auf die Entscheidungsfindung auswirke, also dargelegt werden könne, dass die Entscheidung aus sachlichen Erwägungen zum Wohle der Gesellschaft getroffen worden sei. Vgl. ferner Grigoleit/Tomasic AktG, 1.  Aufl., §  93 Rn. 33: „Soweit die Entscheidung allerdings von einer Prognose abhängig ist, die unabhängig von dem infrage stehenden Sonderinteresse besteht, ist ein Prognosespielraum zu gewähren.“; nunmehr stellen Grigoleit/Tomasic AktG §  93 Rn.  45 in Haftungskontext auf den Schutzzweck der Loyalitätspflichtverletzung ab. 52 Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 336 ff. Dem vorsichtig folgend J. Koch ZGR 2014, 697, 703 Fn. 20. Ähnlich aus ökonomischer Perspektive Ruffner, Grundlagen, S. 245 ff. 359

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dern der Vorstandsbeschluss nicht durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt wird.53 Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass die Maßnahme der vollen richterlichen Inhaltskontrolle unterliegt. Teilt man die Ansicht, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Einschätzungsprärogativen der Vorstandsmitglieder nur teilweise kodifiziert, ist es denkbar, dass die Prüfungsintensität auch dann gelockert werden kann, wenn die prozeduralen Vorgaben der Business Judgment Rule nicht erfüllt sind. Für eine Lockerung wird im Schrifttum vorgebracht, dass anderenfalls ein Gericht eine Inhaltskontrolle durchführen und seine eigene Entscheidung an die Stelle der Vorstandsmaßnahme setzen dürfte.54 Das Gericht müsste in einem solchen Fall im Haftungsprozess entscheiden, welche Entscheidung unternehmerisch richtig wäre, obwohl es mit dieser Aufgabe überfordert wäre.55 Diese Vorbehalte treffen in dieser Allgemeinheit nicht zu. Auch im Rahmen einer Inhaltskontrolle ist es nicht zwingend, dass ein Gericht, das eine Vorstandsmaßnahme beanstandet, eine eigene unternehmerische Entscheidung trifft. Vielmehr kann sich das Gericht mit der Feststellung begnügen, dass eine Vorstandsentscheidung nicht mehr im Spektrum sorgfältiger Maßnahmen liegt und deshalb aufzuheben ist. Damit muss aber nicht die Aussage verbunden sein, welche Entscheidung hypothetisch richtig wäre. Es reicht aus, wenn das Gericht die Bandbreite der vertretbaren Entscheidungen festlegt und feststellt, ob die konkrete Vorstandsentscheidung dem so ermittelten Maßstab entspricht.56 Um diese abstrakten Ausführungen zu verdeutlichen, kann man das Beispiel der A-AG aufgreifen, deren Vorstand die 100%ige Tochtergesellschaft T-­ GmbH veräußern will. Wenn der anvisierte Preis bei 100 Mio. Euro liegt, das Gericht aber auf Grundlage der Sachverständigengutachten zum Ergebnis kommt, dass die T-GmbH zwischen 300 bis 500 Mio. Euro wert ist, erlaubt dies die Feststellung, dass der Vorstand die T-GmbH unter Wert verkaufen will und 53 Zur Anwendung der BJR auf Vorstandsbeschlüsse § 8 V 4. 54 So etwa Barry, Gleichbehandlung, S. 235; M. Roth, Ermessen, S. 87; Scholl, Vorstandshaftung, S. 293; W. Müller, LA Happ, S. 179, 181 („Ersatzvornahme“). Mit negativem Zungenschlag auch Ph. Scholz, Haftung, S. 95; ders. AG 2015, 222, 224.  55 Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 19. Ähnlich Ph. Scholz, Haftung, S. 95. 56 Vgl. Wandrey, Beschlusskontrolle, S.  162, der treffend von einer „Negativaussage“ spricht. S. ferner Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S. 364, der zwischen positiver und negativer Operationalisierung unterscheidet; im Kontext des Vorstandsrechts s. Grigoleit AktG § 76 Rn. 30. Der Sache nach bereits Zöllner, Schranken, S. 328 f. 360

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ein solches Geschäft nicht im Interesse der A-AG liegt. Damit ist aber noch nicht die (positive) Aussage verbunden, zu welchem konkreten Preis die T-GmbH hätte verkauft werden müssen, damit das Gesellschaftswohl gewahrt bleibt. Will man die richterliche Prüfungsdichte für den Beispielsfall festlegen, gilt Folgendes: Ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einschlägig, darf das Gericht die Preisbestimmung lediglich einer sehr lockeren Kontrolle unterziehen. Es darf erst dann die Vorstandsentscheidung beanstanden, wenn der Preis offensichtlich die Grenzen des Angemessenen unterschreitet. Dabei ist die Spanne der angemessenen Preise großzügig zu bemessen, um dem Umstand gerecht zu werden, dass nur völlig unverantwortliche Entscheidungen den Schutz der Business Judgment Rule nicht genießen. Sind die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt – etwa weil der Vorstand das naheliegende Gewinnpotential der Tochtergesellschaft verkennt und damit auf unzureichender Informationsgrundlage handelt oder weil auf der Käuferseite eine Person steht, die eine nahe persönliche Beziehung zu einem Vorstandsmitglied pflegt – darf sich das Gericht die Preisbestimmung innerhalb des Vorstands und die Einzelheiten der Transaktion genauer anschauen. Als Ergebnis dieser intensiveren Prüfung kann die Bandbreite von angemessenen Preisen enger sein, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Vorstandsentscheidung als nicht sorgfältig bewertet wird. Gleichwohl ist es weiterhin denkbar, dass sich der vom Vorstand akzeptierte Preis im Rahmen des Angemessenen bewegt. Dieses Beispiel macht deutlich, dass ein Gericht befugt ist, eine Vorstandsentscheidung einer Inhaltskontrolle zu unterwerfen, wenn das Entscheidungsverfahren nicht optimal war und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht einschlägig ist. Allerdings ist bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte zu berücksichtigen, dass die Geschäftsleitermaßnahme in einer solchen Situation weiterhin eine unternehmerische ist.57 Der Geschäftsleiter ist nach wie vor gehalten, die unterschiedlichen Belange, die für die Bestimmung des Gesellschaftswohls relevant sind, zu gewichten und im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz abzuwägen.58 Diese Abwägungsdirektive spricht dafür, dem befangenen oder unzureichend informierten Vorstandsmitglied auch außerhalb 57 Zutr. Jena, Business Judgment Rule, S.  187; Taube, Business Judgment Rule, S.  78. Ähnlich Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 39; Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S. 370; Scholz, Haftung, S. 94 f. 58 Zutr. weist Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 279 im Zusammenhang mit § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG darauf hin, dass die Kriterien, die für die Vorstandsentscheidung maßgeblich sind, innerhalb und außerhalb der BJR gleich bleiben. So auch Jena, Business Judgment Rule, S. 187 f. 361

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des sicheren Hafens eingeschränkte Einschätzungsprärogativen zu belassen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Intensität der gerichtlichen Kontrolle – entsprechend dem in § 6 III 2 Gesagten – anhand der normstrukturellen Analyse bestimmt. Sind die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt, wendet das Gericht § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG an, der seinen finalen Charakter behält. 3. Ausdifferenzierung der Kontrollintensität bei Befangenheit Die vorstehenden Erwägungen zeigen, dass die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte bei der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG schwierig ist. Einerseits sprechen Wortlaut und Systematik des § 93 Abs. 1 AktG für die volle gerichtliche Kontrolle. Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass die organschaftliche Sorgfaltspflicht es nicht erlaubt, klare und subsumtionsfähige Verhaltensvorgaben an die Vorstandsmitglieder zu formulieren, was dazu führen kann, dass diskretionäre Spielräume entstehen. Geht es speziell um die Befangenheit, werden die Spielräume überdies damit begründet, dass die Inhaltskontrolle eine Gefahr der Erfolgshaftung für das Bestehen eines Interessenkonflikts schaffe.59 Bei Lichte betrachtet hält sich dieses Risiko in Grenzen. Wenn man den Konfliktbegriff richtig justiert, insbesondere die Relevanzschwelle und die subjektiven Elemente ernst nimmt,60 geraten nur diejenigen Vorstandsmitglieder in Gefahr einer engmaschigen Kontrolle, die den hinreichend gewichtigen Inte­ ressenkonflikt kennen mussten. Solche Vorstandsmitglieder können sich selbst vor einer übermäßig scharfen Haftung schützen, indem sie ihre Sonderinteressen offenlegen und sich aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen.61 Sind alle Geschäftsleiter befangen, kann der Aufsichtsrat einbezogen werden, damit der Schutz der Business Judgment Rule aufrechterhalten bleibt.62 Eine engmaschige richterliche Kontrolle müssen also in erster Linie diejenigen Vorstandsmitglieder befürchten, die einen ihnen bekannten, gewichtigen Interessenkonflikt verbergen. Geht es um eine Kollektiventscheidung, besteht eine erhöhte Haftungsgefahr wegen intensiver Inhaltsprüfung nur für den Fall, dass die Vorstandsmitglieder die Mitwirkung eines befangenen Kollegen an der Ent-

59 Harbarth, FS Hommelhoff, S. 323, 336. 60 Dazu bereits oben in § 8 VI 4 d und e. 61 Dazu bereits oben in § 8 VI 4 f. 62 Hierzu in § 8 VI 5 e. 362

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scheidungsfindung zulassen, obwohl sie den Interessenkonflikt hätten kennen müssen.63 Neben der Möglichkeit des Selbstschutzes sprechen teleologische Erwägungen gegen die Lockerung der gerichtlichen Kontrolle bei Entscheidungen befangener Vorstandsmitglieder. Der Vorstand genießt die Leitungsbefugnis und damit die Kompetenz, das Gesellschaftswohl eigenständig und weitgehend kon­ trollfrei zu definieren, weil das Aktiengesetz davon ausgeht, dass er fremdnützig tätig ist. Die Fremdnützigkeit des Vorstandhandelns ist eine Art Geschäftsgrundlage für die Einräumung der Definitionskompetenz. Ist ein Geschäftsleiter befangen, erhöht sich das Risiko, dass er eigennützige Ziele verfolgt, statt das Gesellschaftswohl zu verwirklichen. Damit entfällt die Geschäftsgrundlage für die Übertragung der Leitungsmacht. Um die Gefahr des eigennützigen Handelns zu reduzieren, bietet es sich an, ein Gericht als neutralen Dritten einzuschalten, dem es obliegt, das Gesellschaftswohl zu definieren und zu kontrollieren, ob der Geschäftsleiter diesem Maßstab gerecht wurde. Der Interessenkonflikt spricht also für eine merkliche Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle im Vergleich zur Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Allerdings stimmt diese „Alles-oder-nichts“-Lösung bedenklich, weil sie da­ rauf hinausläuft, alle Situationen, in denen ein Interessenkonflikt hinreichend gewichtig ist, über einen Kamm zu scheren. Entweder ist die Relevanzschwelle nicht überschritten und die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist nicht von vornherein ausgeschlossen oder der Interessenkonflikt ist relevant, so dass sich das Vorstandsmitglied – vorbehaltlich der subjektiven Voraussetzungen – nicht auf die Business Judgment Rule berufen kann. Dabei wird nicht differenziert, wie schwer der Interessenkonflikt ist. Dieser pauschale Ansatz überzeugt aber nicht, wenn man bedenkt, wie anspruchsvoll es ist, den Kreis der beachtlichen Interessenkonflikte zu bestimmen. Es folgt nicht unmittelbar aus dem Gesetz, welche Personen als Konfliktquelle in Betracht kommen und welche Kriterien für die Bestimmung der Relevanz eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass auf der subjektiven Seite – jedenfalls nach der hier vertretenen Auffassung – allein entscheidend ist, ob das Vorstandsmitglied die konfliktbegründenden Umstände kennen musste; eine fehlerhafte juristische Wertung bleibt außer Betracht. Dieses Ergebnis ist zwar überzeugend, weil den Geschäftsleitern auf diesem Weg die Möglichkeit von Schutzbehauptungen abgeschnitten wird.64 In Grenzfällen, in denen sich die Festlegung der Re­ levanzschwelle als schwierig erweist, hat die Ausblendung der juristischen 63 Dazu in § 8 VI 5 c bb. 64 Dazu in § 8 IV 5. 363

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Wertungen auf der subjektiven Seite aber eine überschießende Tendenz. Ein Vorstandsmitglied, das eine Konfliktsituation mit vertretbaren Argumenten anders beurteilt hat als das Gericht, verliert nach der „Alles-oder-nichts“-Lösung den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Um diese übermäßige Schärfe zu vermeiden, bietet es sich an, die richterliche Kontrolldichte bei relevanten Interessenkonflikten stärker auszudifferenzieren. Ist die Relevanzschwelle überschritten und musste das Vorstandsmitglied den konfliktbegründenden Sachverhalt kennen, greift zwar die Business Judgment Rule nicht ein, die Vorstandsentscheidung unterliegt aber nicht per se einer vollen inhaltlichen Kontrolle, sondern die Prüfungsintensität ist im ­Lichte der Konfliktschwere zu bestimmen. Eine Lockerung der Kontrolldichte kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn sich der Geschäftsleiter eindeutig in einem schwerwiegenden Interessenkonflikt befindet. Anders sind Fälle zu beurteilen, in denen der Interessenkonflikt als leicht zu qualifizieren ist und der Geschäftsleiter berechtigte Zweifel an seiner Befangenheit haben durfte. In einer solchen Situation spricht viel dafür, die Vorstandsentscheidung lediglich einer Vertretbarkeitskontrolle zu unterwerfen.65 Eine differenzierte Lösung bietet sich auch an, wenn der Interessenkonflikt eines Vorstandsmitglieds die anderen Mitglieder und den Beschluss infiziert: Die Kontrollinten­ sität ist hinsichtlich der infizierten Geschäftsleiter und des Beschlusses zu ­lockern. Bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte kann man an die Ausführungen in § 9 III 2 b anknüpfen.66 65 Im Lichte dieser Erkenntnisse kann man die gerichtliche Kontrolldichte im Beispiel in § 8 IV 4 b präziser bestimmen, das hier kurz in Erinnerung zu rufen ist: Der Vorstand der B-Bank-AG erwägt, eine automatisierten Anlage- und Kreditberatung einzuführen, wobei er zwischen dem Aufbau eines eigenen Robo-Advisory-Teams und dem Erwerb der Start-Ups X, Y oder Z schwankt. An X ist die Schwester (S) des Vorstandsmitglieds V beteiligt, was V weiß. Geht es um die (generelle) Entscheidung für oder gegen die Einführung der automatisierten Beratung, wurde in § 8 IV 4 b herausgearbeitet, dass die Relevanzschwelle nicht überschritten ist. Dagegen begründet die persönliche Beziehung zwischen V und S einen Interessenkonflikt im Hinblick auf die Entscheidung zwischen dem eigenständigen System und dem Erwerb eines StartUps sowie hinsichtlich der Auswahl zwischen X, Y und Z. Während die Konfliktschwere bei der erstgenannten Entscheidung geringer ist und deshalb eine Vertretbarkeitskontrolle nahe liegt, erreichen die Sonderinteressen des V bei der Auswahl zwischen X, Y und Z ein solches Ausmaß, dass eine volle gerichtliche Inhaltskontrolle angezeigt erscheint. 66 Eine Ausdifferenzierung der Kontrollintensität bietet sich überdies an, wenn ein befangenes Vorstandsmitglied in einer Beschlusssituation seine Sonderinteressen offenlegt und damit die Vorstandskollegen infiziert. Die Entscheidung des „originär“ be364

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4. Vertretbarkeitskontrolle bei unzureichender Informationsgrundlage Die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte erweist sich auch dann als schwierig, wenn das Vorstandsmitglied auf unzureichender Informationsgrundlage entschieden hat. Im Schrifttum wird die Informationsbeschaffung als die zentrale Voraussetzung der Business Judgment Rule identifiziert. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn zahlreiche Autoren bei lückenhaften Entscheidungsgrundlagen im Regelfall eine Pflichtverletzung bejahen wollen.67 Dies hängt wohl damit zusammen, dass die Informationsbeschaffung vielerorts als eine echte Pflicht der Vorstandsmitglieder verstanden wird.68 Folgt man dieser dogmatischen Einordnung, ist es nur konsequent, bei unzureichender Information einen Verstoß gegen die organschaftlichen Sorgfaltspflichten anzunehmen. Gleichwohl überzeugt es nicht, die Informationsbeschaffung zu einer echten Vorstandspflicht zu erheben. Es wurde bereits in § 7 V 5 b erläutert, dass sich eine solche Pflicht nicht aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG herleiten lässt, weil die Business Judgment Rule kein bestimmtes Verhalten gebietet und deshalb keine Pflichtenquelle sein kann. Außerdem kann § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht he­ rangezogen werden, um eine Informationsbeschaffungspflicht zu begründen. Die organschaftliche Sorgfaltspflicht schreibt den Vorstandsmitgliedern lediglich vor, das Wohl der Gesellschaft zu verwirklichen. Wie die Vorstandsmitglieder dieser Vorgabe nachkommen sollen, sagt § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG nicht. Es mag freilich sein, dass ein Geschäftsleiter das Gesellschaftswohl nur dann verfolgen kann, wenn er sich hinreichend informiert. Zwingend ist es aber nicht. Deshalb ist die Informationsbeschaffung nur ein Mittel zum Zweck und damit als eine bloße Obliegenheit einzuordnen.69 Vor diesem Hintergrund ist Vorsicht geboten, wenn man aus einer unzureichenden Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen im Regelfall auf eine fangenen Geschäftsleiters sollte der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegen, jedenfalls wenn der Interessenkonflikt schwerwiegend ist. Bei den infizierten Geschäftsleitern wirkt sich der Interessenkonflikt nicht vergleichbar stark aus, so dass viel dafür spricht, ihr Abstimmungsverhalten lediglich einer Vertretbarkeitskontrolle zu unterwerfen. 67 S. bereits die Nachw. in Fn. 43 und 44. 68 Statt vieler BGH NJW 2017, 578 Rn.  31; OLG Düsseldorf AG  2010, 126, 127; LG ­Duisburg, Urt. v. 13.4.2017 – 21 O 93/13, juris-Rn. 260; Grigoleit/Tomasic AktG § 93 Rn. 49; Kauer, Informationsbeschaffungspflicht, S. 33 ff. 69 So schon vor UMAG Paefgen, Entscheidungen, S. 224. Davon geht augenscheinlich auch Ph. Scholz, Haftung, S. 94 aus, der aber eine Einordnung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Obliegenheit ablehnt. 365

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Sorgfaltspflichtverletzung schließen will. Bleibt man dem Wortlaut und der Systematik des § 93 Abs. 1 AktG treu und berücksichtigt man, dass die Informationsbeschaffung eine Obliegenheit der Vorstandsmitglieder ist, sollte man die Vorstandsentscheidung, die nicht auf Grundlage angemessener Informa­ tion getroffen wurde, in jedem Einzelfall daraufhin überprüfen, ob sie dem Gesellschaftswohl entspricht. Da die Anforderungen an den optimalen Entscheidungsprozess nicht eingehalten wurden, greift der Gedanke der Richtigkeitschance nicht ein, so dass eine bloße Evidenzkontrolle nicht in Betracht kommt. Gleichwohl ist die Vorstandsentscheidung weiterhin eine unternehmerische, was für eine (ungeschriebene) Lockerung der gerichtlichen Prüfung spricht.70 Anders als in Fällen eines Interessenkonflikts besteht auch keine ­Gefahr, dass ein uninformiertes Vorstandsmitglied eigennützig handelt und deshalb eine volle Inhaltskontrolle durch eine unabhängige Instanz geboten ist. Nachlässigkeiten bei der Informationsbeschaffung haben kein so großes ­Gewicht, dass sie eine Verlagerung der Definitionskompetenz hinsichtlich des Gesellschaftswohls erlauben. Deshalb reicht eine Vertretbarkeitskontrolle aus,71 deren Intensität so zu bestimmen ist, wie in § 9 III 2 b erläutert.72

70 S. bereits oben in § 9 IV 2. 71 Dafür bereits Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163. 72 Speziell zur Vertretbarkeitskontrolle bei unzureichender Informationsgrundlage im Rahmen von Unternehmensakquisitionen in § 11 II 2. 366

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§ 10 Kategorisierung der Letztentscheidungskompetenzen I. Drei Intensitätsstufen der gerichtlichen Kontrolle Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass die gerichtliche Kontrolle der Geschäftsleiter einer Aktiengesellschaft unterschiedlich intensiv sein kann. Geht es um die Kontrolle des Entscheidungsinhalts, lassen sich – stark vereinfacht  – drei Stufen der richterlichen Prüfungsdichte unterscheiden: die Evidenzkontrolle, die Vertretbarkeitskontrolle und die volle Inhaltskontrolle einer Vorstandsentscheidung.1 Am lockersten ist die richterliche Kontrolldichte, wenn eine unternehmerische Entscheidung auf dem Prüfstand steht und die Vorstandsmitglieder die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt haben. Das Gericht muss sich auf eine inhaltliche Evidenzkontrolle beschränken und darf lediglich überprüfen, ob die Vorstandsentscheidung völlig unverantwortlich ist. Hat die Prüfung ergeben, dass der Geschäftsleiter nicht vernünftigerweise annehmen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, erübrigt sich die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte, weil die Vorstandsentscheidung pflichtwidrig ist. Eine inhaltliche Evidenzkontrolle kommt nicht in Betracht, wenn die Entscheidung der Geschäftsleiter nicht-unternehmerisch ist, weil das Gesetz nicht nur das Gesellschaftswohl als Regelungsziel nennt, sondern darüber hinaus die Instrumente festlegt, mit denen die Geschäftsleiter das Ziel verfolgen sol1 Ähnlich Taube, Business Judgment Rule, S. 110, der allerdings von vier Überprüfungsstandards ausgeht. Im intradisziplinären Vergleich kann man die drei Stufen der Prüfungsdichte mit der Intensität der Kontrolle der formellen Gesetze durch das BVerfG vergleichen, s. BVerfGE 50, 290, 333 = NJW 1979, 699 mwN und Beispielen (Evi­ denzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, intensivierte inhaltliche Kontrolle); vgl. ferner BVerfGE 123, 186, 241 = NJW 2009, 2033; zurückhaltend gegenüber einer solchen Dreiteilung aber etwa P. Huber in v. Mangoldt/Klein/Strack GG Art. 19 Rn. 517. Die Unterscheidung zwischen der Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und vollen Inhaltskontrolle ist auch dem Verwaltungsrecht bekannt. Zur Evidenzkontrolle im Planungsrecht BVerfG NVwZ 1998, 1060, 1061; BVerwGE 147, 184 Rn. 36 = NVwZ 2013, 1605; BVerwGE 154, 73 Rn.  52 = NVwZ  2016, 844.  Zur Vertretbarkeitskontrolle im Naturschutzrecht BVerwGE 130, 299 Rn. 202 = BeckRS 2008, 38060; BVerwGE 148, 373 Rn. 94 = NVwZ 2014, 714; BVerwGE 149, 229 Rn. 23 f. = NVwZ 2014, 1022. Zur vollen gerichtlichen Kontrolle (als nach Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich gebotene Regel) s. bereits in § 4 III 2. 367

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Kategorisierung der Letztentscheidungskompetenzen

len. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Gesetzgeber die Vorstands­ tätigkeit konditional steuert. Die gerichtliche Prüfungsdichte hängt davon ab, ob die Konditionalnorm den Vorstandsmitgliedern auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite eine Einschätzungsprärogative einräumt oder ob die Vorschrift schlichte unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Im letztgenannten Fall unterliegt die Entscheidung der vollen richterlichen Überprüfung; etwaige Unsicherheiten sind auf der Verschuldensebene zu beachten. Steht den Geschäftsleitern eine Letztentscheidungskompetenz bei der Anwendung einer Konditionalnorm zu, ist das Gericht zu einer Vertretbarkeitskon­ trolle befugt, die intensiver ausfallen darf als die Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Auf der Tatbestandsebene kontrolliert das Gericht, ob die Vorstandsmitglieder den Sachverhalt ausermittelt haben, ob sie das Tatbestandsmerkmal, das ihnen eine Einschätzungsprärogative einräumt, abstrakt zutreffend ausgelegt haben und ob sich die Vorstandsmaßnahme in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung bewegt sowie mit dem Zweck der angewandten Regelung vereinbaren lässt. Dabei muss das Gericht der Frage nachgehen, von welchen Annahmen der Geschäftsleiter ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Handlung führt und ob diese Annahmen vertretbar sind. Auf der Rechtsfolgenseite einer Konditionalnorm ist maßgeblich, ob die Geschäftsleiter eine Maßnahme treffen „können“ oder „dürfen“. In einem solchen Fall kann das Gericht kontrollieren, ob die Geschäftsleiter ihre Handlungsoptionen erkannt haben, ob sie die in der Regelung angelegten Grenzen eingehalten haben, ob sie den Entscheidungssachverhalt ausermittelt haben und ob sie keine sachfremden Erwägungen angestellt haben. Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle ist von der Ausgestaltung der konkreten Norm abhängig: Je allgemeiner die Rechtsfolgenbestimmung gehalten ist, desto schwächer fällt die richterliche Kontrolle aus. Schließlich kann die richterliche Prüfungsdichte eingeschränkt sein, wenn die Geschäftsleiter eine unternehmerische Entscheidung treffen, dabei aber die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG außer Acht lassen. Durften die Vorstandsmitglieder nicht vernünftigerweise annehmen, auf Grundlage angemessener Information zu handeln, ist das Gericht zur inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle der Vorstandsentscheidung befugt. Ist die Business Judgment Rule wegen der Befangenheit nicht anwendbar, hängt die richterliche Prüfungsdichte von der Schwere des Interessenkonflikts ab. Bei schweren und erkennbaren Konflikten unterliegt die Entscheidung der vollen richterlichen Überprüfung. Wiegt der Interessenkonflikt weniger schwer und liegt es nicht auf der Hand, kann eine bloße Vertretbarkeitskontrolle angezeigt sein. 368

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Begriffliche Kategorisierung der Entscheidungsspielräume

II. Begriffliche Kategorisierung der Entscheidungsspielräume Die vorstehende Kategorisierung erfolgt aus der Perspektive des Gerichts, das vor der Frage steht, wie intensiv es die Vorstandsentscheidung überprüfen darf. In der aktienrechtlichen Diskussion wird diese Perspektive häufig nicht eingenommen. Stattdessen wird das Problem aus der Position der Vorstandsmitglieder formuliert. Es wird danach gefragt, ob die Geschäftsleiter einen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum genießen. Wie bereits in § 1 II erläutert, werden die verwendeten Begrifflichkeiten beliebig eingesetzt, was die Kommunikation erschwert. Geht man mit der hier vertretenen Ansicht davon aus, dass die Spielräume der Vorstandsmitglieder variieren können, spricht viel dafür, die jeweiligen Kategorien klar zu benennen. Eine solche Kategorisierung ist zwar nicht im Gesetz angelegt und dogmatisch nicht zwingend,2 sie hat aber den Vorteil, dass sie den begrifflichen Wirrwarr um die Letztentscheidungskompetenzen der Verbandsrechtsakteure ordnet. Um ein klares Referenzmodell zu haben, ist es empfehlenswert, sich an die im Verwaltungsrecht gebräuchlichen Begrifflichkeiten anzulehnen. Der Begriff des „unternehmerischen Ermessens“, der im Zusammenhang mit der Business Judgment Rule verwendet wird, entspricht am ehesten dem Planungsermessen. Sowohl unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als auch behördliche Planungsentscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch finale Normen gesteuert werden. Deshalb sollte vom „unternehmerischen Ermessen“ nur dann die Rede sein, wenn es um die Evidenzkontrolle geht.3 Sind die Geschäftsleiter konditional gesteuert, bietet es sich an, bei Einschätzungsprärogativen auf der Tatbestandsebene von einem „Beurteilungsspielraum“ zu sprechen.4 Bei Letztentscheidungskompetenzen auf der Rechtsfolgenseite liegt der Begriff des „Rechtsfolgenermessens“ nahe. Bestehen die Spielräume auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite, handelt es sich um eine „Koppelungsvorschrift“.5 2 Man kann genauso gut auf andere Kategorisierungsvorschläge zurückgreifen, wie etwa bei V. Berger, Vorstandshaftung, S. 325 ff., die zwischen dem unternehmerischen Ermessen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, sonstigen Ermessen im Handlungsbereich und Beurteilungsspielraum im Erkenntnisbereich unterscheidet. Die Unterscheidung zwischen dem Erkenntnis- und Handlungsbereich, die schon der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung zugrunde liegt (s. BGHZ 135, 244, 254 = NJW 1997, 1926), wird auch aufgegriffen von: Merkt Der Konzern 2017, 353, 354; W. Müller, LA Happ, S. 179, 192. 3 So auch V. Berger, Vorstandshaftung, S. 325 f.; Holle AG 2011, 778, 785. 4 So bereits Harnos, Geschäftsleiterpflichten, S. 142 ff.; Holle, Legalitätskontrolle, S. 81. 5 Zu dieser Begrifflichkeit im verwaltungsrechtlichen Kontext in § 5 I Fn. 19. 369

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Kategorisierung der Letztentscheidungskompetenzen

III. Prüfungsschritte Die soeben vorgeschlagene Kategorisierung der Entscheidungsspielräume und Aufteilung der richterlichen Prüfungsdichte in drei Stufen ermöglichen den Gerichten eine klar strukturierte Kontrolle der Geschäftsleitermaßnahmen. Ist ein Gericht mit der Frage befasst, ob eine Vorstandsentscheidung den mate­ riell-rechtlichen Vorgaben entspricht, bietet es sich an, in einem ersten Schritt zu klären, mit welcher Intensität es die Entscheidung kontrollieren kann. Handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, muss das Gericht der Frage nachgehen, ob die Geschäftsleiter die prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt haben. Ist dies der Fall, ist das Gericht lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt. Durften die Geschäftsleiter nicht davon ausgehen, auf angemessener Informationsgrundlage zu entscheiden, unterliegt die Maßnahme der Vertretbarkeitskontrolle. Waren die Geschäftsleiter befangen, hängt die Prüfungsdichte von der Schwere des Interessenkonflikts ab. Bei minderschweren Konflikten ist eine Vertretbarkeitskontrolle statthaft, bei schweren Konflikten darf das Gericht die Entscheidung inhaltlich vollständig daraufhin überprüfen, ob sie dem Gesellschaftsinteresse entspricht. Ist die Entscheidung nicht unternehmerisch, muss das Gericht der Frage nachgehen, ob das Gesetz den Geschäftsleitern auf der Tatbestandsebene einen Beurteilungsspielraum und auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen einräumt. Ist dies der Fall, wird die Intensität der richterlichen Prüfung gelockert. Anderenfalls ist das Gericht zur vollen inhaltlichen Kontrolle der Vorstandsmaßnahme befugt.

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§ 11 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Vorstandsaufgaben I. Organisation und Überwachung des Unternehmens 1. Bestandssicherungssystem nach § 91 Abs. 2 AktG In den vorstehenden Abschnitten wurde auf abstrakter Ebene herausgearbeitet, in welchen Situationen ein Gericht die Entscheidungen des Gesamtvorstands und seiner Mitglieder kontrollieren kann und wie die richterliche Prüfungsdichte zu bestimmen ist. Im Folgenden soll anhand drei beispielhafter Vorstandsaufgaben aufgezeigt werden, wie intensiv die Kontrolle des Gesellschafterhandelns ausfallen kann.1 Dabei orientiert sich die Untersuchung in erster Linie an Fällen, in denen die Existenz von Ermessen oder Beurteilungsspielräumen der Geschäftsleiter kontrovers diskutiert wird. Da die Begrifflichkeiten uneinheitlich verwendet werden,2 wird der Versuch unternommen, die jeweiligen Vorstandsaufgaben den in § 10 vorgeschlagenen Kategorien zuzuordnen. Die Diskussion um die Letztentscheidungskompetenzen wird besonders intensiv geführt, wenn es um die Organisations- und Überwachungspflichten des Vorstands geht, die unter dem Sammelbegriff „Compliance“ zusammengefasst werden. Knüpft man an die Unterscheidung zwischen dem unternehmerischen Ermessen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei finalen Vorschriften einerseits und den tatbestandlichen Beurteilungsspielräumen sowie Rechtsfolgenermessen bei Konditionalnormen andererseits an, liegt es nahe, zwischen drei Arten der Unternehmensorganisationspflichten zu differenzieren: der Pflicht zur Einführung eines Bestandssicherungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG, den aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten nach § 25a Abs. 1, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 Abs. 2 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG und der allgemeinen Compliance-­ Pflicht, die aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG hergeleitet wird. Beginnt man die Untersuchung mit der Auswertung der Stellungnahmen zu den Letztentscheidungskompetenzen nach §  91 Abs.  2 AktG, gewähren die meisten Autoren dem Vorstand einen Ermessensspielraum hinsichtlich der 1 Auf weitere Vorstandsaufgaben wird im Teil 5 im Zusammenhang mit den Querschnittsmaterien eingegangen. 2 S. schon in § 1 II. 371

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Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Vorstandsaufgaben

konkreten Ausgestaltung des Bestandsicherungssystems, ohne sich eindeutig festzulegen, ob §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG eingreift.3 Vielerorts wird die Einrichtung eines Bestandssicherungssystems als eine unternehmerische Entscheidung qualifiziert und die Business Judgment Rule angewendet.4 Manche Stimmen halten die inhaltliche Evidenzkontrolle angesichts der rechtlichen Bindung des Vorstands für unzureichend mit der Folge, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht einschlägig sein soll; der Vorstand soll aber einen ungeschriebenen Beurteilungsspielraum genießen.5 Wie schon in § 8 II 2 erläutert, führt die gesetzliche Bindung des Vorstands oder seiner Mitglieder nicht automatisch dazu, dass keine unternehmerische Entscheidung vorliegt und die Anwendung der Business Judgment Rule nicht in Betracht kommt.6 Vielmehr ist die Ausgestaltung der konkreten Norm – insbesondere der Grad der rechtlichen Bindung – maßgeblich. Im Vordergrund steht namentlich die Frage, ob die Vorschrift einen finalen oder konditionalen Charakter hat;7 ergänzend ist auf den Adäquanzgedanken abzustellen.8 Nach §  91 Abs.  2 AktG hat der Vorstand geeignete Maßnahmen zu treffen, damit die den Fortbestand der Gesellschaft gefährdenden Entwicklungen früh erkannt werden; die Umsetzung dieser Maßnahmen hat der Vorstand zu überwachen.9 § 91 Abs. 2 AktG lässt sich nicht in Tatbestand und Rechtsfolge zer3 Fleischer in BeckOGK AktG § 91 Rn. 33, 36; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG §  91 Rn.  12, 14.  Für Leitungsermessen Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  91 AktG Rn. 8; Hüffer/J. Koch AktG § 91 Rn. 7; Hölters/Müller-Michaels AktG § 91 Rn. 6; Lütgerath, Vorgaben, S.  218.  Für unternehmerisches Ermessen Bürgers/Körber AktG § 91 Rn. 10; Grigoleit/Tomasic AktG § 91 Rn. 7; Kort in GK-AktG § 91 Rn. 47, 111; Mertens/Cahn in KK-AktG § 91 Rn. 25. 4 Spindler in MüKoAktG § 91 Rn. 17, 28; Wachter/Link AktG § 93 Rn. 28 f.; Berenbrok, Risikomanagement, S. 251 ff.; Jakobus, Risikomanagement, S. 95 ff.; Pfertner, Entscheidungen, S.  174  f.; Scholl, Vorstandshaftung, S.  201; Widmann, Risikomanagement, S. 76 ff.; Winnen, Innenhaftung, S. 195; Dengler WM 2014, 2032, 2037; Nietsch ZGR 2015, 631, 655 f. 5 V. Berger, Vorstandshaftung, S. 327 f.; Breitenfeld, Binnenhaftung, S. 118 f., 129 f.; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 144; Holle, Legalitätskontrolle, S. 34, 78; Habersack, Managerhaftung, S. 5, 17. Gegen Anwendung der BJR auch M. Arnold in Marsch-Barner/ Schäfer Rn. 22.20. 6 Insoweit im Kontext des § 91 Abs. 2 AktG noch zu undifferenziert Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 144. 7 Zur Beschränkung des Anwendungsbereichs des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf finale Normen in § 8 II 3. 8 S. in § 8 II 4. 9 Zum Streit um die Bedeutung des Regelbeispiels statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 91 Rn. 8 ff. 372

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gliedern, sondern er schreibt eine allgemein formulierte Zielvorgabe vor, was gegen die Einordnung als Konditionalnorm spricht. Diese Zielvorgabe soll nach gängiger Auffassung die allgemeinen Leitungspflichten aus §§  76, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG konkretisieren,10 was den Schluss nahe legt, dass sich der Vorstand bei der Umsetzung seiner Organisationspflicht allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen muss. Dabei formuliert § 91 Abs. 2 AktG keine nennenswerten Kriterien, an denen sich der Vorstand orientieren muss, wenn er das Bestandssicherungssystem einführt und überwacht. Diese Ausgestaltung verleiht § 91 Abs. 2 AktG starke finale Züge.11 Zugleich führt die Konturlosigkeit der Vorschrift dazu, dass die Gerichte keinen Kompetenzvorsprung vor den Geschäftsleitern haben. Bei der Einführung und Überwachung eines Bestandssicherungssystems geht es nicht um die schlichte Rechtsanwendung, sondern die Erfüllung der Organisationspflicht aus § 91 Abs. 2 AktG hat einen gestalterischen Charakter. Kontrolliert die Rechtsprechung die Umsetzungsmaßnahmen des Vorstands, stößt sie bald an ihre Funktionsgrenzen. Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwendbar ist. Dies hätte zur Folge, dass die Gerichte die Vorstandsentscheidungen über die Einführung und Überwachung des Bestandssicherungssystems lediglich daraufhin überprüfen dürften, ob sie in einer ordnungsgemäßen Prozedur getroffen wurden und nicht völlig unverantwortlich sind. Allerdings ist zu beachten, dass die Kontrollintensität im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule zunimmt, wenn die Vorstandsmitglieder eine bestandsgefährdende Maßnahme treffen. In einem solchen Fall muss sich das Gericht nicht mit einer Evidenzkontrolle begnügen, sondern es darf die Vorstandsentscheidung auf Vertretbarkeit überprüfen.12 Dieser Gedanke ist im Zusammenhang mit § 91 Abs. 2 AktG aufzugreifen. Wenn die Geschäftsleiter zu besonders vorsichtigem Handeln verpflichtet sind, soweit sie bestandsgefährdende Risiken eingehen, müssen sie gleichermaßen vorsichtig agieren, wenn sie Maßnahmen ergreifen, die auf die Früherkennung solcher Risiken gerichtet sind. Die Sonderbehandlung bestandsgefährdender Risiken, die namentlich die Belange der Gesellschaftsgläubiger als stakeholder-Gruppe stark betreffen, erlaubt es, die

10 Deutlich RegBegr KonTraG BT-Drucks. 13/9712, S.  15: „gesetzliche Hervorhebung der allgemeinen Leitungsaufgabe des Vorstands gemäß § 76 AktG“. S. ferner Fleischer in BeckOGK AktG § 91 Rn. 29; Grigoleit/Tomasic AktG § 91 Rn. 1; Spindler in MüKo­ AktG § 91 Rn. 1. 11 S. ferner Dreher VersR 2008, 998, 999, der § 91 Abs. 2 AktG als eine prinzipienbasierte Norm versteht. 12 Dazu bereits oben in § 8 I 3. 373

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Intensität der gerichtlichen Kontrolle über das Niveau der Business Judgment Rule zu erhöhen.13 2. Aufsichtsrechtliche Organisationspflichten in regulierten Branchen a) Aufbau eines Organisations- und Risikomanagementsystems als unternehmerische Entscheidung? § 91 Abs. 2 AktG formuliert eine verhältnismäßig überschaubare Organisationsvorgabe, die für alle Aktiengesellschaften gilt. Geschäftsleiter von Gesellschaften, die in regulierten Branchen tätig sind, müssen über die allgemeinen aktienrechtlichen Anforderungen hinaus sektorspezifische Organisationspflichten beachten, die namentlich in § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§  23, 26  ff. VAG festgelegt sind14 und die sich durch eine deutlich höhere Regelungsdichte als § 91 Abs. 2 AktG auszeichnen. Diese enge gesetz­ liche Bindung ist für zahlreiche Autoren ein Grund gegen die Anwendung des  §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf Organisationsmaßnahmen in regulierten ­Branchen.15 Andere wollen dem Vorstand trotz der detaillierten Vorgaben in 13 Die besondere Bedeutung einer Geschäftsleitermaßnahme für die Gläubiger kann auch in anderen Bereichen aufgegriffen werden. So wird die BJR herangezogen, wenn ein Geschäftsleiter im Rahmen des §  15a InsO die Insolvenzreife feststellt (Ihrig/​ C. Schäfer Vorstand Rn. 1524b; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn.  307; W.  Goette DStR 2016, 1752, 1753  ff.; Kliebisch/Linsenbarth DZWiR 2012, 232, 237 f.) oder wegen Massenschmälerung nach § 92 Abs. 2 Satz 1, 2, § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, § 64 Satz 1, 2 GmbHG bzw. wegen Insolvenzverursachung nach § 92 Abs. 2 Satz 3, § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG, § 64 Satz 3 GmbHG in Anspruch genommen wird (in diese Richtung Fleischer in BeckOGK AktG § 92 Rn. 35, der vom Beurteilungsspielraum spricht und zugleich auf die Ausführungen zur Beweislast bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verweist; s. auch Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 92 Rn. 24). In all diesen Fällen ist eine Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wegen gesteigerter Betroffenheit der Gläubigerinteressen nicht angezeigt; die Gerichte sind zu einer Vertretbarkeitskontrolle befugt (so etwa Klöhn in MüKoInsO § 15a Rn. 126 f., 179; Eisele, Hafen, S. 354 f.; G. Fischer NZI 2016, 665, 667 f.; vor Kodifizierung der BJR ähnlich M. Roth, Ermessen, S. 229 f. Gegen Anwendung der BJR ferner Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG Anh § 64 Rn. 36; Pfernter, Entscheidungen, S. 176; s. auch Spindler in MüKoAktG § 92 Rn. 32, 76: erhebliche Modifizierung der BJR. Für Lösung auf Verschuldensebene noch Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 153). Zum Einfluss der Gläubigerbelange auf die Kontrolle der Bilanzierungsentscheidungen s. noch in § 22 II. 14 Dabei adressieren die Regelungen nicht nur das regulierte Unternehmen, sondern ausdrücklich auch die Geschäftsleiter, s. § 25a Abs. 1 Satz 2 KWG, § 81 WpHG. 15 Innerhalb dieser Meinungsgruppe ist umstritten, ob den Geschäftsleitern ein tatbestandlicher Beurteilungsspielraum zugute kommt oder ob die Grundsätze über den 374

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§ 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG den Schutz der Business Judgment Rule gewähren.16 Manche differenzieren zwischen der Rechtsermittlung, die der Legalitätspflicht unterliegt, und der Ausfüllung ­etwaiger Handlungsspielräume nach betriebswirtschaftlichen Zweckmäßigkeitserwägungen, die im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt.17 Die besseren Argumente sprechen gegen den Rückgriff auf die Business Judgment Rule in regulierten Branchen. Auch wenn die Organisationsvorgaben in § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG als „prinzipienbasiertes Aufsichtsrecht“ etikettiert werden,18 was ihre Einordnung als finale Normen nahelegt, deuten ihr Zweck und ihre Ausgestaltung darauf hin, dass die Geschäftsleiter – anders als bei klassischen unternehmerischen Entscheidungen nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – nicht dazu berufen sind, die Interessen der shareholder und stakeholder im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz abzuwägen.19 Das Ziel der §  25a, §  25c Abs.  3-4b KWG, §§  80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG liegt nicht darin, das Gesellschaftswohl durch Schaffung eines Organisations- und Risikomanagementsystems zu fördern, sondern die aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten schützen in erster Linie die GläuRechtsirrtum heranzuziehen sind. Für das Erste Hüffer/J. Koch AktG §  93 Rn.  16; Dengler WM 2014, 2032, 2037. S. ferner Ott ZGR 2017, 149, 168 ff., der zwar § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwenden will, aber auf der Rechtsfolgenseite die Vertretbarkeitskontrolle statt der Evidenzkontrolle befürwortet (S.  171  f.  – ohne diese Einschränkung aber Ott/Klein AG 2017, 209, 221); in diese Richtung auch Lütgerath, Vorgaben, S.  228  ff. Armbrüster VersR 2009, 1293, 1296  ff.; Louven/Raapke VersR 2012, 257, 264 f. Für das Zweite Buck-Heeb BB 2013, 2247, 2251 ff.; so wohl auch Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 1524b; J.-H. Binder ZGR 2013, 760, 788. Gegen die Anwendung der BJR augenscheinlich auch Bachmann WM 2015, 105, 108; Hopt ZIP 2013, 1793, 1798. 16 Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler KWG §  25a Rn.  13  f. (mit Verweis auf ARAG-Grundsätze und BJR); Ott/Klein AG 2017, 209, 221. In diese Richtung auch Nietsch ZGR 2015, 631, 656. Für eine „Legal Judgment Rule“ F. Schmidt, Ausstrahlung, S.  54  ff.; Bürkle VersR 2013, 792, 793  ff. Vom Ermessen sprechen Mülbert/​ A. Wilhelm ZHR 178 (2014), 502, 520. Unklar Fett in KMRK § 81 WpHG, der in Rn. 5 betont, dass die Freiheit des Vorstands durch § 81 Abs. 2 WpHG nachhaltig eingeschränkt wird, in Rn. 20 aber von der Evidenzkontrolle spricht. 17 So Langenbucher ZBB 2013, 16, 19 ff. (zur Legalitätspflicht), 23 (zum verbleibenden Spielraum). In diese Richtung auch J.-B. Fischer, Ausstrahlungswirkungen, S. 174 ff., 186. 18 S. schon die Nachw. in § 6 III 2 a mit Fn. 32. 19 S.  J.-H. Binder ZGR 2015, 667, 704.  Vgl. ferner RegBegr 9.  VAG-ÄG BT-Drucks. 16/6518, S. 10, wo hervorgehoben wird, dass die größere Handlungsfreiheit im System prinzipienbasierter Aufsicht mit erhöhten Anforderungen an die Entscheidungsprozesse innerhalb der Unternehmen korreliert. Dieses Spannungsverhältnis lässt sich mit einer bloßen Evidenzkontrolle nicht bewältigen. 375

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biger und die Belange des Allgemeinwohls, namentlich die Stabilität des Banken-, Wertpapierhandels- und Versicherungssystems.20 Zwar gehören Gläubiger- und Allgemeinwohlbelange zu den Kriterien, die der Vorstand abwägen muss, um im Einzelfall das Gesellschaftswohl zu ermitteln. Anders als im Rahmen des § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 AktG stehen diese Kriterien aber nicht (gleichberechtigt) neben den Belangen der shareholder und sonstigen stakeholder wie Arbeitnehmer, sondern sie haben eine hervorgehobene Stellung. Der Gesetzgeber hat eine Vorgewichtung der betroffenen Interessen vorgenommen, die dazu führt, dass die Abwägungsentscheidung des Vorstands von den klassischen Fällen einer unternehmerischen Maßnahme abweicht.21 Diese Akzentverschiebung und der hohe Detaillierungsgrad der § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG sind ein Grund dafür, dass Maßnahmen, die bei der Schaffung des aufsichtsrechtlich gebotenen Organisations- und Risikomanagementsystems ergriffen werden, keine unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sind.22 b) Tatbestandliche Beurteilungsspielräume im regulierten Bereich Dennoch dürfen die detailreiche Ausgestaltung und der Zweck der § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG nicht darüber hinwegtäu20 Zu dieser Schutzrichtung J.-B. Fischer, Ausstrahlungswirkungen, S. 175 ff. Auf Gläubiger- und Versichertenschutz abstellend Jakobus, Risikomanagement, S. 171 f. Relativierend aber Thaten, Ausstrahlung, S.  211  ff., 232  ff. S.  ferner J.-H.  Binder ZGR 2013, 760, 780, 783: Aufsicht habe sich an Anlegerschutz und Wahrung der Systemstabilität, nicht am Gesellschaftsinteresse zu orientieren; Aufsichtsrecht sei allein öffentlichen Interessen verpflichtet; J.-H. Binder ZGR 2015, 667, 705: Gläubigerschutz und Schutz der Stabilität des Finanzsystems seien etwas anderes als das Gesellschaftsinteresse. 21 Vgl. auch J.-B. Fischer, Ausstrahlungswirkungen, S.  175: Aufsichtsrecht zeichne die Abwägung vor. 22 Diese Argumentation kann auch in anderen Bereichen des Finanzaufsichtsrechts aufgegriffen werden, um die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG abzulehnen, wie etwa bei der Selbstbefreiung von der Pflicht zur Ad-hoc-Publizität nach Art. 17 Abs. 4 MAR. Da es bei Art. 17 Abs. 4 MAR nicht nur um das Gesellschaftswohl geht, sondern vor allem um das Allgemeininteresse an der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, spricht mehr gegen die Einordnung der Selbstbefreiung als unternehmerische Entscheidung iSd § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (s. bereits Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 153; so auch iE Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 98; Eisele, Hafen, S. 354; Buck-Heeb BB 2013, 2247, 2251 ff.; Klöhn/Schmolke ZGR 2016, 866, 884; zweifelnd ferner Kumpan/Schmidt in KMRK Art.  17 MAR Rn.  193; Mülbert/Sajnovits WM 2017, 2001, 2005; zu §  15 Abs.  3 WpHG  aF bereits Klöhn ZHR 178 [2014], 55, 85  ff.; iE auch ­Schima, Business Judgment Rule, S. 369, 395 f., der von Vertretbarkeit spricht). 376

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schen, dass es sich bei den aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten nicht um klassische Konditionalnormen handelt, sondern um Vorschriften mit einer finalen Prägung. Trotz der hohen Regelungsdichte folgen §  25a, §  25c Abs.  3-4b KWG, §§  80, 81 WpHG, §§  23, 26  ff. VAG nicht einem „Wenndann“-Schema. Sie enthalten zahlreiche Tatbestandsmerkmale, die nicht im Wege einer schlichten Subsumtion angewendet werden können, weil sie von dem Normadressaten eine Abwägung widerstreitender Interessen erfordern. Zu nennen sind insbesondere die Angemessenheit, die als ein wiederkehrendes Element in den einzelnen Vorgaben verankert ist, sowie der Grundsatz der Proportionalität, der in § 25a Abs. 1 Satz 4 KWG und § 23 Abs. 1 Satz 1 VAG zum Ausdruck kommt. Dieser finale Einschlag legt es nahe, dass der Gesetzgeber die § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG als Normen mit einem Beurteilungsspielraum ausgestaltet hat. Folgt man diesem Befund, bleibt die Frage zu klären, wer sich auf die Beurteilungsspielräume berufen darf. Aus einer aufsichtsrechtlichen Perspektive spricht viel dafür, dass sich die BaFin als die zuständige Aufsichtsbehörde (s. § 4 FinDAG) auf diskretionäre Spielräume berufen darf.23 Hält sich ein Unternehmen nicht an die Vorgaben der § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG, kann die BaFin darauf mit den öffentlich-rechtlichen Instrumenten reagieren.24 Die Organisationspflichten gehören in einem solchen Fall zum Tatbestand einer öffentlich-rechtlichen Ermächtigungsgrundlage. Geht man von der tradierten verwaltungsrechtlichen Dogmatik aus, dienen die Beurteilungsspielräume dazu, die Maßnahmen der BaFin vor einem engmaschigen gerichtlichen Zugriff zu schützen.25 Den regulierten Unternehmen und ihren Geschäftsleitern bleibt nur die Möglichkeit, sich auf den Rechts- bzw. Verbotsirrtum26 zu berufen, um einer Sanktion zu entgehen. 23 In diese Richtung augenscheinlich Lütgerath, Vorgaben, S. 240, der vom Beurteilungsspielraum der BaFin bei der Auslegung unbestimmter Legalitätspflichten spricht. Diese Aussage ist zumindest missverständlich, weil sich die behördlichen Beurteilungsspielräume nach verwaltungsrechtlicher Dogmatik gerade nicht auf die Auslegung einer Norm beziehen, sondern nur auf die Subsumtion, s. § 5 II 1 mit Nachw. in Fn. 27 und 28. Vgl. ferner Wandt, Prinzipienbasiertes Recht, S. 25; J.-H. Binder ZGR 2013, 760, 780, der darauf hinweist, dass die Vorgaben in § 25c Abs. 3 KWG den Spielraum der Aufsichtsbehörde erweitern und das unternehmerische Ermessen der Geschäftsleiter einschränken würden. 24 Überblick über die Durchsetzungsmaßnahmen bei Braun in Boos/Fischer/Schulte-­ Mattler KWG § 25a Rn. 736 ff. 25 S. dazu § 5 II 1. 26 Der Rechtsirrtum ist eine zivilrechtliche, der Verbotsirrtum eine straf- und bußgeld­ rechtliche Kategorie; hierzu bereits Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 156 ff. (Strafund Bußgeldrecht), S. 233 ff. (Zivilrecht). 377

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Nähert man sich dem Problem aus der gesellschaftsrechtlichen Perspektive, ist der finale Charakter der aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten ein Zeichen dafür, dass die Beurteilungsspielräume den Geschäftsleitern der regulierten Institute zugute kommen. Die §  25a, §  25c Abs.  3-4b KWG, §§  80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG schaffen nämlich nicht nur eine Grundlage für ein Einschreiten der BaFin, sondern sie beeinflussen zugleich die verbandsrechtliche Organisationsverfassung. Die Geschäftsleiter müssen über die Vorgaben der § 91 Abs. 2, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG hinaus zusätzliche Anforderungen an die unternehmensinterne Organisation beachten. Bettet man die § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG im verbandsrechtlichen Regelungsgefüge konsequent ein, sind die Unternehmen und ihre Geschäftsleiter die Normadressaten, die sich bei der Ausgestaltung des Organisationsund Risikomanagementsystems gegenüber der BaFin und den Gerichten auf diskretionäre Spielräume berufen dürfen.27 Für ein solches Verständnis lassen sich zum einen historische und teleologische Gesichtspunkte, zum anderen der Adäquanzgedanke anführen. So wird im Regierungsentwurf des 9.  VAG-Änderungsgesetzes betont, dass der Übergang zu einer mehr prinzipienbasierten Aufsicht im Banken- und Versicherungsbereich zu größerer Handlungsfreiheit für Unternehmen führt.28 Dieses Ziel ist am ehesten zu erreichen, wenn man den Unternehmen und ihren Geschäftsleitern einen Beurteilungsspielraum bei der Anwendung abwägungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale einräumt. Bei einer solchen Lösung ist es nicht nur den Gerichten verwehrt, die Ausgestaltung des Organisationsund Risikomanagementsystems engmaschig zu überprüfen, sondern auch die BaFin muss die Organisationsautonomie der regulierten Unternehmen respektieren. Wollte man die Unternehmen und ihre Geschäftsleiter auf die Irrtumsgrundsätze verweisen, würde man lediglich sicherstellen, dass sie einer Bußgeld- und Schadensersatzhaftung entgehen können.29 Die BaFin dürfte aber nach wie vor Maßnahmen ergreifen, die ein (objektiv) rechtswidriges

27 Diese Spielräume können nicht durch norminterpretierende Verwaltungsvorschriften wie MaRisk oder MaComp beschränkt werden, denen die rechtliche Bindungswirkung im Außenverhältnis fehlt. Gleichwohl ist der faktische Einfluss der Verwaltungsvorschriften auf die Auslegung des aufsichtsrechtlichen Normenbestands nicht zu vernachlässigen; J.-B. Fischer, Ausstrahlungswirkungen, S.  179  ff.; Langenbucher ZBB 2013, 16, 20 f. 28 RegBegr 9. VAG-ÄG BT-Drucks. 16/6518, S. 10. 29 Die Geschäftsleiter würden sich zB nicht gem. § 54a KWG strafbar machen, wenn sie sich auf einen (nicht fahrlässigen bzw. entschuldbaren) Irrtum berufen könnten. 378

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Verhalten, nicht aber den Vorsatz oder die Vorwerfbarkeit30 voraussetzen; in Betracht käme etwa eine Anordnung nach § 25a Abs. 2 Satz 2, § 25c Abs. 4c KWG. Damit wäre die Handlungsfreiheit eingegrenzt, die das prinzipienbasierte Aufsichtsrecht gerade schaffen soll. Gewährt man den Unternehmen und ihren Geschäftsleitern mit der hier vertretenen Auffassung einen Beurteilungsspielraum, lässt sich nicht nur eine übermäßige Einschränkung der Handlungsfreiheit vermeiden. Ein solches Ergebnis steht überdies mit dem Adäquanzgedanken im Einklang. Es lässt sich nämlich nicht begründen, wieso die BaFin und die Gerichte gegenüber den Geschäftsleitern eines regulierten Instituts einen Kompetenzvorsprung hinsichtlich der Unternehmensorganisation haben. Auch wenn §  25a, §  25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG ein dichtes Netz von Anforderungen stricken und damit der Exekutive und Judikative genügend rechtliche Anhaltspunkte für die Kontrolle des jeweiligen Organisations- und Ri­ sikomanagementsystems bieten, bleibt es dabei, dass die Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten im Detail von betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten abhängt.31 Weder die BaFin noch die Gerichte können besser als die Geschäftsleiter beurteilen, welche außerrechtlichen Faktoren für das einzelne Unternehmen ausschlaggebend sein sollen. Deshalb ist die Aus­ gestaltung des Organisations- und Risikomanagementsystems in regulierten Branchen nur einer Vertretbarkeitskontrolle zugänglich.32 Bewegt sich ein Geschäftsleiter innerhalb des ihm eingeräumten Beurteilungsspielraums, dürfen weder die BaFin noch die Gerichte seine Entscheidungen beanstanden.33 3. Compliance-Pflichten jenseits ausdrücklicher gesetzlicher Vorgaben Es ist weitgehend anerkannt, dass der aufsichtsrechtliche Normenbestand nicht derart auf das Aktienrecht ausstrahlt, dass alle Aktiengesellschaften über 30 Zum Unterschied zwischen Vorsatz und Vorwerfbarkeit bzw. zwischen Tatbestandsund Verbotsirrtum im bußgeldrechtlichen Kontext vgl. Rengier in KarlsKommOWiG § 11 Rn. 2 ff.; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 155 ff. 31 Zutr. Ott ZGR 2017, 149, 169 f. 32 Mit derselben Argumentation kann ein Beurteilungsspielraum nach Art.  17 Abs.  4 MAR begründet werden; s.  dazu ausf. Klöhn ZHR 178 (2014), 55, 85  ff. (zu §  15 Abs. 3 WpHG aF); Klöhn/Schmolke ZGR 2016, 866, 884. Für die Lösung über die Figur des Rechtsirrtums aber Buck-Heeb BB 2013, 2247, 2251 ff. 33 Anders als bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der in erster Linie das Innenverhältnis betrifft, wirkt sich der Beurteilungsspielraum, den die § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG gewähren, auch im Außenverhältnis aus. Zu Beurteilungsspielräumen im Außenverhältnis am Beispiel des Kartell- und Beihilferechts Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 108 ff. 379

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ein Organisationssystem verfügen müssen, das den Vorgaben der § 25a KWG, §§  80, 81 WpHG, §  23, 26  ff. VAG entspricht.34 Dennoch müssen die Vorstandsmitglieder allgemeine Organisations- und Überwachungspflichten einhalten, die nach zutreffender Ansicht aus § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und dem Delegationsgedanken hergeleitet werden.35 Zu diesen Pflichten gehört zunächst die Sorge darüber, dass sich Unternehmensangehörige rechtmäßig verhalten (Legalitätskontrollpflicht), was insbesondere durch Unternehmensüberwachung sichergestellt werden kann. Besteht der Verdacht eines Rechtsverstoßes aus dem Unternehmen oder liegt ein solcher Verstoß gar vor, erstreckt sich die Pflicht auf die Sachverhaltsaufklärung sowie auf die Abstellung und Ahndung der Verstöße; gegebenenfalls ist das bestehende System nachzubessern.36 Ausgehend von dieser Pflichtenlage wird vereinzelt die Anwendung des § 93 Abs.  1 Satz  2 AktG gänzlich bestritten.37 Die herrschende Auffassung differenziert hingegen zwischen dem „Ob“ und dem „Wie“ der Compliance-Organisation: Die Business Judgment Rule sei nicht anwendbar, wenn es um die Frage gehe, ob der Vorstand ein institutionalisiertes Legalitätskontrollsys34 Vgl. Fett in KMRK § 80 WpHG Rn. 16; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 14, 80; Langen in Schwennicke/Auerbach KWG § 25a Rn. 29; J.-B. Fischer, Ausstrahlungswirkungen, S.  166  ff.; Jakobus, Risikomanagement, S.  170  ff.; Widmann, Risikomanagement, S. 96 ff. Anders VG Frankfurt WM 2004, 2157, 2160; Preußner NZG 2004, 57, 58 ff. Deutliche Sympathien für die Ausstrahlung aufsichtsrechtlicher Normen auf das Aktienrecht zeigt auch Thaten, Ausstrahlung, S. 208 ff. Differenzierend F. Schmidt, Ausstrahlung, S. 189 ff. S. ferner Berenbrok, Risikomanagement, S. 255 ff.: keine Übertragung, aber Orientierung am Aufsichtsrecht möglich. 35 Zur Herleitung der Compliance-Pflicht statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 13 f.; Harbarth ZHR 179 (2015), 136, 144  ff.; M. Arnold/Rudzio KSzW 2016, 231, 232  f.; Löbbe, FS Seibert, S. 561, 563 f. Zum Delegationsgedanken als Grundlage der Legalitätskontrollpflicht Holle, Legalitätskontrolle, S.  59  ff.; Verse ZHR 175 (2011), 401, 404. Für die Herleitung aus § 130 OWiG aber von Busekist/Hein CCZ 2012, 41, 43 ff.; dagegen wiederum Bachmann WM 2015, 105, 108; Löbbe, FS Seibert, S. 561, 571 ff. 36 Einzelheiten etwa bei Fleischer in BeckOGK AktG § 91 Rn. 53 ff. 37 Altmeppen ZIP 2016, 97, 98; von Busekist/Hein CCZ 2012, 41, 43 f. (wegen rechtlicher Bindung an ordnungsrechtliche Aufsichtspflichten aus §  130 OWiG; s. dazu auch Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 76 Rn. 26, der § 130 OWiG als Ermessensgrenze begreift). So wohl auch LG München I NZG 2014, 345 ff., das im Zusammenhang mit den „schwarzen Kassen“ im Siemens-Konzern die Verletzung der Compliance-Pflicht bejaht, ohne mit einem Wort auf die BJR einzugehen (gleiche Deutung des Urteils bei Nietsch ZGR 2015, 631, 640). Für Ausklammerung der „Organisationsakte im Binnenverhältnis“ aus dem Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ferner Langenbucher DStR 2005, 2083, 2086. 380

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tem38 einrichte und ob er (vermutete oder feststehende) Rechtsverstöße aufkläre.39 Betreffe die Entscheidung hingegen die konkrete Ausgestaltung der Unternehmensorganisation und des Überwachungssystems oder die Art und Weise der Sachverhaltsaufklärung und Ahndung, greife §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ein.40 Einige gehen einen Schritt weiter und wenden die Business Judgment Rule unabhängig davon ab, ob es sich um das „Ob“ oder das „Wie“ der Compliance-Maßnahmen handelt.41 Leitet man die allgemeinen Organisations- und Überwachungspflichten aus § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG her, ist es konsequent, mit der letztgenannten Auffassung die Business Judgment Rule hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ des Compliance-Systems anzuwenden.42 Alle Maßnahmen, die die Einrichtung und Umsetzung der Compliance-Organisation betreffen, dienen dazu, die organschaftliche Sorgfaltspflicht zu erfüllen. Da die Vorstandsmitglieder insoweit final gesteuert sind, treffen sie unternehmerische Entschei38 Welchen Anforderungen ein solches institutionalisiertes System gerecht werden muss, ist freilich umstritten; s. dazu anschaulich M. Arnold/Rudzio KSzW 2016, 231, 233 ff. 39 Zur Einrichtung einer Compliance-Organisation Kort in KK-AktG § 91 Rn. 190, 192; Gomer, Compliance, S.  187; Pfertner, Entscheidungen, S.  158; M. Arnold/Rudzio KSzW 2016, 231, 235 (kein Ermessen); Ott ZGR 2017, 149, 166. Zur Aufklärung und Verfolgung der Non-Compliance Fuhrmann NZG 2016, 881, 884; Reichert/Ott NZG 2014, 241, 242 f. 40 Zur Unternehmensorganisation Fleischer in BeckOGK AktG §  91 Rn.  56; Hüffer/​ J. Koch AktG § 76 Rn. 14; Kort in KK-AktG § 91 Rn. 191; Spindler in MüKoAktG § 91 Rn. 67, 73; Gomer, Compliance, S. 188 f.; Pfertner, Entscheidungen, S. 159 ff.; M. Arnold/Rudzio KSzW 2016, 231, 236; Balke/Klein ZIP 2017, 2038, 2042  f.; Ott ZGR 2017, 149, 163 ff., 167. Zur Aufklärung und Verfolgung von Non-Compliance Fleischer in BeckOGK AktG §  91 Rn.  57  ff.; Wilsing/Goslar in HdB Managerhaftung Rn. 15.15; Reichert/Ott NZG 2014, 241, 243; einschränkend aber Gomer, Compliance, S. 347 ff.; speziell zum Amnestie-Programm Fuhrmann NZG 2016, 881, 889. 41 Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 8; Harbarth ZHR 179 (2015), 136, 151 ff.; Paefgen WM 2016, 433, 436 f. Ähnlich zu den internen Untersuchungen Bachmann ZHR 180 (2016), 563, 569. In diese Richtung auch Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 76 Rn. 24 f., der bei der Frage nach dem „Ob“ – anders als die hM – einen Beurteilungsspielraum anerkennt. 42 Anders fällt die Beurteilung aus, wenn man die allgemeine Compliance-Pflicht aus §  130 Abs.  1 OWiG herleitet. In einem solchen Fall unterliegt die Frage nach dem „Ob“ des Compliance-Systems einer vollen gerichtlichen Kontrolle. Hinsichtlich des „Wie“ liegt es nahe, eine Vertretbarkeitskontrolle zuzulassen, weil § 130 Abs. 1 OWiG eine deutlich schärfer umrissene Pflichtenquelle ist als § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG. Insoweit ist der Standpunkt von von Busekist/Hein CCZ 2012, 41, 43 f. durchaus konsequent. 381

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dungen im Sinne des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG. Auch der Adäquanzgedanke spricht für die Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte. Wie bereits in § 11 I 1 im Zusammenhang mit § 91 Abs. 2 AktG ausgeführt, stößt die Rechtsprechung an ihre Funktionsgrenzen, wenn sie die gestalterischen Organisations- und Überwachungsmaßnahmen kontrollieren soll. Dies gilt auch für die Frage, ob es im Interesse der Gesellschaft liegt, etwaige Rechtsverstöße auszuermitteln und gegebenenfalls unternehmensintern zu sanktionieren.43 Deshalb dürfen die Gerichte lediglich kontrollieren, ob die Geschäftsleiter die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingehalten haben und ob ihre Entscheidungen nicht völlig unverantwortlich waren.44 Erst im Rahmen der inhaltlichen Evidenzkontrolle zeigt sich ein Unterschied zwischen dem „Ob“ und „Wie“ der Compliance-Organisation. Geht der Vorwurf gegen die Geschäftsleiter dahin, gar kein Überwachungssystem eingerichtet zu haben, wird es den Geschäftsleitern in der Regel schwer fallen zu begründen, wieso ihr Unterlassen nicht völlig unverantwortlich ist.45 Insbesondere wenn das Unternehmen eine überschaubare Größe überschreitet, leuchtet es ein, dass ein System der Legalitätskontrolle eingerichtet werden muss, um potentiell rechtswidrige Aktivitäten der Unternehmensangehörigen zu ahnden. Geht es aber um die konkrete Ausgestaltung eines solchen Systems, ist die Schwelle, ab der ein schlechthin unverantwortliches Handeln zu bejahen ist, wesentlich höher angesiedelt. Dasselbe gilt für die Aufklärung und Ahndung etwaiger Non-Compliance. Haben die Vorstandsmitglieder entschieden, einen vermutlichen oder feststehenden Rechtsverstoß nicht aufzuklären, werden sie mehr stichhaltige Argumente vorbringen müssen, um der 43 Andere Maßstäbe sind allerdings anzulegen, wenn es um die Verfolgung etwaiger Ansprüche gegen die AR-Mitglieder geht. In diesem Fall ist der Vorstand zur Anspruchsverfolgung grundsätzlich verpflichtet, s. dazu § 15 III 4 mit Fn. 126.  44 Einzelheiten etwa bei Wilsing/Goslar in HdB Managerhaftung Rn. 15.15 ff.; M. Arnold/​ Rudzio KSzW 2016, 231, 237 ff.; Balke/Klein ZIP 2017, 2038, 2044 ff.; Harbarth ZHR 179 (2015), 136, 153 ff.; Nietsch ZGR 2015, 631, 658 ff. 45 Die Begründung könnte etwa gelingen, wenn es sich um eine Holding-Gesellschaft mit wenigen Mitarbeitern handelt, die sich nur mit der Beteiligungsverwaltung beschäftigen und nicht operativ tätig sind. In einem solchen Fall wird der Vorstand in der Lage sein, die Tätigkeit der Unternehmensangehörigen zu kontrollieren, ohne dass er auf ein groß angelegtes Überwachungssystem zurückgreifen muss. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man mit der überzeugenderen Auffassung davon ausgeht, dass der Vorstand nicht zur Einrichtung eines konzernweiten Compliance-Systems verpflichtet ist (s. dazu Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 20 ff., § 93 Rn. 6d; Holle, Legalitätskontrolle, S. 84 ff.). Treffend auch das Beispiel bei Paefgen WM 2016, 433, 437: Der Geschäftsleiter eines Bahnhof-Shops mit drei Mitarbeitern muss kein Compliance-­ System implementieren, um die Einhaltung zwingenden Rechts zu kontrollieren. 382

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Transaktionsbereich

gerichtlichen Evidenzkontrolle standzuhalten. Haben sie aber den Versuch unternommen, den Sachverhalt aufzuklären und die gegebenenfalls aufgedeckten Verstöße zu ahnden, wird ihnen die Begründung eines nicht völlig unverantwortliches Verhalten regelmäßig leichter fallen.

II. Transaktionsbereich 1. Konstellationen Als weiteres Beispiel für die Ausdifferenzierung der Kontrollintensität mag der Transaktionsbereich dienen, in dem zwischen drei Konstellationen zu unterscheiden ist: Erstens können Vorstandsentscheidungen, die auf den Erwerb eines Unternehmens abzielen, Gegenstand gerichtlicher Überprüfung sein.46 Zweitens kann der Verkauf eines Unternehmensteils oder einer Tochtergesellschaft einen Prozess provozieren.47 Drittens kann sich die Frage nach der Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle stellen, wenn die Aktiengesellschaft das Investitionsobjekt ist. Die letztgenannte Konstellation mag auf den ersten Blick überraschen, weil die Geschäftsleiter der Zielgesellschaft nicht unmittelbar an der Transaktion beteiligt sind. Gleichwohl können sie den Verlauf der Verhandlungen indirekt steuern, etwa indem sie versuchen, die Akquisition zu torpedieren (feindliche Übernahme), oder wenn sie die Transaktion fördern (freundliche Übernahme).48 In diesem Kontext sind mehrere Problemfelder voneinander abzuschichten, die sich zum Teil überschneiden. Zunächst ist aus einem aktienrechtlichen Blickwinkel das Zusammenspiel zwischen der Zulassung einer Due Diligence und der Verschwiegenheitspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 3 AktG) im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Ermessen und Treuepflicht interessant.49 Überdies werden an die Vorstandsmitglieder Verhaltensgebote formuliert, die teils auf das Wertpapierübernahmerecht (§§  27, 33 WpÜG), teils auf die allgemeine Leitungspflicht des Vorstands (§ 76 Abs. 1 AktG) gestützt werden. Die Klammer, die die unterschiedlichen Problemfelder verbindet, ist der übernahmebedingte Interessenkonflikt, der die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte erschwert.50

46 Dazu in § 11 II 2. 47 Dazu in § 11 II 3. 48 Ausf. dazu in § 11 II 5. 49 S. § 11 II 4. 50 Zum transaktionsbedingten Interessenkonflikt s. noch ausf. in § 11 II 8. 383

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2. Richterliche Kontrolldichte auf Seiten des Erwerbers Geht es um die richterliche Kontrolle auf Seiten des Erwerbers, diskutiert das Schrifttum insbesondere kontrovers darüber, ob die Geschäftsleiter des Erwerbers eine Due Diligence durchführen, also das Zielunternehmen systematisch auf rechtliche, finanzielle, steuerliche und umweltspezifische Belange untersuchen müssen.51 Im Hinblick auf die Business Judgment Rule wird namentlich danach gefragt, ob die Vorstandsmitglieder unternehmerisches Ermessen genießen, wenn sie eine Transaktion besiegeln, obwohl sie die Due Diligence nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt haben, etwa weil sie die Untersuchung nur auf bestimmte Bereiche beschränkt oder vorzeitig abgebrochen haben oder weil die Geschäftsleiter des Zielunternehmens den Zugang zu den Interna verweigert haben.52 Dabei wird teilweise eine Pflicht zur Durchführung einer Due Diligence angenommen und konsequent ein Sorgfaltsverstoß für den Fall bejaht, dass die systematische Untersuchung des Zielunternehmens unterbleibt.53 Dies lässt sich dahin deuten, dass den Geschäftsleitern keinerlei Einschätzungsprärogativen zustehen sollen.54 Die herrschende Auffassung lehnt eine bedingungslose Pflicht zur Untersuchung des Zielunternehmens ab.55 Stattdessen räumt sie den Vorstandsmitgliedern des Erwerbers

51 Zum Begriff der Due Diligence statt vieler Berens/Strauch in Berens u.a., S. 9 ff.; Hölters AktG § 93 Rn. 177.  52 Zu den Handlungsoptionen des Vorstands des Zielunternehmens s. noch § 11 II 5. 53 Dafür grundsätzlich Böttcher NZG 2007, 481, 483 f., der allerdings Ausnahmen für möglich hält. Für eine Pflicht zur Due Diligence ferner Bahnsen, Haftung, S.  28; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 202. Vor Kodifizierung der BJR auch LG Hannover AG 1977, 198, 200; LG Frankfurt ZIP 1998, 641, 644; Hauschka AG 2004, 461, 465; Kiethe NZG 1999, 976, 982 f.; Stoffels ZHR 165 (2001), 363, 368 Fn. 27; R. Werner ZIP 2000, 989, 990 f., 994. Für den Kauf eines Unternehmens in der wirtschaftlichen Krise OLG Oldenburg NZG 2007, 434, 436. S. ferner Bayer GmbHR 2014, 897, 899: Unterlassen einer Due Diligence sei regelmäßig als pflichtwidrig zu qualifizieren. Vgl. auch OLG Köln NZG 2020, 110, 114 , der eine Pflichtverletzung mit einem Verweis auf unterlassene Due Diligence begründet. 54 So augenscheinlich Kiethe NZG 1999, 976, 982 f.: Ermessensreduzierung auf Null. In diese Richtung auch R. Werner ZIP 2000, 989, 990 f., 994. 55 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 111; Hölters AktG § 93 Rn. 179 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 23; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 11; Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  80, 119; Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn.  85; D. Beisel in W. Beisel/Klumpp § 2 Rn. 28; Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.86; Seyfarth VorstandsR § 8 Rn. 51; Cahn, FS Stilz, S. 99, 105; C. Goette DStR 2014, 1776, 1778 f.; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 277. 384

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Transaktionsbereich

unternehmerisches Ermessen ein, das sich wohl auch auf die Durchführung einer Due Diligence beziehen soll.56 Die soeben skizzierten Stellungnahmen werfen die Frage auf, ob der Vorstand bei einer unterlassenen oder abgebrochenen Due Diligence unternehmerisches Ermessen genießt. Diese Frage ist zu unpräzise gestellt. Versteht man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung der richterlichen Prüfungsdichte, ist zu unterscheiden zwischen der Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle und den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit sich die Geschäftsleiter auf unternehmerisches Ermessen berufen können.57 Wendet man sich zunächst den Voraussetzungen für eine eingeschränkte richterliche Inhaltskontrolle zu, ist der Kontrollgegenstand zu präzisieren. Das Gericht überprüft nicht nur die Entscheidung, die Due Diligence in einem bestimmten Umfang durchzuführen oder zu unterlassen, sondern die Kontrolle bezieht sich auf den Unternehmenserwerb. Die Pflichten der Vorstandsmitglieder ergeben sich insoweit alleine aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, so dass der Erwerb eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist.58 Dies gilt auch dann, wenn die Transaktion unter einem kartell- oder bankaufsichtsrechtlichen Genehmigungsvorbehalt steht.59 Die Erwerbsentscheidung liegt im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, wenn die Geschäftsleiter unbefangen waren60 und vernünftigerweise annehmen durften, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. ­Dabei spielt die Due Diligence insoweit eine Rolle, als sie ein Instrument der Informationsbeschaffung auf Seiten des Erwerbers ist.61 Wenn die Vorstandsmitglieder eine systematische Untersuchung des Zielunternehmens veranlassen, 56 In diese Richtung Hölters AktG § 93 Rn. 179 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 23; Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn.  85; D. Beisel in W. Beisel/Klumpp §  2 Rn.  28; Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn.  29.86; Hofmeister in HdB ÜbernahmeR § 7 Rn. 35; Cahn, FS Stilz, S. 99, 105; C. Goette DStR 2014, 1776, 1778 f.; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 277. 57 Hierzu bereits oben in § 7 V 6 a. 58 Hölters AktG §  93 Rn.  179; Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG §  93 Rn.  11; Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn. 85; Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.75; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 211; Böttcher NZG 2007, 481, 482; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 276. 59 S. dazu schon in § 6 II 2 und in § 8 II 3. Im Kontext des Unternehmenskaufs Nauheim/C. Goette DStR 2013, 2520, 2521 f. So wohl auch Sailer-Coceani in K. Schmidt/ Lutter AktG § 93 Rn. 11. 60 Hierzu im Zusammenhang mit M&A-Transaktionen Nauheim/C. Goette DStR 2013, 2520, 2523 f. 61 Zutr. Hofmeister in HdB ÜbernahmeR § 7 Rn. 34. 385

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können sie auf Grundlage der Ergebnisse einschätzen, welche Vorteile und Risiken die Akquisition nach sich zieht; namentlich ermöglicht die Due Diligence eine Unternehmensbewertung und damit die Preisbildung.62 Ordnet man diese Überlegungen in den Kontext der Business Judgment Rule ein, trifft die Geschäftsleiter keine Pflicht, eine lückenlose Due Diligence durchzuführen.63 Vielmehr gilt das in § 8 III 1 Gesagte: Die Vorstandsmitglieder müssen in der konkreten Entscheidungssituation alle verfügbaren Informationsquellen tatsächlicher und rechtlicher Art ausgeschöpft haben, was eine flexible Ausgestaltung der Vorgaben an die Informationsversorgung ermöglicht.64 Ob die Geschäftsleiter diesen Anforderungen gerecht geworden sind, beurteilt das Gericht im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle.65 Ein unternehmerisches Ermessen steht den Vorstandsmitgliedern also insoweit nicht zu. Vor diesem Hintergrund sind durchaus Fälle vorstellbar, in denen die Durchführung einer vollständigen Due Diligence entbehrlich ist, weil die Vorstandsmitglieder in der konkreten Situation zur vertretbaren Einschätzung gelangt sind, dass die bisherigen Erkenntnisse ausreichend sind, um eine informierte Kaufentscheidung zu treffen.66 Wie intensiv die Untersuchung des Zielunternehmens sein muss, kann nicht abstrakt umschrieben werden, sondern bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Maßgeblich sind insbesondere die Kosten der Due Diligence, die bisher bekannten Informationen, der Zeitdruck, das Risikoprofil des Erwerbsobjekts und das Ausmaß der Investition.67 Sind die Vorstandsmitglieder ihren Informationsbeschaffungsobliegenheiten nachgekommen und unbefangen, genießen sie das unternehmerische Ermessen; ihre Investitionsentscheidung unterliegt einer inhaltlichen Evidenzkon­ trolle. Die Gerichte dürfen lediglich überprüfen, ob der Unternehmenserwerb völlig unverantwortlich war, etwa weil der vereinbarte Kaufpreis im Hinblick 62 Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn. 38; D. Beisel in W. Beisel/Klumpp § 2 Rn. 27; Cahn, FS Stilz, S. 99, 104. 63 Zur Einordnung der Informationsbeschaffung als Obliegenheit s. § 9 IV 4. 64 Hofmeister in HdB ÜbernahmeR § 7 Rn. 35. 65 Zur Auslegung der Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte“ im Kontext der Informationsgrundlage oben in §  8 III 2.  Speziell zum Unternehmenserwerb Cahn, FS Stilz, S. 99, 101. 66 Zutr. D. Beisel in W. Beisel/Klumpp § 2 Rn. 30; Hofmeister in HdB ÜbernahmeR § 7 Rn.  36; Schiffer/Bruß BB 2012, 847, 848.  Für die GmbH Schnorbus in Rowedder/ Schmidt-Leithoff GmbHG § 43 Rn. 27. 67 Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.81; Böttcher NZG 2007, 481, 484; C. Goette DStR 2014, 1776, 1777 f.; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 277; Nauheim/​ C. Goette DStR 2013, 2520, 2525. 386

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auf die rechtlichen und steuerlichen Risiken offensichtlich unverhältnismäßig hoch war und es deshalb auf der Hand lag, dass dieser nicht dem Gesellschaftswohl entsprach.68 Jenseits der extrem gelagerten Fälle obliegt es aber den Vorstandsmitgliedern zu beurteilen, ob die Akquisition im Unternehmensinteresse liegt und die Eingehung der Risiken lohnt.69 War die Einschätzung der Geschäftsleiter hinsichtlich der Informationsgrundlage nicht vertretbar, etwa weil die Untersuchung des Zielunternehmens hätte intensiver ausfallen müssen, greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein. Allerdings ist die Akquisitionsentscheidung – wie schon in § 9 IV 4 ausgeführt – nicht per se pflichtwidrig, sondern sie unterliegt einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle.70 Das Gericht muss der Frage nachgehen, von welchen Annahmen der Geschäftsleiter ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Handlung führt und ob diese Annahmen vertretbar sind. Diese allgemeine Umschreibung des Prüfungsprogramms kann in Transak­ tionsfällen um weitere Überlegungen ergänzt werden. Die Akquisitionsentscheidung kann trotz der unzureichenden Informationsgrundlage etwa dann als vertretbar angesehen werden, wenn die Vorstandsmitglieder auf kautelarjuristischer Ebene dafür gesorgt haben, dass die Unsicherheiten, die aus der unterbliebenen oder eingeschränkten Due Diligence resultieren, ausgeglichen werden. Eine Lösung kann etwa darin bestehen, umfassende Gewährleistungs-, Haftungs- oder Preisanpassungsklauseln für den Fall vorzusehen, dass der Käufer nach dem Vollzug bisher verborgene Risikoquellen entdeckt.71 Diese Kautelen können dadurch flankiert werden, dass der Vorstand im Zusammenhang mit der Akquisitionsentscheidung intern beschließt, nach dem Vollzug eine Post-Merger Due Diligence zu veranlassen.72 Damit machen die Geschäftsleiter deutlich, dass sie sich bewusst sind, ein riskantes Geschäft auf

68 Fiktives Beispiel bei Nauheim/C. Goette DStR 2013, 2520, 2523.  S.  ferner J. Bauer VGR 2014, S. 195, 205 ff., dessen Anforderungen an die Preisermittlung aber recht hoch sind. 69 Zutr. Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.76; Seyfarth VorstandsR § 8 Rn. 52; C. Goette DStR 2014, 1776. 70 In eine ähnliche Richtung C. Goette DStR 2014, 1776, 1778 f., der allerdings die Regeln der BJR heranziehen will und damit die richterliche Prüfungsdichte zu stark einschränkt. AA konsequent Kiethe NZG 1999, 976, 983. 71 Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 93 Rn. 11; J. Bauer VGR 2014, S. 195, 201, 209 f.; Schiffer/Bruß BB 2012, 847, 848 f. 72 Hierzu eingehend von Falkenhausen NZG 2015, 1209 ff. 387

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unsicherer Tatsachengrundlage einzugehen, aber die Unsicherheiten auf anderen Wegen ausgleichen wollen.73 3. Richterliche Kontrolldichte auf Seiten des Veräußerers Die Entscheidung, sich an einer Unternehmenstransaktion zu beteiligen, ist auch auf Seiten des Verkäufers eine unternehmerische im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG. Die gerichtliche Kontrolldichte bestimmt sich also nach den Grundsätzen der Business Judgment Rule. Das Gericht darf die Verkaufsentscheidung lediglich auf völlige Unverantwortlichkeit prüfen, wenn die Vorstandsmitglieder unbefangen waren und zu einer vertretbaren Einschätzung gelangt sind, auf Grundlage angemessener Information zu handeln.74 Wie auf Seiten des Erwerbers wird in der Regel die Informationsbeschaffung durch die Geschäftsleiter des Veräußerers im Zentrum der Überlegungen stehen.75 Kennen die Vorstandsmitglieder das Zielunternehmen nicht gut genug, ist es denkbar, dass sie in den Vertragsverhandlungen keine angemessenen Konditionen aushandeln oder nicht die Sorge dafür tragen, die Verkäufer-AG vor Gewährleistungs- und Haftungsansprüchen des Erwerbers zu schützen. Um eine hinreichende Informationsversorgung sicherzustellen, können die Vorstandsmitglieder des Veräußerers ihrerseits eine Due Diligence veranlassen.76 Verpflichtet sind sie dazu freilich nicht. Wie sonst ist die Informationsbeschaffung eine bloße Obliegenheit der Geschäftsleiter, die ihnen den Zugang zum sicheren Hafen der Business Judgment Rule verschafft.77 Gehen die Vorstandsmitglieder das Geschäft ein, ohne das Zielunternehmen auf Herz und Nieren überprüft zu haben, und erweist sich der Verkauf als nachteilig, liegt nicht automatisch eine Pflichtverletzung vor. Vielmehr erhöht sich die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle: Das Gericht darf die Verkaufsentschei-

73 Diese Kautelen sind freilich auch dann empfehlenswert, wenn der Vorstand eine Due Diligence veranlasst und damit für ausreichende Informationsbasis sorgt. Gehen die Geschäftsleiter so vor, wird es dem Gericht schwer fallen, ihnen ein völlig unverantwortliches Handeln vorzuwerfen. 74 S. dazu statt vieler Fleischer, FS E. Vetter, S. 137, 140. 75 Ausf. Fleischer, FS E. Vetter, S. 137, 148 ff. (insb. hinsichtlich der Unternehmensbewertung). 76 Überblick zur Vendor Due Diligence bei Hölters AktG § 93 Rn. 191 ff.; Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn. 61 f. 77 Enger Hölters AktG § 93 Rn. 192, der eine Pflicht zur Durchführung einer Vendor Due Diligence für möglich hält. 388

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dung nicht nur auf evidente Fehleinschätzungen überprüfen, sondern es kann eine Vertretbarkeitskontrolle durchführen.78 4. Due Diligence und Verschwiegenheitspflicht in der Zielgesellschaft a) Meinungsstand Schließlich ist die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle der Entscheidungen zu bestimmen, die die Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft treffen. Zwar ist das Zielunternehmen als Investitionsobjekt nicht als Partei an der Transaktion beteiligt, seine Geschäftsleiter können aber die Verhandlungen zwischen Veräußerer und Erwerber mittelbar beeinflussen, etwa indem sie den Zugang zu Informationen steuern, genehmigtes Kapital ausnutzen oder wichtige Assets veräußern.79 Vor diesem Hintergrund wird in einem ersten Schritt der Frage nachgegangen, ob sich die Vorstandsmitglieder des Ziel­ unternehmens im Hinblick auf die Verschwiegenheitspflicht aus § 93 Abs. 1 Satz  3 AktG auf Letztentscheidungskompetenzen berufen dürfen, wenn sie über die Zulassung einer Due Diligence entscheiden. In einem zweiten Schritt wird auf die richterliche Kontrolle der Maßnahmen eingegangen, die der Vorstand des Zielunternehmens im Vorfeld oder anlässlich einer Transaktion ergreift. Dabei werden namentlich die Stellungnahme nach §  27 WpÜG, das Verhinderungsverbot in § 33 Abs. 1 WpÜG und die Vorgaben in § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 AktG im Zentrum stehen. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Gestattung einer Due Diligence ist § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG, der die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder normiert. Die Geschäftsleiter haben über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die ihnen durch ihre organschaftliche Tätigkeit bekanntgeworden sind, Stillschweigen zu bewahren. Obwohl § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG wie ein bedingungsloses Verbot der Informationsweitergabe formuliert ist, besteht Einvernehmen darüber, dass die Vorstandsmitglieder vertrauliche Informationen einem Dritten erteilen dürfen, wenn dies im Unternehmensinteresse liegt.80 Die Einzelheiten sind freilich umstritten. Während die herrschende Meinung die Zulassung einer Due Diligence in das Ermessen des Vorstands stellt,81 wird vereinzelt ver78 Hierzu bereits in § 9 IV 4 und § 11 II 1. 79 S. dazu statt vieler Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 266 f. 80 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 31 mwN. 81 Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 93 AktG Rn. 15; Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 205 f.; Hölters AktG § 93 Rn. 183 f.; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 300, 304, 310; Mertens/Cahn in KK-AktG §  93 Rn.  115; Spindler in MüKoAktG §  93 389

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treten, dass die systematische Untersuchung der Gesellschaft durch einen Erwerbsinteressenten nur in absoluten Ausnahmefällen gestattet werden darf.82 Der Verweis der überwiegenden Auffassung auf Ermessensspielräume des Vorstands erfolgt wie so oft schlagwortartig, ohne dass die Autoren auf die Einzelheiten eingehen. Meist verweisen sie auf die Erforderlichkeit einer Abwägung zwischen dem Geheimhaltungsinteresse einerseits und den aus der Transaktion resultierenden Chancen andererseits; dabei zählen sie die für die Abwägung relevanten Umstände auf.83 Einigen Stellungnahmen lässt sich aber nicht eindeutig entnehmen, ob sich die Vorstandsmitglieder auf §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen84 oder ob es sich um eine ungeschriebene Einschätzungsprärogative handelt. Selbst diejenigen, die sich explizit für die Anwendung der Business Judgment Rule aussprechen, gehen auf ihre Voraussetzungen nicht ein. Stattdessen beschäftigen sie sich allein mit den Abwägungsdirektiven.85 b) Informationsweitergabe als unternehmerische Entscheidung Prüft man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Hinblick auf die Gestattung einer Due Diligence schulmäßig durch, bereitet schon das erste Tatbestandsmerkmal Schwierigkeiten: die unternehmerische Entscheidung. Da die Verschwiegenheitspflicht eine besondere Ausprägung der organschaftlichen Treuepflicht ist, die nach herrschender Auffassung den Zugang zum sicheren Hafen ver-

Rn. 154; Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn. 89; Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.89; Hofmeister in HdB ÜbernahmeR § 7 Rn. 54; Seyfarth VorstandsR § 8 Rn. 54, § 16 Rn. 131; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 279 f.; Zumbansen/ Lachner BB 2006, 613, 615.  Für einen Beurteilungsspielraum Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 32; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 147 f. 82 So insb. Lutter ZIP 1997, 613, 617. S. ferner Ziemons AG 1999, 492, 493, 495. Gegen ein Beurteilungsermessen des Vorstands ferner Lutter Information Rn. 420. 83 So etwa Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 154; Bücker/Kulenkamp in HdB Managerhaftung Rn. 29.89; Stoffels ZHR 165 (2001), 362, 373 f. 84 Ausdrücklich für die Anwendung der BJR aber Hölters AktG §  93 Rn.  183; Hopt/​ M.  Roth in GK-AktG §  93 Rn.  300, 304, 310; Hölters/M. Weber AktG §  76 Rn.  48; Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 119; Zumbansen/Lachner BB 2006, 613, 615. In diese Richtung auch Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 204, der auf die Ausführungen zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verweist. Becker/Voß in Knott, Unternehmenskauf, Rn. 89 und Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 263 beziehen sich auf das ARAG-Urteil des BGH. S. ferner vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 279: Business Judgment. 85 Vgl. Hölters AktG § 93 Rn. 183 f.; Hölters/M. Weber AktG § 76 Rn. 48. 390

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sperrt,86 könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon aus diesem Grund ausscheidet.87 Außerdem ist das Verbot der Informationsweitergabe in einen gesetzlichen Tatbestand gegossen, so dass eine unternehmerische Entscheidung mit dem Argument verneint werden könnte, die Legalitätspflicht genieße Vorrang vor der Business Judgment Rule.88 Beide Argumente überzeugen bei näherer Betrachtung nicht. Es wurde bereits in § 8 II 6 erläutert, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch dann anwendbar bleibt, wenn eine Entscheidung kontrolliert wird, die durch organschaftliche Treuepflichten beeinflusst wird. Außerdem wurde in § 8 II 2 herausgearbeitet, dass die gesetzliche Bindung nicht automatisch dazu führt, dass die Vorstandsentscheidung ihren unternehmerischen Charakter verliert. Maßgeblich ist vielmehr der Grad der rechtlichen Bindung, der in der Normstruktur zum Ausdruck kommt. Während bei finalen Vorschriften, die allein auf die Verfolgung des Gesellschaftswohls abstellen, der Zugang zum sicheren Hafen eröffnet bleibt, treffen Vorstandsmitglieder, die durch Konditionalnormen gesteuert sind, keine unternehmerischen Entscheidungen. Blendet man von diesen allgemeinen Überlegungen auf die Verschwiegenheitspflicht, spricht viel dafür, dass die Entscheidung des Vorstands über die Zulassung einer Due Diligence unternehmerischen Charakter hat. In §  93 Abs. 1 Satz 3 AktG hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Weitergabe der vertraulichen Informationen das Gesellschaftswohl beeinträchtigen kann. Deshalb hat er die Informationserteilung unter ein präventives Verbot gestellt. Aus § 404 Abs. 1 AktG, der nur die unbefugte Offenbarung unter Strafe stelle, ergibt sich allerdings, dass die Verschwiegenheitspflicht nicht absolut gilt. Das Aktiengesetz geht also davon aus, dass die Vorstandsmitglieder vertrauliche Informationen unter Umständen weitergeben dürfen. Da weder § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG noch § 404 Abs. 1 AktG die Voraussetzungen einer zulässigen Informationsweitergabe regeln, ist auf das Gesellschaftswohl als das maßgebliche Kriterium für die Entscheidung über den Informationszugang abzustellen. Der Gesetzgeber hat keine weiteren Vorgaben formuliert, so dass die Vorstandsmitglieder final gesteuert werden, was für einen unternehmeri86 S. die Nachw. in § 8 Fn. 82. 87 So augenscheinlich Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 92. Außerdem wird der Vorrang der Treuepflicht vor der BJR im Zusammenhang mit der Verschwiegenheitspflicht des AR aufgegriffen, s. in § 15 IV. 88 Dafür M. Arnold in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  22.20.  So auch noch Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S.  147  f. unter Annahme eines tatbestandlichen Beurteilungsspielraums. Zum Vorrang des Legalitätsprinzips s. § 8 II 1 mit Nachw. in Fn. 55. 391

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schen Charakter der Entscheidung spricht. In dieselbe Richtung deutet der Adäquanzgedanke hin: Aus der Perspektive des Gerichtssaals kann man nicht besser als die Geschäftsleiter bestimmen, ob ein Erwerbsinteressent den Zugriff auf vertrauliche Informationen erlangen sollte. Die Vorstandsentscheidung lässt sich nicht reproduzieren, die Rechtsprechung stößt also an ihre Funktionsgrenzen.89 c) Gerichtliche Kontrolldichte Ordnet man die Gestattung bzw. die Verweigerung einer Due Diligence als unternehmerische Entscheidungen ein, hängt die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle von der Frage ab, ob die Vorstandsmitglieder befangen waren90 und vernünftigerweise davon ausgehen durften, auf Grundlage angemessener Informationen zu handeln. Diese Voraussetzungen der Business Judgment Rule spielen gleichermaßen bei der Überprüfung etwaiger Abwehrmaßnahmen eine Rolle, so dass sie sogleich in § 11 II 7 und 8 erläutert werden. Sind die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, ist das Gericht lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle der Entscheidung befugt. Dies gilt sowohl für die Gestattung als auch für die Verweigerung einer umfassenden Untersuchung. Die Entscheidung über den Informationszugang obliegt in erster Linie den Vorstandsmitgliedern, die die Vor- und Nachteile der jeweiligen Handlungsoption abwägen müssen. Der Richter darf das Abwägungsergebnis nur daraufhin kontrollieren, ob es völlig unverantwortlich ist, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Gesetzgeber mit §  93 Abs.  1 Satz  3 und §  404 Abs. 1 AktG die besondere Bedeutung der Vertraulichkeit unterstrichen und damit die Grenzen der Verantwortlichkeit eng gesetzt hat. Sind die Geschäftsleiter den prozeduralen Anforderungen an die Entscheidungsfindung nicht gerecht geworden, ist die Due-Diligence-Entscheidung – 89 Dies gilt freilich nicht für die Frage, welche Informationen vertraulich iSd § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG sind. Diese Frage ist im Rahmen der Gesetzesauslegung zu beantworten, die zu den klassischen Aufgaben der Gerichte gehört. Insoweit können sich die Vorstandsmitglieder also nicht auf die BJR berufen. AA augenscheinlich Zumbansen/ Lachner BB 2006, 613, 615, die den Vorstandsmitglieder bei der Bestimmung geheimzuhaltender Tatsachen einen Ermessensspielraum nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einräumen wollen. 90 Irreführend ist die Aussage, dass die persönlichen Interessen des Vorstandsmitglieds bei der Abwägung außer Betracht bleiben müssen (so etwa Hölters AktG §  93 Rn. 184). Steckt der Geschäftsleiter in einem Interessenkonflikt, ist die BJR nicht anwendbar und die Due-Diligence-Entscheidung wird intensiver kontrolliert; s. allg. in § 9 IV 3.  392

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den allgemeinen Grundsätzen entsprechend – nicht automatisch pflichtwidrig. Vielmehr wird die gerichtliche Inhaltskontrolle intensiviert. Bei einem Interessenkonflikt überprüft das Gericht das Abwägungsergebnis grundsätzlich vollständig auf die Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftswohl;91 bei unzureichender Informationsgrundlage führt es eine Vertretbarkeitskontrolle durch.92 Dabei sind die Belange, die der Vorstand in die Abwägung einstellen muss, auf jeder Intensitätsstufe gleich.93 Maßgeblich ist einerseits etwa, ob der potentielle Investor die Finanzkraft der Zielgesellschaft stärkt, ob die Zielgesellschaft auf Synergieeffekte und neue Absatzmärkte hoffen kann oder den Zugang zum Know-how des Erwerbes erlangt. Andererseits ist zum Beispiel die Gefahr zu beachten, dass sich ein Wettbewerber als Interessent ausgibt, um an vertrauliche Informationen zu gelangen.94 In die Abwägung einzubeziehen sind auch die Sicherheitsvorkehrungen, die die Vorstandsmitglieder ergriffen haben, um die Risiken der Informationsweitergabe zu begrenzen. Zu nennen sind etwa die Beschränkung der Reichweite der Due Diligence und der Abschluss einer strafbewehrten Vertraulichkeits- und Vernichtungsvereinbarung, die um ein Verwendungsverbot ergänzt werden kann.95 Schließlich ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, wer die Untersuchung veranlasst. Bei einem Finanzinvestor mögen die Risiken des Informationszugangs weniger ins Gewicht fallen als bei einem Wettbewerber, der die gewonnenen Erkenntnisse am Markt verwenden kann.96 Abwägungsrelevant ist schließlich die Frage, wer mit den sensiblen Daten in Berührung kommt. So fallen die Risiken weniger ins Gewicht, wenn die Due Diligence durch Personen durchgeführt werden soll, die berufsmäßig einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen, und der potentielle Erwerber lediglich das Untersuchungsergebnis erlangt.97 91 Zu diesem Grundsatz und seinen Einschränkungen s. bereits in § 9 IV 3. 92 Hierzu unter in § 9 IV 4. 93 Zutr. im Zusammenhang mit § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG Holtkamp, Interessenkonflikte, S.  279.  Obwohl die Abwägungsbelange auf allen Intensitätsstufen der gerichtlichen Inhaltskontrolle gleich sind, liegt der Unterschied in der Argumentationslast (s. dazu allg. in § 9 I): Ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einschlägig, fällt die Rechtfertigung der Due-Diligence-Entscheidung am leichtesten. Jenseits des sicheren Hafens dürfen die Gerichte die Zusammenstellung und Gewichtung der abwägungsrelevanten Faktoren genauer überprüfen. 94 Ausf. Aufzählung der abwägungsrelevanten Umstände bei Hölters AktG § 93 Rn. 184; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 280 f.; Stoffels ZHR 165 (2001), 362, 374 ff. 95 Stoffels ZHR 165 (2001), 362, 376, 378. 96 Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 279 f. 97 Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  155; Hemeling ZHR 169 (2005), 274, 282; Stoffels ZHR 165 (2001), 362, 376 f. 393

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5. Maßnahmen der Zielgesellschaft im Vorfeld der Transaktion – Meinungsstand Die Due-Diligence-Entscheidung steht nicht nur im Spannungsverhältnis mit der Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder. Verweigern die Geschäftsleiter die Untersuchung der Zielgesellschaft gänzlich oder gewähren sie den Informationszugang nur ausgewählten Interessenten, können sie dadurch die Erwerbsverhandlungen mittelbar beeinflussen.98 Die Zulässigkeit einer solchen Steuerung wird unter den Stichworten „Neutralitätspflicht“ und „Verhinderungsverbot“ seit geraumer Zeit diskutiert,99 wobei neben der Due-Diligence-­ Entscheidung weitere Instrumente denkbar sind. Will der Vorstand eine Übernahme abwehren, kommen zum Beispiel in Betracht die Übertragung wertvoller Assets der Zielgesellschaft auf einen Dritten oder die Platzierung eines Aktienpakets bei einem befreundeten Investor, etwa im Rahmen der Ausnutzung des genehmigten Kapitals mit Bezugsrechtsausschluss oder bei der Veräußerung eigener Aktien.100 Steht der Vorstand des Zielunternehmens der Übernahme positiv gegenüber, kann er den Verhandlungspartnern versprechen, dass er bestimmte Maßnahmen nicht ergreift, um auf diesem Wege den sicheren Boden für die Durchführung der Transaktion vorzubereiten.101 Schließlich kann der Vorstand durch seine öffentlichen Äußerungen den Verlauf der Transaktion negativ wie positiv beeinflussen. All diese Handlungen können Gegenstand richterlicher Kontrolle sein, sei es, weil die Gesellschaft die Vorstandsmitglieder wegen der Kosten der Abwehrmaßnahmen auf Schadensersatz in Anspruch nimmt,102 sei es, weil ein Aktionär sich auf die Nichtigkeit einer Investorenvereinbarung gem. § 134 BGB beruft, um einen mit dieser Vereinbarung verbundenen Unternehmensvertrag (§ 139 BGB) und damit zugleich den Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung (§ 293 Abs. 1 Satz 1 AktG) anzugreifen.103 98 Zur Verweigerung der Due Diligence als Abwehrmaßnahme Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 267: Gestattung des Informationszugangs gegenüber einem Bieter bei abweisendem Verhalten gegenüber konkurrierenden Übernahmeinteressenten. 99 Zum Unterschied zwischen Neutralitätspflicht und Verhinderungsverbot aufschlussreich Drygala ZIP 2001, 1861, 1863. 100 Weitere Beispiele bei Schlitt in MüKoAktG § 33 WpÜG Rn. 83 ff., 260 ff.; von Falkenhausen NZG 2007, 97, 98 f. 101 Hierzu die Beispiele bei Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 549 f.; Reichert ZGR 2015, 1, 6 ff. 102 Zur Schadensersatzpflicht der Vorstandsmitglieder wegen unzulässiger Abwehrmaßnahmen Noack/Zetzsche in KMRK § 33 WpÜG Rn. 42 ff. Zur Haftung wegen fehlerhafter Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG Friedl NZG 2004, 448 ff. 103 So die Konstellation bei OLG München NZG 2012, 261  ff.; OLG München NZG 2013, 459  ff.; LG München  I NZG 2012, 1152.  S.  ferner OLG Stuttgart ZIP 2015, 394

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Besondere rechtliche Brisanz haben solche Strategien bei Übernahmeversuchen, die auf börsennotierte Unternehmen gerichtet sind. In diesen Fällen sieht das Wertpapierübernahmerecht Kautelen vor, die bei der gerichtlichen Kontrolle der Vorstandsmaßnahmen zu berücksichtigen sind. So muss der Vorstand der Zielgesellschaft gem. § 27 Abs. 1 WpÜG eine Stellungnahme zum Übernahmeangebot abgeben, in der er insbesondere auf seine Eigeninteressen, die Gegenleistung, die Folgen des Angebots für die Zielgesellschaft und die vom Bieter verfolgten Ziele eingehen soll. Da die Stellungnahme prognostische Elemente enthält, wird dem Vorstand der Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gewährt bzw. ein Beurteilungsspielraum eingeräumt.104 Dabei erkennen nur manche, dass die Anwendung der Business Judgment Rule im Hinblick auf den übernahmebedingten Interessenkonflikt problematisch sein kann.105 Die meisten Autoren halten die Vorstandsmitgliedern für verpflichtet, die Sonder­ interessen in der Stellungnahme offenzulegen, ohne auf die Auswirkungen des Interessenkonflikts auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einzugehen.106 1120 ff., das allerdings auf S. 1121 f. ein einheitliches Rechtsgeschäft iSd § 139 BGB im konkreten Fall verneint. 104 Für die Anwendung der BJR Hirte in KK-WpÜG § 27 Rn. 50; Röh in FK-WpÜG § 27 Rn. 22; Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 30; Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 5; Winner in Fleischer/Hüttemann Rn. 23.35; Schmoll, Stellungnahme, S. 98; Wiegand, Investorenvereinbarungen, S. 210 ff.; Zheng, Verhaltenspflichten, S.  74  f.; Bachmann, Vorstandspflichten, S.  109, 126; implizit auch Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 181 f. Für einen (nicht näher umschriebenen) Spielraum OLG Düsseldorf NZG 2004, 328, 332; OLG Stuttgart AG 2019, 527, 536; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 27 Rn. 33 (s. außerdem Rn. 46, 75: Plausibilitätskontrolle der Angebotsunterlage); Noack/Holzborn in KMRK § 27 WpÜG Rn. 8. Für den „ARAG-Standard“ Harbarth in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 27 Rn. 74; Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 114 ff.; Drygala WM 2004, 1457, 1458 f. Noch anders Steinmeyer WpÜG § 27 Rn. 24; Friedl NZG 2004, 448 f.: Werturteile müssten kaufmännisch vertretbar sein (s. auch Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 131). 105 S. Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 42; Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 126 (der darauf abstellt, ob sich der Vorstand von Eigeninteressen leiten ließ); Seibt, 10 Jahre WpÜG, S.  148, 181  f. Auf das Problem weist ferner Harbarth in Baums/ Thoma/Verse WpÜG § 27 Rn. 74 hin, der die „ARAG-Grundsätze“ aber trotz der übernahmebedingten Interessenkonflikte anwenden will; ähnlich Zheng, Verhaltens­ pflichten, S. 74 f. So wohl auch Wiegand, Investorenvereinbarungen, S. 212 f., wenn der Konflikt offengelegt wird. Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 116 erkennt zwar das Eigeninteresse des Vorstands als Ermessensgrenze an, geht aber im Kontext der ARAG-Grundsätze nicht auf die übernahmebedingten Interessenkonflikte ein, obwohl er sie in Teil 3 Rn. 55 ff. skizziert. 106 So etwa Hirte in KK-WpÜG § 27 Rn. 22, 34; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/ Schneider WpÜG § 27 Rn. 37, 58; Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 8. 395

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Ein weiteres Einfallstor für die gerichtliche Kontrolle sind übernahmerechtliche Vorschriften, die die Handlungsoptionen des Vorstands der Zielgesellschaft beschränken. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG darf der Vorstand zwischen der Veröffentlichung der Entscheidung zur Abgabe eines Angebotes bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpÜG keine Handlungen vornehmen, durch die der Erfolg des Angebots verhindert werden könnte. Von diesem Verhinderungsverbot macht §  33 Abs.  1 Satz  2 WpÜG drei Ausnahmen: Variante 1 enthält eine Ausnahme für Handlungen, die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, vorgenommen hätte. Variante 2 gestattet dem Vorstand die Suche nach einem „Weißen Ritter“. Variante 3 dispensiert den Vorstand vom Verhinderungsverbot, wenn der Aufsichtsrat den Abwehrmaßnahmen zugestimmt hat.107 Dabei wird für alle drei Ausnahmetatbestände diskutiert, ob sich die Vorstandsmitglieder auf die Business Judgment Rule berufen können. Im Zentrum der Diskussion steht der übernahmebedingte Interessenkonflikt, dessen Auswirkungen auf die einzelnen Fälle des §  33 Abs.  1 Satz  2 WpÜG meist ­unterschiedlich beurteilt werden.108 Im Zusammenhang mit § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG lehnt eine teilweise vertretene Auffassung die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit dem Argument ab, die Vorstandsmitglieder befänden sich in einer Übernahmesituation in einem latenten Interessenkonflikt.109 Die überwiegende Gegenansicht will die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 107 Schließlich kann die HV gem. § 33 Abs. 2 WpÜG die Handlungsspielräume des Vorstands qua Beschlusses erweitern. Zu dieser Querschnittsmaterie s. noch § 21. 108 Allerdings lehnt etwa Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 303 die Anwendung des § 93 Abs.  1 Satz  2 AktG fallübergreifend ab; so augenscheinlich auch Habersack, FS Marsch-Barner, S.  203, 211 (mit einem anderen Zungenschlag aber Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR Vor § 311 AktG Rn. 19); streng auch Fleischer, FS Wiedemann, S. 827, 842; Heyers Der Konzern 2017, 231, 238. Dagegen will Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 105 die BJR trotz des übernahmebedingten Interessenkonflikts auf alle Fälle des § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG anwenden; ähnlich Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 264; Weiß, Handlungsrahmen, S. 104; Yang, Verteidigungsmaßnahmen, S. 54; Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 162 ff. Barry, Gleichbehandlung, S. 230 ff. unterscheidet offenbar für alle Ausnahmetatbestände zwischen abwehrgeneigten und abwehrgerichteten Maßnahmen und will bei abwehrgeneigten Entscheidungen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwenden. Unklar Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 43: „Soweit § 33 WpÜG eingreift, tritt Ermessensgewährung durch § 76 I zurück.“ 109 Holtkamp, Interessenkonflikt, S.  303.  Zwischen abwehrgeeigneten und abwehrgerichteten Maßnahmen differenzierend Barry, Gleichbehandlung, S. 231 ff. 396

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Transaktionsbereich

AktG auch in Fällen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG aufrechterhalten, jedenfalls soweit der Vorstand Maßnahmen des Tagesgeschäfts ergreift oder die schon vor Ankündigung des Übernahmeangebots verfolgte Unternehmensstrategie umsetzt.110 Anders sieht das Meinungsbild zu § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG aus. Hier will die wohl herrschende Auffassung die Business Judgment Rule wegen der Befangenheit der Vorstandsmitglieder nur modifiziert anwenden. Die Vorstandsmitglieder dürften sich nur dann auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen, wenn ein besonderes qualifiziertes Unternehmensinteresse vorliege. Dies sei der Fall, wenn das Verteidigungsinteresse der Gesellschaft das Interesse der Aktionäre an einer unbeeinflussten Entscheidung deutlich überwiege.111 Dieser Vorschlag ist nicht unbestritten. Manche wollen die Business Judgment Rule auch bei § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG ohne Modifizierungen anwenden,112 andere versagen den befangenen Geschäftsleitern die Privilegierung.113 Schließlich wird der Rückgriff auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Rahmen

110 Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG § 33 Rn. 47 ff.; Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR Vor § 311 AktG Rn. 17; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn.  161  f.; Röh in FK-WpÜG §  33 Rn.  70; Schlitt in MüKoAktG §  33 WpÜG Rn.  149  f.; Katsas, Inhaltskontrolle, S.  260  f.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  303  f.; Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 171 f.; Winnen, Innenhaftung, S. 264 ff.; Zheng, Verhaltenspflichten, S. 136; Drygala ZIP 2001, 1861, 1867; U.H. Schneider AG 2002, 125, 129; Tröger DZWiR 2002, 397, 402 f.; Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 6. S. ferner Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 33 Rn. 44; Noack/Zetzsche in KMRK § 33 WpÜG Rn. 14; Steinmeyer WpÜG §  33 Rn.  22.  Für eine modifizierte Anwendung der BJR Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 115; vorsichtig in diese Richtung Seibt, FS Hoffmann-Becking, S. 1119, 1122.  111 Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR Vor § 311 AktG Rn. 19; Hirte in KKWpÜG §  33 Rn.  83; Röh in FK-WpÜG §  33 Rn.  92  f.; Schlitt in MüKoAktG §  33 WpÜG Rn. 172 ff.; Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 29 f.; Paschos in HdB ÜbernahmeR §  24 Rn.  133; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  306  ff.; Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 9 f. 112 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG §  33 Rn.  56 (wie die hM aber noch Brandi in Thaeter/Brandi Teil  3 Rn.  387); Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 105; Buckel, Einsatz, S. 187 ff., insb. S. 192 ff.; Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 172 ff. (insb. S. 190 ff. zum Interessenkonflikt); Tröger DZWiR 2002, 397, 403. So wohl auch Weiß, Handlungsrahmen, S. 100 ff.; J. Koch, FS Säcker, S. 403, 418  f. Vgl. ferner Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn.  178, die aber einen Ermessensausschluss befürworten, wenn das Vorstandshandeln auf sachwidrigen Motiven beruht. 113 Müller-Michaels in HdB Unternehmenskauf Rn. 13.161; Holtkamp, Interessenkonflikt, S. 303; Winnen, Innenhaftung, S. 269 f.; Zheng, Verhaltenspflichten, S. 140. 397

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der Suche nach dem „Weißen Ritter“ (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG) teils befürwortet,114 teils abgelehnt.115 Auch jenseits des Wertpapierübernahmerechts, das nach § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 7 WpÜG auf zum regulierten Markt zugelassene Wertpapiere anwendbar ist und den Freiverkehr nicht erfasst,116 kann sich die Frage stellen, inwieweit die Gerichte die Maßnahmen der Geschäftsleiter kontrollieren dürfen, die darauf abzielen, auf die Zusammensetzung des Aktionariats Einfluss zu nehmen. Vor der Einführung des § 33 WpÜG ging die wohl herrschende Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum von einer Neutralitätspflicht des Vorstands aus.117 Auf dem Boden dieser Ansicht stellte sich die Frage nach der gerichtlichen Kontrolldichte nicht, weil Verhinderungsmaßnahmen des Vorstands in einer Übernahmesituation strikt verboten waren. Nach der Einführung des § 33 WpÜG wird die Neutralitätspflicht seltener vertreten.118 Allerdings wird dem Vorstandshandeln eine andere Schranke ge­ zogen. Vereinbarungen, in denen der Vorstand auf die Ausübung seines ­Leitungsermessens verzichtet,119 werden im Hinblick auf den Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht gem. § 76 Abs. 1 AktG, § 134 BGB für nichtig erklärt.120 Folgt man dem, muss die richterliche Prüfungsdichte nicht festgelegt werden, weil die Maßnahmen einem strikten Verbot unterliegen. 114 Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 305; Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 441 ff. So wohl auch Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 168 (Leitungsermessen); Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 123 (Leitungsentscheidung im Vorstandsermessen). 115 Holtkamp, Interessenkonflikt, S. 303. 116 S. Angerer in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 1 Rn. 64 ff. 117 Statt vieler Hopt ZGR 1993, 534, 545 ff.; Merkt ZHR 165 (2001), 224, 236 ff. So auch immer noch Mertens/Cahn in KK-AktG §  76 Rn.  26; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 213 ff.; Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 40; in diese Richtung auch Hirte in KK-WpÜG § 33 Rn. 26. 118 Gegen die Neutralitätspflicht etwa Hüffer/J. Koch AktG §  76 Rn.  40  ff.; Ch. Wolf/ Wink in HdB ÜbernahmeR § 20 Rn. 23 ff.; Weiß, Handlungsrahmen, S. 84 ff.; v. Falkenhausen, Gleichbehandlung, S. 93, 98 ff.; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 588 f. 119 Begrifflich wird unterschieden zwischen Business Combination Agreements, die sich auf Unternehmenszusammenschlüsse beziehen, und Investorenvereinbarungen, die im Zusammenhang mit Transaktionen unterhalb eines Zusammenschlusses abgeschlossen werden; s. Reichert ZGR 2015, 1, 3 mwN. Diese Differenzierung zieht keine dogmatischen Folgen nach sich, so dass beide Begriffe als Synonyme verwendet werden. 120 S.  insb. LG München I NZG 2012, 1152, 1154; Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 122; Lutter, FS Fleck, S. 169, 184; Otto NZG 2013, 930, 935 Fn. 38. Vgl. ferner jenseits des Transaktionsbereichs OLG Brandenburg BeckRS 2018, 35276 Rn. 68 ff. 398

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Die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle müssen nur diejenigen Autoren bestimmen, die am Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht nicht uneingeschränkt festhalten und das Vorstandshandeln an §  93 Abs.  1 Satz 1 AktG messen.121 In einem solchen Fall sprechen sich einige Stimmen für die Anwendung der Business Judgment Rule aus.122 6. Unternehmerische Entscheidungen des Vorstands der Zielgesellschaft a) Gesellschaftswohl als Handlungsmaxime im Transaktionsbereich Die zahlreichen Verästelungen in der Diskussion um die Zulässigkeit der Maßnahmen im Vorfeld oder anlässlich einer Unternehmensakquisition erschweren eine verallgemeinerungsfähige Aussage über die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle des Vorstandshandelns im Transaktionsbereich. Deshalb bietet es sich an, zunächst die aktien- und übernahmerechtlichen Detailprobleme auszublenden und sich auf einen Punkt zu konzentrieren, der in den Stellungnahmen immer wieder aufgegriffen wird: das Wohl der Zielgesellschaft. Dass der Vorstand und seine Mitglieder auch im Kontext einer Unternehmensakquisition dem Gesellschaftswohl verpflichtet sind, folgt im allgemeinen Aktienrecht aus § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 AktG. Diese Pflicht wird durch etwaige Verhandlungen zwischen einem Aktionär und potentiellem Erwerber nicht suspendiert. Dies gilt ausweislich § 3 Abs. 3 WpÜG auch im Übernahmerecht. Nach § 3 Abs. 3 WpÜG muss der Vorstand der Zielgesellschaft in ihrem Interesse handeln, was eine bloße Wiederholung der aktienrechtlichen Handlungsmaxime ist.123 Die Bindung an das Gesellschaftsinteresse ergibt sich zudem aus § 27 Abs. 1 Satz 2 WpÜG. Die Pflicht des Vorstands, in der übernahmerechtlichen Stellungnahme auf die Auswirkungen des Angebots auf die Zielgesellschaft einzu121 Für die Anwendung des § 93 Abs. 1 AktG OLG Stuttgart AG 2015, 163, 165; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 41a; Seyfarth VorstandsR § 16 Rn. 173. 122 So Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 41a; Oppenhoff in HdB ÜbernahmeR § 9 Rn. 31; Heß, Investorenvereinbarungen, S. 180, 240; Yang, Verteidigungsmaßnahmen, S. 54; v. Falkenhausen, Gleichbehandlung, S.  93, 96, 105; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 579, 593. So wohl auch OLG Stuttgart AG 2015, 163, 165 (unternehmerische Entscheidung  – insoweit nicht in ZIP 2015, 1120 abgedruckt); Seyfarth VorstandsR § 16 Rn. 173 (pflichtgemäßes Ermessen – im Kontext der „Board Recommendation“-­ Klauseln will Seyfarth § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwenden, s. Rn. 175); Paschos NZG 2012, 1142, 1143 (Ermessen). 123 Wackerbarth in MüKoAktG § 3 WpÜG Rn. 18. 399

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gehen, unterstreicht die allgemeine Vorgabe des § 3 Abs. 3 WpÜG.124 Die Verpflichtung auf das Gesellschaftswohl kommt schließlich in § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG deutlich zum Ausdruck, dessen Formulierung an §  93 Abs.  1 Satz 1, § 317 Abs. 1 AktG angelehnt ist.125 Wenn der Vorstand Maßnahmen ergreifen darf, die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, vorgenommen hätte, sind nur solche Handlungen zulässig, die im Unternehmenswohl liegen. Dies gilt auch für die Suche nach dem „Weißen Ritter“ (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG) und für Abwehrmaßnahmen, denen der Aufsichtsrat zugestimmt hat (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG).126 Dieselben Grundsätze gelten für Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der § 27 Abs. 1, § 33 Abs. 1 WpÜG liegen. Es ist entscheidend, ob eine Maßnahme des Vorstands der Zielgesellschaft im Umfeld einer Transaktion dem Sorgfaltsmaßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG entspricht, also ob sie im Gesellschaftsinteresse liegt. Eine starre Schranke für das Vorstandshandeln lässt sich namentlich nicht aus der aktienrechtlichen Neutralitätspflicht herleiten. Weder § 53a AktG noch § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG verbieten es dem Vorstand, die Zusammensetzung des Aktionärskreises zu beeinflussen. In systematischer Hinsicht zeigt §  33 WpÜG, dass im Anwendungsbereich des Wertpapierübernahmerechts keine strikte Neutralitätspflicht, sondern nur ein zeitlich und sachlich eingeschränktes Verhinderungsverbot besteht. Außerdem zwingt §  27 WpÜG den Vorstand zu einer Stellungnahme zum Abfindungsangebot, was deutlich macht, dass der Vorstand nicht die Position eines neutralen Beobachters einnehmen soll. Dies muss erst recht für das allgemeine Aktienrecht gelten.127 Man mag die Entscheidung des Gesetzgebers gegen das 124 RegBegr WpÜG BT-Drucks. 14/7034, S. 52. Vgl. ferner Harbarth in Baums/Thoma/ Verse WpÜG § 27 Rn. 2; Hirte in KK-WpÜG § 27 Rn. 31; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 27 Rn. 33. 125 Vgl. RegBegr WpÜG 14/7034, S. 58: „An das Verhalten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters wird auch im Aktiengesetz an mehreren Stellen angeknüpft; auf die dort entwickelten Grundsätze kann hier bei der Auslegung zurückgegriffen werden.“ S. ferner Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 43; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 146. 126 Generell Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 58 f. Für § 33 Abs. 1 Satz  2 Var. 1 WpÜG: Schlitt in MüKoAktG §  33 WpÜG Rn.  133.  Für §  33 Abs.  1 Satz 2 Var. 2 WpÜG: Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 124. Für § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG: Paschos aaO § 24 Rn. 131.  127 Auf die systematische Argumente im Hinblick auf die WpÜG-Vorgaben stellen etwa ab: Seyfarth VorstandsR § 16 Rn. 168; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 592; Seibt, 10 Jahre WpÜG, S.  148, 160  f. Eine Neutralitätspflicht außerhalb des WpÜG-Anwendungsbereichs hält aber Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 276 für denkbar. 400

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strikte Neutralitätsgebot für rechtspolitisch verfehlt halten, muss sie aber dennoch respektieren.128 Schließlich geht es zu weit, bestimmte Vorstandsmaßnahmen, die auf die Aufrechterhaltung oder Änderung der Aktionariatsstruktur abzielen und durch die sich der Vorstand selbst bindet, mit einem Verweis auf den Grundsatz der Unveräußerlichkeit der Leitungsmacht pauschal zu verbieten.129 Solange der Vorstand die Kompetenzen der anderen Gesellschaftsorgane nicht verletzt, insbesondere wenn er die Holzmüller/Gelatine-Grundsätze beachtet und keinen verdeckten Beherrschungsvertrag abschließt,130 ist er nach §  76 Abs.  1 AktG befugt, eigenverantwortlich Leitungsentscheidungen zu treffen. Ordnet man die Leitungsautonomie als eine verbandsrechtliche Ausprägung der Privatautonomie ein,131 versteht sich von selbst, dass der Vorstand gegenüber dem potentiellen Investor Verpflichtungen eingehen darf, die seinen Spielraum im korporativen Bereich einschränkt. So wie die Privatautonomie die Zulässigkeit der vertraglichen Selbstbindung geradezu voraussetzt, so gestattet die Leitungsautonomie die Selbstbindung durch den Vorstand. Geht der Vorstand im Namen der Gesellschaft132 eine Investorenvereinbarung ein, in der er sich zum bestimmten Verhalten verpflichtet, entledigt er sich nicht der Leitungsmacht, sondern er übt seine Befugnisse gerade aus. Eine Grenze der Selbstbindung wird aber durch die Sorgfaltspflicht nach §  93 Abs.  1 Satz  1 AktG markiert, so dass die Vereinbarung dem Gesellschaftswohl entsprechen muss.133

128 Zutr. Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 40; von Falkenhausen NZG 2007, 97. So auch im Ergebnis Drygala WM 2004, 1457, 1458 f. 129 Es ist schon höchst fraglich, ob sich ein solcher Grundsatz tatsächlich aus dem Aktiengesetz herleiten lässt. Krit. im Zusammenhang mit Aufgabendelegation Linnertz, Delegation, S. 59 ff. 130 Zu den kompetenzrechtlichen Schranken der Investorenvereinbarungen s. etwa Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 552 f., 566 ff.; Reichert ZGR 2015, 1, 10 ff. 131 Dazu in § 7 I. 132 Die Investorenvereinbarung wird in der Regel dahingehen auszulegen sein, dass der Vorstand nicht sich selbst bindet, sondern die Gesellschaft der Vertragspartner ist, s. nur Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 570 f. 133 Zutr. OLG Stuttgart AG 2015, 163, 165; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 41 f.; Heß, Investorenvereinbarungen, S. 87 ff., 239 ff.; Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 579; Paschos NZG 2012, 1142, 1143. Zum umgekehrten Fall der Selbstbindung des Aktionärs und den Grenzen des § 136 Abs. 2 AktG s. Reichert ZGR 2015, 1, 24 ff. Zu weiteren aktienrechtlichen Schranken wie dem Verbot der financial assistance nach § 71a AktG s. nur Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 553. 401

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b) Folgerungen für die richterliche Kontrolldichte Die Feststellung, dass in allen Konstellationen das Gesellschaftsinteresse im Zentrum der Überlegungen steht, ist ein erster Fingerzeig bei der Frage, ob ein Gericht eine Stellungnahme nach § 27 WpÜG, eine Abwehrmaßnahme oder ein Business Combination Agreement lediglich einer inhaltlichen Evidenzkontrolle nach §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG unterziehen darf oder ob eine eng­ maschigere Prüfung geboten ist. Da der Maßstab für diese Geschäftslei­ termaßnahmen allein das Unternehmenswohl ist, liegt es nahe, dass die Vorstandsentscheidungen als unternehmerisch zu qualifizieren sind und deshalb vom Anwendungsbereich der Business Judgment Rule erfasst sind. Namentlich bei den Stellungnahmen nach § 27 Abs. 1 WpÜG folgt der unternehmerische Charakter der Geschäftsleitermaßnahmen aus den prognostischen Elementen, die den Äußerungen des Vorstands innewohnen. Dies wird insbesondere am Beispiel des § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 WpÜG deutlich. Wenn sich der Vorstand zu den Folgen des Übernahmeangebots für die Zielgesellschaft und den Zielen des Bieters äußert, ist dies mit einer Prognose über den Einfluss des Bieters auf die Unternehmensentwicklung verbunden. Damit ist der Kernbereich der aktienrechtlichen Leitungsautonomie (§  76 Abs.  1 AktG) betroffen. Der Vorstand muss letztlich bewerten, wie sich die Pläne des Bieters auf seine unternehmerische Strategie auswirken. Da weder das Übernahme- noch das Aktienrecht inhaltliche Vorgaben für das Vorstandshandeln formulieren, wird der Vorstand final gesteuert, was für eine Lockerung der gerichtlichen Inhaltskontrolle spricht.134 Der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist auch bei anderen Vorstandsmaßnahmen im Transaktionsbereich eröffnet. Versucht der Vorstand der Zielgesellschaft, eine Transaktion zu verhindern, oder schließt er eine Investorenvereinbarung ab, muss er sich allein am Gesellschaftswohl orientieren, so dass er unternehmerische Entscheidungen trifft, die in den Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG fallen. Dies liegt jedenfalls dann auf der Hand, wenn § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG nicht eingreift und die Geschäftsleiterhandlungen am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 3 Abs. 3 WpÜG zu messen sind. In diesem Fall wird der Vorstand final gesteuert. Aber auch wenn die Maßnahme dem übernahmerechtlichen Verhinderungsverbot unterliegt, behält sie ihren unternehmerischen Charakter. § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG bin134 Für Einordnung der Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG als unternehmerische Entscheidung iSd §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG Goslar in HdB ÜbernahmeR §  22 Rn. 30. Vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG OLG Düsseldorf NZG 2004, 328, 332. 402

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det den Vorstand nicht derart stark, dass die Anwendung der Business Judgment Rule wegen des Vorrangs des Legalitätsprinzips von vornherein nicht in Betracht kommt. Die Ausnahmen in § 33 Abs. 1 Satz 2 AktG zeigen, dass die Zulässigkeit von Abwehrmaßnahmen in erster Linie davon abhängt, ob der Vorstand das Wohl der Gesellschaft verwirklicht hat. Damit weist auch § 33 Abs. 1 WpÜG finale Züge auf und die Abwehrmaßnahmen des Vorstands sind als unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 AktG zu qualifizieren.135 7. Informationsobliegenheiten des Vorstands der Zielgesellschaft a) Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG Die Lockerung der gerichtlichen Kontrolldichte setzt auch im Transaktions­ bereich voraus, dass die Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft zur ver­ tretbaren Einschätzung gelangt sind, dass sie auf angemessener Informationsgrundlage handeln. Will sich der Vorstand im Zusammenhang mit der Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG auf die Business Judgment Rule berufen, ist er insbesondere gehalten, die Angebotsunterlage zu überprüfen.136 Dabei muss er – wie schon in § 8 III erläutert – nicht alle denkbaren Informationsquellen auswerten, sondern der gebotene Ermittlungsumfang richtet sich nach der konkreten Entscheidungssituation; die Informationsbeschaffung unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle.137 Die Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage sind umso geringer, je weniger Zeit die Geschäftsleiter haben, um die Angaben in der Angebotsunterlage zu überprüfen. Umgekehrt müssen die Vorstandsmitglieder die Informationsgrundlage gründlicher aufarbeiten, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Angaben des Bieters unvollständig oder feh135 Insoweit zutr. Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 105; Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 163. 136 Dabei folgt aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG lediglich eine Informationsobliegenheit (s. § 9 IV 4); s. auch Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 11. AA Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 27 Rn. 47, die aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG augenscheinlich eine Informationsbeschaffungspflicht herleiten wollen. Für eine Pflicht auch Goslar in HdB ÜbernahmeR §  22 Rn.  30; Bachmann, Vorstandspflichten, S. 109, 115. 137 Zutr. Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 33. Ähnlich (wenn auch ohne Bezugnahme auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 10 f.; Seyfarth VorstandsR § 16 Rn. 113; Wackerbarth in MüKoAktG § 27 WpÜG Rn. 12. Für eine Plausibilitätskontrolle OLG Stuttgart AG 2019, 527, 536. 403

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lerhaft sind.138 So kann es etwa erforderlich sein, dass der Vorstand eine sog. fairness opinion einholt, um seine Stellungnahme mit einer sachverständigen Beurteilung der Angemessenheit des Angebots zu untermauern.139 In Fällen, in denen der Vorstand die Angebotsunterlage selbst bewerten kann oder in denen eine rechtzeitige Einholung der fairness opinion nicht möglich ist, muss er die Sachverständigen freilich nicht heranziehen.140 Besonders problematisch ist die Angemessenheit der Informationsgrundlage, wenn sich der Vorstand im Vorfeld des Angebots in einer Investorenvereinbarung zu einer positiven Äußerung verpflichtet hat und im Hinblick auf diese Verpflichtung die Angebotsunterlage nicht mehr eingehend auswertet. In einem solchen Fall genügt der Vorstand nicht seinen Informationsbeschaffungsobliegenheiten, weil er sich kein eigenständiges Bild über die Angebotsunterlage verschafft. Deshalb kann er sich nicht auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen.141 b) Abwehrmaßnahmen und Investorenvereinbarungen Die vorstehenden Überlegungen gelten auch für den Fall, dass der Vorstand die Transaktion verhindern will und sich im Hinblick auf seine Abwehrmaßnahmen auf die Business Judgment Rule beruft.142 Die Informationsbeschaffung muss nicht vollständig sein und sie unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle. Diese allgemeinen Grundsätze sind auch bei freundlichen Übernahmen maßgeblich, wenn die Geschäftsleiter den Abschluss einer Investorenvereinbarung mit Hilfe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verteidigen. Bei feindlichen wie bei freundlichen Übernahmen muss der Vorstand insbesondere versuchen auszuloten, wie wahrscheinlich die Durchführung der 138 Zutr. Steinmeyer WpÜG § 27 Rn. 27; Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 31 f. 139 Ausf. zum Zusammenhang zwischen der fairness opinion auf der Stellungnahme des Vorstands Fleischer ZIP 2011, 201, 205 ff. 140 So auch die zutr. hM, s. nur OLG Stuttgart AG 2019, 527, 536; Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  27 Rn.  49; Louven in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 27 Rn. 12; Steinmeyer WpÜG § 27 Rn. 29; Wackerbarth in MüKo­ AktG § 27 WpÜG Rn. 13; Schmoll, Stellungnahme, S. 249 ff.; Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 182 f. Gegen eine Pflicht zur Einschaltung externer Berater vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG OLG Düsseldorf NZG 2004, 328, 332. 141 Wiegand, Investorenvereinbarungen, S.  212.  S.  ferner Noack/Holzborn in KMRK § 27 WpÜG Rn. 9: Pflicht zur erneuten Prüfung. 142 Ausf. zur Informationsbeschaffung bei Abwehrmaßnahmen Barry, Gleichbehandlung, S.  239  ff. Für eine Intensivierung der Informationsbeschaffungsobliegenheit bei Interessenkonflikten Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 163. 404

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Transaktion ist und wie sie finanziert werden soll. Zu den relevanten Informationen können auch die Pläne des prospektiven Erwerbers gehören. Hat etwa ein potentieller Finanzinvestor in der Vergangenheit dazu tendiert, auf die Zerschlagung der Unternehmen aus seinem Portfolio hinzuwirken, können seine Absichten im Hinblick auf die Zukunft der Zielgesellschaft ein Umstand sein, der für die Beurteilung des Gesellschaftswohls maßgeblich ist. Entspricht es dem Wohl der Zielgesellschaft, als diversifizierter Konzern am Markt aufzutreten, können etwaige Zerschlagungspläne des Interessenten dafür sprechen, Abwehrmaßnahmen einzuleiten. 8. Auswirkungen von übernahmebedingten Interessenkonflikten a) Sonderinteressen bei Unternehmensakquisitionen Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wann die Lockerung der richter­ lichen Prüfungsdichte nicht in Betracht kommt, weil der Vorstand der Ziel­ gesellschaft durch Sonderinteressen beeinflusst ist. Im Ausgangspunkt der Überlegungen steht die weitgehend konsentierte Erkenntnis, dass Unternehmensakquisitionen einen Interessenkonflikt der Geschäftsleiter auslösen, weil sich deren Position nach Durchführung der Transaktion maßgeblich verändern kann.143 So kann der Erwerber einerseits auf eine Änderung der Vorstandsbesetzung hinwirken, was die Vorstandsmitglieder dazu verleiten kann, etwaige Abwehrmaßnahmen zu ergreifen. Andererseits kann der Erwerber versuchen, die Geschäftsleiter des Zielunternehmens zum kooperativen Verhalten während der Übernahmephase zu incentivieren. Die Zulässigkeit solcher Anreize ist zwar namentlich bei öffentlichen Übernahmeangeboten nach §  33d WpÜG eingeschränkt, dem Interessenten ist es aber dennoch nicht gänzlich verwehrt, den Vorstandsmitgliedern eine Verbesserung ihrer Position in Aussicht zu stellen.144 Freilich löst nicht jede Transaktion die Befangenheit der Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft aus. Hält der potentielle Erwerber keine oder nur wenige 143 Ausf. zu den Auslösern der transaktionsbedingten Interessenkonflikte etwa Holtkamp, Interessenkonflikte, S.  266  ff.; Habersack, FS Marsch-Barner, S.  203, 210  f.; Heyers Der Konzern 2017, 231, 232; Leyendecker-Langner NZG 2016, 1213, 1214 f. Im Zusammenhang mit dem genehmigten Kapital als Instrument zur Verhinderung feindlicher Übernahmen auch Mülbert, FS Schwark, S. 553, 566 f. 144 Zu den Grenzen der Incentivierung bei öffentlichen Übernahmeangeboten Müller-Michaels in HdB Unternehmenskauf Rn. 13.149 ff. S. ferner T. Hölters/W. Hölters in HdB Unternehmenskauf Rn.  12.69  ff.; Leyendecker-Langner NZG 2016, 1213, 1215. 405

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Aktien der Zielgesellschaft und ist das Transaktionsvolumen so gering, dass der Erwerber nach Durchführung der Akquisition keinen großen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben kann, wird die Entscheidungsfindung im Vorstand nicht so stark durch Sonderinteressen seiner Mitglieder beeinflusst, dass die Relevanzschwelle überschritten ist und die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Betracht kommt. Zeichnet sich ab, dass der Interessent seine Position in der Gesellschaft merklich steigern wird, nimmt die Konfliktintensität zu, was eine intensivere gerichtliche Kontrolle der Vorstandsmaßnahmen rechtfertigen kann. Bei börsennotierten Gesellschaften ist dies insbesondere bei öffentlichen Übernahmeangeboten im Sinne des § 29 WpÜG der Fall. Die Intensität des transaktionsbedingten Interessenkonflikts hängt überdies von der Akquisitionsphase ab. Am stärksten tritt der Interessenkonflikt der Geschäftsleiter zutage, wenn der potentielle Erwerber den Aktionären ein verbindliches Kaufangebot unterbreitet hat; bei einem öffentlichen Übernahmeangebot umschreibt §  33 Abs.  1 Satz  1 WpÜG diese Zeitspanne. Weniger intensiv wirken sich transaktionsbedingte Sonderinteressen auf Vorstandsmaßnahmen aus, wenn der Interessent zwar noch kein bindendes Angebot abgegeben hat, seine Pläne aber so weit konkretisiert und bekannt sind, dass die Vorstandsmitglieder von einer ernsthaften Möglichkeit der Akquisition ausgehen müssen.145 Diese Phase ist jedenfalls dann erreicht, wenn der Erwerber eine unverbindliche Absichtserklärung (Letter of Intent) abgegeben hat und die Geschäftsleiter der Zielgesellschaft diese Erklärung kennen müssen. Ist die Übernahmemöglichkeit nur abstrakt, dürfte der Interessenkonflikt in der Regel die Relevanzschwelle nicht überschreiten.146 b) Interessenkonflikte bei der Stellungnahme nach § 27 WpÜG Im Hinblick auf die soeben erläuterte Vielfalt der Konstellationen fällt es schwer, allgemeine Aussagen über die Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die gerichtliche Kontrolle der Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft zu treffen. Deshalb bietet es sich zunächst an, zwischen Maßnahmen zu differenzieren, die der Vorstand der Zielgesellschaft anlässlich einer Transaktion ergreifen kann. Es wird sich zeigen, dass die Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte davon abhängen, 145 Legt man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG mit der hier vertretenen Auffassung den subjektiven Konfliktbegriff zugrunde (§ 8 IV 5), können sich die Vorstandsmitglieder auf die BJR solange berufen, wie sie die Übernahmepläne nicht hätten kennen müssen. 146 Ausf. zur Konfliktintensität in den unterschiedlichen Phasen Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 268 ff. 406

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ob der Vorstand zur geplanten Transaktion Stellung bezieht, ob er Verteidigungsmaßnahmen ergreift oder ob er die Transaktion fördert. Außerdem ist bei jeder Vorstandsmaßnahme auf die unterschiedliche Konfliktintensität in den jeweiligen Transaktionsphasen zu achten. Geht es um die gerichtliche Kontrolle der Stellungnahme nach §  27 Abs.  1 WpÜG, wird ein relevanter Interessenkonflikt der Vorstandsmitglieder in vielen Fällen nahe liegen. Die Pflicht zur Abgabe einer Stellungnahme greift nach der Veröffentlichung des Angebots durch den Bieter ein, also zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Erwerbspläne konkretisiert haben. In diesem Zeitpunkt wird es für die Geschäftsleiter des Zielunternehmens absehbar sein, welche Pläne der Bieter im Hinblick auf die Besetzung der Vorstandsposten hat und welche Strategie er verfolgen will, so dass ihre Bewertung des Erwerbsangebots durch Sonderinteressen beeinflusst sein wird.147 Die Relevanzschwelle dürfte allein dann nicht überschritten sein, wenn der Bieter ein einfaches öffentliches Erwerbsangebot abgibt und dabei eine niedrige Beteiligung anstrebt.148 Trotz der naheliegenden Befangenheit der Vorstandsmitglieder will das Schrifttum so gut wie einhellig § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anwenden und spricht sich nur für die Pflicht der Vorstandsmitglieder aus, etwaige Sonderinteressen offenzulegen.149 Dies überrascht, wenn man sich an die allgemeinen Grundsätze erinnert, die in § 8 IV 6 herausgearbeitet wurden. Nach herrschender Auffassung im aktienrechtlichen Schrifttum genügt die bloße Offenlegung des Interessenkonflikts nicht, um die gerichtliche Kontrolldichte zu lockern. Wieso im Übernahmerecht etwas anderes gelten soll, wird nicht begründet.150 Diese Begründungslücke ist verblüffend, weil die Bedeutung der Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG für den Kapitalmarkt und die Aktionäre der Zielgesellschaft gegen eine Ausnahme von den allgemeinen Grundsätzen spricht. Es ist einhellig anerkannt, dass die Bewertung des Angebots durch die Verwaltung der Zielgesellschaft die Anteilsinhaber in die Lage versetzen soll, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, ob sie ihre Aktien an den Bieter 147 Zu den Interessenkonflikten und Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG s. Wackerbarth in MüKoAktG § 27 WpÜG Rn. 6; Leyendecker-Langner NZG 2016, 1213, 1215. 148 Zum Zusammenhang zwischen der angestrebten Beteiligungshöhe und der Relevanzschwelle s. § 11 II 8 a. 149 S. ferner die Nachw. in Fn. 104 bis 106. Für eine Pflicht des Vorstands, Interessenkonflikte in der Stellungnahme offenzulegen, ferner Wackerbarth in MüKoAktG § 27 WpÜG Rn. 11; Seyfarth VorstandsR § 16 Rn. 111; Leyendecker-Langner NZG 2016, 1213, 1217. 150 Paradigmatisch Wiegand, Investorenvereinbarungen, S.  212  f., der zwar die allgemeinen aktienrechtlichen Grundsätze erkennt, aber augenscheinlich §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG ohne nähere Begründung anwenden will. 407

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veräußern.151 Die Information der Angebotsadressaten soll zugleich das Vertrauen der Kapitalmarktakteure in das Institut des öffentlichen Angebots stärken.152 Wollte man den Geschäftsleitern ein weites unternehmerisches Ermessen einräumen, obwohl sie befangen sind, würde der Informationswert der Stellungnahme sinken. Je breiter die diskretionären Spielräume des Vorstands sind, desto weniger Möglichkeiten haben die Gerichte, die Bewertung des Vorstands daraufhin zu überprüfen, ob sie im Gesellschaftswohl erfolgt ist oder durch Sonderinteressen verzerrt ist. Dies kann dazu führen, dass weder der Gedanke der Legitimation durch Verfahren noch die richterliche Inhaltskon­ trolle eine Richtigkeitschance erzeugen. Vor diesem Hintergrund kann die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zur Folge haben, dass die Aktionäre der Zielgesellschaft und der Kapitalmarkt die Stellungnahmen des Vorstands als unglaubwürdig einschätzen.153 Dieses Zusammenspiel zwischen der gerichtlichen Prüfungsdichte und dem Aktionärs- und Kapitalmarktvertrauen ist ein Argument dafür, die Stellungnahme des Vorstands bei transaktionsbedingten Interessenkonflikten einer intensiveren Inhaltskontrolle zu unterwerfen. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz die Vorstandsmitglieder in eine vertrackte Situation zwingt. Die Geschäftsleiter müssen das Angebot bewerten, obwohl eindeutig ist, dass sie häufig unter dem Einfluss von transaktionsbedingten Sonderinteressen entscheiden und dabei eine persönliche Haftung für den Fall befürchten müssen, dass ihre Bewertung fehlerhaft ist. Eine Lösung dergestalt, dass die befangenen Vorstandsmitglieder nicht an der Stellungnahme mitwirken,154 wird oft nicht möglich sein, weil der gesamte Vorstand durch Interessenkonflikte beeinflusst sein wird.155 Auch die Zustimmung des Aufsichtsrats, der bei Befangenheit aller Vorstandsmitglieder den Schutz der Business Judgment Rule aufrechterhalten kann,156 wird im Zusammenhang mit § 27 Abs. 1 WpÜG nicht helfen, weil die Aufsichtsratsmitglieder ebenfalls durch transaktionsbedingte Sonderinteressen beeinflusst sein werden. In § 15 V 4 wird noch eingehend erläutert, dass die Zustimmung eines befangenen Gremiums den Interessenkonflikt eines anderen Gremiums nicht neutralisieren kann.

151 Statt vieler Harbarth in Baums/Thoma/Verse WpÜG §  27 Rn.  1  ff.; E. Vetter, FS Hopt, 2010, S. 2657, 2660. 152 Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 307. 153 Zur Gefahr der Glaubwürdigkeitsverlustes Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 307. 154 Hierzu in § 8 IV 6 und V 3 b. 155 Darauf weist zutr. Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 312 f. hin. 156 S. dazu in § 8 V 5. 408

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Im Hinblick auf diese Gemengelage spricht viel dafür, einen Schutzschirm über die Vorstandsmitglieder zu spannen, indem man von allgemeinen Grundsätzen abweicht und §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG bereits dann eingreifen lässt, wenn die Geschäftsleiter die Interessenkonflikte in der Stellungnahme offenlegen.157 Eine solche Ausnahme von der Regel, dass die bloße Offenlegung der Sonderinteressen für eine Lockerung der gerichtlichen Kontrolldichte nicht genügt, erscheint gerechtfertigt, weil die Einwirkungsmacht des Vorstands im Zusammenhang mit § 27 WpÜG geringer ist als in Fällen, in denen die Anwendung der Business Judgment Rule klassischerweise diskutiert wird. Trifft der Vorstand etwa eine Investitionsentscheidung und wirkt ein befangenes Vorstandsmitglied am Entscheidungsprozess mit, besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft an eine Maßnahme gebunden ist, die nicht allein dem Gesellschaftswohl entspricht. Dieses Risiko lässt sich nicht dadurch beseitigen, dass der befangene Geschäftsleiter in der Vorstandssitzung für Transparenz sorgt. Anders ist die Lage in Fällen des § 27 Abs. 1 WpÜG. Die Stellungnahme des Vorstands bindet weder die Zielgesellschaft noch die Aktionäre. Auch wenn die Bewertung des Angebots die Entscheidungsfindung der Aktionäre beeinflussen mag, ist zu beachten, dass die Aktionäre das letzte Wort behalten. Legen die Geschäftsleiter in der Stellungnahme ihre Sonderinteressen offen,158 können die Aktionäre diese Information im Rahmen des Entscheidungsprozesses berücksichtigen. Sie sind hinreichend deutlich vor dem Risiko gewarnt, dass die Bewertung des Vorstands nicht vollständig objektiv ist. Insoweit können sich die Aktionäre selbst schützen, indem sie nicht blind auf die Stellungnahme des Vorstands vertrauen, sondern sich aus anderen Quellen selbständig informieren. Diese Möglichkeit des Selbstschutzes rechtfertigt es, die Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG trotz transaktionsbedingter Interessenkonflikte lediglich einer Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu unterwerfen; die Sonderinteressen der Geschäftsleiter sind nicht relevant.159 157 Freilich ist in einem solchen Fall problematisch, ob die BJR nur dann ihre Wirkung entfaltet, wenn es um das Innenverhältnis geht, oder ob sich die Vorstandsmitglieder auch dann auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen, wenn sie im Außenverhältnis in Anspruch genommen werden, etwa bei Ansprüchen der Aktionäre (dazu statt vieler Friedl NZG 2004, 448, 449 ff.; Mohamed DStR 2015, 2290, 2292 ff.). Es spricht viel dafür, die BJR auch bei Ansprüchen der Aktionäre anzuwenden, weil der Vorstand unabhängig davon final gesteuert wird, ob er (zu einem späteren Zeitpunkt) im Innen- oder im Außenverhältnis in Anspruch genommen wird. Maßgeblich ist in beiden Fällen die Bindung an das Gesellschaftswohl. 158 Zum Gegenstand und Detailtiefe der Offenlegung statt vieler Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 308 ff. 159 S. dazu § 8 IV 4 b. 409

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c) Interessenkonflikte und übernahmerechtliches Verhinderungsverbot aa) § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG Mit vergleichbaren Schwierigkeiten ist die Behandlung der Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dem Verhinderungsverbot in § 33 WpÜG verbunden. Wie bei der Stellungnahme nach § 27 WpÜG stehen die Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft in der Regel unter dem Einfluss übernahmebedingter ­Sonderinteressen. Allerdings können folgende Ausführungen auf zahlreichen Vor­überlegungen aufbauen, weil das Schrifttum im Kontext des § 33 WpÜG mehr Problembewusstsein zeigt.160 Hinzu kommt, dass das Verhinderungsverbot im Ausgangspunkt ein besonders scharfes Instrument ist, um übernahmebedingte Sonderinteressen zu neutralisieren. Wäre es dem Vorstand ausnahmslos verboten, abwehrgeeignete Handlungen vorzunehmen, dürften sich die Geschäftsleiter in eine konfliktträchtige Lage erst gar nicht begeben.161 In einem solchen Fall erübrigte sich die Frage nach der Anwendung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG, weil der Vorstand wegen des Vorrangs der Legalitätspflicht keine unternehmerischen Entscheidungen treffen könnte. Indes wurde bereits in § 11 II 5 erläutert, dass § 33 WpÜG kein striktes Verhinderungsverbot statuiert. Vielmehr machen die Ausnahmetatbestände deutlich, dass der Vorstand in einer Übernahmesituation weiterhin tätig sein darf. Deshalb lebt die Frage nach den Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die richterliche Kontrolldichte im Transaktionsbereich wieder auf.162 Besonders deutlich stellt sie sich bei § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG, der auf die Handlungen eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einer nicht von der Übernahme betroffenen Gesellschaft abstellt. Diese Formulierung, die bewusst an §  93 Abs.  1 Satz  1, §  317 Abs.  2 AktG angelehnt ist,163 deutet das Schrifttum in zwei Richtungen. Einige sind der Ansicht, dass § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG auf den Geschäftsleiter abstellt, dessen Gesellschaft nicht vom Übernahmeangebot betroffen ist, um zu unterstreichen, dass die transaktionsbedingte Befangenheit bei der Kontrolle der Vorstandsmaßnahmen auszu160 S. schon die Darstellung des kontroversen Meinungsstandes in § 11 II 5 mit Nachw. in Fn. 108 bis 115. 161 Zu diesem materiell-rechtlichen Instrument der Konfliktbewältigung Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 272 ff. 162 Im Folgenden wird nur auf § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 und 2 WpÜG eingegangen. Abwehrmaßnahmen, die nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zulässig sind, werden in §  15 V näher behandelt, weil die Einbindung des AR die Problemkomplexität erhöht. Zu Abwehrmaßnahmen, die aufgrund eines HV-Beschlusses nach § 33 Abs. 2 WpÜG erfolgen, s. noch in § 21. 163 S. bereits die Nachw. in Fn. 125. 410

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blenden ist.164 Folgt man dieser „Ausblendungslösung“,165 ist die richterliche Prüfungsdichte trotz des Interessenkonflikts zu lockern. Andere legen den Ausnahmetatbestand dahingehend aus, dass § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG lediglich den Rechtmäßigkeitsmaßstab für die Vorstandshandlungen während des Übernahmeverfahrens formuliert, aber keine Aussage über die Auswirkungen der Sonderinteressen trifft.166 Bei einer solchen Interpretation bestimmt sich die Intensität der richterlichen Kontrolle nach allgemeinen Grundsätzen, was dazu führte, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG in der Regel nicht anwendbar wäre. Gegen die letztgenannte Auffassung spricht der Zweck, den der Gesetzgeber mit der Einführung des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG verfolgt hat. Ausweislich der Regierungsbegründung soll der Ausnahmetatbestand dem Vorstand der Zielgesellschaft die Führung des Tagesgeschäfts und die Weiterverfolgung der bisherigen Unternehmensstrategie ermöglichen; die Geschäftstätigkeit der Zielgesellschaft soll während des Übernahmeangebots nicht unangemessen behindert werden.167 Wollte man den Geschäftsleitern die Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wegen der transaktionsbedingten Befangenheit kategorisch untersagen, würden man diese gesetzgeberische Intention konterkarieren, weil das Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG so weit gefasst ist, dass die Geschäftsleiter bei zahlreichen Maßnahmen eine engmaschige gerichtliche Kontrolle befürchten müssten, was ihre Aktivitäten lähmen könnte.168 Deshalb kann die Konfliktsituation während des Übernahmeverfahrens nicht zu einem pauschalen Ausschluss der Business Judgment Rule führen. Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass auch in Fällen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG die Gefahr besteht, dass die Vorstandsmitglieder ihre Sonder­ interessen verfolgen, statt ihre Entscheidungen allein am Gesellschaftswohl auszurichten.169 Um dieses Spannungsverhältnis zwischen der nötigen Be­ wegungsfreiheit der Geschäftsleiter einerseits und dem Schutz des Unternehmensinteresses durch gerichtliche Kontrolle andererseits aufzulösen, kann der 164 Für eine solche Lösung ausdrücklich Drygala ZIP 2001, 1861, 1867; Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 6. S. ferner die Nachw. in Fn. 110. 165 So die plastische Umschreibung von Drygala ZIP 2001, 1861, 1867, die von zahlreichen Autoren aufgegriffen wird. 166 So Holtkamp, Interessenkonflikte, S. 303.  167 RegBegr WpÜG 14/7034, S.  58.  Aus dem Schrifttum statt vieler Krause/Pötzsch/ Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 145. 168 Insoweit zutr. Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 7. 169 Hinzu kommt, dass die Abwehrmaßnahmen zu einer Ausschaltung der Marktkon­ trolle führen können (s. etwa Heyers Der Konzern 2017, 231), was für eine Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle spricht. 411

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übernahmebedingte Interessenkonflikt nicht pauschal ausgeblendet werden. Ein solches Vorgehen führte dazu, dass die Gerichte immer dann, wenn die Vorstandsmitglieder auf angemessener Informationsgrundlage handelten, lediglich zu einer kursorischen inhaltlichen Prüfung der Abwehrmaßnahmen befugt wären. Damit wäre das Verhinderungsverbot entgegen der gesetzlichen Systematik nicht die Regel, sondern die Ausnahme.170 Um einer solchen Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in §  33 Abs. 1 WpÜG vorzubeugen, beschränken manche Vertreter der „Ausblendungslösung“ den sachlichen Anwendungsbereich des §  33 Abs.  1 Satz  2 Var. 1 WpÜG in Anlehnung an die Gesetzesmaterialien171 auf solche Maßnahmen, die zum Tagesgeschäft gehören und die der Verwirklichung einer vor dem Übernahmeverfahren eingeschlagenen Unternehmensstrategie dienen.172 Teilt man dieses enge Verständnis des Ausnahmetatbestands, kann man in der Tat mit guten Argumenten vertreten, eine hinreichende gerichtliche Kontrolle der befangenen Vorstandsmitglied sei auch dann gewährleistet, wenn man bei der Anwendung des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG den Interessenkonflikt ausblende. Gleichwohl ist eine solche Einschränkung des Ausnahmetatbestandes nicht im Wortlaut des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG angelegt. Wollte der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG auf bestimmte Arten von abwehrgeeigneten Maßnahmen begrenzen, hätte er dies in der Norm selbst kenntlich machen können.173 Das hat er aber nicht getan, sondern nur in den Gesetzesmaterialien erläutert, dass insbesondere das Tagesgeschäft und die Umsetzung der bereits eingeschlagenen Unternehmensstrategie unter den Ausnahmetatbestand zu subsumieren sind. Die „Insbesondere“-Formulierung deutet darauf hin, dass diese Maßnahmen nur Regelbeispiele sind und der Katalog der Handlungen, die nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG erlaubt sind, größer sein kann.174 Im Hinblick darauf überrascht es nicht, dass an vielen Stellen im Schrifttum der Ausnahmetatbestand auf verhinderungsgeeignete Handlungen des Vor170 Dies stellt auch (mit kritischem Zungenschlag) Drygala ZIP 2001, 1861, 1867 f. fest. S. ferner Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 23. 171 RegBegr WpÜG 14/7034, S. 58: „Insbesondere wird dem Management ermöglicht, das Tagesgeschäft weiterzuführen. Zudem können auch bereits eingeschlagene Unternehmensstrategien weiter verfolgt werden.“ 172 So Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 171 f.; Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 7.  173 Ausf. Weiß, Handlungsrahmen, S. 96 ff. 174 So auch Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 371. 412

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stands erstreckt wird, die nicht in den Gesetzesmaterialien erwähnt sind.175 Um einer Ausuferung des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG vorzubeugen, wird darauf abgestellt, ob der Vorstand die Maßnahme mit Verhinderungsabsicht getroffen hat; in einem solchen Fall halte die Maßnahme dem Drittvergleich nicht stand und sei verboten.176 Auch diese Vorgehensweise vermag nicht restlos zu überzeugen. Einem gut vorbereiteten Vorstand wird es nämlich nicht schwer fallen, seine Verhinderungsabsicht mit triftigen Argumenten zu bestreiten und seine Maßnahmen ins rechte Licht zu rücken. Gelingt ihm dies und kann er die angemessene Informationsgrundlage beweisen, hat er nach der „Ausblendungslösung“ einen Freifahrtschein; seine Entscheidungen unterliegen nur einer inhaltlichen Evidenzkontrolle. Deshalb ist der Interessenkonflikt in Fällen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG nicht pauschal auszublenden. Vielmehr bietet sich eine differenzierte Lösung an. Das Spannungsverhältnis zwischen der Bewegungsfreiheit des Vorstands und dem Unternehmensinteresse ist dadurch aufzulösen, dass man das Relevanzkriterium richtig justiert. Wie in § 8 IV 4 b erläutert, spielt es für die Relevanz des Interessenkonflikts unter anderem eine Rolle, ob ein Zusammenhang zwischen den Sonderinteressen und dem Entscheidungsprozess besteht.177 Dieser Gedanke ist im Rahmen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG aufzugreifen. Ist die Entscheidung für eine abwehrgeeignete Maßnahme dem Grunde nach vor der Übernahme gefallen, wirken sich die übernahmebedingten Sonderinteressen nicht auf die Entscheidung aus und stehen der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht im Wege.178 Gehört die Handlung zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb des Zielunternehmens, ist der Interessenkonflikt in der Regel ebenfalls nicht relevant. Eine Maßnahme, die in einem Unterneh175 Für die Einbeziehung solcher außergewöhnlichen Geschäfte Hüffer/J. Koch AktG §  76 Rn.  43; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn. 151 f.; Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 20 ff.; Drygala ZIP 2001, 1861, 1866. 176 Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn.  152, 161 (die aber zugleich in Rn. 146 behaupten, auf die Verhinderungsabsicht komme es nicht an). Ähnlich Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 115. S. ferner OLG Stuttgart AG 2019, 527, 532. 177 Ähnlich Barry, Gleichbehandlung, S.  231  ff., der zwischen abwehrgeeigneten und abwehrgerichteten Maßnahmen differenziert und nur bei letzteren einen Interessenkonflikt bejaht. In diese Richtung auch Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG § 33 Rn. 49. S. ferner Brandi in Thaeter/Brandi Teil 3 Rn. 370, der darauf abstellt, ob die Maßnahme durch das Übernahmeangebot veranlasst ist. Vgl. ferner Röh in FK-WpÜG § 33 Rn. 70, der die Anforderungen an den Entlastungsbeweis des Vorstands erhöhen will, wenn die Maßnahme den Anschein erweckt, in erster Linie gegen das Angebot gerichtet zu sein. 178 Insoweit zutr. Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 22. 413

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men immer wieder ergriffen wird, hängt nicht spezifisch mit der Übernahme zusammen. Handelt es sich aber um eine außergewöhnliche Maßnahme, die weder als Umsetzung einer bestehenden Unternehmensstrategie erscheint noch zum Tagesgeschäft gehört, kann die Relevanz des Interessenkonflikts nicht ohne weiteres verneint werden. Um die vorstehenden Überlegungen in die Prüfung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einfließen zu lassen, bietet es sich an, an die Verteilung der Darlegungsund Beweislast anzuknüpfen.179 In § 8 VI 1 wurde herausgearbeitet, dass die Vorstandsmitglieder nicht ohne weiteres nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG darlegen und beweisen müssen, dass sie nicht befangen sind. Vielmehr trifft die Gesellschaft die sekundäre Darlegungslast. Sie muss die Umstände vortragen, aus denen sich die Sonderinteressen der Geschäftsleiter ergeben. Im Zusammenhang mit den Abwehrmaßnahmen nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG muss die Gesellschaft – in Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen – einen solchen Vortrag nicht erbringen. Vielmehr erzeugt die Übernahme eine tatsächliche Vermutung für die transaktionsbedingte Befangenheit der Vorstandsmitglieder,180 so dass die Gesellschaft nicht zusätzlich nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast gehalten ist, Tatsachen vorzutragen, aus denen sich der Interessenkonflikt ergeben könnte.181 Es obliegt den Geschäftsleitern, Umstände darzulegen und zu beweisen, aus denen sich ergibt, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen nicht durch einen Interessenkonflikt beeinflusst wurden.182 bb) Suche nach dem „Weißen Ritter“ im sicheren Hafen Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Sonderinteressen der Geschäftsleiter und den Vorstandsmaßnahmen während des Übernahmeverfahrens kann auch im Rahmen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG gestellt werden, um zu klären, ob sich der Vorstand auf die Business Judgment Rule berufen kann, wenn er sich um ein konkurrierendes Angebot bemüht. Zwar befinden sich die Vorstandsmitglieder auch auf der Suche nach einem „Weißen Ritter“ 179 In eine ähnliche Richtung Röh in FK-WpÜG § 33 Rn. 70, der augenscheinlich die Argumentationslast einzelfallabhängig steuern will. 180 Zutr. Barry, Gleichbehandlung, S. 230. 181 Zur sekundären Darlegungslast hinsichtlich Interessenkonflikte bei §  93 Abs.  2 Satz 2 AktG s. in § 8 VI 1. 182 Vor diesem Hintergrund ist der Vorstand in der Regel gut beraten, wenn er die eingeschlagene Unternehmensstrategie dokumentiert, s. Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 149; Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 120. 414

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im übernahmebedingten Interessenkonflikt, der gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG spricht. Ein Vergleich mit der Rechtslage bei der Erteilung einer Stellungnahme nach § 27 WpÜG macht aber deutlich, dass dieser Interessenkonflikt unschädlich ist. Im Kontext des § 27 WpÜG wurde herausgearbeitet, dass die übernahmebedingte Befangenheit des Vorstands durch die Offenlegung neutralisiert ist, weil die Aktionäre eine informierte Entscheidung treffen können. Schaffen die Geschäftsleiter transparente Verhältnisse, können sie sich auf die Business Judgment Rule berufen. Ähnliche Überlegungen können im Zusammenhang mit §  33 Abs.  1 Satz  2 Var. 2 WpÜG angestellt werden. Gelingt es dem Vorstand, eine weitere Person zum Einstieg in den Übernahmekampf zu bewegen, haben die Aktionäre die Wahl zwischen zwei Angeboten, was die Anzahl ihrer Optionen erhöht und damit ihre Entscheidungsgrundlagen verbessert.183 Hat der Vorstand seine Sonderinteressen offengelegt, können die Aktionäre eine informierte Entscheidung für einen der Bieter oder gegen die Veräußerung der Anteile treffen. Unter diesen Bedingungen steht die Befangenheit der Vorstandsmitglieder der Anwendung der Business Judgment Rule in Fällen des § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG nicht im Wege.184 d) Abwehrmaßnahmen im Vorfeld des öffentlichen Übernahmeangebots Unterliegt der Vorstand nicht dem übernahmerechtlichen Vereitelungsverbot aus § 33 Abs. 1 Satz 1 AktG, hängen die Auswirkungen des Interessenkonflikts auf die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte von der konkreten Situation ab. Ist die Zielgesellschaft zwar börsennotiert, greift § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG aber nicht ein, weil ein konkretes Übernahmeangebot (noch) nicht vorliegt, kommt es darauf an, ob sich die Übernahmepläne des potentiellen Bieters so weit verdichtet haben, dass der Vorstand von einer ernsthaften Möglichkeit eines Angebots ausgehen muss, oder ob die Übernahmegefahr lediglich abstrakt ist. Im letztgenannten Fall wird ein hinreichend gewichtiger Inte183 So auch die zutr. hM, s. etwa Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 123; Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 24. 184 Bei Abwehrmaßnahmen, die der Vorstand mit Zustimmung des AR (§  33 Abs.  1 Satz 2 Var. 3 WpÜG) oder auf Grundlage eines HV-Beschlusses (§ 33 Abs. 2 WpÜG) ergreift, handelt es sich um Fälle, in denen die richterliche Prüfungsdichte auf der Geschäftsleiterebene von der Intensität der Inhaltskontrolle hinsichtlich Entscheidungen der Überwachungsorgane und Gesellschafter abhängt. Daher werden sie in § 15 VI (AR-Zustimmung nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG) und § 21 (HV-Beschluss nach § 33 Abs. 2 WpÜG) behandelt. 415

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ressenkonflikt – wie schon in § 11 II 8 a erläutert – in der Regel zu verneinen sein. Die Maßnahmen der Übernahmeprophylaxe liegen also im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn die Vorstandsmitglieder vernünftigerweise von einer angemessenen Informationsgrundlage ausgehen durften.185 Wenn die Übernahmemöglichkeit konkreter wird, lässt sich die Befangenheit der Geschäftsleiter nicht mehr ohne weiteres leugnen. Allerdings kann man in dieser Phase noch keine Vermutung dahingehend aufstellen, dass die Vorstandsmaßnahmen – auch wenn sie abwehrgeeignet sein mögen – in einem Zusammenhang mit der potentiellen Akquisition stehen und die Berufung auf die Business Judgment Rule deshalb ausscheidet. Vielmehr obliegt es den Klägern, nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast substantiiert zu belegen, dass die Handlungen des Vorstands im Vorfeld der Übernahme durch transaktionsbedingte Sonderinteressen beeinflusst wurden. Gelingt dies, steht den Geschäftsleitern die Möglichkeit offen, darzulegen und zu beweisen, dass ein Zusammenhang zwischen dem Interessenkonflikt und den abwehrgeeigneten Maßnahmen nicht besteht; insoweit ist auf die Ausführungen zum Interessenkonflikt im Übernahmeverfahren in § 11 II 8 c zu verweisen. e) Abwehrmaßnahmen bei nicht börsennotierten Zielgesellschaften Ist die Zielgesellschaft nicht börsennotiert im Sinne des § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 7 WpÜG, kann das Verhinderungsverbot des §  33 Abs.  1 Satz  1 WpÜG von vornherein nicht eingreifen; die Maßnahmen des Vorstands sind an § 93 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG zu messen. Allerdings spielt § 33 Abs. 1 WpÜG insoweit eine Rolle, als er deutlich macht, dass die Vorstandsentscheidungen besonders begründungsbedürftig sind, wenn der potentielle Erwerber den Aktionären ein bindendes Angebot unterbreitet hat. Dieser Gedanke kann auch jenseits des Anwendungsbereichs des WpÜG aufgegriffen werden. Liegt eine Kaufofferte vor, treten die Sonderinteressen der Vorstandsmitglieder deutlich zutage, was eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle rechtfertigen kann. Ergreift der Vorstand in einer solchen Situation etwaige Maßnahmen, die objektiv zur Vereitelung der Transaktion geeignet sind, ist an die Überlegungen zu § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG anzuknüpfen. Der Vorstand kann sich auf die Business Judgment Rule berufen, wenn er nachweist, dass kein Zusammenhang zwischen den transaktionsbedingten Sonderinteressen und den abwehrgeeigneten Handlungen besteht. Liegt ein bindendes Angebot noch nicht vor, sind die Transaktionspläne aber konkretisiert, obliegt es dem Kläger, die Sonderinteressen der Vorstandsmit185 Vgl. Yang, Verteidigungsmaßnahmen, S. 54; Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 177. 416

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Transaktionsbereich

glieder substantiiert darzulegen. Wenn die Geschäftsleiter in einem solchen Fall die Privilegierung der Business Judgment Rule genießen wollen, müssen sie darlegen und beweisen, dass ihre Entscheidungen nicht durch den Interessenkonflikt beeinflusst sind. Geht es um die bloße Übernahmeprophylaxe, ohne dass sich eine Transaktion konkret abzeichnet, sind die Sonderinteressen nicht gewichtig genug, um die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auszuschließen. f) Interessenkonflikte bei freundlichen Übernahmen In einem letzten Schritt ist die Frage zu beantworten, ob die Business Judgment Rule im Hinblick auf transaktionsbedingte Interessenkonflikte anwendbar bleibt, wenn der Vorstand der Zielgesellschaft dem potentiellen Erwerber wohlgesonnen ist und die Transaktion unterstützt, etwa indem er eine Investorenvereinbarung abschließt. In einem solchen Fall kann der Ausschluss des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG zwar nicht damit begründet werden, dass die Geschäftsleiter den Verlust ihres Postens befürchten, die Befangenheit der Vorstandsmitglieder kann aber auch aus der Kooperation mit dem Erwerber resultieren.186 So liegt die Befangenheit der Vorstandsmitglieder jedenfalls dann nahe, wenn der Erwerber ihnen Geldleistungen oder sonstige geldwerte Vorteile verspricht, falls sie die Transaktion fördern. Auch die Zusage einer vorzeitigen Verlängerung der Vorstandsbestellung oder eines Wechsels in die (künftige) Konzernzentrale können die Gefahr begründen, dass die Geschäftsleiter ihre eigenen Interessen dem Gesellschaftswohl vorziehen. Ein Interessenkonflikt kann schließlich aus dem Umstand resultieren, dass der Erwerber den Vorstandsmitgliedern die Weiterbeschäftigung für den Fall in Aussicht stellt, dass diese die Transaktion unterstützen. Gehen die Vorstandsmitglieder auf das Angebot ein, können sie eine Abberufung und den damit verbundenen Verlust ihres eigenen Marktwerts verhindern.187 Trotz dieser Risiken werden die Auswirkungen der transaktionsbedingten Befangenheit bei freundlichen Übernahmen auf die Business Judgment Rule im Schrifttum nicht diskutiert. Das Problembewusstsein ist ähnlich schwach ausgeprägt wie im Kontext des § 27 Abs. 1 WpÜG. Diejenigen Autoren, die sich gegen das pauschale Verbot der Selbstbindung aussprechen und die Inves­ torenvereinbarung am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG messen wollen, gehen augenscheinlich davon aus, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG anwendbar 186 Zutr. Wackerbarth in MüKoAktG § 27 WpÜG Rn. 6. 187 Hierzu Heß, Investorenvereinbarungen, S. 68 ff. 417

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ist.188 Dies vermag in dieser Allgemeinheit nicht zu überzeugen. Hat der Erwerber die Vorstandsmitglieder der Zielgesellschaft zum Abschluss der Investorenvereinbarung incentiviert, kann eine Vermutung dahingehend, dass die Vereinbarung dem Gesellschaftswohl entspricht, nicht ohne weiteres aufgestellt werden, weil der Entscheidungsprozess durch äußere Umstände gestört wurde. Vielmehr kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Geschäftsleiter (bewusst oder unbewusst) ihre eigenen Interessen in den Vordergrund gestellt haben. Deshalb ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Vorstandsmitglieder das Business Combination Agreement in der Erwartung abgeschlossen haben, ihre Position nach einem etwaigen Kontrollwechsel abzusichern oder gar zu verbessern, und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG deshalb nicht eingreift. Freilich wird nicht jede Exspektanz dazu führen, dass die Entscheidung für den Abschluss der Investorenvereinbarung nicht durch ein ordnungsgemäßes Verfahren legitimiert ist. Ob die Erwartungen der Geschäftsleiter eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle gebieten, hängt insbesondere davon ab, ob der durch den Erwerber provozierte Interessenkonflikt relevant ist. Maßgeblich ist das in § 8 IV 4 Gesagte. Je konkreter die Zusagen des Erwerbers sind und je höher der wirtschaftliche Vorteil der Vorstandsmitglieder ausfällt, desto eher wird die Relevanzschwelle überschritten. Ein relevanter Interessenkonflikt wird etwa in der Regel dann zu bejahen sein, wenn der Erwerber den Geschäftsleitern eine merkliche Erhöhung der Vorstandsbezüge oder eine Verlängerung des Bestellungsverhältnisses verspricht. Eine lose „Weiterbeschäftigungsgarantie“ kann hingegen nicht gewichtig genug sein, um eine ernsthafte Gefahr eines Interessenwiderstreits zu begründen. 9. Vorstandsmaßnahmen zwischen Evidenz- und Vertretbarkeitskontrolle Die Intensität, mit der die Gerichte die Maßnahmen des Vorstands der Zielgesellschaft überprüfen dürfen, hängt davon ab, ob der Vorstand die Hürden des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG überwindet. Können sich die Geschäftsleiter auf die Business Judgment Rule berufen, unterliegen die Stellungnahme nach §  27 Abs. 1 WpÜG, die Abwehrmaßnahmen und etwaige Investorenvereinbarungen einer Evidenzkontrolle; es ist maßgeblich, ob die Maßnahmen völlig unverantwortlich sind. Greift die Business Judgment Rule nicht ein – sei es, weil die Informationsgrundlage unzureichend war, sei es, weil die Vorstandsmitglieder befangen waren – ist im Einzelfall zu bestimmen, ob das Gericht die Maßnahmen vollständig oder nur auf ihre Vertretbarkeit überprüfen darf. Na188 S. bereits die Nachw. in Fn. 122. 418

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mentlich wenn die Geschäftsleiter durch Sonderinteressen beeinflusst sind, kann sich die Frage stellen, ob der Interessenkonflikt hinreichendes Gewicht hat, um die volle gerichtliche Überprüfung der Maßnahme zu rechtfertigen. Überschreitet der Interessenkonflikt die Relevanzschwelle, ist er aber dennoch als leicht einzustufen, beschränkt sich die richterliche Kontrolle auf die Frage, von welchen Annahmen der Vorstand ausgegangen ist, ob von diesen Annahmen ein logisch widerspruchsfreier Weg zu seiner Maßnahme führt und ob diese Annahmen vertretbar sind.189

III. Corporate Social Responsibility 1. Gesellschaftszweck, Unternehmensgegenstand und freiwillige Leistungen Ein latentes Spannungsverhältnis zwischen der Intensität gerichtlicher Kon­ trolle und den diskretionären Spielräumen der Geschäftsleiter besteht in Fällen, in denen der Vorstand Leistungen erbringt, zu denen er nicht (gesetzlich oder vertraglich) verpflichtet ist. Als solche freiwilligen Leistungen können zunächst Kulanzleistungen oder ein Verzicht auf die Anspruchsdurchsetzung gegenüber einem Gesellschaftsschuldner qualifiziert werden.190 Auch der Verzicht auf aggressive Steuergestaltungen ist eine Maßnahme, die gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben ist.191 Der Schwerpunkt der Diskussion um diskretionäre Spielräume des Vorstands, die im Folgenden vertieft werden soll, liegt auf Sozialaufwendungen, die unter dem Stichwort „Corporate Social Responsibility“ zusammengefasst werden. Hierzu zählen etwa überobligatorische Umweltschutzmaßnahmen,192 Kultur- und Sportsponsoring, Gründung von Stiftungen, Vergabe von Stipendien oder Parteispenden.193 189 Zur Ausdifferenzierung der Kontrollintensität bei Interessenkonflikten s. §  9 IV 3. Zur Interessenabwägung im Einzelnen Seibt, 10 Jahre WpÜG, S. 148, 172 f. 190 Zum Vorstandsermessen bei Gewährung von Kulanzleistungen Wiersch NZG 2013, 1206, 1207 ff. Für Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beim Verzicht auf Ansprüche gegen Arbeitnehmer im Rahmen von Amnestieprogrammen Eufinger GWR 2018, 267, 268. 191 Zur steuerrechtlichen Pflichtenlage s. nur Schrage, Steuergestaltungen, S. 32 ff. 192 Die folgenden Ausführungen befassen sich nicht mit der Befolgung zwingender Vorgaben, die etwa im Umweltrecht bestehen. Kommt der Vorstand solchen Pflichten nach, fördert er zwar auch das Gemeinwohl, seine Tätigkeit ist aber nicht freiwillig. Die Umsetzung der Umweltschutzvorschriften unterliegt grundsätzlich der vollen gerichtlichen Kontrolle, es sei denn, eine Regelung räumt dem Vorstand einen Beurteilungsspielraum ein (s. dazu § 8 II 5 und § 9 III). 193 Ausf. etwa Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35; Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 105 ff. Beispiele aus der Unternehmenslandschaft bei J. Vetter ZGR 2018, 338, 339 f. 419

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Solche Maßnahmen sind im Hinblick auf die gerichtliche Kontrolldichte problematisch, weil sie in der Regel in einem Spannungsverhältnis mit dem Gesellschaftszweck stehen. In einer typischen Aktiengesellschaft steht die Gewinnerzielung im Vordergrund,194 was sich nur schwer mit dem Umstand vereinbaren lässt, dass der Vorstand aus freien Stücken das Gesellschaftsvermögen für karitative Zwecke aufwendet oder darauf verzichtet, Ansprüche der Gesellschaft geltend zu machen und damit das Gesellschaftsvermögen zu vermehren.195 Auch im Hinblick auf den Unternehmensgegenstand  – also das Mittel, mit dem der Gesellschaftszweck verfolgt wird196 – sind freiwillige Leistungen des Vorstands nicht unproblematisch.197 Die Satzung wird nur selten vorsehen, dass der Vorstand zu karitativen Maßnahmen befugt ist.198 Vor diesem Hintergrund spricht viel dafür, die richterliche Prüfungsdichte zu intensivieren, um die Gesellschaft und ihre Aktionäre vor freiwilligen Leistungen des Vorstands zu schützen, die nicht dem Gesellschaftswohl entsprechen. Eine engmaschige gerichtliche Kontrolle kann dazu dienen, Maßnahmen zu unterbinden, die nicht vom Gesellschaftszweck oder vom Unternehmensgegenstand gedeckt sind. 2. Unternehmerischer Charakter sozialer Aktivitäten Trotz des Spannungsverhältnisses zwischen freiwilligen Leistungen einerseits und dem typischerweise auf Gewinnerzielung ausgerichteten Gesellschaftszweck andererseits räumt die ganz herrschende Ansicht dem Vorstand, der im Sinne der „Corporate Social Responsibility“ soziale Aufwendungen199 tätigt,

194 S.  Hüffer/J. Koch AktG §  23 Rn.  22; Lübke, FS Müller-Graff, S.  266, 267; J. Vetter ZGR 2018, 338, 347. 195 Zu diesem Spannungsverhältnis J. Vetter ZGR 2018, 338, 344. 196 Zur Mittel-Zweck-Relation zwischen Unternehmensgegenstand und Gesellschaftszweck Hüffer/J. Koch AktG § 23 Rn. 22. 197 Aufs. dazu Stingl, Verantwortung, S. 508 ff. 198 J. Vetter ZGR 2018, 338, 371: Es sei nicht üblich, dass Aktionäre den Vorstand in der Satzung zur Durchführung gemeinnütziger Aktivitäten ermächtigen; so auch Mülbert AG 2009, 766, 772. Eine solche Satzungsbestimmung ist nach zutr. hM zulässig, s. nur Fleischer AG 2017, 509, 514; Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 111. 199 Als eine solche soziale Aufwendung kann auch die Vermeidung aggressiver Steuergestaltungen verstanden werden. Statt auf die Profitmaximierung setzt der Vorstand auf die Unterstützung der Staatskasse, was mittelbar dem Gemeinwohl zugute kommt. 420

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ein Leitungsermessen ein.200 Dieser Auffassung ist insbesondere dann zu folgen, wenn man dem Aktienrecht eine interessenpluralistische Zielkonzeption zugrunde legt. Muss der Vorstand zwischen den Interessen der Aktionäre, Arbeitnehmer, Gläubiger, Kunden und des Gemeinwohls abwägen,201 versteht sich von selbst, dass er im Rahmen der Abwägung zu dem Schluss kommen darf, auf die kurzfristigen Gewinnerwartungen der Aktionäre keine Rücksicht zu nehmen und stattdessen die Allgemeinwohlbelange zu verfolgen.202 Aber auch wenn man im Sinne des (moderaten) shareholder-value-Konzepts den Vorstand für verpflichtet hält, in erster Linie die Interessen der Aktionäre im Blick zu behalten, können karitative Aufwendungen des Vorstands vom Leitungsermessen gedeckt sein, weil sie dabei helfen, den Rückhalt des Unternehmens in seinem Umfeld zu stärken.203 Will man die Auswirkungen des Leitungsermessens auf die gerichtliche Kon­ trolle karitativer Vorstandsmaßnahmen bestimmen, sticht zunächst ins Auge, dass sich einige Autoren damit begnügen, auf §  76 Abs.  1 AktG zu verweisen;204 manche verzichten gar auf eine normative Verankerung der Handlungsspielräume.205 Statt sich mit dogmatischen Grundlagen des Ermessens zu befassen, gehen die Stellungnahmen auf die Ermessensgrenzen ein, die der Vorstand bei der Verfolgung sozialer Ziele beachten muss. Die Maßnahme müsse der Leistungsfähigkeit des Unternehmens sowie seiner sozialen und gesamtwirtschaftlichen Rolle entsprechen.206 Der wirtschaftliche Vorteil müsse zwar nicht über den Kosten liegen,207 der aufgewendete Betrag müsse aber der Größe und der finanziellen Situation der Gesellschaft angemessen sein, was insbesondere bei schwieriger Ertragslage problematisch sein könne.208 Auch 200 BGHSt 47, 187, 192 = NJW 2002, 1585 (weiter Handlungsspielraum – der 1. Straf­ senat lehnte sich an das ARAG/Garmenbeck-Urteil an); Fleischer in BeckOGK AktG § 76 Rn. 50 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35a f.; Spindler in MüKoAktG § 93 Rn. 71. 201 Dazu bereits in § 8 I 1. 202 Dazu ausf. J. Vetter ZGR 2018, 338, 344 ff. 203 Zutr. Fleischer in BeckOGK AktG § 76 Rn. 53; Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.103. 204 So Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 106 ff. 205 Vgl. etwa Seyfarth VorstandsR § 8 Rn. 19 ff. 206 BGHSt 47, 187, 193 ff. = NJW 2002, 1585; Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35a; Götze/ Bicker in HdB Managerhaftung Rn.  30.104; Müller-Michaels/Ringel AG 2011, 101, 109 f.; J. Vetter ZGR 2018, 338, 370. 207 Strenger aber Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn.  30.91; Mülbert AG 2009, 766, 772 f.: CSR-Aktivitäten müssten sich betriebswirtschaftlich auszahlen. 208 Vgl. Fleischer in BeckOGK AktG § 76 Rn. 55; Hölters AktG § 93 Rn. 164; Spindler in MüKoAktG § 76 Rn. 108, § 93 Rn. 83. 421

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sei die Nähe zum Unternehmensgegenstand relevant.209 Außerdem sei es in der Regel erforderlich, dass die Gesellschaft als Unterstützer nach außen erkennbar sei.210 Sind die Maßnahmen eines – an sich einzelgeschäftsführungsbefugten – Geschäftsleiters durch persönliche Motive beeinflusst, fordert das Schrifttum eine Entscheidung des Gesamtvorstands bzw. die Unterrichtung des Aufsichtsrats.211 Diese Umschreibungen der Ermessensgrenzen sind im Ergebnis weitgehend überzeugend, aber dogmatisch oft nicht untermauert. Um die Intensität der gerichtlichen Kontrolle bei sozialen Aktivitäten zu bestimmen, steht im Ausgangspunkt die Erkenntnis, dass karitative Maßnahmen des Vorstands als unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu qualifizieren sind.212 Das Gesetz gibt dem Vorstand keine klaren Anweisungen für die Befolgung karitativer Zwecke, so dass der Vorstand im Einzelfall zwischen den betroffenen Interessen abwägen muss; er wird also final gesteuert. Formuliert das Gesetz konkrete Vorgaben – wie etwa in § 25 Abs. 2 PartG, der manche Parteispenden für unzulässig erklärt213 – sind dem Ermessen zwar punktuelle Grenzen gesetzt, was aber nichts an der finalen Programmierung des Vorstandshandelns ändert. Überdies spricht der Adäquanzgedanke für die Anwendung der Business Judgment Rule. Im Gerichtssaal kann man die Frage, ob ein Unternehmen sich sozial engagieren soll, nicht besser beantworten als in den Vorstandsetagen. Sind die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, unterliegen die sozialen Aktivitäten des Vorstands lediglich einer Evidenzkontrolle. Maßgeblich ist, ob die Entscheidung des Vorstands für eine soziale Aufwendung völlig

209 Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.104; Seibt DB 2015, 171, 177; J. Vetter ZGR 2018, 338, 369. 210 Stingl, Verantwortung, S. 512; Mülbert AG 2009, 766, 773. Großzügiger wohl Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35b; Seyfarth VorstandsR § 8 Rn. 20. 211 Fleischer in BeckOGK AktG §  76 Rn.  48; Hölters AktG §  93 Rn.  163; Spindler in MüKo­AktG § 76 Rn. 108.  212 Für die Anwendung der BJR Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.84 Fn. 5; Stingl, Verantwortung, S. 505 Fn. 1937; Bachmann ZGR 2018, 231, 237; Lübke, FS Müller-Graff, S. 266, 272; Mülbert AG 2009, 766, 772; Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S.  105, 114  ff.; Seibt DB 2015, 171, 175  f.; Simons ZGR 2018, 316, 323  f.; J. Vetter ZGR 2018, 338, 354, 367. Speziell zu aggressiven Steuergestaltungen Schrage, Steuergestaltungen, S. 198 ff. 213 Zum Vorstandsermessen bei Parteispenden Fleischer AG 2017, 509, 523; J. Hahn AG 2018, 472, 477. 422

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unverantwortlich ist.214 Die karitativen Maßnahmen überschreiten erst dann die Ermessensgrenzen, wenn offensichtlich ist, dass sie mit unverhältnismäßig hohen Kosten verbunden sind, der Gesellschaft aber keinerlei Nutzen bringen.215 Legt man einen so großzügigen Maßstab zugrunde, muss der Vorstand etwa nicht centgenau beweisen, dass die wirtschaftlichen Vorteile, die eine soziale Aktivität nach sich zieht, ihre Kosten übersteigen. Vielmehr reicht es aus, wenn der Vorstand abstrakt den sozialen Nutzen der Maßnahme belegt.216 Außerdem ist es nicht erforderlich, dass die Öffentlichkeit von der sozialen Tätigkeit des Unternehmens erfährt; auch stilles Mäzenatentum kann im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegen.217 Dieser weite Spielraum setzt allerdings voraus, dass die Geschäftsleiter hinreichend informiert218 und nicht von Sonderinteressen beeinflusst sind. Insbesondere die Interessenkonflikte der Vorstandsmitglieder können im Bereich der Corporate Social Responsibility dazu führen, dass die Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte nicht in Betracht kommt.219 So kann es vorkommen, dass ein Vorstandsmitglied einer politischen Partei angehört, die mit einer Unternehmensspende bedacht werden soll. In einer solchen Situation ist die Gefahr einer Interessenverquickung zu groß, als dass man die Intensität der richterlichen Kontrolle auf das Niveau der Business Judgment Rule lockert. Zu denken ist auch an Fälle, in denen nahestehende Personen der Geschäftsleiter (mittelbar) von einer sozialen Aktivität des Unternehmens profitieren. Sind Kinder eines Geschäftsleiters in einem Sportverein aktiv, besteht das Ri-

214 Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 105, 116 f. Dieselben großzügigen Maßstäbe gelten für den umgekehrten Fall, in dem der Vorstand nach Profit strebt und die sozial erwünschten Ziele vernachlässigt. Die im Schrifttum erwogene Ermessensreduzierung auf Null (Seibt DB 2015, 171, 175; Simons ZGR 2018, 316, 323) wird nur dann in Betracht kommen, wenn die Missachtung der Gemeinwohlbelange völlig unverantwortlich ist, etwa weil es auf der Hand liegt, dass sie zum Einbruch der Kundenzahl führt, der das Unternehmen in eine wirtschaftliche Schieflage bringt. 215 Ausf. Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S.  105, 116  f.; Simons ZGR 2018, 316, 332.  Strenger aber augenscheinlich Stingl, Verantwortung, S.  506  f.: Angemessenheit. 216 In diese Richtung Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35a; Simons ZGR 2018, 316, 323 f., 329 ff.; J. Vetter ZGR 2018, 338, 345 ff. So wohl auch Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.102 (trotz der restriktiven Tendenz in Rn. 30.91). Strenger Mülbert AG 2009, 766, 773; Seibt DB 2015, 171, 177. 217 Zutr. J. Vetter ZGR 2018, 338, 368. 218 Zur Informationsgrundlage bei CSR-Maßnahmen etwa Mülbert AG 2009, 766, 773; Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 105, 115 f. 219 S. Bachmann ZGR 2018, 231, 237; Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 105, 116. 423

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siko, dass eine etwaige Spende an den Verein nicht nur im Unternehmensinteresse liegt, was eine intensivere gerichtliche Kontrolle rechtfertigt. Im Schrifttum wird erwogen, ob ein befangenes Vorstandsmitglied die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte durch die Offenlegung des Interessenkonflikts aufrechterhalten kann.220 Dies kommt – wie bereits in § 8 IV 6 erläutert – nicht in Betracht. Auch die Einbeziehung des Gesamtvorstands öffnet nicht das Tor zum sicheren Hafen der Business Judgment Rule. Legt ein befangener Geschäftsleiter seine Sonderinteressen offen und wirkt er an der kari­ tativen Maßnahme mit, riskieren die übrigen Vorstandsmitglieder, dass sie durch den Interessenkonflikt infiziert werden.221 Will der Vorstand die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG in Anspruch nehmen, muss sich das befangene Mitglied aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen. Freilich ist damit nicht gesagt, dass die Gerichte zu einer vollen Kontrolle befugt sind, wenn die Geschäftsleiter von Sonderinteressen beeinflusst sind. Sind die Interessenkonflikte nicht gravierend, kann eine bloße Vertretbarkeitskontrolle angezeigt sein.222 3. Auswirkungen der CSR-Reporting-Pflichten Die vorstehend skizzierten Maßstäbe gelten auch nach der Einführung der CSR-Berichtspflichten in §§ 289b ff., 315b f. HGB, die für kapitalmarktorientierte Großunternehmen gelten223 und für deren Erfüllung der Vorstand nach § 91 Abs. 1 AktG zuständig ist.224 Zwar wird im Schrifttum vertreten, dass die bilanzrechtlichen Vorgaben an Großunternehmen, über die nichtfinanziellen Ziele und ihre Verwirklichung im Lagebericht zu informieren, dergestalt auf die Verhaltenspflichten der Gesellschaftsorgane ausstrahlen würden, dass die Organe nunmehr zum sozialen Engagement verpflichtet seien.225 Für eine sol220 So augenscheinlich Bachmann ZGR 2018, 231, 237. Jedenfalls begründet die fehlende Offenlegung eine Treuepflichtverletzung, s. schon in § 7 V 5 b Fn. 148. 221 Hierzu schon § 8 V 3 b. 222 S. dazu bereits in § 9 IV 3. 223 Zum Anwendungsbereich der §§ 289b ff., 315b f. HGB statt vieler Mock ZIP 2017, 1195, 1197. 224 Zur Zuständigkeit des Vorstands für die CSR-Berichterstattung s. nur Bachmann ZGR 2018, 231, 235. 225 So etwa Hommelhoff, FS Hoyningen-Huene, S. 137, 144; ders., FS Kübler, S. 291, 298; ähnlich Lübke, FS  Müller-Graff, S.  266, 272.  Zurückhaltend, aber mit einer ähnlichen Tendenz Spießhofer VGR 2016, S. 61, 69 ff. Für eine „Bemühenspflicht“ Roth-­ Mingram, Corporate Social Responsibility, S.  270  f.; dies. NZG 2015, 1341, 1344; Weller/Kaller/Schulz AcP 216 (2016), 387, 411. 424

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che Ausstrahlungswirkung bloßer Reportingpflichten fehlt indes eine normative Grundlage.226 Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der §§  289b  ff., 315b f. HGB deutlich gemacht, dass er die Geschäftsleiter von Großunternehmen nicht zur Verfolgung gemeinwohlfördernder Ziele verpflichten will.227 Stattdessen setzt er auf andere Wirkungsmechanismen, die Wolfgang Schön treffend als einen marktlichen Ansatz bezeichnet.228 Dies kommt insbeson­dere in § 289c Abs. 4 HGB zum Ausdruck, der im Sinne eines „Comply or explain“-­ Ansatzes229 impliziert, dass die Gesellschaft keine CSR-Konzepte verfolgen muss, in diesem Fall aber verpflichtet ist, ihre Entscheidung zu begründen. Wollte man aus §§ 289b ff., 315b f. HGB eine echte CSR-Pflicht ableiten, hätte § 289c Abs. 4 HGB keinen Anwendungsbereich. Lehnt man mit der hier vertretenen Auffassung eine echte CSR-Pflicht des Vorstands ab, genießt dieser bei der Umsetzung der Reportingpflichten und Verfolgung von sozialen Aktivitäten die Privilegierung der Business Judgment Rule. Der Vorstand muss zwar im Ausgangspunkt nach §§ 289b f., 315b f. HGB Bericht darüber erstatten, ob und inwieweit er CSR-Konzepte verfolgt und zu welchen Ergebnissen seine Konzepte führen. Hinsichtlich des „Ob“ der Berichterstattung ist er gesetzlich gebunden und kann sich nicht auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen. Diese gesetzliche Bindung geht jedoch nicht so weit, dass der Vorstand bei der Ausgestaltung der CSR-Konzepte und Umsetzung karitativer Maßnahmen keine unternehmerischen Entscheidungen trifft. §§ 289b f., 315b f. HGB formulieren insoweit keine inhaltlichen Vorgaben, so dass es dem Vorstand obliegt, die Einzelheiten der CSR-Strategie zu erarbeiten. Dabei ist er allein an die final formulierten § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG gebunden. Die CSR-Konzepte müssen dem Gesellschaftswohl entsprechen. Ob dies der 226 Zutr. die ganz hM, s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 76 Rn. 35d; Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.92 ff.; Hell, Offenlegung, S. 259 ff.; Schrage, Steuergestaltungen, S. 112; Bachmann ZGR 2018, 231, 233 ff.; Fleischer AG 2017, 509, 522; Nietsch NZG 2016, 1330, 1334; Paefgen, FS Seibert, S. 629, 649 ff.; Schön ZHR 180 (2016), 279, 284  ff.; Thomale/Hübner JZ 2017, 385, 388, 395 (die aber nebulös von einer „Deklarationshaftung“ sprechen, was eine rechtliche Bindung impliziert); J.  Vetter ZGR 2018, 338, 343, 354 ff. 227 Diskussionswürdig ist allerdings die Frage, ob und inwieweit das Unternehmen sich selbst bindet, wenn es die Verfolgung von karitativen Zwecken im CSR-Bericht in Aussicht stellt. Gegen eine solche Bindung spricht sich die hM derzeit aus, s. etwa Kapoor, Corporate Social Responsibility, S. 319 ff.; Bachmann ZGR 2018, 231, 234 f.; Mock ZIP 2017, 1195, 1196. 228 Schön ZHR 180 (2016), 279, 285. 229 Zum „Comply-or-explain“-Charakter der CSR-Reportingpflichten Götze/Bicker in HdB Managerhaftung Rn. 30.100. Gegen eine solche Qualifizierung aber etwa Mock ZIP 2017, 1195, 1196. 425

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Fall ist, unterliegt unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG lediglich der gerichtlichen Evidenzkontrolle; auch im Anwendungsbereich der §§ 289b ff., 315b f. HGB gilt also das in § 11 IV 2 a Gesagte. Allerdings wirken sich §§ 289b ff., 315b f. HGB in zweierlei Hinsicht auf die Intensität der gerichtlichen Kontrolle der CSR-Maßnahmen aus. Auf der einen Seite wird es einem Gericht schwer fallen, soziale Aktivitäten des Vorstands in den Bereichen, die im Katalog des § 289c Abs. 2 HGB aufgelistet sind, als völlig unverantwortlich zu beanstanden.230 Aus einer solchen Perspektive erweitern §§ 289b ff., 315b f. HGB die Gestaltungsspielräume der Geschäftsleiter. Geht es um Umweltbelange, Arbeitnehmerbelange, Sozialbelange, die Achtung der Menschenrechte und die Bekämpfung von Korruption und Bestechung, kann sich der Vorstand bei der Umsetzung seiner CSR-Strategie auf die Autorität des Gesetzgebers berufen, wenn er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, die Gewinninteressen zugunsten karitativer Maßnahmen vernachlässigt zu haben. Auf der anderen Seite können die Berichtspflichten die Spielräume des Vorstands begrenzen. Stellt der Vorstand in der nichtfinanziellen Erklärung eine bestimmte CSR-Strategie in Aussicht und kommt er seinem Versprechen nicht nach, kann sich dies negativ auf die Unternehmensreputation auswirken. Die möglichen Reputationsverluste muss der Vorstand in die Abwägung zwischen der Förderung von Gemeinwohlbelangen und Verfolgung sonstiger Interessen einstellen. Dieser zusätzliche Aspekt kann zu einer Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle führen. Setzen sich die Geschäftsleiter nicht tiefgründig ­genug mit den Folgen auseinander, die mit dem gebrochenen Versprechen einhergehen, kann es einem Gericht leichter fallen, ihnen ein völlig unverant­ wortliches Handeln zu attestieren.231 4. Umgang mit nachteiligen Angaben im CSR-Reporting (§ 289e HGB) Im vorstehenden Abschnitt wurde erwähnt, dass der Vorstand hinsichtlich des „Ob“ des CSR-Reportings gebunden ist. Diese Pflicht wird in §  289e Abs.  1 HGB relativiert. § 289e Abs. 1 HGB gewährt dem Vorstand die Option, in der nichtfinanziellen Erklärung Angaben wegzulassen, die nach vernünftiger kaufmännischer Beurteilung geeignet sind, der Gesellschaft einen erheblichen 230 Zutr. J. Vetter ZGR 2018, 338, 369. 231 Auf diese Folgen des CSR-Reportings weist etwa Bachmann ZGR 2018, 231, 235, 237  f. hin. S.  ferner Hell, Offenlegung, S.  164; Lübke, FS Müller-Graff, S.  266, 272. Zurückhaltend aber Paefgen, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 105, 114 Fn. 61. 426

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Corporate Social Responsibility

Nachteil zuzufügen (Nr. 1), und die nicht zwingend erforderlich sind, um die Lage der Gesellschaft nachzuvollziehen (Nr. 2). Im Hinblick auf den Wortlaut des § 289e Abs. 1 Nr. 1 HGB, der – ähnlich wie § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – auf eine „vernünftige kaufmännische Beurteilung“ abstellt, will das Schrifttum auf die Entscheidung des Vorstands über das Weglassen nachteiliger Angaben die Business Judgment Rule anwenden.232 Für diese Auffassung lässt sich überdies anführen, dass § 289e Abs. 1 HGB dem Geheimnisschutz dient233 und dadurch eine systematische Nähe zur Verschwiegenheitspflicht aus § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG aufweist, auf den die Business Judgment Rule anwendbar ist.234 Dies deutet darauf hin, dass die richterliche Prüfungsdichte bei § 289e Abs. 1 HGB nach den in § 11 II 4 erläuterten Grundsätzen zu bestimmen ist. Gleichwohl reichen das Wortlautargument und die systematische Nähe zwischen § 289e Abs. 1 HGB und § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG nicht aus, um die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle zu begründen. So ist im Rahmen der grammatikalischen Auslegung zu beachten, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff „vernünftig“ im bilanzrechtlichen Kontext andere Ziele verfolgen kann als in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG; ein Gleichlauf zwischen § 289e Abs. 1 HGB und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist also nicht zwingend erforderlich. Außerdem handelt es sich bei § 289e Abs. 1 HGB um eine Konditionalnorm, was darauf hindeutet, dass dem Vorstand kein unternehmerisches Ermessen zustehen soll. Neben der Normstruktur sprechen historisch-teleologische Erwägungen gegen die Anwendung der Business Judgment Rule. Ausweislich der Gesetzesmaterialien wollte der Gesetzgeber mit §  289e HGB eine enge Ausnahme­ vorschrift schaffen.235 Diese Zielsetzung wäre konterkariert, wenn man die Entscheidung des Vorstands, die Option des § 289e Abs. 1 HGB auszuüben, lediglich einer gerichtlichen Evidenzkontrolle unterwerfen wollte. Insoweit trägt eine intensivere richterliche Kontrolle dem Ausnahmecharakter des § 289e HGB besser Rechnung. Auch der Informationszweck der nichtfinanziellen Erklärung spricht  – wie bei anderen bilanzrechtlichen Regelungen236  – gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf § 289e Abs. 1 HGB.

232 Bachmann ZGR 2018, 231, 237; Mock ZIP 2017, 1195, 1200. 233 S. Bachmann ZGR 2018, 231, 237. 234 S. dazu im Kontext der Due Diligence-Prüfung in § 11 II 4. 235 RegBegr CSR-RL-UmsetzungsG BT-Drucks. 18/9982, S. 53. 236 Zu den Zwecken des Bilanzrechts s. noch in § 22 II 2. Speziell im Kontext der CSR Hüttemann AG 2009, 774, 775. 427

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Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Vorstandsaufgaben

Auch wenn sich der Vorstand im Rahmen des § 289e Abs. 1 HGB nicht auf die Business Judgment Rule berufen kann, ist damit noch nicht gesagt, dass seine Entscheidung über das Weglassen negativer Angaben im CSR-Bericht einer vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Da § 289e Abs. 1 HGB auf die kaufmännische – und nicht die rechtliche – Beurteilung abstellt, legt der Adäquanzgedanke nahe, dass dem Vorstand auf der Tatbestandsebene ein begrenzter diskretionärer Spielraum zusteht. Dieser Spielraum führt in Anlehnung an den normativ-subjektiven Fehlerbegriff des Bilanzrechts237 dazu, dass die Vorstandsentscheidung einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle unterliegt, deren Intensität höher ist als im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.238 Überdies ist zu beachten, dass § 289e Abs. 1 AktG dem Vorstand eine Option einräumt, was für eine Lockerung der gerichtlichen Kontrolle auf der Rechtsfolgenseite spricht. Sind die Voraussetzungen des §  289 Abs.  1 AktG erfüllt, genießen die Geschäftsleiter ein Rechtsfolgenermessen239 hinsichtlich der Frage, ob sie die negativen Angaben in die nichtfinanzielle Erklärung aufnehmen.

237 Dazu noch in § 22 II 2 und 3. 238 Hierzu in § 9 III 2; zu den Beurteilungsspielräumen im Bilanzrecht s. noch § 22 II. 239 S. bereits in § 9 III 3. 428

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§ 12 Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer I. Anknüpfungspunkte für die Kontrolle der GmbHGeschäftsführer Die Untersuchung der richterlichen Prüfungsdichte hinsichtlich der Maßnahmen des AG-Vorstands begann mit der Feststellung, dass der Vorstand in einem endlosen Spagat zwischen der Leitungsautonomie als verbandsrechtlicher Ausprägung der Privatautonomie einerseits und der Pflichtenbindung andererseits steht, was besonders deutlich in §  76 Abs.  1 AktG und in §  93 Abs. 1 Satz 1 und 2 AktG zum Ausdruck kommt.1 Will man die Intensität der gerichtlichen Kontrolle hinsichtlich der Maßnahmen eines GmbH-Geschäftsführers vermessen, ist ein solcher Ausgangsbefund nicht möglich, weil das GmbH-Recht keine Normen kennt, die wie § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 AktG eine janusköpfige Struktur dergestalt aufweisen, dass sie den Geschäftsführer binden und ihm zugleich Bewegungsfreiheit gewähren. Das GmbH-Gesetz räumt dem Geschäftsführer nämlich an keiner Stelle ausdrücklich die Leitungsautonomie ein. Vielmehr zeigt § 37 Abs. 1 GmbHG, dass es in erster Linie den Gesellschaftern als „Herren der GmbH“2 obliegt, über die unternehmerische Ausrichtung der GmbH zu bestimmen. Werden die Geschäftsführer adressiert, betont das Gesetz vornehmlich ihre Pflichten, die an vielen Stellen mit dem aktienrechtlichen Regelungsfundus vergleichbar sind.3 So müssen die Geschäftsführer nach §  43 Abs.  1 GmbHG, dessen Formu­ lierung an § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG erinnert, in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes anwenden; hierzu gehört namentlich die Einhaltung der Legalitätspflicht und Legalitätskontroll1 Zu § 76 Abs. 1 AktG s. § 7 I, zu § 93 Abs. 1 AktG s. § 7 IV 2. 2 Die Formulierung geht auf Peter Hommelhoff zurück, der aber selbst diese Einordnung für nicht überzeugend hält (s. Hommelhoff ZGR 1978, 119, 128 ff.). 3 Anders als das Aktienrecht, das zwischen dem Gesamtvorstand und Vorstandsmitglieder unterscheidet (s. § 7 II und III), differenziert das GmbH-Gesetz nicht deutlich zwischen den Pflichten des Gesamtorgans und der einzelnen Geschäftsführer. Dennoch gilt das in §  7 II und III Gesagte entsprechend: Sind alle Geschäftsführer gesamtgeschäftsführungsbefugt, was dem Regelfall entspricht (s. Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 78 ff. – Analogie zu § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG), muss jeder von ihnen darauf hinwirken, dass organschaftliche Pflichten eingehalten werden. Fassen die Geschäftsführer einen Beschluss, ist dieser rechtswidrig, wenn der Beschlussinhalt nicht dem Wohl der Gesellschaft entspricht oder wenn er auf eine Treuepflichtverletzung abzielt. 429

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

pflicht.4 Daneben tritt die ungeschriebene organschaftliche Treuepflicht, aus der insbesondere hergeleitet wird, dass die Geschäftsführer zur Verschwiegenheit verpflichtet sind und einem Wettbewerbsverbot unterliegen.5 Diese Generalklauseln werden durch zahlreiche Normen flankiert, die die Geschäftsführerpflichten konkreter fassen. Hierzu zählt zunächst der bereits genannte § 37 Abs.  1 GmbHG, der eine Bindung der Geschäftsführer an die Satzung und Gesellschafterbeschlüsse statuiert.6 Außerdem müssen die Geschäftsführer nach § 41 GmbHG die Bücher der Gesellschaft führen,7 nach § 49 Abs. 1, 2 GmbHG die Gesellschafterversammlungen einberufen und vorbereiten,8 nach § 51a GmbHG den Gesellschaftern Auskünfte erteilen und Einsichtnahme in Bücher und Schriften der Gesellschaft ermöglichen,9 nach §§  30, 43 Abs.  3 GmbHG die Kapitalerhaltungsvorgaben beachten und die Pflichten in Krise und Insolvenz der GmbH einhalten (s. § 49 Abs. 3, § 64 GmbHG).10 Schließlich müssen sie nach § 54 Abs. 1, § 57 Abs. 1 GmbHG die Satzungsänderungen und Kapitalerhöhungen zur Eintragung in das Handelsregister anmelden, obwohl sich ihre Zuständigkeit – anders als in § 181 Abs. 1 Satz 1, § 184 Abs. 1 Satz 1 AktG – nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt.11

4 Zur Legalitätspflicht statt vieler Fleischer in MüKoGmbHG § 43 Rn. 21 ff.; zur Legalitätskontrollpflicht (Compliance-Pflicht) H. Diekmann in MHdB GesR III §  45 Rn. 84 ff.; Kort GmbHR 2013, 566, 568 ff. Eine Pflicht zur Einrichtung eines Risiko­ früherkennungssystem (§ 91 Abs. 2 AktG) trifft die Geschäftsführer allerdings nicht, s. Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 17; Paefgen WM 2016, 433, 438. 5 Insoweit gilt im GmbH-Recht im Wesentlichen dasselbe, was in §§  88, 93 Abs.  1 Satz  3 AktG ausdrücklich vorgesehen ist, s. nur Fleischer in MüKoGmbHG §  43 Rn. 199 ff., 213. Die in § 89 AktG formulierten Vorgaben an die Kreditgewährung an Vorstandsmitglieder gelten im GmbH-Recht nach §  43a GmbHG nur in eingeschränkter Form. 6 Diese Vorgabe ist mit § 82 Abs. 2 AktG vergleichbar. 7 Statt vieler H. Diekmann in MHdB GesR III §  45 Rn.  7  ff. S.  im Aktienrecht §  91 Abs. 1 AktG. 8 Im Aktienrecht s. § 83 Abs. 1, § 121 AktG. 9 Vgl. H. Diekmann in MHdB GesR III § 45 Rn. 31 ff. Die Auskunftspflichten des Vorstands bestehen nach §§  90, 111 Abs.  2 AktG zum einen gegenüber dem AR, zum anderen gem. § 131 AktG gegenüber den Aktionären. 10 Überblick bei H. Diekmann in MHdB GesR III § 45 Rn. 56 ff. 11 S. nur Harbarth im MüKoGmbHG § 54 Rn. 12; Lieder in MüKoGmbHG § 57 Rn. 28. 430

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Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule

II. Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule 1. Stellungnahmen in Rechtsprechung und Schrifttum Der Umstand, dass das GmbH-Gesetz eine mit § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vergleichbare Norm nicht kennt und sich auf die Geschäftsführerpflichten fokussiert, kann zu dem Schluss verleiten, dass die Intensität der gerichtlichen Kontrolle der Geschäftsleitungsmaßnahmen in der GmbH tendenziell hoch ist. Wenn die Geschäftsführer keine Leitungsautonomie genießen und sich nicht auf eine geschriebene Business Judgment Rule berufen können, fehlen gesetzliche Anhaltspunkte für eine Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte. Zu einem solchen Ergebnis gelangt auch in der Tat auf Grund einer ökonomischen Analyse Carsten Jungmann: Die Business Judgment Rule sei ein Instrument, das die Geschäftsleiter zu risikoneutralem Handeln ermuntern solle. Vor diesem Hintergrund sei sie nur in Gesellschaften anwendbar, die von diversifiziert investierenden Kapitalgebern getragen würden, weil nur solche Kapitalgeber ein Interesse an risikoneutralem Geschäftsleiterhandeln hätten. Hätten die Gesellschafter ihr Kapital in nur einer Gesellschaft gebunden, was bei der GmbH der Regelfall sei, seien sie an Risikoneutralität der Geschäftsleiter nicht interessiert. Deshalb sei §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG im GmbH-Recht nicht einschlägig.12 Die herrschende Auffassung will dagegen den Geschäftsführern die Privilegierung der Business Judgment Rule gewähren. Unterschiedlich ist nur der methodische Weg, auf dem die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte im GmbH-Recht begründet wird.13 Der II. Zivilsenat des BGH geht in Fällen aus der Zeit vor dem UMAG, die aber nach 2005 entschieden wurden, auf § 93 Abs.  1 Satz  2 AktG nicht ein und lehnt sich an die ARAG-Grundsätze an.14 Der 3.  Strafsenat neigt hingegen zur analogen Anwendung des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG.15 Die Instanzgerichte stellen zum Teil auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG 12 Jungmann, FS K. Schmidt, 2009, S. 831, 839 ff. 13 Ohne methodische Festlegung Scholz/U.H. Schneider GmbHG § 43 Rn. 54; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 246 ff.; Haese, Unternehmensleitung, S. 95; Kuntz ­GmbHR 2008, 121 ff.; ders. DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 40 f.; Lutter ZIP 2007, 841, 847. 14 BGHZ 197, 304 Rn. 30 = NZG 2013, 1021; BGH NZG 2008, 751 Rn. 11. Allerdings spricht Ingo Drescher, der aktuelle Vorsitzende des II. Zivilsenats, von einer Ausstrahlung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf das GmbH-Recht, s. Drescher, Haftung, Rn. 137. Für die Geltung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im GmbH-Recht auch Strohn/ Simon GmbHR 2010, 1181, 1185. 15 BGHSt 61, 48 Rn. 57 = NJW 2016, 2585 (zum AR-Mitglied einer GmbH). Auf den ARAG-Standard hat der 3.  Strafsenat im Mannesmann/Vodafone-Urteil abgestellt, 431

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

ab,16 zum Teil verweisen sie auf den ARAG-Standard.17 Im Schrifttum überwiegen Stimmen, die eine analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG befürworten und im Rahmen der Analogie die Besonderheiten des GmbH-­ Rechts berücksichtigen wollen.18 Vereinzelt sind auch Autoren anzutreffen, die die ARAG-Grundsätze heranziehen,19 für eine „gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung“ plädieren20 oder die Privilegierung unmittelbar aus § 43 Abs. 1 GmbHG ableiten.21 2. Analogie als das methodische Mittel der Wahl Die besseren Argumente sprechen für eine analoge Anwendung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG. auf den GmbH-Geschäftsführer. Die von manchen Autoren vermisste,22 ausfüllungsbedürftige Regelungslücke folgt schon aus den Gesetzesmaterialien zum UMAG. Der Gesetzgeber hat die Business Judgment Rule zwar nur im Aktienrecht kodifiziert, in der UMAG-Regierungsbegründem aber ein Sachverhalt aus den Jahren 1999/2000 zugrunde lag, s. BGHSt 50, 331, 336 = NJW 2006, 522. 16 So etwa OLG Frankfurt GmbHR 2017, 974, 975 f. 17 OLG München GmbHR 2018, 518, 519 (Sachverhalt aus den Jahren 2013-2015, s. LG München II, Urt. v. 30.6.2017 – 13 O 2376/16); OLG Koblenz GmbHR 2015, 357, 359 (Sachverhalt aus den Jahren 2007/2008); OLG Naumburg ZIP 2014, 1735, 1738 (Sachverhalt aus den Jahren 2011/2012). 18 Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon GmbHG § 43 Rn. 24; Klöhn in Bork/C. Schäfer GmbHG § 43 Rn. 36; Oetker in Henssler/Strohn GesR § 43 GmbHG Rn. 27; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 111, 146 f.; Binz/Sorg GmbH & Co. KG § 9 Rn. 24; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 119 ff.; Fleischer NZG 2011, 521, 524; Hauschka GmbHR 2007, 11, 12; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 325 f. So wohl auch Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 9; Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 43 Rn. 22; Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG § 43 Rn. 105; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 43 Rn. 16, 18; Michalski/Ziemons GmbHG § 43 Rn. 134; Bachmann NZG 2013, 1121, 1123; Bayer GmbHR 2014, 897, 898 f.; Grunewald/Hennrichs, FS Maier-Reimer, S.  147, 149  f.; Kort GmbHR 2013, 566, 572  f.; K. Schmidt, FS Haarmann, S. 194, 202 (Rechtsfortbildung). Speziell für Non-Profit-­ Organisationen Hüttemann/Herzog NPLY 2006, 33, 37 f. 19 Lücke/Simon in Saenger/Inhester GmbHG § 43 Rn. 32. So wohl auch Wicke GmbHG § 43 Rn. 6, der sich in erster Linie auf die Rspr. beruft und § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur beiläufig erwähnt. Unklar Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 43 Rn. 23: entsprechende Geltung der ARAG-Grundsätze, zugleich aber Bezugnahme auf §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Vor Kodifizierung der BJR Lutter GmbHR 2000, 301, 306 ff. 20 So Taube, Business Judgment Rule, S. 224 f. 21 Ph. Scholz AG 2018, 173, 183.  S.  auch Cordes, Compliance-Organisation, S.  102  f.: „für sämtliche Geschäftsleiter geltendes Prinzip“. 22 Vgl. Haese, Unternehmensleitung, S. 95; Taube, Business Judgment Rule, S. 220 ff. 432

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Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule

dung aber festgehalten, dass der Grundgedanke eines Geschäftsleiterermessens im Bereich unternehmerischer Entscheidungen nicht auf den Haftungstatbestand des § 93 AktG und nicht auf die Aktiengesellschaft beschränkt sei, sondern sich auch ohne positivrechtliche Regelung in allen Formen unternehmerischer Betätigung finde. Das für das Aktienrecht gefundene Regelungsmuster könne als Anknüpfungs- und Ausgangspunkt für die weitere Rechtsentwicklung dienen.23 Im Hinblick auf diese Passage fällt es auf den ersten Blick schwer, die Planwidrigkeit dieser Regelungslücke anzunehmen, weil der Gesetzgeber das rechtsformübergreifende Problem des unternehmerischen Ermessens erkannt, aber nur im Aktienrecht geregelt hat. Beschränkt man die Analogie als Rechtsfortbildungsinstrument auf Fälle, in denen der Gesetzgeber eine Regelung übersehen hat, kann § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im GmbH-­ Recht in der Tat nicht entsprechend angewendet werden. Indes ist ein solch enges Verständnis der Analogie nicht angezeigt. Vielmehr ist es auch denkbar, eine Vorschrift entsprechend anzuwenden, wenn der Gesetzgeber ein Problem zwar erkannt hat, sich aber bewusst gegen eine ausdrückliche Regelung entschieden hat. Insbesondere wenn der Gesetzgeber der Praxis und Wissenschaft den Auftrag erteilt hat, einen bestehenden, auf bestimmte Bereiche begrenzten Regelungsfundus fortzuentwickeln, spricht nichts dagegen, auf die Analogie als methodisches Instrument zurückzugreifen. Ist der Rechtsanwender zur Lückenfüllung für den Fall berechtigt, dass der Gesetzgeber eine Norm planwidrig nicht erlassen oder ihren Anwendungsbereich eingegrenzt hat, besteht diese Berechtigung erst recht dann, wenn der Gesetzgeber den Rechtsanwender zur Lückenfüllung auffordert.24 Eine solche Aufforderung ist im Zusammenhang mit der Business Judgment Rule in den soeben zitierten UMAG-Gesetzesmaterialien zu finden.25

23 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12. 24 Zu einer solchen Aufforderung zur Rechtsfortbildung Seibert, Gesetzesmaterialien, S. 111, 121 f. S. ferner Bork BGB AT Rn. 144 aE; Wiedemann NJW 2014, 2407, 2411: Verfassungsrechtlich sei es unbedenklich und sachgerecht, die Gerichtsbarkeit zu ermächtigen, eine Vorschrift oder ein ganzes Gesetz „zu Ende zu denken“. Pointiert auch K. Schmidt, FS Haarmann, S. 193, 199 f.: „Gesetzgebung als positivierte Öffnung für fortwirkendes Case Law, also als Türöffner für weitere Rechtsfortbildung“. 25 So auch St. Fischer, Business Judgment Rule, S.  119  f.; Fleischer NZG 2011, 521, 524. Anders augenscheinlich Scholz AG 2018, 173, 181: Die Analogie zu § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG im GmbH-Recht widerspräche der gesetzgeberischen Intention einer Rechtsentwicklung „ohne positivrechtliche Regelung“ abseits des Aktienrechts. Die UMAG-Regierungsbegründung hält auch Taube, Business Judgment Rule, S.  221  f. für unzureichend, um § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entsprechend anzuwenden. 433

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

Die Analogie zu §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG im GmbH-Recht scheitert zudem nicht am Fehlen einer vergleichbaren Interessenlage. Auch wenn die rechts­ ökonomische Argumentation von Carsten Jungmann an vielen Stellen stichhaltig ist, weil die Risikopräferenzen der Aktionäre und der GmbH-Gesellschafter regelmäßig nicht deckungsgleich sind, geht der pauschale Ausschluss des unternehmerischen Geschäftsführerermessens zu weit. Es wurde bereits andernorts ausführlich erläutert, dass ein GmbH-Geschäftsführer wie ein AG-Vorstand vor der Herausforderung steht, wirtschaftliche Prognoseentscheidungen unter Unsicherheit zu treffen, und dabei der Gefahr eines richterlichen Rückschaufehlers ausgesetzt ist.26 Außerdem ist die Tätigkeit der Geschäftsführer gleichermaßen durch final strukturierte Normen wie § 43 Abs. 1 GmbHG oder die organschaftliche Treuepflicht gesteuert, was ebenfalls für eine Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte nach dem aktienrechtlichen Modell spricht. Überdies ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber inzwischen gezeigt hat, dass die Business Judgment Rule kein Spezifikum des Aktienrechts ist, indem er die genossenschaftsrechtliche Business Judgment Rule in § 34 Abs. 1 Satz 2 GenG kodifiziert hat.27 Obwohl die Mitglieder einer Genossenschaft nicht als diversifiziert investierende Anleger qualifiziert werden können, die wie Aktionäre ihre Risiken breit streuen können und deshalb an einer risikoneutralen Tätigkeit des Vorstands interessiert sind, hat der Gesetzgeber den Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 2 GenG an das aktienrechtliche Vorbild in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG angelehnt. Zugleich hat er in den Gesetzesmaterialien bekräftigt, dass die Ausführungen in der UMAG-Regierungsbegründung zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen der Business Judgment Rule auf die Genossenschaft übertragbar sind.28 Die Aussagen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit der Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG und des § 34 Abs. 1 Satz 2 GenG machen deutlich, dass er die Interessenlage in unterschiedlichen Verbandsformen für vergleichbar hält und im Geschäftsleiterermessen ein rechtsformübergreifendes Institut sieht.29 Diese gesetzgeberische Wertung genießt Vorrang vor den rechtsökonomischen Argumenten Jungmanns und erlaubt eine analoge Anwendung des 26 Ausf. Taube, Business Judgment Rule, S. 198 ff.; Fleischer NZG 2011, 521, 523. 27 S.  Art.  1 Nr.  10 lit. a) des Gesetzes zum Bürokratieabbau und zur Förderung der Transparenz bei Genossenschaften, BGBl. I 2017, S. 2434. 28 RegBegr BürokratieabbauG BT-Drucks. 18/11506, S. 28. 29 In diesem Sinne hat schon Karsten Schmidt auf den RefE zum BürokratieabbauG verwiesen, um zu zeigen, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG rechtsformübergreifend angewendet werden kann; s. K. Schmidt, FS Haarmann, S. 193, 201 f. 434

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Einschränkung der Kontrolle durch die Business Judgment Rule

§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf den GmbH-Geschäftsführer.30 Etwaigen Besonderheiten des GmbH-Rechts – namentlich der Risikoaversion der GmbH-Gesellschafter und der Weisungsbindung der Geschäftsführer – ist durch rechtsformspezifische Modifizierungen der Business Judgment Rule Rechnung zu tragen. 3. Dogmatische Einordnung und Auswirkungen der Business Judgment Rule Eine solche rechtsformspezifische Modifizierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist nicht angezeigt, wenn es um die dogmatische Einordnung der Business Judgment Rule geht. Wie im Aktienrecht handelt es sich um eine Regelung, die weder den Verschuldensmaßstab auf die grobe Fahrlässigkeit reduziert noch die Sorgfaltspflichten des Geschäftsführers konkretisiert, sondern die richterliche Prüfungsdichte lockert.31 Folgt man dieser Einordnung, ist das Wohl der Gesellschaft der Referenzpunkt der richterlichen Kontrolle, während die Formulierung „vernünftigerweise ausgehen durfte“ die Kontrollintensität beschreibt. Die Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte ist die Rechtsfolge des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, die eingreift, wenn der Geschäftsleiter eine unternehmerische Entscheidung trifft und dabei vertretbar davon ausgeht, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln, ohne dass er einen Interessenkonflikt erkennen musste.32 Ein Gleichlauf zwischen Aktienrecht und GmbH-Recht besteht auch hinsichtlich der Auswirkungen der Business Judgment Rule auf die Verhaltens- und Willensbildungskontrolle. Zum einen spielt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG insoweit eine Rolle, als es die Haftungsrisiken für den Geschäftsführer begrenzt und die Möglichkeit seiner Abberufung für den Fall einschränkt, dass die Abberufung – abweichend vom gesetzlichen Regelfall in § 38 Abs. 1 GmbHG – eines wichtigen Grundes bedarf (§  38 Abs.  2 GmbHG). Zum anderen schützt die Business Judgment Rule das Ergebnis der organschaftlichen Willensbildung, insbesondere in Fällen der Beschlusskontrolle.33 Auch im Kontext der kollektiven Entscheidungsfindung kann auf die Ausführungen zum Aktienrecht verwiesen werden.34 30 Im Folgenden wird der Verständlichkeit halber nicht mehr gesondert kenntlich gemacht, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog angewendet wird. 31 Ausf. bereits in § 7 V. Die Konkretisierungsthese vertritt im GmbH-Recht etwa Bayer GmbHR 2014, 897, 898. 32 Zu dieser alternativen Lesart des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG s. schon in § 7 V 6 a. 33 Dazu § 7 IV 3. 34 Ausf. in § 8 V. 435

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

III. Unternehmerische Entscheidungen im GmbH-Recht 1. Normstruktur und Adäquanzgedanke als Eingrenzungskriterien Weitere Parallelen zum Aktienrecht bestehen bei der Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Business Judgment Rule, der auch im GmbH-­ Recht durch das Tatbestandsmerkmal der unternehmerischen Entscheidung begrenzt ist. Wie schon in § 8 II 1 und 2 erläutert, fällt es schwer, eine subsumtionsfähige Definition dieses Merkmals zu formulieren. Zudem ist die Ausklammerung der rechtlich gebundenen Entscheidungen aus dem sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule unbefriedigend, weil §  43 Abs. 1 GmbHG die Geschäftsführer zur Sorgfalt verpflichtet und damit zeigt, dass jede Entscheidung des Geschäftsführers gebunden ist; unterschiedlich ist lediglich der Grad der rechtlichen Bindung.35 Vor diesem Hintergrund ist auch im GmbH-Recht auf die Normstruktur und den Adäquanzgedanken abzustellen. Ist der Geschäftsführer durch eine finale Regelung gesteuert, liegt die Lockerung der gerichtlichen Kontrolldichte nach §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG nahe;36 dies gilt auch im Anwendungsbereich der organschaftlichen Treuepflicht.37 Bei einer Konditionalnorm spricht viel gegen die Anwendung der Business Judgment Rule, was auch zu beachten ist, wenn die Norm unbestimmte Rechtsbegriffe enthält.38 Im letztgenannten Fall kann aber der Adäquanzgedanke aufgegriffen werden, um einen tatbestandlichen Beurteilungsspielraum oder ein Rechtsfolgenermessen jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu begründen.39 2. Gesellschafter als Regelungsinstanz im GmbH-Recht Ein Unterschied zum Aktienrecht folgt aus dem Umstand, dass neben den Gesetzgeber eine weitere Instanz tritt, die das Verhalten der Geschäftsleiter lenken kann: die Gesellschafterversammlung. Nach § 37 Abs. 1 GmbHG können die Gesellschafter den Geschäftsführer in der Satzung oder qua Weisung zu einem bestimmten Verhalten verpflichten. Ist die Satzungsvorgabe oder die Weisung konditional formuliert, trifft der Geschäftsführer keine unternehme-

35 Hierzu im aktienrechtlichen Kontext bereits § 8 II mit Nachw. in Fn. 60 und 61. 36 S. § 8 II 3. 37 Ausf. § 8 II 6. 38 § 8 II 5. 39 Dazu § 9 III. 436

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rischen Entscheidungen, wenn er die Vorgaben der Gesellschafter umsetzt.40 Er kann sich nur dann auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen, wenn die Gesellschafter in der Satzung oder einer Weisung lediglich ein Regelungsziel formuliert haben, die Wahl der Mittel aber dem Geschäftsführer überlassen haben. In einem solchen Fall ist die rechtliche Bindung nicht derart stark ausgeprägt, dass eine volle gerichtliche Kontrolle geboten ist. Vielmehr müssen die Gerichte die privatautonome Entscheidung der Gesellschafter respektieren, dem Geschäftsführer bei der Umsetzung ihrer Vorgaben Handlungsspielräume zu belassen.41 Freilich ist es auch denkbar, dass die Satzung oder Weisung zwar die Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versperrt, aber dem Geschäftsführer ungeschriebene Spielräume belässt. In einem solchen Fall gilt für die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte das in § 9 III Gesagte entsprechend. Nach einer weit verbreiteten Auffassung im Schrifttum kann das unternehmerische Ermessen auch dann ausgeschlossen sein, wenn keine Satzungsvorgabe oder Weisung der Gesellschafter die Geschäftsführer zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet. Die Privilegierung der Business Judgment Rule soll nämlich bereits dann entfallen, wenn der Geschäftsführer nach §  49 Abs.  2 GmbHG verpflichtet ist, die Gesellschafterversammlung einzuberufen und den Gesellschaftern eine Maßnahme zur Entscheidung vorzulegen.42 Wann eine solche Vorlagepflicht eingreift, ist im Detail ungeklärt, sie soll aber jedenfalls dann entstehen, wenn der Geschäftsführer mit einem Widerspruch der Gesellschafter rechnen muss,43 wenn das Geschäft mit einem besonderen wirt40 Ganz hM, statt vieler Fleischer in MüKoGmbHG § 43 Rn. 73. Freilich entfaltet eine Weisung nur dann eine weitreichende Bindungswirkung, wenn sie wirksam ist. Zur (fehlenden) Bindung bei nichtigen und anfechtbaren Weisungen s. etwa Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 37 Rn. 38 ff.; Taube, Business Judgment Rule, S. 235 ff. Speziell zu bestandsgefährdenden Weisungen Korch ZGR 2019, 1050, 1066 ff. 41 Ähnlich Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 43 Rn. 35: Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Art und Weise der Pflichterfüllung. S.  ferner Hauschka GmbHR 2007, 11, 13 (Pflichtentscheidung mit Ermessensfreiräumen); Taube, Business Judgment Rule, S. 234 f. 42 Zu § 49 Abs. 2 GmbHG als „Transmissionsriemen“ im Kontext der BJR Fleischer NZG 2011, 521, 525. Für Ausschluss des Ermessens bei vorlagepflichtigen Maßnahmen ferner Oetker in Henssler/Strohn GesR § 43 GmbHG Rn. 28; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 122 ff.; Taube, Business Judgment Rule, S. 229 ff. So wohl auch Klöhn in Bork/C. Schäfer GmbHG § 43 Rn. 38; Lücke/Simon in Saenger/Inhester GmbHG § 37 Rn. 11; Bachmann NZG 2013, 1121, 1123. So wohl auch K. Schmidt, FS Haarmann, S. 193, 202. Für eine Einschränkung der BJR im Hinblick auf die Risikopräferenzen der Gesellschafter Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 146. 43 Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG §  37 Rn.  11; Michalski/Lenz GmbHG § 37 Rn. 15; Liebscher in MüKoGmbHG § 49 Rn. 52; Scholz/U.H. Schneider/​ 437

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schaftlichen Risiko verbunden ist44 und wenn ein Unternehmensteil erworben oder veräußert werden soll.45 Zahlreiche Autoren formulieren allgemeiner und halten die Einberufung einer Gesellschafterversammlung für erforderlich, wenn der Geschäftsführer ein außergewöhnliches Geschäft vornehmen will.46 Die Verwendung des § 49 Abs. 2 GmbHG als Instrument, das die diskretionären Spielräume des Geschäftsführers beschränkt, ist bei vordergründiger Betrachtung überzeugend. Die Vorlagepflicht flankiert die Möglichkeit der Gesellschafter, dem Geschäftsführer etwaige Weisungen zu erteilen und damit seine Handlungsfreiheit zu begrenzen.47 Greift die Business Judgment Rule bei einer konkret gefassten Weisung nicht ein, erscheint es nur konsequent, wenn man dem vorlagepflichtigen Geschäftsführer schon im Vorfeld eines möglichen Gesellschafterbeschlusses die Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG

S.H. Schneider GmbHG § 37 Rn. 20; Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 134; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 123. Die Vorlagepflicht wird bedenklich ausgeweitet, wenn man sie mit einer verbreiteten Auffassung schon für den Fall bejaht, dass der Geschäftsführer an der Billigung durch Gesellschafter zweifeln muss; so Roth/Altmeppen GmbHG §  37 Rn.  20; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG §  49 Rn.  13; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG §  37 Rn.  11; Masuch in Bork/​ C. Schäfer GmbHG § 49 Rn. 9; Schindler in BeckOK GmbHG § 49 Rn. 40 f. Zu Recht zurückhaltend Taube, Business Judgment Rule, S. 233 f. 44 Hüffer/C. Schäfer in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 49 Rn. 21; Michalski/Lenz GmbHG §  37 Rn.  15; Scholz/U.H. Schneider/S.H. Schneider GmbHG §  37 Rn.  19; Schindler in BeckOK GmbHG § 49 Rn. 40; Bachmann NZG 2013, 1121, 1123; Bayer GmbHR 2014, 897, 899; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S.  319, 326.  S.  ferner Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 16. 45 Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG §  37 Rn.  11; Michalski/Lenz GmbHG §  37  Rn.  15; Michalski/Römermann GmbHG §  49 Rn.  91; Scholz/U.H. Schneider/​ S.H. Schneider GmbHG § 37 Rn. 17; Scholz/Seibt GmbHG § 49 Rn. 22; Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 143; Taube, Business Judgment Rule, S. 231 f. 46 Roth/Altmeppen GmbHG § 37 Rn. 22 ff.; Baukelmann in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 37 Rn. 10; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 49 Rn. 13; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 37 Rn. 10 f.; Liebscher in MüKoGmbHG § 49 Rn. 51; Michalski/Römermann GmbHG §  49 Rn.  91; Schindler in BeckOK GmbHG §  49 Rn.  39; Scholz/U.H. Schneider/S.H. Schneider GmbHG §  37 Rn.  15  ff.; Scholz/Seibt GmbHG § 49 Rn. 22; Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 65; St. Fischer, Business Judgment Rule, S.  126  f. Krit. Lücke/Simon in Saenger/Inhester GmbHG §  37 Rn. 20a. Für ein enges Verständnis der außergewöhnlichen Maßnahmen Michalski/ Lenz GmbHG § 37 Rn. 14; Taube, Business Judgment Rule, S. 231 f. Krit. zu solchen Einschränkungen Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG § 37 Rn. 47. 47 Vgl. Liebscher in MüKoGmbHG §  49 Rn.  52; Schindler in BeckOK GmbHG §  49 Rn. 41; Stephan/Tieves in MüKoGmbHG § 37 Rn. 129. 438

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versagt. Anderenfalls wäre der ermessensausschließende Charakter der Weisung konterkariert. Die Stichhaltigkeit dieser Argumentation wird aber zweifelhaft, wenn man die Kommentarliteratur zu § 49 Abs. 2 GmbHG auswertet. Dort stößt man bald auf die Aussage, der Geschäftsführer habe nach pflichtgemäßem Ermessen zu beurteilen, ob die Einberufung einer Gesellschafterversammlung erforderlich sei.48 Dieses Ermessen lässt sich nur schwer mit der Überlegung vereinbaren, vorlagepflichtige Maßnahmen aus dem Anwendungsbereich der Business Judgment Rule auszuklammern. Entweder man gewährt dem Geschäftsführer einen Entscheidungsspielraum bei der Frage, ob er ein Geschäft den Gesellschaftern vorlegt. In einem solchen Fall wäre es konsequent, den Spielraum auf die inhaltliche Beurteilung der Maßnahme zu erstrecken, weil die Entscheidung über die Erforderlichkeit einer Vorlage nur im Hinblick auf die Auswirkungen des geplanten Geschäfts getroffen werden kann. Oder man schränkt das Ermessen des Geschäftsführers ein, was folgerichtig dazu führen sollte, dass dieser keine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Frage genießt, ob er nach § 49 Abs. 2 GmbHG die Gesellschafter mit der Maßnahme befassen muss und somit auch keine Einschätzungsprärogative für die inhaltliche Beurteilung der Maßnahme hat. Bei der Suche nach einer stimmigen Lösung ist zu beachten, dass namentlich in einer personalistisch strukturierten GmbH die Gesellschafter es in der Hand haben, durch eine generelle Satzungsvorgabe oder eine konkrete Weisung das Verhalten der Geschäftsführer zu steuern. Greifen sie nicht auf diese Steuerungsinstrumente zurück, fällt es schwer, die Gerichte nur deshalb zu einer engmaschigen Kontrolle der Geschäftsführerentscheidungen zu ermächtigen, weil der Geschäftsführer im Rahmen der Entscheidungsfindung die Gesellschafter konsultieren sollte. Anders als strikte gesetzliche Vorgaben oder Weisungen, die den Zugang zum sicheren Hafen der Business Judgment Rule versperren, sind die ungeschriebenen Vorlagepflichten nicht konkret genug, um die Bewegungsfreiheit der Geschäftsführer pauschal einzugrenzen. Deshalb sollte die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur dann entfallen, 48 Hillmann in Henssler/Strohn GesR § 49 GmbHG Rn. 9; Hüffer/C. Schäfer in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 49 Rn. 21; Liebscher in MüKoGmbHG § 49 Rn. 48 (der aber in Rn.  51 bei außergewöhnlichen Geschäften für eine grundsätzliche Einbe­ rufungspflicht plädiert); Michalski/Römermann GmbHG §  49 Rn.  83; Schindler in BeckOK GmbHG § 49 Rn. 37; Scholz/Seibt GmbHG § 49 Rn. 20. S. ferner Stephan/ Tieves in MüKoGmbHG §  37 Rn.  64.  Unklar Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S.  319, 326: Geschäftsführer müssten im Rahmen ihres Ermessens prüfen, ob eine Entscheidung so riskant sei, dass eine Gesellschafterbeschluss erforderlich sei. 439

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wenn der Geschäftsführer auf Grundlage deutlich sichtbarer Umstände – wie etwa einer lange geübten Praxis – erkennen muss, dass die Gesellschafter die geplante Maßnahme missbilligen werden. Liegt ein Widerspruch der Gesellschafter nicht auf der Hand, kann man deren Erwartungen auf eine weniger einschneidende Weise schützen als durch den pauschalen Ausschluss der ­Business Judgment Rule.

IV. Bestimmung der Kontrolldichte Um einer Beeinträchtigung des Gesellschafterwillens durch diskretionäre Spielräume der Geschäftsführer vorzubeugen, bietet es sich insbesondere an, den Referenzpunkt und die Intensität der gerichtlichen Kontrolle passgenau zu bestimmen. Dabei ist im Ausgangspunkt maßgeblich, ob der Geschäftsführer vernünftigerweise davon ausgehen durfte, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Das Wohl der Gesellschaft ist aber anders als im Aktienrecht zu ermitteln. Während der AG-Vorstand aufgrund seiner umfassenden Leitungsbefugnis gem. §  76 Abs.  1 AktG berechtigt (und verpflichtet) ist, zwischen den shareholder- und stakeholder-Belangen abzuwägen, ohne dass dem Aktionärs­ interesse ein Vorrang gebührt, muss der GmbH-Geschäftsführer berücksichtigen, dass die GmbH in erster Linie eine Angelegenheit der Gesellschafter ist.49 Dieser Umstand führt dazu, dass die Business Judgment Rule im GmbH-­Recht andere Auswirkungen zeitigt als im Aktienrecht. Das Gericht muss im Rahmen der Abwägungskontrolle verstärkt darauf achten, ob der Geschäftsführer die Interessen der Gesellschafter hinreichend berücksichtigt hat. Schon dieser Umstand führt dazu, dass die Gesellschafterbelange auch dann gewahrt werden, wenn man den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf außergewöhnliche Geschäfte erstreckt. Hinzu kommt, dass die Intensität der richterlichen Kontrolle im Rahmen der Business Judgment Rule variieren kann. Sind die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, unterliegen die Geschäftsführermaßnahmen grundsätzlich einer Evidenzkontrolle. Ein Gericht kann die unternehmerischen Entscheidungen nur dann beanstanden, wenn sie völlig unverantwortlich sind.50 Allerdings wurde schon im Zusammenhang mit bestandsgefährdenden Risiken erläutert, dass ein Gericht ausnahmsweise zu einer Vertretbarkeitskontrolle befugt ist, wenn Gläubigerbelange qualifiziert betroffen sind.51 Mit ähnli49 Zum shareholder-value-Ansatz im GmbH-Recht Taube, Business Judgment Rule, S. 186 ff.; Fleischer GmbHR 2010, 1307, 1308 ff. 50 Ausf. § 8 I 2. Im GmbH-Recht etwa OLG München GmbHR 2018, 518, 519. 51 S. § 8 I 3. 440

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Interessenkonflikte

chen Argumenten kann eine Intensivierung der richterlichen Prüfungsdichte begründet werden, wenn ein Geschäftsleiter Geschäfte vornimmt, die für die GmbH-Gesellschafter von besonderem Interesse sind. Muss der Geschäftsführer damit rechnen, dass eine Entscheidung nicht dem Willen und den Risikopräferenzen der Gesellschafter entspricht, ist es angezeigt, das Kontrollniveau anzuheben. Der Geschäftsführer kann also entscheiden, ob er eigenverantwortlich eine Entscheidung trifft und dabei eine gerichtliche Vertretbarkeitskontrolle in Kauf nimmt52 oder ob er die Maßnahme den Gesellschaftern zur Billigung vorlegt und sich damit absichert.

V. Informationsgrundlage Die vorstehend skizzierten Kontrollgrundsätze gelten nur dann, wenn die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind. Im Ausgangspunkt gelten im Vergleich zur aktienrechtlichen Rechtslage keine Besonderheiten.53 Der Geschäftsführer muss zunächst vernünftigerweise annehmen dürfen, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Dabei ist keine lückenlose Informationsbeschaffung erforderlich, sondern die Anforderungen an die tatsächliche Entscheidungsgrundlage sind situationsabhängig.54 Wie im Aktienrecht unterliegt die Informationsbeschaffung einer Vertretbarkeitskontrolle.55

VI. Interessenkonflikte 1. Anlehnung an aktienrechtliche Grundsätze Überdies kann hinsichtlich der Interessenkonflikte im Ausgangspunkt auf die Ausführungen zum Aktienrecht verwiesen werden.56 Die Freiheit von Sonder­ interessen ist ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.57 Ein ermessensausschließender Interessenkonflikt liegt vor, wenn die 52 Dabei kann eine außergewöhnliche Maßnahme durchaus der Vertretbarkeitskontrolle standhalten, etwa wenn ein Geschäft mit großer wirtschaftlicher Tragweite verhältnismäßig geringe Risiken mit sich bringt und zugleich eine hohe Gewinnchance verspricht, s. Roth/Altmeppen GmbHG § 43 Rn. 16. 53 So auch Taube, Business Judgment Rule, S. 291 ff. 54 Ausf. in § 8 III 1 55 S. § 8 III 2. 56 Für einen grundsätzlichen Gleichlauf zwischen Aktien- und GmbH-Recht Taube, ­Business Judgment Rule, S. 277. 57 Zur Verankerung innerhalb des Tatbestandes der BJR s. § 8 IV 1. 441

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

Gefahr droht, dass der Geschäftsführer die Interessen der Gesellschaft zugunsten seiner eigenen Belange oder der Belange nahestehender Personen missachtet.58 Zudem greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur dann nicht ein, wenn der Konflikt eine gewisse Relevanzschwelle erreicht hat und wenn der Geschäftsführer den konfliktbegründenden Sachverhalt kennen musste.59 2. GmbH-spezifische Konfliktquellen Gleichwohl können die Ausführungen zum AG-Vorstand nicht unbesehen auf den GmbH-Geschäftsführer übertragen werden. Vielmehr führen die Organisationsverfassung der GmbH und die personellen Verflechtungen, die in einer typischen GmbH regelmäßig bestehen, öfter dazu, dass ein ermessensausschließender Interessenkonflikt vorliegt.60 So fehlt im GmbH-Recht eine Norm, die mit dem (unabdingbaren) §  112 AktG vergleichbar ist und die Vertretungsmacht des Geschäftsführers einschränkt, wenn dieser mit sich selbst kontrahiert. Ein Geschäftsführer unterliegt nur den Einschränkungen des § 181 BGB, der aber nach einhelliger Auffassung abbedungen werden kann.61 Tätigt ein Geschäftsführer ein In-sich-Geschäft, befindet er sich in einem gravierenden Interessenkonflikt, der die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausschließt.62 Das Geschäft unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle. Eine weitere Konfliktquelle kann darin liegen, dass der Geschäftsführer an der GmbH maßgeblich beteiligt ist und Entscheidungen treffen kann, die Interessen seiner Mitgesellschafter beeinträchtigen können.63 Diese Doppelstellung, 58 Zur begrifflichen Eingrenzung des Interessenkonflikts §  8 IV 2.  Zur Einbeziehung nahestehender Personen § 8 IV 3. Vgl. aber Wicke GmbHG § 43 Rn. 6 aE, wonach der Vertragsabschluss mit einer dem Geschäftsführer nahestehenden Person der Anwendung der BJR für sich genommen nicht entgegenstehe (unter Berufung auf OLG Brandenburg GmbHR 2018, 578, dem sich diese Aussage allerdings nicht entnehmen lässt). 59 Zur Relevanzschwelle § 8 IV 4. Zu den subjektiven Anforderungen § 8 IV 5. 60 St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 128; Fleischer NZG 2011, 521, 525 f. 61 Zu den Anforderungen an die Befreiung vom Selbstkontrahierungsverbot s. statt vieler Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 35 Rn. 50 ff. 62 Ganz hM, s. OLG Frankfurt GmbHR 2017, 974, 976; OLG Naumburg ZIP 2014, 1735, 1738; Buck-Heeb in Gehrlein/Born/Simon GmbHG §  43 Rn.  25; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 146; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 43 Rn. 22; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 128 f.; Bachmann NZG 2013, 1121, 1124; Fleischer NZG 2011, 521, 526. 63 Zwar sind die AG-Vorstandsmitglieder häufig an der AG beteiligt, ihre Einwirkungsmacht auf die anderen Aktionäre ist aber typischerweise schwächer ausgeprägt als in der GmbH. Die GmbH weist oft personalistische Züge auf, so dass die einzelnen Ge442

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Interessenkonflikte

die in der Praxis häufig begegnet,64 kann dazu führen, dass der Geschäftsführer befangen ist und sich deshalb nicht auf die Business Judgment Rule berufen kann;65 zwingend ist dies freilich nicht.66 Ein Ausschluss des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG wird im Schrifttum im Hinblick auf die mitgliedschaftlichen Treuepflichten erwogen. Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Treuebindungen, die zwischen den Gesellschaftern einer GmbH bestehen, das unternehmerische Ermessen der Gesellschafter-Geschäftsführer einschränken.67 Um das Zusammenspiel zwischen der mitgliedschaftlichen Treuepflicht und der gerichtlichen Kontrolle der Geschäftsleitermaßnahmen auszuloten, muss zunächst die richterliche Prüfungsdichte hinsichtlich der Gesellschafterentscheidungen vermessen werden, was in §§ 17, 18 erfolgt. Die Auswirkungen der Gesellschafterpflichten auf das Geschäftsleiterermessen sind eine Querschnittsmaterie, die in § 23 beleuchtet wird. Im Schrifttum ist überdies die Aussage verbreitet, der Interessenkonflikt liege vor, wenn der Geschäftsführer anderweitige unternehmerische Aktivitäten außerhalb der Gesellschaft verfolge.68 Dieser pauschale Ausschluss der Business Judgment Rule wird nicht begründet. Er leuchtet auch nicht ein, wenn man bedenkt, dass es dem Geschäftsführer nicht ausnahmslos verwehrt ist, neben seiner Tätigkeit für die GmbH anderen Aktivitäten nachzugehen.69 Die Grenze für solche Aktivitäten ist die organschaftliche Treuepflicht, namentlich in sellschafter die Entscheidungsfindung prägen (s. Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 27 f.). Dagegen ist die AG als Publikumsgesellschaft konzipiert, was dazu führt, dass die Vorstandsmitglieder in ihrer Stellung als Aktionäre keinen vergleichbar großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung in der HV ausüben können wie die GmbH-­Gesellschafter in der Gesellschafterversammlung. 64 S. die Zusammenstellung bei Fleischer in MüKoGmbHG Einl Rn. 203. 65 Darauf macht Lutter ZIP 2007, 841, 848 aufmerksam, ohne aber daraus zu folgern, dass sich jeder Gesellschafter-Geschäftsführer in einem ermessensausschließenden Interessenkonflikt befindet. 66 Zutr. Scholz/U.H. Schneider GmbHG §  43 Rn.  57; Taube, Business Judgment Rule, S.  273  f.; Fleischer NZG 2011, 521, 526; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S.  319, 326 f. 67 S.  etwa St. Fischer, Business Judgment Rule, S.  129  ff.; Kuntz GmbHR 2008, 121, 124 ff.; ders. DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 40 f. Für die Kündigung des Arbeitsvertrags zwischen der GmbH und ihrem Gesellschafter Fleischer NZG 2011, 521, 526 f. Im Kontext der unternehmerischen Entscheidung (Abgrenzung zur organschaftlichen Treuepflicht) Taube, Business Judgment Rule, S. 243 ff. 68 So Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG § 43 Rn. 111.5; Kleindiek in Lutter/Hommelhoff GmbHG § 43 Rn. 25; Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 146; Fleischer NZG 2011, 521, 526. 69 So auch im Ergebnis Taube, Business Judgment Rule, S. 286 f. 443

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

Gestalt des Wettbewerbsverbots.70 Bewegt sich der Geschäftsführer innerhalb dieser Grenzen – was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Gesellschafter ihn vom Wettbewerbsverbot befreit haben71  – ist eine intensivierte richterliche Kontrolle lediglich dann angezeigt, wenn die unternehmerische Entscheidung, die er als Organ der GmbH trifft, sich sachlich mit seiner anderweitigen Tätigkeit überschneidet. Nur bei einer solchen Überschneidung besteht das Risiko, dass sich der Geschäftsführer von sachfremden Erwägungen leiten lässt, so dass von einer Richtigkeitschance nicht ausgegangen werden darf. Dazu folgendes Beispiel: Vertreibt die B-GmbH Bauprodukte und leitet ihr Geschäftsführer außerhalb seiner Dienstzeiten eine Musikbar, ist nicht ersichtlich, worin der Interessenkonflikt liegen soll, der den Zugang zum sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versperrt, wenn der Geschäftsführer mit den Kunden der B-GmbH die Lieferbedingungen verhandelt.72 Die vorstehenden Überlegungen können auf Fälle übertragen werden, in denen der Geschäftsführer ein Doppelmandat innehat. Auch bei Doppelmandaten wird im Schrifttum die These vertreten, der Geschäftsführer könne sich wegen Interessenkonflikts nicht auf die Business Judgment Rule berufen.73 Dem ist nicht ausnahmslos zu folgen. Die These überzeugt jedenfalls dann, wenn die Gesellschaften, in denen der Geschäftsführer ein Amt bekleidet, an einem Geschäft beteiligt sind.74 In einem solchen Fall besteht in der Tat das Risiko, dass der Geschäftsführer die Interessen einer Gesellschaft vernachlässigt, so dass die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle nicht durch ein ordnungsgemäßes Entscheidungsverfahren legitimiert ist. Auch wenn der Geschäftsführer als Organ einer Gesellschaft eine Entscheidung trifft, die den Interessenkreis der anderen Gesellschaft berührt, kann ihm die Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versagt bleiben. Allerdings ist in einem solchen Fall sorgfältig zu prüfen, ob die Interessen der beiden Gesellschaften gleichgerich-

70 Zum Wettbewerbsverbot statt vieler Jaeger in MüKoGmbHG § 35 Rn. 360 ff. 71 Hierzu etwa Jaeger in MüKoGmbHG § 35 Rn. 366. 72 Etwas anderes gilt freilich dann, wenn es um einen Vertrag zwischen der B-GmbH und der Musikbar geht. In einem solchen Fall kann ein In-sich-Geschäft vorliegen. 73 Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 146; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 129; Fleischer NZG 2011, 521, 526. 74 Mit dieser Einschränkung Ziemons/Pöschke in BeckOK GmbHG §  43 Rn.  111.4; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG §  43 Rn.  23.  In diese Richtung wohl auch Bachmann NZG 2013, 1121, 1127. So ist ferner der Fall gelagert, den Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 43 Rn. 113 vor Fn. 356 als Beispiel für einen Interessenkonflikt schildert. 444

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Interessenkonflikte

tet sind. Bei einem solchen Interessengleichlauf ist die Business Judgment Rule nicht ausgeschlossen.75 3. Konfliktneutralisierung durch Transparenz a) Ausdrückliche Zustimmung der Gesellschafter Die In-sich-Geschäfte und mitgliedschaftlichen Treuebindungen belegen die These, dass die Interessenkonflikte in einer GmbH öfter zum Ausschluss der Business Judgment Rule führen können als in einer Aktiengesellschaft. Umgekehrt stehen einem befangenen Geschäftsführer mehr Instrumente zur Verfügung, mit denen er die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trotz Sonder­ interessen aufrechterhalten kann. Er kann nämlich eine Maßnahme, die einen Interessenwiderstreit provoziert, den Gesellschaftern gegenüber offenlegen, um den Schutz der Business Judgment Rule weiterhin zu genießen.76 Eine solche Möglichkeit hat ein Vorstandsmitglied in der Regel faktisch nicht. Wie in § 8 IV 6 b erläutert, führt die Offenlegung eines Interessenkonflikts gegenüber den Vorstandskollegen nicht zur Neutralisierung des Konflikts; das befangene Mitglied muss sich aus dem Entscheidungsprozess zurückziehen. Auch die Einschaltung der Hauptversammlung ist meist kein praktikabler Weg. Sie ist zwar nach § 119 Abs. 2 AktG theoretisch möglich, aber mit derart schwerfälligen Verfahren verbunden, dass sie regelmäßig nicht in Betracht kommen wird.77 Eine Billigung der Vorstandsmaßnahme durch den Aufsichtsrat kann zwar den Interessenkonflikt neutralisieren, der Vorstand ist aber nur in Ausnahmefällen befugt, die Entscheidung dem Aufsichtsrat vorzulegen.78 In einer GmbH ist die Offenlegung des Interessenkonflikts gegenüber den Gesellschaftern einfacher, weil der Gesellschafterkreis typischerweise kleiner ist als in einer Aktiengesellschaft. Außerdem ist die GmbH-Gesellschafterversammlung nicht so schwerfällig wie eine Hauptversammlung, so dass die Offenlegung der Befangenheit aus Sicht des Geschäftsführers ein probates Mittel sein kann, um den Interessenkonflikt zu neutralisieren. Eine solche Konfliktneutralisierung ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Geschäftsführer die Gesellschafter über seine Sonderinteressen ordnungsgemäß informiert hat und die Gesellschafter in einer Gesellschafterversammlung ausdrücklich beschließen, dass der befangene Geschäftsführer eine konkrete Entscheidung 75 S. bereits in § 8 IV 2 mit Nachw. in Fn. 126. 76 Im Grundsatz auch Taube, Business Judgment Rule, S. 283 ff. 77 Vgl. § 8 IV 6 c. 78 Ausf. § 8 IV 6 d und e. 445

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

nach eigenem Ermessen treffen kann.79 In einem solchen Fall machen die Gesellschafter deutlich, dass sie sich der Risiken bewusst sind, die aus dem Interessenkonflikt resultieren. Diese privatautonome Entscheidung muss bei der Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte respektiert werden. Wenn die oberste Instanz in der GmbH dem befangenen Geschäftsführer einen Ermessensspielraum zugesteht, obwohl eine Voraussetzung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht erfüllt ist, sind die Gerichte nur zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt. Dies gilt ferner für Fälle, in denen die Gesellschafter dem Geschäftsführer erlauben, in einer künftigen, noch ausstehenden Entscheidungssituation nach eigenem Ermessen zu handeln. Auch eine solche abstrakte Legitimation reicht aus, um die Privilegierung der Business Judgment Rule aufrechtzuerhalten.80 b) Konfliktneutralisierung durch bloße Offenlegung Schwieriger sind die Auswirkungen der Offenlegung zu beurteilen, wenn die Reaktion der Gesellschafter nicht eindeutig ist. So kann es vorkommen, dass der Geschäftsführer den Interessenkonflikt offenlegt, die Gesellschafter aber keinen Beschluss darüber fassen, in dem sie den Geschäftsführer zu einem konkreten Verhalten anweisen – etwa den Geschäftsabschluss verbieten oder den Geschäftsinhalt festlegen – oder ihm eine Ermessensentscheidung gestatten. In einem solchen Fall fehlt ein privatautonomer Willensakt der Gesellschafter, der eine intensive gerichtliche Kontrolle entbehrlich macht. Ob die bloße Offenlegung des Interessenkonflikts ausreicht, um die Business Judgment Rule anzuwenden, wurde im Schrifttum bislang nur stiefmütterlich behandelt. Für eine Konfliktneutralisierung durch Transparenz spricht sich augenscheinlich Karsten Schmidt aus, der auf dem Standpunkt steht, dass die Passivität der Gesellschafter dem Geschäftsführer einen Ermessensspielraum gibt.81 Dagegen misst Carl-Tessen Taube dem Schweigen der Gesellschafter keine Legitimationswirkung bei. Er versagt dem Geschäftsführer die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG: Wie bei der Befreiung vom Wettbewerbsverbot und von der Geschäftschancenbindung sei eine ausdrückliche Erklärung erforderlich. Dies entspreche der absolut überwiegenden Meinung, die die

79 So auch Taube, Business Judgment Rule, S.  288.  Davon geht auch augenscheinlich Beurskens in Baumbach/Hueck GmbHG §  43 Rn.  38 aus, der dem befangenen Geschäftsführer rät, die Entscheidung der Gesellschafterversammlung vorzulegen; ähnlich Lücke/Simon in Saenger/Inhester GmbHG § 43 Rn. 35. 80 Ausf. Taube, Business Judgment Rule, S. 284 ff. 81 Scholz/K. Schmidt GmbHG § 46 Rn. 115. 446

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Interessenkonflikte

Offenlegung als solche nicht zur Bewältigung des Interessenkonflikts ausreichen lasse.82 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Vielmehr ist die Business Judgment Rule auch dann anzuwenden, wenn ein befangener Geschäftsführer die Gesellschafter über den Interessenkonflikt informiert und diese weder eine eigene inhaltliche Entscheidung treffen noch dem Geschäftsführer eine Ermessensentscheidung gestatten. Dagegen spricht zunächst nicht der Umstand, dass die Befreiung vom Wettbewerbsverbot und von der Geschäftschancenbindung nur mit einer ausdrücklichen Erklärung der Gesellschafter möglich ist.83 Der Vergleich mit diesen Fällen ist nämlich schief, weil die Auswirkungen der Konfliktneutralisierung im Zusammenhang mit §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG nicht so weitreichend sind wie bei der Treuepflicht. Geht es um den Interessenkonflikt im Kontext der Business Judgment Rule, führt das Schweigen der Gesellschafter lediglich dazu, dass ein Gericht die Entscheidung des Geschäftsführers im Hinblick auf die Einhaltung der Sorgfaltspflicht lediglich einer inhaltlichen Evidenzkontrolle unterwerfen kann. Die Befreiung vom Wettbewerbsverbot und von der Geschäftschancenbindung geht weiter. Der Geschäftsführer wird für einen konkreten Fall von der organschaftlichen Treuepflicht befreit. Es ist aber denkbar, dem Geschäftsführer den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Hinblick auf die Sorgfaltspflicht zu gewähren, ihn aber dennoch nicht von den Treuebindungen zu befreien.84 Außerdem geht der Verweis auf die herrschende Meinung zu den Auswirkungen der Offenlegung ins Leere. Die von Taube zitierten Autoren beschäftigen sich lediglich mit der Frage, ob ein Vorstandsmitglied sich auf die Business Judgment Rule berufen kann, wenn er den Interessenkonflikt seinen Vorstandskollegen oder dem Aufsichtsrat offengelegt hat.85 Jedenfalls der Gesamtvorstand kann aber den Interessenkonflikt nicht derart neutralisieren, dass das befangene Vorstandsmitglied an der Entscheidung mitwirken und sich auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen darf.86 Eine Billigung durch den Aufsichtsrat kann zwar die Privilegierung der Business Judgment Rule trotz Sonderinteressen eines Vorstandsmitglieds aufrechterhalten, der Vorstand hat 82 So Taube, Business Judgment Rule, S. 288 f. 83 Statt vieler BGH NJW 1989, 2687, 2688 (zur KG); Fleischer in MüKoGmbHG §  43 Rn. 188. 84 Anders augenscheinlich Taube, Business Judgment Rule, S. 289. 85 Vgl. Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn.  1526; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  314; Winnen, Innenhaftung, S.  256; Gehb/Heckelmann ZRP 2005, 145, 147  f.; Hauschka GmbHR 2007, 11, 16; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1257. 86 S. bereits § 8 IV 6 b. 447

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Intensität der Kontrolle der GmbH-Geschäftsführer

aber in der Regel keine Befugnis, die Entscheidung dem Aufsichtsrat vorzulegen.87 Vor diesem Hintergrund sind die aktienrechtlichen Stellungnahmen für einen Wertungstransfer nur bedingt geeignet. In einer GmbH ist die Rechtslage nämlich anders. Legt der Geschäftsführer seine Sonderinteressen den Gesellschaftern gegenüber offen, kann die Gesellschafterversammlung als die oberste Instanz der GmbH entscheiden, wie sie mit dem Sachverhalt verfahren möchte. Die Gesellschafter haben es in der Hand, ihre eigenen Belange vor dem sorgfaltswidrigen Verhalten des Geschäftsführers zu schützen, indem sie den Entscheidungsinhalt beeinflussen. Sie können etwa durch eine konkrete Weisung das unternehmerische Ermessen des Geschäftsführers einschränken oder gänzlich ausschließen.88 Bleiben sie trotz dieser Möglichkeit passiv, leuchtet nicht ein, wieso sie von einer intensivierten gerichtlichen Kontrolle profitieren sollten. Vor diesem Hintergrund spricht mehr dafür, die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufrechtzuerhalten, wenn ein befangener Geschäftsführer seine Sonderinteressen den Gesellschaftern offenlegt und diese nicht reagieren.

87 S. § 8 IV 6 d und e. 88 S. schon § 12 III 2. 448

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§ 13 Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft I. Gerichtliche Kontrolle und Ermessen im Personen­ gesellschaftsrecht 1. Anknüpfungspunkte für gerichtliche Kontrolle Wendet man sich der richterlichen Prüfungsdichte im Personengesellschaftsrecht zu, lautet der Ausgangsbefund ähnlich wie im GmbH-Recht. Das Personengesellschaftsrecht kennt Vorgaben an die Geschäftsleiter, die die gerichtliche Kontrolle des Geschäftsleiterhandelns ermöglichen, es enthält aber keine Norm, die wie § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG den geschäftsführenden Gesellschaftern ausdrücklich ein unternehmerisches Ermessen einräumt und dadurch die Intensität der gerichtlichen Kontrolle lockert.1 Ein Unterschied zum Kapitalgesellschaftsrecht liegt darin, dass die Geschäftsleiter einer Personengesellschaft im Vergleich zum AG-Vorstand und GmbH-Geschäftsführer nur wenige konkret gefasste Vorgaben zu befolgen haben; als Beispiele mögen die Informationspflicht nach § 716 BGB, §§ 118, 166 HGB und das Wettbewerbsverbot in §  112 HGB2 dienen. Die geschäftsführenden Gesellschafter werden in erster Linie durch (ungeschriebene) Generalklauseln gesteuert.3 Sie müssen – auch ohne eine ausdrückliche Regelung wie in § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 43 Abs. 1 GmbHG – die Geschäfte der Gesellschaft sorgfältig führen4 und sind der Gesellschaft zur Treue verpflichtet.5 In der Sorgfalts- und Treuepflicht kommt 1 Eine solche Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte bewirkt auch nicht §  708 BGB, der nur den Verschuldensmaßstab gemildert. 2 Für die GbR-Geschäftsführer wird das Wettbewerbsverbot aus der Treuepflicht abgeleitet, s. statt vieler C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 235 f. In der KG gilt § 112 HGB zwar nicht für die Kommanditisten (§ 165 HGB), die Komplementäre müssen aber das Wettbewerbsverbot beachten, s. nur Grunewald in MüKoHGB § 165 Rn. 3 f. 3 Wenig ergiebig ist etwa § 713 BGB, der auf das lückenhafte Auftragsrecht verweist. 4 Dies folgt nicht zuletzt aus § 708 BGB, der den Sorgfaltsmaßstab mildert und damit implizit zum Ausdruck bringt, dass sich der Gesellschafter grundsätzlich sorgfältig verhalten muss. Zur allgemeinen Sorgfaltspflicht im Personengesellschaftsrecht etwa Klimke in BeckOK HGB § 114 Rn. 15; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 114 Rn. 12; Podewils BB 2014, 2632.  5 Zur Treuepflicht bei der GbR statt vieler C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 221 ff.; zur OHG Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 114 Rn. 24; zur KG Grunewald in MüKoHGB § 161 Rn. 31. 449

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Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft

eine Bindung der geschäftsführenden Gesellschafter an das Gesellschaftswohl zum Ausdruck.6 Ein Gericht, das die Geschäftsleitermaßnahmen kontrolliert, muss der Frage nachgehen, ob sie im Interesse der Gesellschaft liegen. 2. Analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Der generalklauselartige Charakter der Verhaltensvorgaben im Personengesellschaftsrecht legt nahe, dass die gerichtliche Kontrolle der Geschäftsleitermaßnahmen nach Maßgabe des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG gelockert werden kann. Wie im GmbH-Recht ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf den Geschäftsführer analog anzuwenden.7 Der Gesetzgeber hat in den UMAG-Gesetzesmaterialien die Wissenschaft und Praxis dazu aufgefordert, den Gedanken des Geschäftsleiterermessens auf andere Rechtsformen zu erstrecken,8 so dass die Rechtsanwender befugt sind, das Personengesellschaftsrecht in Anlehnung an aktienrechtliche Grundsätze fortzubilden.9 Da die geschäftsführenden Gesellschafter – wie die Geschäftsleiter der Kapitalgesellschaften – risikoreiche Prognoseentscheidungen treffen müssen und dabei in erster Linie durch final strukturierte Vorgaben gesteuert werden, können sie sich auf die Privilegierung der Business Judgment Rule berufen.10

6 S. bereits in § 6 III 2 a. 7 So die ganz hM, wobei der methodische Weg unterschiedlich ist. Für eine Analogie Klimke in BeckOK HGB § 114 Rn. 16; Oetker/Lieder HGB § 114 Rn. 31; Habersack/​ C. Schäfer OHG § 114 HGB Rn. 40; Servatius in Henssler/Strohn GesR § 713 BGB Rn. 19; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 119 ff.; Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 327. Für die Heranziehung der ARAG-Grundsätze Mock in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB Anh §  164 Rn.  7; s. dazu auch C.  Schäfer ZGR 2014, 731, 734.  Ohne methodische Festlegung Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 114 Rn. 27 (Ermessensspielraum); Staudinger/Habermeier BGB § 709 Rn. 31 (Ermessensspielraum); Rawert in MüKoHGB § 114 Rn. 56 (breiter Ermessensspielraum); Spitze, Geschäftsführung S. 92 f. (mit einem Verweis auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Im Kontext des § 708 BGB erwähnt Heidel in NK-BGB § 708 Rn. 3 die BJR, was aber nach der hier vertretenen Ansicht systematisch zweifelhaft ist, weil die BJR keinen Einfluss auf den Sorgfaltsmaßstab hat (s. bereits § 7 V 4 und 5). Heidel in NK-BGB § 708 Rn. 13 spricht sich überdies gegen analoge Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die GbR; so auch konsequent Jungmann, FS  K.  Schmidt, 2009, S.  831, 839 ff., 851 f.; zurückhaltend ferner Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 114 Rn. 139 ff. 8 RegBegr UMAG BT-Drucks. 15/5092, S. 12.  9 Ausf. bereits in § 12 II 2. Im OHG-Recht Oetker/Lieder HGB § 114 Rn. 31. 10 Ausf. Analyse der Interessenlage im Personengesellschaftsrecht bei St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 223 ff. 450

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Gerichtliche Kontrolle und Ermessen im Personen­gesellschaftsrecht

Eine Regelungslücke kann zudem nicht mit einem Verweis auf §  708 BGB ­bestritten werden.11 Nach §  708 BGB haben die geschäftsführenden Ge­ sellschafter einer Personengesellschaft für die eigenübliche Sorgfalt einzustehen, was aus einer haftungsrechtlichen Perspektive die Frage provoziert, ob eine Analogie zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in der Tat erforderlich ist, wenn die Gesellschafter ohnehin von einer Haftungsmilderung profitieren. Gleichwohl ist zu beachten, dass §  708 BGB sich lediglich im Rahmen der Verhaltens­ kontrolle auswirkt, wenn eine Norm das Verschulden voraussetzt. Bei der ­Willensbildungskontrolle bleibt § 708 BGB außer Betracht. Wie schon im aktienrechtlichen Kontext ausgeführt, helfen etwaige Lockerungen des Verschuldensmaßstabs insbesondere dann nicht weiter, wenn es um die Wirksamkeit des Gesellschafterbeschlusses geht. Ein Beschluss bleibt auch dann rechts­ widrig und damit unwirksam, wenn die Gesellschafter zwar (subjektiv) die eigenübliche Sorgfalt eingehalten, sich aber (objektiv) pflichtwidrig verhalten haben.12 Vor diesem Hintergrund erfüllt die Business Judgment Rule neben § 708 BGB eine sinnvolle Funktion.13 Überdies ist der Anwendungsbereich des § 708 BGB eingeschränkt. Nach ganz herrschender, überzeugender Auffassung greift die Haftungsprivilegierung bei Publikumspersonengesellschaften nicht ein, weil in solchen Organisationen die enge persönliche Verbindung zwischen den Gesellschaftern fehlt, die aber in §  708 BGB vorausgesetzt wird.14 Jedenfalls in Publikumspersonengesellschaften besteht also auch aus einer rein haftungsrechtlichen Perspektive ein praktisches Bedürfnis nach der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 3. Dogmatische Einordnung und Voraussetzungen der Business Judgment Rule Wie im Kapitalgesellschaftsrecht führt die Business Judgment Rule zur Lockerung der gerichtlichen Inhaltskontrolle. Haben die geschäftsführenden Gesellschafter bei einer unternehmerischen Entscheidung die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beachtet, sind Gerichte lediglich zur inhaltlichen

11 So aber augenscheinlich Heidel in NK-BGB § 708 Rn. 13 S. ferner Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 114 Rn. 140. 12 S. § 7 V 4. 13 In diese Richtung auch Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 327, die zutr. darauf hinweisen, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon die Pflichtverletzung ausschließt, § 708 BGB aber nur das Verschulden. 14 Statt vieler Heidel in NK-BGB § 708 Rn. 4; C. Schäfer in MüKoBGB § 708 Rn. 5 mwN. 451

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Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft

Evidenzkontrolle der Geschäftsführungsmaßnahme befugt.15 Sie dürfen die Maßnahme nur dann beanstanden, wenn sie offensichtlich nicht im Gesellschaftsinteresse ist. Freilich sind bei der analogen Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Besonderheiten des Personengesellschaftsrechts zu beachten. So führt eine konkret gefasste Weisung der Gesellschafter – etwa nach § 116 Abs.  2 HGB oder aufgrund einer gesellschaftsvertraglichen Regelung16  – dazu, dass der Geschäftsleiter keine unternehmerische Entscheidung trifft. Überprüft ein Gericht, ob sich der Geschäftsleiter an die Weisung gehalten hat, ist es nicht auf eine bloße Evidenzkontrolle beschränkt. Für die Business Judgment Rule bleibt nur dort Raum, wo die Gesellschafter dem Geschäftsleiter im Weisungsbeschluss einen Spielraum belassen haben.17 Diese Überlegungen gelten auch für gesellschaftsvertragliche Einschränkungen des Geschäftslei­ terermessens. Ein Geschäftsleiter kann sich überdies nicht auf §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG berufen, wenn ein anderer Gesellschafter nach § 711 BGB, § 115 Abs.  1 Hs. 2 HGB einer Geschäftsführungsmaßnahme wirksam widersprochen hat.18 Zudem deutet viel darauf hin, außergewöhnliche Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 2 HGB auch dann aus dem Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG auszuklammern, wenn die Gesellschafter dem Geschäftsleiter ­keine Weisung erteilt haben.19 Im GmbH-Recht wurde eine so weitreichende Einschränkung der Business Judgment Rule abgelehnt, weil die ungeschriebenen Vorlagepflichten nicht konkret genug sind, um den Geschäftsführer seines Ermessensspielraums gänzlich zu berauben. Stattdessen wurde vorgeschlagen, außergewöhnliche Maßnahmen der gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle zu unterwerfen.20 Im Recht der offenen Handelsgesellschaft ordnet § 116 Abs. 2 HGB die außergewöhnlichen Maßnahmen ausdrücklich dem Kompetenzbereich der Gesellschafter zu, so dass die Begrenzung des unternehmerischen Entscheidungsspielraums auf einer stabilen gesetzlichen Grundlage beruht.

15 S. bereits Grunewald DB 1981, 407, 408 f.: Evidenzkontrolle der Geschäftsführung in der Publikums-KG. 16 Das auftragsrechtliche Weisungsrecht nach §  665 BGB greift im Personengesellschaftsrecht trotz des umfassenden Verweises in § 713 BGB nach ganz hA nicht, s. statt vieler v. Ditfurth in MHdB GesR I § 7 Rn. 52, § 53 Rn. 20. 17 Vgl. dazu im Kontext des § 37 Abs. 1 GmbHG in § 12 III 2. 18 C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 13. 19 Zutr. Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 114 Rn. 141 aE; so wohl auch Kebekus/Zenker, FS Maier-Reimer, S. 319, 327. 20 S. § 12 III 2 und IV. 452

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Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­maßnahmen

Was die prozeduralen Anforderungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG angeht, gilt das zum GmbH-Recht Gesagte entsprechend. Die richterliche Prüfungsdichte ist nur dann gelockert, wenn der geschäftsführende Gesellschafter vernünf­ tigerweise davon ausgehen durfte, auf angemessener Informationsgrundlage zu entscheiden; seine Einschätzung unterliegt insoweit der Vertretbarkeitskontrolle.21 Außerdem kommt eine bloße Evidenzkontrolle nicht in Betracht, wenn der Geschäftsleiter einem Interessenkonflikt ausgesetzt war.22 Etwas anderes gilt nur in Fällen, in denen die sonstigen Gesellschafter den Interessenkonflikt neutralisiert haben.23

II. Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­ maßnahmen 1. Widerspruch als unternehmerische Entscheidung Die Ausführungen zum Kapitalgesellschaftsrecht haben sich auf zwei Konstellationen fokussiert, die in Wissenschaft und Praxis aufgegriffen werden, um die Auswirkungen der Business Judgment Rule zu beleuchten. Zum einen wurde der Einfluss des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf die Verhaltenskontrolle skizziert, womit namentlich eine Haftungsprivilegierung verbunden ist.24 Zum anderen wurde dargestellt, dass die Business Judgment Rule die Beschlusskontrolle als besondere Ausprägung der Willensbildungskontrolle beeinflusst.25 Weitgehend vernachlässigt wurde bislang die gerichtliche Kon­trolle der individuellen Willensbildung, die insbesondere im Hinblick auf das ­Widerspruchsrecht aus § 711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB interessant ist.26 Während im Kapitalgesellschaftsrecht das Problem des Widerspruchs gegen die Maßnahmen eines einzelgeschäftsführungsbefugten Geschäftsleiters ein Schatten­dasein fristet,27 wird es im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum häufiger aufgegriffen und auch in der Rechtsprechung thematisiert.28

21 S. § 12 IV. 22 Hierzu, insb. zu den Besonderheiten des In-sich-Geschäfts, in § 12 VI 1 und 2. 23 Zur Konfliktneutralisierung durch ausdrückliche Zustimmung der Gesellschafter § 12 VI 3. 24 S. § 7 IV 2 und V 2. 25 Zur Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Vorstandsbeschlüsse § 7 IV 3 und § 8 V. 26 S. dazu in § 2 V 3. 27 Zur stiefmütterlichen Behandlung dieses Problems § 2 V 3 b. 28 S. die Nachweise in § 2 V 3 a. 453

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Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft

Widerspricht ein (geschäftsführender) Gesellschafter einer Maßnahme eines anderen Gesellschafters, ist er an die Sorgfalts- und Treuepflicht gebunden.29 Handelt der widersprechende Gesellschafter nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters oder missachtet er die mitgliedschaftlichen Treuebindungen, ist der Widerspruch unwirksam.30 Wird der Widerspruch der richterlichen Überprüfung unterworfen, etwa im Rahmen einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage,31 muss sich ein Gericht demnach mit der Frage auseinandersetzen, ob der Widerspruch dem Gesellschaftswohl entspricht.32 Dabei hängt die Intensität der richterlichen Kontrolle zunächst vom Gegenstand der streitigen Geschäftsleitermaßnahme ab. Ist die ursprüngliche Maßnahme nicht unternehmerisch, weil die Gesellschafter konditionale Normen beachten müssen, unterliegt auch der Widerspruch einer starken gesetzlichen Bindung und der Zugang zum sicheren Hafen der Business Judgment Rule ist versperrt. Das Gericht darf kontrollieren, ob die ursprüngliche Entscheidung bzw. der Widerspruch der gesetzlichen Vorgabe entspricht.33 Die Prüfungsintensität wird nur insoweit gelockert, als die Konditionalnorm es zulässt.34 ­Widerspricht ein Geschäftsleiter einer unternehmerischen Entscheidung des anderen Geschäftsleiters, so liegt der Widerspruch selbst im sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.35 29 C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 2; Schöne in BeckOK BGB § 711 Rn. 9. Zur Sorgfaltspflicht Kindler in KKRD HGB §  115 Rn.  3; v. Ditfurth in MHdB GesR I §  53 Rn. 42. Zur Treuepflicht Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 19; M. Roth in Baumbach/ Hopt HGB § 115 Rn. 4 aE. 30 So wohl auch Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 21; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 115 Rn. 3. Großzügiger augenscheinlich R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 36 ff., der die Unwirksamkeit auf §§ 134, 138, 226 BGB stützen will und einen bloß unsorgfältigen Widerspruch für wirksam hält. Bei unsorgfältigem Widerspruch hält R. Hahn den Geschäftsleiter für verpflichtet, den Widerspruch zurückzunehmen (S. 38). 31 S. hierzu § 2 V 3 a. 32 Ausf. dazu R. Hahn, Widerspruchsrecht, S. 6 ff. S. ferner BGH NJW 1986, 844; BGH NJW-RR 1988, 995, 996; Klimke in BeckOK HGB § 115 Rn. 10; M. Roth in Baumbach/ Hopt HGB § 115 Rn. 3; C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 10; Schöne in BeckOK BGB § 711 Rn. 9; v. Ditfurth in MHdB GesR I § 53 Rn. 42; Spitze, Geschäftsführung, S. 131 f. 33 So wohl auch Klimke in BeckOK HGB § 115 Rn. 11: Ermessensreduzierung auf Null bei zwingenden gesetzlichen Vorgaben. S. ferner Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 18 (kein Ermessensspielraum bei rechtlich notwendigen Maßnahmen); v. Ditfurth in MHdB GesR I § 53 Rn. 42. 34 S. dazu § 9 III. 35 Für die Anwendung der BJR auf die Widerspruchsentscheidung Klimke in BeckOK HGB §  115 Rn.  10 (der auf die Ausführungen zur BJR in §  114 Rn.  16 verweist); 454

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Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­maßnahmen

2. Intensität der gerichtlichen Widerspruchskontrolle Im letztgenannten Fall stehen sich zwei unternehmerische Entscheidungen gegenüber: die des Gesellschafters, der eine bestimmte Maßnahme ergreifen will, und die des Gesellschafters, der den Widerspruch erhebt. Den §  711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB liegt die Wertung zugrunde, dass sich die (wirksame) unternehmerische Entscheidung des widersprechenden Geschäftsleiters durchsetzt.36 Sie entfaltet ähnliche Wirkungen wie eine Weisung. Der unternehmerische Spielraum des „aktiven“ Gesellschafters wird eingeschränkt. Die Letztentscheidungskompetenz des „passiven“ Gesellschafters kommt darin zum Ausdruck, dass der Widerspruch einer inhaltlichen Evidenzkontrolle unterliegt, wenn der widersprechende Gesellschafter unbefangen war und zu der vertretbaren Einschätzung gelangt ist, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Sind die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, kann ein Gericht den Widerspruch nur dann beanstanden, wenn es auf der Hand liegt, dass er dem Gesellschaftswohl zuwiderläuft.37 ­ abersack/C. Schäfer OHG § 115 Rn. 6 iVm § 114 HGB Rn. 40; Scholl/Fischer in Beck­ H OGK HGB § 115 Rn. 35 (Rechtsgedanke des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). Für die Anwendung der ARAG-Grundsätze Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 37 mit Fn. 96. Für einen nicht näher definierten Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum BGH NJW 1986, 844; BGH NJW-RR 1988, 995, 996; Drescher in EBJS HGB §  115 Rn.  16  ff.; ­Finckh in Henssler/Strohn GesR § 115 HGB Rn. 22; Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 115 Rn. 5; Heidel in NK-BGB § 711 Rn. 4; Kindler in KKRD HGB § 115 Rn. 3; Oetker/Lieder HGB § 115 Rn. 11; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 115 Rn. 3; C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 10 f.; Schöne in BeckOK BGB § 711 Rn. 9; Servatius in Henssler/Strohn GesR § 711 BGB Rn. 5; v. Ditfurth in MHdB GesR I § 53 Rn. 42; Scheel in MHdB GesR II § 7 Rn. 39; Flume, FS Rittner, S. 119, 121 f. Für Lösung über § 708 BGB Spitze, Geschäftsführung, S. 132, der aber auf S. 154 von einem gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum spricht. 36 Zutr. Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 115 Rn. 21, 35, 37. Es ist missverständlich, wenn in Rspr. und Schrifttum ausgeführt wird, dass bei unterschiedlichen Auffassungen über die Frage, ob bestimmte geschäftsführende Maßnahmen getroffen werden sollen, keine den Vorzug verdient (so BGH NJW 1986, 844; BGH NJW-RR 1988, 995; Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 6). Da die anvisierte Maßnahme unterbleiben muss, gebührt dem Widerspruch der Vorzug. Dies folgt auch daraus, dass ein Widerspruch gegen den Widerspruch nicht möglich ist (s. Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 16, 37 mwN). 37 Auf die Evidenz abstellend Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 40; Servatius in Henssler/ Strohn GesR § 711 BGB Rn. 6. S. aber Für einen Wegfall des Widerspruchsrechts im GmbH-rechtlichen Kontext aber Leuering, FS Seibert, S. 543, 553, der einen sachlichen Grund fordert. Qualifiziert man den Widerspruch als eine unternehmerische Entscheidung iSd § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, ist dieser Ansatz überzogen, wenn die Voraussetzungen der BJR erfüllt sind. 455

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Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft

Hat der widersprechende Gesellschafter die Anforderungen an ein optimales Entscheidungsverfahren nicht eingehalten, führt dies nicht automatisch zur Unwirksamkeit des Widerspruchs, sondern nur zu einer Intensivierung der richterlichen Prüfungsdichte.38 Zu weit geht insbesondere die im Schrifttum anzutreffende Aussage, die Befangenheit schließe die Widerspruchsmöglich aus.39 Befindet sich der widersprechende Gesellschafter in einem Interessenkonflikt, gilt das in §  9 IV 3 Gesagte entsprechend.40 Der Widerspruch ist nicht per se sorgfaltswidrig, sondern er unterliegt einer engmaschigeren richterlichen Kontrolle, deren Intensität insbesondere von der Konfliktschwere abhängt.41 3. Begründung und Beweis Die vorstehenden Überlegungen zur Intensität der gerichtlichen Widerspruchskontrolle können aufgegriffen werden, um zu bestimmen, ob und inwieweit der Widerspruch begründet werden muss und wer die Umstände darlegen und beweisen muss, aus denen die (Un)Wirksamkeit des Widerspruchs resultiert. Die ganz herrschende Auffassung im Schrifttum hält eine Begründung des Widerspruchs für erforderlich,42 was überzeugt, weil der „aktive“ Gesellschafter nur dann einen Anlass für das Unterlassen der anvisierten Maßnahme haben kann, wenn ihm vor Augen geführt ist, wieso seine Pläne nicht dem Gesellschaftswohl entsprechen. Allerdings dürfen die Anforderungen an die Begründung nicht überspannt werden, wenn der Widerspruch im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegt. Der widersprechende Gesellschafter

38 S. dazu in § 9 IV. 39 So aber Staudinger/Habermeier BGB § 711 Rn. 6; Habersack/C. Schäfer OHG § 115 HGB Rn.  11; Schöne in BeckOK BGB §  711 Rn.  11.  Gegen einen pauschalen Ausschluss des Widerspruchsrechts zutr. BGH NJW 1986, 844; Drescher in EBJS HGB §  115 Rn.  13.  Einschränkend auch BGH NJW 1974, 1555, 1556; Oetker/Lieder HGB § 115 Rn. 12; Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 13; v. Ditfurth in MHdB GesR I § 53 Rn. 39: Kein Widerspruchsrecht, wenn Interessenkonflikt zum Stimmrechtsausschluss führt. 40 Allerdings ist zu beachten, dass die Widerspruchsbefugnis gänzlich entfällt, wenn sich der Interessenkonflikt zu einem Stimmverbot analog §  34 BGB verdichtet, s. C. Schäfer in MüKoBGB § 711 Rn. 2 iVm § 709 Rn. 65; zur GmbH auch Leuering, FS Seibert, S. 543, 552 f. mwN. 41 Zu großzügig Klimke in BeckOK HGB § 115 Rn. 12: Vertretbarkeit des Widerspruchs. 42 Statt vieler Drescher in EBJS HGB § 115 Rn. 14. Differenzierend v. Ditfurth in MHdB GesR I § 53 Rn. 45. Gegen eine Begründungspflicht aber Servatius in Henssler/Strohn GesR § 711 BGB Rn. 4. Zurückhaltend auch Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 17. 456

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Kontrolle des Widerspruchs gegen Geschäftsführungs­maßnahmen

genügt bereits dann der Begründungspflicht, wenn der Widerspruch im Lichte seiner Erklärung nicht als völlig unverantwortlich erscheint. Nicht einig ist sich das Schrifttum über die Folgen einer fehlenden oder unzureichenden Begründung. Während manche Autoren einen unbegründeten Widerspruch für unbeachtlich halten,43 geht die wohl überwiegende Auffassung von der Wirksamkeit des Widerspruchs aus, wobei eine zu Unrecht verweigerte Begründung zur Schadensersatzhaftung des widersprechenden Gesellschafters führen soll. Allerdings soll der Begründungsmangel einen Beweis des ersten Anscheins dafür bieten, dass der Widerspruch pflichtwidrig eingelegt wurde. Bis zur Entkräftung dieses Anscheinsbeweises bleibe dem Widersprechenden die Berufung auf den Widerspruch versagt.44 Geht es um Prozesssituationen, ist die Lösung des Problems mit der letztgenannten Auffassung auf der Beweislastebene zu suchen. Freilich ist die Beweislastverteilung bei § 711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB umstritten. Während ein Teil des Schrifttums auf dem Standpunkt steht, dass derjenige, der die Unwirksamkeit des Widerspruchs behauptet, die Umstände darzulegen und zu beweisen hat, aus denen Unwirksamkeit des Widerspruchs resultiert,45 sind andere der Ansicht, dass die widersprechenden Gesellschafter beweisbelastet sind.46 Die besseren Argumente sprechen für die letztgenannte Auffassung. Es wurde bereits in § 13 II 2 erläutert, dass den § 711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB der Gedanke zugrunde liegt, dass sich die unternehmerische Entscheidung des ­widersprechenden Geschäftsleiters durchsetzt. Erklärt ein Gesellschafter den Widerspruch, hat die anvisierte Maßnahme nach dem gesetzlichen Regelfall zu unterbleiben. Will der „aktive“ Gesellschafter die Maßnahme dennoch ergreifen, muss er beweisen, dass der Widerspruch unwirksam ist. Handelt es sich um eine unternehmerische Entscheidung, gehört hierzu insbesondere, die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu widerlegen. Der „aktive“ Gesellschafter muss also die Umstände beweisen, aus denen sich ergibt, dass der Widerspruch evident unverantwortlich ist oder dass der widersprechende Gesellschafter nicht von einer angemessenen Informationsgrundlage ausgehen durfte und dass seine Entscheidung unvertretbar war. Ist der Widerspruch nicht begründet, wird dieser Beweis dem „aktiven“ Gesellschaf43 Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 115 Rn. 6; Scholl/Fischer in BeckOGK HGB § 115 Rn. 40. 44 So Oetker/Lieder HGB § 115 Rn. 10; Rawert in MüKoHGB § 115 Rn. 24; Spitze, Geschäftsführung, S. 137 f. In diese Richtung auch Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 17. 45 Drescher in EBJS HGB §  115 Rn.  20; Oetker/Lieder HGB §  115 Rn.  12; M. Roth in Baumbach/Hopt HGB § 115 Rn. 3; Spitze, Geschäftsführung, S. 153. 46 Servatius in Henssler/Strohn GesR § 711 BGB Rn. 7, 11. 457

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Geschäftsführende Gesellschafter einer Personengesellschaft

ter leichter fallen. Wenn nicht erkennbar ist, welcher Sachverhalt und welche Motive dem Widerspruch zugrunde liegen, spricht viel dafür, dass der Widerspruch nicht im Interesse der Gesellschaft liegt und deshalb unwirksam ist. Der widersprechende Gesellschafter kann das unternehmerische Ermessen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Anspruch nehmen, wenn er seine Entscheidung nicht begründet.

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§ 14 Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats I. Pflichten des obligatorischen Aufsichtsrats und seiner Mitglieder Aufbauend auf den Ausführungen zur richterlichen Prüfungsdichte bei Geschäftsleitungsorganen wird im Folgenden die Intensität der gerichtlichen Kontrolle der obligatorischen Aufsichtsorgane vermessen, die ebenfalls als Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft oder einer mitbestimmten GmbH qualifiziert werden können.1 Wie bei Geschäftsleitungsorganen sind gesetzliche Vorgaben, die sich an den Aufsichtsrat als Gesamtorgan und die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder richten,2 Einfallstore für die gerichtliche Kon­ trolle. So ist der obligatorische Aufsichtsrat für die Personalpolitik auf der Geschäftsleitungsebene verantwortlich.3 Er ist verpflichtet, die Geschäftsleiter zu bestellen (§ 84 Abs. 1 AktG, § 31 MitbestG) und die Einzelheiten des Anstellungsvertrags auszuhandeln,4 wobei er insbesondere hinsichtlich der Vergütung die Schranken des §  87 Abs.  1 AktG beachten muss.5 Liegt ein Abberufungsgrund vor, kann ihn im Einzelfall die Pflicht zum Widerruf der Vorstandsbestellung treffen (§ 84 Abs. 3 AktG, § 31 MitbestG).6

1 Zu den Verwaltungsorganen s. § 2 II 2. 2 Ausf. Überblick über die AR-Pflichten bei Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 4 ff. 3 Dies gilt aber nicht für obligatorische GmbH-Aufsichtsräte nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG, der nicht auf §§ 84, 87 AktG verweist. In solchen Gesellschaften sind die Gesellschafter – vorbehaltlich etwaiger Sonderregelungen im Gesellschaftsvertrag – für die Personalmaßnahmen zuständig, vgl. Annuß in MüKoAktG § 1 DrittelbG Rn. 12. Dies gilt auch für Gesellschaften, in denen ein fakultatives Überwachungsorgan installiert ist (etwa ein fakultativer AR iSd § 52 GmbHG), s. nur Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 262.  4 Zwar legt der Wortlaut des § 84 Abs. 1 AktG bei unbefangener Betrachtung nur die Kompetenz des AR für die Vorstandsbestellung fest, es entspricht jedoch allgemeiner Auffassung, dass die Bestellung der Vorstandsmitglieder zu den zentralen AR-Pflichten gehört, s. nur v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 237; Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 38. 5 Im AR einer mitbestimmten GmbH gilt § 87 Abs. 1 AktG zwar nicht, die AR-Mitglieder sind aber nach §§ 116, 93 Abs. 1 AktG verpflichtet, auf eine Geschäftsleitervergütung hinzuwirken, die dem Gesellschaftswohl entspricht; vgl. etwa Habersack/Henssler MitbestG § 31 Rn. 40. 6 Zur Ermessensreduzierung auf Null bei § 84 Abs. 3 AktG s. noch in § 15 I 3. 459

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Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats

Überdies ist der Gesamtaufsichtsrat gem. § 111 Abs. 1 AktG zur Überwachung der Geschäftsführung verpflichtet,7 wobei zwischen der vergangenheitsbezogenen Kontrolle des Geschäftsleiterhandelns und der zukunftsgerichteten Beratung in Angelegenheiten der prospektiven Geschäftspolitik unterschieden wird.8 Eine besondere Ausprägung der vergangenheitsbezogenen Überwachung ist die Pflicht zur Verfolgung von Schadensersatzansprüchen,9 die aus dem Blickwinkel der richterlichen Prüfungsdichte Gegenstand kontroverser Debatten im Schrifttum ist.10 Im Hinblick auf die beratende Tätigkeit des Aufsichtsrats sind die Zustimmungsvorbehalte hervorzuheben, die nach § 111 Abs.  4 Satz  2 AktG in der Satzung vorgesehen oder in einem Aufsichtsrats­ beschluss festgelegt werden müssen und die ein Instrument sind, mit dessen Hilfe der Aufsichtsrat auf konkrete Vorstandsmaßnahmen Einfluss nehmen kann.11 Die vorgenannten Vorschriften richten sich an den Gesamtaufsichtsrat, der als Kollegialorgan grundsätzlich nach §  108 Abs.  1 AktG im Plenum qua Beschlusses entscheidet. In den Grenzen des § 107 Abs. 3 Satz 4 AktG kann der Aufsichtsrat die Aufgaben an einen beschließenden Ausschuss delegieren.12 Anders als beim Vorstand, dessen Mitglieder nach § 77 Abs. 1 Satz 2 AktG einzelgeschäftsführungsbefugt sein können, ist es nicht möglich, einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern eine „Einzelüberwachungsbefugnis“ einzuräumen.13 Vielmehr müssen die Handlungen der Kontrolleure durch einen Beschluss des Gesamtaufsichtsrats oder eines Ausschusses legitimiert werden.14 Die Ausgestaltung des Aufsichtsrats als Kollegialorgan führt dazu, dass sich die Pflichten der einzelnen Mitglieder aus den Aufgaben des Gesamtaufsichtsrats erge 7 Zur Verpflichtung des Gesamtorgans statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 17. 8 S. nur BGHZ 135, 244, 254 ff. = NJW 1997, 1926; Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 5, 13.  9 Zur Herleitung der Verfolgungspflicht aus § 111 Abs. 1 AktG BGHZ 135, 244, 252 = NJW 1997, 1926. 10 Vgl. noch in § 15 III 4. 11 Zur richterlichen Prüfungsdichte im Hinblick auf Zustimmungsvorbehalte noch § 15 II. 12 Zur Unterscheidung zwischen beschließenden, vorbereitenden, beratenden und überwachenden AR-Ausschüssen s. etwa Habersack in MüKoAktG § 107 Rn. 102 f. 13 Vgl. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  116 Rn.  3: Die Überwachungspflicht sei eine kollektive, keine individuelle. S. ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 59 f. 14 Ausnahmen sind denkbar, wenn das Gesetz den AR-Mitgliedern individuelle Be­ fugnisse einräumt, wie etwa in § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG und § 100 Abs. 2 AktG (dazu § 3 I 5 b) oder in § 109 Abs. 2 AktG speziell für den AR-Vorsitzenden; Überblick der Individualrechte bei Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 63. Zum Zusammenhang zwischen der Beschlussfassung als Akt der Willensbildung im Kollegialorgan und der Umsetzung des Beschlusses s. etwa Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 27. 460

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Pflichten des obligatorischen Aufsichtsrats und seiner Mitglieder

ben.15 Überdies verweist § 116 Satz 1 AktG auf § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und verpflichtet damit die Einzelmitglieder auf die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Kontrolleurs;16 die Mitglieder sind also dem Gesellschaftswohl verpflichtet.17 Außerdem ist es allgemein anerkannt, dass die Aufsichtsratsmitglieder Treuebindungen gegenüber der Gesellschaft unterliegen;18 in §  116 Satz  2 AktG wird die Verschwiegenheitspflicht besonders betont. Schließlich folgt aus §§ 114, 115 AktG, dass die Aufsichtsratsmitglieder unter Einschränkungen Dienst-, Werk- und Kreditverträge mit der Gesellschaft eingehen dürfen. Das Zusammenspiel zwischen den Pflichten des Gesamtorgans und der einzelnen Organmitglieder ist schon aus dem Vorstandsrecht bekannt.19 Die Aufsichtsratsmitglieder sind verpflichtet, für eine rechtmäßige Entscheidungsfindung im Gesamtgremium zu sorgen.20 Zugleich müssen die Entscheidungen des Gremiums, die im Beschluss verkörpert sind, den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Widerspricht der Beschluss dem Gesetz, ist er nichtig.21 Fehlt eine konkrete Vorgabe an das Gesamtgremium, ist der Beschluss nichtig, wenn er auf ein Ergebnis gerichtet ist, das mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Kontrolleurs nicht vereinbar ist.22 Im Schrifttum wird ein solcher Fehler namentlich beim „Überschreiten der Ermessensgrenzen“ angenommen.23 15 S. nur BGHZ 114, 127, 130 = NJW 1991, 1830; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 116 Rn. 3; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 116 Rn. 25 (andere Akzentuierung aber in § 111 Rn. 61 ff.); Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 37. 16 So die Umschreibung der organschaftlichen Sorgfaltspflichten der AR-Mitglieder bei Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 57. S. ferner Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 116 Rn. 3; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 29.55. 17 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 78 ff., § 116 Rn. 27 ff. 18 S. nur Hopt/M. Roth in GK-AktG § 116 Rn. 142 ff. 19 Dort s. die Ausführungen in § 7 II und III. 20 Vgl. Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 30. 21 Zur Nichtigkeit des AR-Beschlusses bei Inhaltsfehlern statt vieler Hopt/M.  Roth in GK-AktG §  108 Rn.  156, 160, 172  ff.; Mertens/Cahn in KK-AktG §  108 Rn.  97  ff.; Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 217 ff. Aus der Rspr. BGHZ 135, 244, 251 ff. = NJW 1997, 1926 (Verstoß gegen § 111 Abs. 1 AktG); BGH NZG 2012, 1027 (Verstoß gegen § 84 Abs. 1 Satz 3 AktG – im konkreten Fall verneint); OLG München AG 2016, 592, 593 f. (Verstoß gegen § 84 Abs. 3 Satz 1 AktG); LG Düsseldorf AG 1995, 333 f. (Nichtigkeiten wegen unzureichender Information). 22 Vgl. im Kontext der Vorstandsbeschlüsse in § 7 III 3 und Harnos, FS E. Vetter, S. 215, 221  f. S.  ferner J.  Wilhelm KapGesR Rn.  1127: Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen §§ 93, 116 AktG. Dagegen Götz, FS Lüke, S. 167, 184. 23 S. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 108 Rn. 40; Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 80; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 108 Rn. 173 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 108 Rn. 27; 461

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Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats

II. Drei Stufen der Kontrollintensität Die vorstehende Skizze der Aufsichtsratspflichten macht eine weitere Parallele zum Vorstandsrecht deutlich. Das Überwachungsorgan und seine Mitglieder werden – so wie das Leitungsorgan und die einzelnen Geschäftsleiter – durch zwei Arten von gesetzlichen Vorgaben gesteuert. Auf der einen Seite stehen Generalklauseln wie die Überwachungspflicht aus §  111 Abs.  1 AktG, die Sorgfaltspflicht nach § 116 Satz 1 in Verbindung mit § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und die organschaftliche Treuepflicht. Auf der anderen Seite formuliert das Aktienrecht konkrete Vorgaben an den Aufsichtsrat und seine Mitglieder, so etwa in § 87 Abs. 1 und 2 AktG im Zusammenhang mit der Vorstandsvergütung, in § 84 Abs. 3 AktG im Hinblick auf die Abberufung der Vorstandsmitglieder oder in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG hinsichtlich der Aufstellung des Katalogs mit Zustimmungsvorbehalten. Diese Aufteilung der Regelungsarten hilft bei der Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte. So wurde im Kontext des Vorstandsrechts ausgeführt, dass die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle insbesondere von der Struktur der Regelungen abhängt, die die Pflichten des Leitungsorgans und seiner Mitglieder formulieren. Werden die Geschäftsleiter durch final strukturierte Normen gesteuert, ist der Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG eröffnet.24 Sind die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, ist die Rechtsprechung nur zur inhaltlichen Evidenzkon­trolle befugt. Jenseits der Business Judgment Rule schwenkt die Prüfungsintensität zwischen der Vertretbarkeitskontrolle und der vollen Inhaltskontrolle der Vorstandsmaßnahme.25 Diese Überlegungen können im Rahmen der Aufsichtsratskontrolle aufgegriffen werden. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der von der Verweisung in § 116 Satz 1 AktG erfasst ist, ist auf Entscheidungen des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder anzuwenden, die durch finale Vorschriften gesteuert sind. Schreibt das Gesetz dem Überwachungsorgan lediglich vor, im Rahmen seiner Tätigkeit das Gesellschaftswohl zu verwirklichen,26 ohne dass es den Weg konkret zeichnet, sind die Aufsichtsratsentscheidungen als unternehmerisch zu qualifizieren. Ist der Entscheidungsprozess hierbei optimal, kann sie ein Gericht E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn. 27.78; Drygala/Staake/Szalai KapGesR § 21 Rn. 180. 24 Hierzu § 8 II 3. 25 Einzelheiten in § 9 III und IV. Zur Aufteilung der Kontrollstufen s. § 10 I. 26 Wie bei § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist das Gesellschaftswohl iSd stake­holdervalue-Ansatzes zu verstehen, s. bereits § 8 I 1. 462

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Informationsbeschaffung

nur dann beanstanden, wenn sie in der Sache völlig unverantwortlich sind. Wird der Aufsichtsrat durch Konditionalnormen gesteuert, greift die Business Judgment Rule zwar nicht ein, die Vorschrift kann aber die Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite gebieten. Überdies kommt dem Adäquanzgedanken bei der Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte eine gesteigerte Bedeutung zu.27 In Bereichen, in denen ein Gericht lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle der Aufsichtsratsmaßnahmen befugt ist, werden die diskretionären Spielräume des Aufsichtsrats erweitert. Die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte könnte das Überwachungsorgan dazu verleiten, sich in die Geschäftsleitung des Vorstands ungestraft einzumischen und die umfassende Leitungsbefugnis des Vorstands faktisch beschränken. Dies widerspricht aber § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG, wonach Maßnahmen der Geschäftsführung dem Aufsichtsrat nicht übertragen werden können. Vor diesem Hintergrund dient die richterliche Kontrolle des Überwachungsgremiums dazu, die Organisationsverfassung der Gesellschaft zu sichern;28 sie ist ein Instrument des Institutionenschutzes.29 Das Aktienrecht weist den Gerichten die Aufgabe zu, den unternehmerischen Freiraum des Vorstands vor einem unberechtigten Zugriff des Aufsichtsrats zu schützen.30 Deshalb muss der Einfluss der gerichtlichen Kontrolle auf das System der checks and balances neben der normstrukturellen Analyse bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte berücksichtigt werden.

III. Informationsbeschaffung 1. Angemessenheit der Informationsgrundlage Fällt eine Aufsichtsratsentscheidung in den Anwendungsbereich der Business Judgment Rule, hängt die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle  – wie schon bei Entscheidungen der Leitungsorgane – davon ab, ob eine optimale 27 Im Zusammenhang mit der Vorstandskontrolle s. bereits § 8 II 4. 28 Ein Sicherungsinstrument ist etwa die Kompetenzschutzklage, die in Gestalt einer Unterlassungsklage zulässig ist; s. bereits in § 3 I 5 c und 7. 29 Zum Zusammenhang zwischen richterlicher Kontrolle und Institutionenschutz s. in § 2 VI 2 und § 4 VI 3. 30 Dies kommt nicht zuletzt im ARAG/Garmenbeck-Urteil des BGH zum Ausdruck, wenn der II. Zivilsenat betont, dass der AR im Rahmen der Verfolgungsentscheidung das unternehmerische Ermessen der Vorstandsmitglieder beachten muss, s. BGHZ 135, 244, 253 = NJW 1997, 1926. 463

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Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats

Entscheidungsprozedur eingehalten wurde.31 Maßgeblich ist zunächst, ob die Aufsichtsratsmitglieder vernünftigerweise annehmen durften, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Geht es um die Angemessenheit der Informationsgrundlage, ist nicht erforderlich, dass das Überwachungsorgan alle denkbaren Informationen besorgt, sondern das Ausmaß der gebotenen Informationsbeschaffung hängt  – wie beim Vorstand32  – von der konkreten Entscheidungssituation ab.33 Bei der Bestimmung der Angemessenheit ist insbesondere zu berücksichtigen, welche Erkenntnisquellen der Aufsichtsrat ausschöpfen kann. Im Bereich der regulären Überwachung des Vorstands plädieren zahlreiche Stimmen dafür, die Anforderungen an die Informationsbeschaffung bei den Aufsichtsratsmitgliedern niedriger anzusetzen als bei den Geschäftsleitern: Der Umstand, dass das Überwachungsorgan einen begrenzten Zugang zu Informationsquellen habe, weil es in erster Linie auf die Berichterstattung durch den Vorstand angewiesen sei, müsse im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berücksichtigt werden.34 Dem ist zuzustimmen. Der Aufsichtsrat darf sich die für die Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Informationen nicht eigenmächtig besorgen. Vielmehr ist der Vorstand die primäre Informationsquelle des Aufsichtsrats, der seine Entscheidungen auf der Grundlage der Berichte und Vorlagen nach §§ 90, 170, 314 AktG trifft. Überdies kann der Aufsichtsrat sein Einsichts- und Prüfungsrecht aus § 111 Abs. 2 AktG geltend machen, was namentlich dann geboten ist, wenn er einen Verdacht auf Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Geschäftsführung hat.35 Auch in diesem Fall hat der Aufsichtsrat aber keinen unmittelbaren Zugriff auf die Geschäftsinterna, sondern er muss sich an den 31 Wie bei den Leitungsorganen ist zu unterscheiden zwischen der Kontrolle des einzelnen AR-Mitglieds und des Kollegialorgans. Während die Anwendung der BJR beim Einzelmitglied keine konstruktiven Schwierigkeiten bereitet, weil § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus der individuellen Perspektive formuliert ist, sind bei der Beschlusskontrolle die in § 15 III 3 skizzierten Besonderheiten zu beachten. 32 S. dazu § 8 III 1. 33 Insbesondere spielt das Gewicht der Maßnahme, über die der AR mitzuentscheiden hat, eine zentrale Rolle, s. Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  116 Rn.  14; Cahn WM 2013, 1293, 1298 f. 34 Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 228 ff.; Lieder ZGR 2018, 523, 557 ff. In diese Richtung auch Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 42 aE; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 310; Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 46; Cahn WM 2013, 1293, 1298; Kropff, FS Raiser, S.  225, 234  f., 237  ff.; E.  Vetter, 50 Jahre AktG, S. 103, 121. Strenger aber augenscheinlich Göppert, Business Judgment Rule, S. 136 ff. 35 S.  Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  71.  Vgl. ferner Hüffer/J. Koch AktG §  111 Rn. 20: Informationsrecht als Pflichtrecht. 464

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Informationsbeschaffung

Vorstand wenden.36 Insbesondere hat er nach zutreffender, wenn auch umstrittener Auffassung grundsätzlich kein Recht, die Unternehmensangehörige ohne Gestattung des Vorstands zu befragen.37 Diese begrenzten Erkenntnismöglichkeiten müssen bei der Beurteilung der Informationsgrundlage beachtet werden. Verschafft das Gesetz dem Aufsichtsrat einen nur begrenzten Informationszugang, dürfen die Gerichte bei der entsprechenden Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht fordern, dass die Aufsichtsratsmitglieder den gleichen Informationsstand haben wie der Vorstand, wenn die Kontrolleure sich auf die Business Judgment Rule berufen.38 Die Informationsbeschaffung durch den Aufsichtsrat muss aber intensiver ausfallen, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Vorstand sich gegebenenfalls pflichtwidrig verhalten und seinen Prinzipal nicht mit den erforderlichen Informationen versorgt hat.39 In diesem Fall dürfen sich die Aufsichtsratsmitglieder nur dann auf die Business Judgment Rule berufen, wenn sie sich aktiv um die Verbesserung seiner Informationslage bemühen, etwa nach § 90 Abs. 3 AktG ergänzende Vorstandsberichte anfordern oder das Einsichts- und Prüfungsrecht nach § 111 Abs. 2 AktG geltend machen40 oder die Mitarbeiter der Gesellschaft – im Grenzen des Zulässigen – befragen, ohne den Umweg über den Vorstand zu gehen.41 Eine intensivere Informationsbeschaffung ist überdies geboten, wenn der Aufsichtsrat Aufgaben erfüllt, die nicht zur „schlichten“ Vorstandsüberwachung gehören und bei denen er nicht auf die Informationsversorgung durch den Vorstand angewiesen ist.42 Hierzu zählt etwa die Ausübung der Personalkompetenz. Ist der Aufsichtsrat auf der Suche nach geeigneten Geschäftsleitern, dürften für ihn die Vorstandsberichte nach § 90 Abs. 1 AktG eine untergeordnete Rolle spielen. Zwar können die Informationen über die beabsichtigte Geschäftspolitik und grundsätzliche Fragen der Unternehmensplanung, über die 36 Vgl. nur Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 21. 37 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 21; M. Arnold/Rudzio, FS Wegen, S. 93 ff. 38 Vgl. P. Doralt/W. Doralt in Semler/v. Schenck AR-HdB §  14 Rn.  80  f.; E.  Vetter, 50 Jahre AktG, S. 103, 122. 39 Auch dies entspricht der hM, s. Bunz, Geschäftsleiterermessen, S.  236; Lieder ZGR 2018, 523, 562; Cahn WM 2013, 1293, 1298. 40 Zur prozessualen Durchsetzung des Berichtsanspruchs und des Einsichtsrechts s. bereits § 3 I 5 b. 41 Zu den Handlungspflichten des AR-Mitglieds s. etwa E. Vetter, 50 Jahre AktG, S. 103, 122 f. 42 Ähnlich Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 235; Kropff, FS Raiser, S. 225, 233 („Allein­ entscheidungen des Aufsichtsrats“); Lieder ZGR 2018, 523, 558; Lutter ZIP 2007, 841, 847. 465

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Kontrolle des obligatorischen Aufsichtsrats

Rentabilität der Gesellschaft sowie über den Gang der Geschäfte und die Lage der Gesellschaft die Auswahl der Vorstandsmitglieder beeinflussen, weil die Personalfragen im Lichte der unternehmerischen Strategie und der wirtschaftlichen Herausforderungen entschieden werden, gleichwohl dürften die Eigenschaften der Kandidaten im Vordergrund stehen. Um die Eignung der potentiellen Geschäftsleiter einzuschätzen, ist der Aufsichtsrat aber nicht auf die Informationen der amtierenden Vorstandsmitglieder angewiesen.43 Deshalb besteht kein Anlass, insoweit die Anforderungen an die Angemessenheit der Entscheidungsgrundlagen zu lockern. 2. Kontrollintensität hinsichtlich der Informationsbeschaffung Unabhängig davon, welche Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage die Aufsichtsratsmitglieder erfüllen müssen, bleibt die Intensität der gerichtlichen Kontrolle der Informationsbeschaffung gleich. Die Einschätzung des Aufsichtsrats muss vertretbar sein; eine informationelle ­Business Judgment Rule ist nicht anzuerkennen. Wie bereits im Kontext der Geschäftsleiterkontrolle erläutert, greift der Gedanke der Richtigkeitschance – der eine Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte rechtfertigt – im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt nur dann ein, wenn das Gericht zu einer engmaschigeren Kontrolle des Entscheidungsverfahrens, und damit der Informationsbeschaffung, befugt bleibt.44 3. Informationsbeschaffung im Kollegialorgan In § 14 I wurde ausgeführt, dass der Aufsichtsrat als Kollegialorgan entscheidet. Seine Maßnahmen müssen durch einen Beschluss des Gesamtorgans oder eines Ausschusses legitimiert sein, der grundsätzlich der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen bedarf.45 Dennoch ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch für die Aufsichtsratsentscheidungen aus der Perspektive der einzelnen Organmitglieder formuliert. Maßgeblich ist, ob das jeweilige Aufsichtsratsmitglied vernünftigerweise annehmen durfte, auf Grundlage angemessener Information zu handeln. Deshalb hat das Gericht im Rahmen der (individuellen) Verhaltenskontrolle zu prüfen, ob das einzelne Mitglied im Vorfeld der Stimmabgabe für eine hinreichende Entscheidungsgrundlage gesorgt hat. Hat sich das 43 Zu den anderen Personalmaßnahmen des AR, bei denen schon die Frage problematisch ist, ob sie im sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegen, s. noch in § 15 I 2 bis 4. 44 S. schon § 8 III 2. Für den AR Lieder ZGR 2018, 523, 556 f. 45 Hierzu und zu den Ausnahmen Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 20 ff. 466

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Informationsbeschaffung

Mitglied angemessen informiert, spielt es keine Rolle, ob die Informationsbeschaffung seiner Kollegen unzureichend war. Umgekehrt kann sich ein unzureichend informiertes Aufsichtsratsmitglied nicht darauf berufen, dass die anderen Aufsichtsräte für eine angemessene ­Informationsgrundlage gesorgt haben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die  Aufsichtsratsentscheidung in einem Ausschuss vorbereitet wird und die Aufsichtsratsmitglieder, die dem Ausschuss nicht angehören, vernünftiger­ weise davon ausgehen dürfen, dass die Ausschussmitglieder die Entscheidungsgrundlagen sorgfältig aufgearbeitet haben. In einem solchen Fall ist die Aufgabenverteilung innerhalb des Aufsichtsrats im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle zu berücksichtigen. Die ausschussfremden Aufsichtsratsmitglieder dürfen auf die angemessene Entscheidungsvorbereitung des Ausschusses vertrauen.46 Bezieht sich die gerichtliche Kontrolle auf den Aufsichtsratsbeschluss als Ergebnis der organinternen Willensbildung, ist an die Ausführungen in § 8 V 4 c anzuknüpfen. Im Zusammenhang mit der Vorstandskontrolle handelte es sich um eher theoretische Überlegungen, weil die Konflikte innerhalb des Leitungsorgans meist nicht vor Gericht ausgetragen werden. Diese Grundsätze erlangen im Kontext der Aufsichtsratskontrolle eine größere praktische Relevanz, weil die Aufsichtsratsmitglieder eher – wenn auch nicht häufig – geneigt sind, die Gerichte zur Lösung organinterner Konflikte anzurufen.47 Überträgt man die zu den Vorstandsbeschlüssen gewonnenen Erkenntnisse auf den Aufsichtsrat, hängt die Beurteilung, ob der Beschluss auf einer angemessenen Informationsgrundlage beruht, in erster Linie davon ab, ob die Maßnahme in einem Ausschuss vorbereitet wurde oder ob der Gesamtaufsichtsrat für die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen zuständig war. Im erstgenannten Fall kommt es darauf an, ob die Aufsichtsratsmehrheit vernünftigerweise davon ausgehen durfte, dass der Ausschuss die Entscheidungsgrundlagen angemessen aufgearbeitet hat.48 Im letztgenannten Fall unterliegt der Beschluss einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn so viele informierte Aufsichtsrats46 Vgl. etwa P. Doralt/W. Doralt in Semler/v. Schenck AR-HdB § 14 Rn. 157; Cahn WM 2013, 1293, 1299 ff. Zu entsprechenden Überlegungen bei Informationsbeschaffung durch den „Berichterstatter“ im Vorstand in § 8 V 3 c. 47 Zu erinnern ist insb. an den Streit in der Hamburg-Mannheimer AG (BGHZ 122, 342 = NJW 1993, 2307), der Vereinte Krankenversicherung AG (BGHZ 124, 111, 112 = NJW 1994, 520) und der ARAG AG (BGHZ 135, 244 = NJW 1997, 1926). Zum Streit im AR der Karwendelbahn AG OLG München ZIP 2017, 372. 48 Wurde die Entscheidung auf einen beschließenden Ausschuss delegiert, kommt es auf den Informationsstand der Mehrheit im Ausschuss an. 467

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mitglieder für den Antrag abgestimmt haben, dass sie den Beschluss unabhängig von den Stimmen der uninformierten Mitglieder tragen können.49 War die Informationsgrundlage unzureichend, führt dies freilich nicht zur Nichtigkeit des Beschlusses,50 sondern das Gericht muss überprüfen, ob der Beschlussinhalt vertretbar ist.51

IV. Interessenkonflikte 1. Einschränkung des Konfliktbegriffs a) Aktienrechtliche Konflikttoleranz Schließlich setzt die Lockerung der richterlichen Kontrolldichte voraus, dass sich die Aufsichtsratsmitglieder nicht in einem Interessenkonflikt befinden. Zwar wird im Schrifttum mancherorts vertreten, dass die Konfliktfreiheit keine Voraussetzung für die entsprechende Anwendung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf den Aufsichtsrat sei, weil dessen Mitglieder häufig von Sonderinte­ ressen beeinflusst seien,52 jedoch kann diese völlige Ausblendung der Befangenheit aus teleologischen Gründen nicht überzeugen. Auch wenn es zutrifft, dass das Aktienrecht im Hinblick auf das Überwachungsorgan dem Grundsatz der Konflikttoleranz folgt,53 kann dies nicht dazu führen, dass die Aufsichtsratsmitglieder sich auch dann auf die Business Judgment Rule berufen können, wenn sie einem Interessenkonflikt unterliegen.54 49 Da im AR das Mehrheitsprinzip herrscht (s. Fn.  45), spielen die Überlegungen zur Beschlusskontrolle beim Einstimmigkeitsprinzip hier keine Rolle. 50 Wie hier OLG München ZIP 2017, 372, 375; Spindler in BeckOGK AktG § 108 Rn. 80 Fn.  265 aE; Lieder ZGR 2018, 523, 580.  AA vor Einführung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG LG Düsseldorf AG 1995, 333 f. und LG Hannover ZIP 1989, 1330, 1332: Nichtigkeit des AR-Beschlusses wegen unzureichender Information der Arbeitnehmervertreter. Unklar Harbarth, FS Seibert, S. 291, 298 f 51 S. schon § 9 IV 4.  52 So etwa Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 116 Rn. 16, der die BJR erst dann entfallen lassen will, wenn ein AR-Mitglied den Interessenkonflikt nicht offenlegt. In diese Richtung wohl auch Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 48. 53 Dieser Grundsatz lässt sich auf zahlreiche Regelungen stützen, wie etwa die Zulässigkeit von Mehrfachmandaten (§ 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AktG) oder die Freistellung vom Wettbewerbsverbot (§  105 Abs.  2 Satz  4 AktG). Zur Konflikttoleranz vertieft Martinek WRP 2008, 51, 53 f.; J. Koch ZGR 2014, 697, 700 f. 54 So auch die hM, s. Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 42; Hopt/M. Roth in GK-AktG §  116 Rn.  61; Hüffer/J.  Koch AktG §  116 Rn.  6; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 240 ff.; Göppert, Business Judgment Rule, S. 139 f.; Wetzig, Rechtsberatungsverträge, S. 93 f.; Lieder ZGR 2018, 523, 570 ff. 468

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Interessenkonflikte

Beschließt der Aufsichtsrat einen Zustimmungsvorbehalt zu einem Geschäft mit einem Unternehmen, an dem der heimliche Liebhaber einer Aufsichtsrätin maßgeblich beteiligt ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die ­Aufsichtsrätin die Belange ihres Freundes im Blick behält, statt im Gesellschaftsinteresse zu handeln.55 Dabei hat ihr Interessenkonflikt nichts mit dem Umstand zu tun, dass sich das Aktienrecht gegenüber Mehrfachmandaten tolerant zeigt (§  100 Abs.  2 Satz  1 Nr.  1 AktG) und die Kontrolleure keinem Wettbewerbsverbot unterwirft (§ 105 Abs. 2 Satz 4 AktG). Vielmehr resultiert die Befangenheit aus einer engen persönlichen Verbindung mit dem Geschäftspartner der Gesellschaft. In einem solchen Fall liegen die prozeduralen Voraussetzungen für die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle nicht vor: Es kann nicht vermutet werden, dass die Entscheidung der befangenen Aufsichtsrätin inhaltlich richtig ist, weil das Entscheidungsverfahren optimal war. Dennoch darf die Konflikttoleranz des Aktiengesetzes bei der Konkretisierung des Konfliktbegriffs nicht außer Betracht bleiben. Ist das Aufsichtsratsmandat nach dem Leitbild des Aktiengesetzes ein Nebenamt, das auch dann ausgeübt werden darf, wenn der Mandatsträger dem Überwachungsorgan eines anderen Unternehmens angehört oder gar dieses Unternehmen leitet, können an die Unbefangenheit der Aufsichtsratsmitglieder im Kontext der Business Judgment Rule nicht dieselben Anforderungen gestellt werden wie beim Vorstand. Es wäre widersprüchlich, wenn das Aktienrecht den Kontrolleuren einerseits eine konfliktträchtige Tätigkeit erlauben würde, andererseits aber von ihnen unternehmerische Entscheidungen verlangen würde, ohne die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu gewähren. Dies gilt umso mehr, als das Aktienrecht mit der Pflicht zur Amtsniederlegung ein ungeschriebenes Instrument kennt, mit dem die gravierenden und dauerhaften Interessenkonflikte der Aufsichtsratsmitglieder entschärft werden können.56 Sind die Voraussetzungen der Amtsniederlegung nicht erfüllt, sind die Aufsichtsratsmitglieder vorbehaltlich eines Stimmverbots analog §  34 BGB gehalten,57 an der Beratung und Beschlussfassung im Aufsichtsrat teilzunehmen. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, den Konfliktbegriff einzuschränken, indem man die gesetzlichen Wertungen der Vorschriften, in denen die Konflikttoleranz des Aktienrechts zum Ausdruck kommt, bei der Bestimmung der 55 Zur gerichtlichen Kontrolldichte bei Zustimmungsvorbehalten noch in § 15 II 1. 56 Statt vieler Habersack in MüKoAktG § 100 Rn. 103 f.; Reichert, FS E. Vetter, S. 597, 606 ff. 57 Zum Zusammenhang zwischen dem Teilnahme- und Stimmverbot einerseits und dem entgrenzten Konfliktbegriff der BJR andererseits J. Koch ZGR 2014, 697, 710 ff. 469

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Sonderinteressen berücksichtigt und die Relevanzschwelle anhebt.58 Dabei kann es hilfreich sein, zwischen verbandsinternen und verbandsexternen Konfliktquellen zu differenzieren. Bei verbandsinternen Konfliktquellen resultiert die Befangenheit der Aufsichtsratsmitglieder aus ihren Beziehungen innerhalb der Aktiengesellschaft, etwa aus der vielbesprochenen Beißhemmung gegenüber den Vorstandsmitgliedern59 oder aus einer kollegialen Verbundenheit zu den anderen Aufsichtsratsmitgliedern. Die verbandsexternen Interessenkonflikte resultieren hingegen aus Umständen, die außerhalb der Gesellschaft liegen, etwa aus anderweitigen Tätigkeiten des Aufsichtsratsmitglieds in fremden Unternehmen (sei es im Leitungsorgan, sei es im Überwachungsorgan) oder aus einer engen persönlichen Beziehung zu einem (potentiellen) Geschäftspartner der Gesellschaft. b) Verbandsinterne Konfliktquellen Handelt es sich um eine verbandsinterne Konfliktquelle, spricht die Bedeutung der richterlichen Kontrolle als ein Instrument des Institutionenschutzes gegen eine Einschränkung des Konfliktbegriffs im Kontext der Business Judgment Rule. Es wurde bereits in §  4 V 4 darauf hingewiesen, dass der Aufsichtsrat dazu neigen kann, funktionierende Governance-Strukturen zugunsten einer einvernehmlichen Zusammenarbeit mit dem Vorstand zu vernachlässigen. Sitzen Vorstand und Aufsichtsrat an einem Tisch, entsteht ein „doppelstöckiges Prinzipal-Agent-Problem“.60 Beide Verwaltungsorgane sind als Agenten der Aktionäre tätig, die einen Informationsvorsprung gegenüber ihrem Prinzipal haben und ihr Verhalten zu dessen Nachteil koordinieren können.61 Die Beziehungen zwischen dem Leitungs- und Überwachungsorgan sind im besonderen Maße dazu geeignet, die verbandsinternen Kontrollinstrumente faktisch auszuhebeln und das Governance-Gefüge der Aktiengesellschaft zu stören.

58 Dies entspricht der wohl hM im Schrifttum, s. Grigoleit/Tomasic AktG § 116 Rn. 8; Hüffer/J. Koch AktG § 116 Rn. 6; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 240 ff. Strenger aber Göppert, Business Judgment Rule, S.  139  f., der die für Vorstand geltenden Grundsätze unbesehen auf den AR überträgt. Ähnlich wohl Wetzig, Rechtsberatungsverträge, S. 94. 59 Statt vieler Bayer NJW 2014, 2546; Bieder NZG 2015, 1178, 1179; Lutter ZHR 159 (1995), 287, 304. 60 Diese Bezeichnung geht auf Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 30 zurück. 61 Treffend A. Arnold, Steuerung, S. 75: Kollusion zwischen Kontrollorgan und Management. 470

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Im Hinblick darauf ist eine intensivere gerichtliche Kontrolle ein probates ­Instrument, um das Risiko eines moral hazard auf Seiten des Aufsichtsrats zu begrenzen. Die gerichtliche Überprüfung verbandsrechtlicher Entscheidungen kann gewährleisten, dass die aktienrechtliche Organisationsverfassung beachtet bleibt.62 Deshalb ist es umso wichtiger, die gerichtliche Kontrolle nicht auf dem Evidenzniveau anzusiedeln, wenn eine greifbare Möglichkeit besteht, dass das Überwachungsorgan im Rahmen seiner Entscheidungsfindung die Interessen des Vorstands oder seiner eigenen Mitglieder dem Unternehmenswohl vorzieht. Liegt die Gefahr des opportunistischen Verhaltens der Verwaltungsorgane nahe, ist eine intensivere Überprüfung der Aufsichtsratsentscheidungen geboten.63 Freilich muss damit keine vollständige Inhalts­ kontrolle der Maßnahmen einhergehen. Vielmehr kann bei verbandsinternen Sonderinteressen eine inhaltliche Vertretbarkeitskontrolle angezeigt sein.64 c) Verbandsexterne Konfliktquellen Bei verbandsexternen Konfliktquellen spricht viel dafür, §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG großzügiger anzuwenden und die Reichweite des Konfliktbegriffs einzuhegen. Eine Einschränkung des Konfliktbegriffs ist etwa bei Aufsichtsratsmitgliedern anzunehmen, die mit einem Aktionär der Gesellschaft eng verbunden sind. Dies kommt insbesondere in Konzernsachverhalten und bei Entsendung in Betracht. Der Umstand, dass ein Aufsichtsratsmitglied geneigt sein kann, die Belange des ihm nahestehenden Aktionärs bei der Überwachungsarbeit zu beachten, führt nicht automatisch zum Ausschluss der Business Judgment Rule. Vielmehr entfällt die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG erst dann, wenn sich die abstrakte Gefahr eines Interessenwiderstreits in einer konkreten Entscheidungssituation so zuspitzt, dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass der Kontrolleur das Unternehmenswohl missachtet. Diese Überlegungen gelten auch für die Arbeitnehmervertreter im mitbestimmten Aufsichtsrat. Es ist gerade das Ziel der unternehmerischen Mitbestimmung, dass die Aufsichtsratsmitglieder auf der Arbeitnehmerbank die Belange der Beschäftigten in das Überwachungsorgan hineintragen. Deshalb kann ihnen die Berufung auf die Business Judgment Rule nicht schon deshalb versagt werden, weil sie wegen ihrer Rolle dazu tendieren können, die Arbeit62 Hierzu bereits § 4 V 4 und VI 3. 63 In diese Richtung im Zusammenhang mit den Eigengeschäften der Organmitglieder Wiedemann, Organverantwortung, S. 16 ff. Zurückhaltend aber Bunz, Geschäftsleiter­ ermessen, S. 240; Paefgen, Entscheidungen, S. 193. 64 S. dazu § 9 IV 3. 471

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nehmerinteressen zu verfolgen.65 Will der Vorstand etwa eine Betriebsstätte schließen und unterliegt diese Maßnahme einem Zustimmungsvorbehalt (§  111 Abs.  4 Satz  2 AktG), sind die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nicht schon deshalb befangen, weil sie im Interesse der Belegschaft für den Erhalt der Arbeitsplätze votieren. Freilich sind die Einschränkungen des Konfliktbegriffs nicht bei allen externen Konfliktquellen geboten. Resultieren die Sonderinteressen der Aufsichtsratsmitglieder aus Umständen, die nicht auf die gesetzlich vorgegebene Struktur des Überwachungsgremiums zurückzuführen sind, besteht kein Anlass für eine großzügige Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Befangenheit aus einer nahen persönlichen Beziehung zu einer Person ergibt, die kein Aktionär der Gesellschaft ist. 2. Interessenkonflikte im Kollegialorgan Die vorstehenden Ausführungen zur Konkretisierung des Konfliktbegriffs sind durch Überlegungen zu den Auswirkungen eines Interessenkonflikts in einer Beschlusssituation zu ergänzen. Dabei ist an die Erläuterungen zur gerichtlichen Kontrolle bei kollektiven Entscheidungen im Vorstand anzuknüpfen. Überprüft das Gericht die Stimmabgabe durch die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, ist eine wortlautgetreue, individuelle Betrachtung vorzugswürdig: Sind die Sonderinteressen der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder verborgen, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur hinsichtlich dieser Mitglieder nicht anwendbar. Konnten ihre (an sich unbefangenen) Kollegen keine Kenntnis von den fremden ­Interessenkonflikten haben, genießen sie weiterhin die Privilegierung der ­Business Judgment Rule. Legt ein befangenes Aufsichtsratsmitglied seine Sonderinteressen offen, werden seine Kollegen infiziert, es sei denn, das befangene Mitglied nimmt weder an der Beratung noch an der Abstimmung teil.66 Unterliegt der Aufsichtsratsbeschluss der gerichtlichen Inhaltskontrolle, greift die Business Judgment Rule nicht ein, wenn ein befangenes Mitglied an der Beratung oder Beschlussfassung teilnimmt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Sonderinteressen verborgen oder offen waren. Der Umstand, dass das befangene Mitglied die Entscheidungsfindung des Kollektivs maßgeblich beeinflussen und damit den Beschluss infizieren kann, widerlegt die Richtigkeitsvermu-

65 Zutr. Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 240 f. 66 S. hierzu ausf. in § 8 V 3 b. 472

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Interessenkonflikte

tung hinsichtlich des Entscheidungsinhalts.67 Da die Entscheidungsprozedur nicht optimal war, bedarf es einer intensiveren gerichtlichen Willensbildungskontrolle.68 Eine inhaltliche Evidenzkontrolle des Beschlusses ist nur dann angezeigt, wenn sich das befangene Aufsichtsratsmitglied aus der Beratung und Abstimmung zurückzieht.69

67 Für eine Mehrheitsbetrachtung bei verborgenem Konflikt aber Drygala in K. Schmidt/​ Lutter AktG § 116 Rn. 17. 68 Zur Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte bei Interessenkonflikten § 9 IV 3. 69 Dazu bereits § 8 V 4 b. 473

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§ 15 Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben I. Personalmaßnahmen 1. Auswahl der Geschäftsleiter Vorstehend wurde auf abstrakter Ebene herausgearbeitet, in welchen Situationen ein Gericht die Aufsichtsratsentscheidungen kontrollieren kann und welche Gesichtspunkte bei der Bestimmung der Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle eine Rolle spielen. Um die Erläuterungen greifbarer zu machen, wird im Folgenden ausbuchstabiert, wie die gerichtliche Prüfungsdichte in ausgewählten Entscheidungssituationen bestimmt werden kann. Dabei wird in einem ersten Schritt auf die Personalmaßnahmen des Aufsichtsrats eingegangen, um sich sodann den Zustimmungsvorbehalten als Teil der zukunftsgerichteten Vorstandskontrolle zu widmen. In einem letzten Schritt wird die vergangenheitsbezogene Kontrolle des Vorstands – insbesondere der Verfolgungspflicht bei der Vorstandsinnenhaftung  – beleuchtet. Schließlich wird die  richterliche Prüfungsdichte im Hinblick auf die Durchbrechung der ­Verschwiegenheitspflicht und bei übernahmerechtlichen Besonderheiten bestimmt. Im Kontext der Personalmaßnahmen des Aufsichtsrats ist zunächst die Auswahl der Geschäftsleiter aufzugreifen.1 Diese Entscheidung wird in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig zu Recht als unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG qualifiziert.2 Jenseits der Inhabilitätsvorschriften in § 76 Abs. 3 AktG, § 6 Abs. 2 GmbHG formuliert das Gesetz keine inhaltli1 In der AG ergibt sich die Bestellungskompetenz des AR aus § 84 Abs. 1 AktG, in der mitbestimmten GmbH aus § 31 Abs. 1 MitbestG. 2 Aus der Rspr. OLG Düsseldorf NZG 2015, 1115, 1117; OLG München ZIP 2017, 372, 374 (beide für unternehmerisches Ermessen); aus dem Schrifttum Heidel/Breuer/ Fraune AktG § 116 Rn. 5; Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68; Seibt in K. Schmidt/ Lutter AktG § 84 Rn. 14; Spindler in MüKoAktG § 84 Rn. 15; Göppert, Business Judgment Rule, S. 77 f.; Huthmacher, Pflichten, S. 137; Lieder ZGR 2018, 523, 534. Für eine eingeschränkte Kontrolle der Auswahlentscheidung vor Einführung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG etwa Krieger, Personalentscheidungen, S.  22  ff.; Lüpkemann, Ermessen, S.  163  ff. Das unternehmerische Ermessen erstreckt sich auch auf die Auswahl des Vorstandsvorsitzenden nach § 84 Abs. 2 AktG, s. nur Lieder ZGR 2018, 523, 534 mwN in Fn. 56. 474

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Personalmaßnahmen

chen Vorgaben an den Aufsichtsrat,3 dessen Auswahlentscheidung sich nicht in ein „Wenn-dann“-Schema pressen lässt. Vielmehr muss der Aufsichtsrat unterschiedliche Umstände – wie etwa die fachliche und persönliche Qualifika­ tion, die Erfahrung und die Gehaltsvorstellungen der Kandidaten sowie den aktuellen Personalbedarf der Gesellschaft4  – berücksichtigen und sie gegeneinander abwägen. Im Rahmen der Abwägung muss sich der Aufsichtsrat allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen, er ist also final gesteuert. Hinzu kommt, dass ein Gericht gegenüber dem Aufsichtsrat keinen Kompetenzvorsprung hinsichtlich der Frage hat, wer die Gesellschaft leiten soll. Insoweit spricht auch der Adäquanzgedanke für eine Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte.5 Wird ein Gericht zur Überprüfung der Auswahlentscheidung angerufen, ist es lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt, wenn die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingehalten wurden. Dabei wird das Gericht in der Regel nicht im Rahmen eines Haftungsprozesses das Stimmverhalten der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder, sondern den Aufsichtsratsbeschluss über die Bestellung des Geschäftsleiters überprüfen.6 In einem solchen Fall gelten die Ausführungen zur Intensität der Willensbildungskontrolle in § 14 III 3 und § 14 IV 2 entsprechend. 3 Allerdings ist es nach hM zulässig, weitere Eignungsvoraussetzungen in der Satzung zu verankern, s. nur Lutter/Krieger/Verse AR Rn.  341.  Greifen die Aktionäre auf diese ­Gestaltungsoption zurück, muss sich die Auswahlentscheidung des AR innerhalb der Satzungsgrenzen bewegen. Weitere Besonderheiten gelten in regulierten Branchen, in denen § 25c KWG, § 24 VAG die Anforderungen an die Geschäftsleiter spezifizieren. Diese Vorgaben sprechen für die Gestattung einer richterlichen Vertretbarkeitskon­ trolle der Auswahlentscheidung (s. schon zu aufsichtsrechtlichen Organisationspflichten in § 11 I 2). 4 Zu den abwägungsrelevanten Umständen etwa OLG München ZIP 2017, 372, 374; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 342. 5 Die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle wird durch einen intradisziplinären Vergleich plausibilisiert, den bereits Mutter, Entscheidungen, S. 233 f. zog. Im Verwaltungsrecht ist es anerkannt, dass der Dienstherr im Rahmen der Einstellung einen Beurteilungsspielraum genießt (s. § 5 II 2), obwohl die Auswahl der Staatsbediensteten stärker durch rechtliche Vorgaben determiniert ist als im Gesellschaftsrecht. Die Verwaltungsbehörden sind unmittelbar durch Art.  33 Abs.  2 GG und den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gebunden, während der AR lediglich die Vorgaben der § 76 Abs. 3 AktG, § 6 Abs. 2 GmbHG beachten muss. Vor diesem Hintergrund muss dem AR bei der Auswahl der Geschäftsleiter erst recht eine Einschätzungsprärogative zugestanden werden. 6 So die Konstellation bei OLG München ZIP 2017, 372.  Zur Begründung der Vorstandswahl als Gegenstand des Auskunftserzwingungsverfahrens nach §  132 AktG OLG Düsseldorf NZG 2015, 1115. 475

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Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben

Was die Angemessenheit der Informationsgrundlage angeht, wurde bereits in § 14 III 1 erläutert, dass der Aufsichtsrat bei den Personalmaßnahmen nicht auf die Informationsversorgung durch die Geschäftsleiter angewiesen ist, sondern sich die Entscheidungsgrundlagen selbständig erarbeiten muss.7 Insbesondere hat sich der Aufsichtsrat über die Fähigkeiten der Kandidaten zu informieren; hierzu gehören etwa die Ausbildung und der bisherige berufliche Werdegang. Im Einzelfall kann es geboten sein, die Kandidaten in die Aufsichtsratssitzung einzuladen, um sich in einem persönlichen Gespräch ein Bild von ihrem Auftreten und ihren Plänen hinsichtlich der Leitung der Gesellschaft zu machen.8 Sorgt der Aufsichtsrat nicht für eine angemessene Informationsbeschaffung, ist seine Entscheidung zwar nicht durch die Business Judgment Rule geschützt, was aber nicht dazu führt, dass sie der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt oder dass sie pflichtwidrig ist. Wie schon in § 11 IV 4 herausgearbeitet, darf das Gericht kontrollieren, ob die Auswahl vertretbar ist. Auch für die Unbefangenheit der Aufsichtsratsmitglieder gelten die allgemeinen Grundsätze. Ein Interessenkonflikt, der die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ausschließt, liegt vor, wenn eine konkrete Gefahr besteht, dass ein Aufsichtsratsmitglied wegen der Teilnahme an der Beratung und Abstimmung über die Geschäftsleiterwahl die organschaftliche Treuepflicht verletzt, weil es sich nicht ausschließlich vom Gesellschaftswohl leiten lässt.9 Eine solche Gefahr ist etwa zu bejahen, wenn eine dem Aufsichtsratsmitglied nahestehende Person zum Geschäftsleiter gewählt werden soll.10 Noch nicht problematisiert wurden die Auswirkungen des Interessenkonflikts auf die Business Judgment Rule in einem Fall, in dem ein amtierendes Aufsichtsratsmitglied in die Geschäftsleitung wechseln soll. Die bisherige Diskussion hat sich lediglich mit der Frage beschäftigt, ob der Kandidat einem Stimmverbot analog § 34 BGB unterliegt, was nach zutreffender, wenn auch umstrittener Auffassung zu bejahen ist.11 Unklar ist aber, ob die übrigen Auf 7 Hat ein Personalausschuss die Geschäftsleiterwahl vorbereitet und dem Plenum einen Kandidaten vorgeschlagen (was in der Praxis häufig vorkommt, s. Lutter/Krieger/ Verse AR Rn. 337), kommt es auf die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen im Ausschuss an; s. schon in § 14 III 3. 8 Gegen eine pauschale Pflicht zur Einladung der Kandidaten OLG München ZIP 2017, 372, 375. 9 Zum Interessenkonflikt als Vorstufe der Treuepflichtverletzung s. § 8 IV 2. 10 Zum Kreis der nahestehenden Personen in § 8 IV 3. 11 So auch die inzwischen hM, s. Habersack in MüKoAktG § 108 Rn. 32; Hüffer/J. Koch AktG § 108 Rn. 9; Spindler in BeckOGK AktG § 108 Rn. 32. AA etwa Mertens/Cahn in KK-AktG § 108 Rn. 67; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 347. 476

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Personalmaßnahmen

sichtsratsmitglieder befangen sind und sich deshalb nicht auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen. Im Zusammenhang mit den Interessenkonflikten im Vorstand wurde in § 8 V 3 b ausgearbeitet, dass die kollegiale Verbundenheit innerhalb eines Organs ausreichen kann, um ein befangenes Vorstandsmitglieder als eine Konfliktquelle einzuordnen, die für seine Kollegen zum Ausschluss der Business Judgment Rule führen kann. Vor diesem Hintergrund könnte man argumentieren, dass die Aufsichtsratsmitglieder wegen der Organzugehörigkeit in einer engeren Beziehung zueinander stehen als zu aufsichtsratsfremden Personen und sie sich deshalb wegen Befangenheit nicht auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen dürfen, wenn sie ein Aufsichtsratsmitglied zum Geschäftsleiter wählen. Indes ist zu beachten, dass die Aufsichtsratstätigkeit ein Nebenamt ist. Da die Kontrolleure nach dem gesetzlichen Regelfall nur vier Mal im Jahr zusammentreffen müssen (§ 110 Abs. 3 Satz 1 AktG), ist die zwischen ihnen bestehende Beziehung nicht so eng wie bei den Geschäftsleitern, die laufend miteinander im Kontakt stehen müssen. Deshalb befinden sich die Aufsichtsratsmitglieder nicht in einem relevanten Interessenkonflikt, der die Privilegierung der Business Judgment Rule ausschließt. 2. Ausgestaltung des Anstellungsvertrags, insb. Vergütungs­ entscheidungen  a) Anstellungsvertrag als unternehmerische Entscheidung Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle wird nicht nur im Hinblick auf die Wahl der Geschäftsleiter nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gelockert. Die Business Judgment Rule ist auch grundsätzlich anwendbar, wenn ein Gericht angerufen wird, um den Inhalt des Anstellungsvertrags zu überprüfen.12 Jenseits der Vorgaben zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung enthält das Gesetz keine Regelungen, die den Inhalt des Anstellungsvertrags festlegen, so dass sich das Überwachungsorgan allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen muss. Sind die Aufsichtsratsmitglieder unbefangen und sorgen sie für eine angemessene Informationsgrundlage, unterliegt ihre Entscheidung der inhaltlichen Evidenzkontrolle. b) Festsetzung der Vergütung Während die vorstehenden Ausführungen konsentiert sind, ist sich das Schrifttum nicht einig, ob die Entscheidung über die Ausgestaltung der Vor12 Ganz hM, s. nur Lieder ZGR 2018, 523, 534. 477

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Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben

standsvergütung13 im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt. Einige Autoren halten die Business Judgment Rule für nicht anwendbar, weil der Aufsichtsrat durch die Vorgaben des § 87 Abs. 1 AktG gebunden ist.14 Die herrschende Ansicht betont hingegen, dass § 87 Abs. 1 AktG dem Aufsichtsrat genügend Spielräume offen lässt, um die Festsetzung der Vergütung als eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einzuordnen.15 Die besseren Argumente sprechen gegen die Anwendung der Business Judgment Rule auf die Festsetzung16 der Vorstandsvergütung. Zwar folgt aus § 87 Abs. 1 AktG, dass sich der Aufsichtsrat bei der Vergütungsentscheidung am Gesellschaftswohl orientieren muss, was auf einen finalen Charakter dieser Vorschrift hindeutet. Der Gesetzgeber hat aber die Kompetenz, das Gesellschaftsinteresse im Kontext der Vorstandsbezüge zu definieren, nicht allein dem Aufsichtsrat eingeräumt, sondern er hat selbst die Kriterien einer angemessenen Vergütung festgelegt. Wollte er dem Überwachungsorgan die Defi13 Da § 87 Abs. 1 AktG im GmbH-Recht weder direkt noch analog angewendet werden kann (s. nur Michalski/Tebben GmbHG §  6 Rn.  157; Spindler, FS U.H. Schneider, S. 1287, 1289 ff.), stellt sich die Frage für GmbH mit obligatorischem AR nicht. 14 So Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 43; Hüffer/J. Koch AktG § 87 Rn. 47; Kort in GK-AktG § 87 Rn. 330, 348; Eisele, Hafen, S. 336 ff.; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 146 f.; Huthmacher, Pflichten, S. 137 f.; Kropff, FS Raiser, S. 225, 234; C. Schäfer ZIP 2005, 1253, 1258; Schwark, FS Raiser, S. 377, 387 ff., 391 f. Unklar Hüffer, FS Hoffmann-Becking, S.  589, 599, der einerseits BJR anwenden will, andererseits für das Angemessenheitserfordernis von einem Beurteilungsspielraum spricht. 15 Fleischer in BeckOGK AktG § 87 Rn. 46; Grigoleit/Tomasic AktG § 116 Rn. 6, 9; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG § 116 Rn. 47; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 116 Rn. 66, 318; Wachter/Link AktG § 87 Rn. 28; Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68; Grigoleit/Schwennicke AktG § 87 Rn. 6; Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 87 Rn. 35; Spindler in MüKoAktG § 87 Rn. 139; Hölters/M. Weber AktG § 87 Rn. 14; H.-J. Fonk in Semler/v. Schenck AR-HdB § 10 Rn. 107; Ihrig/C. Schäfer Vorstand Rn. 289; Langenbucher Aktien- und KapMR § 4 Rn. 34; Lutter/Krieger/Verse AR Rn. 406; Seyfarth VorstandsR §  5 Rn.  36  f., 50; Wentrup in MHdB GesR IV §  21 Rn.  53; J. Wilhelm KapGesR Rn. 1033; Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 211 ff.; Göppert, Business Judgment Rule, S. 81; Hoegen, Vorstandsvergütung, S. 195 ff.; Meyer, Vorstandsvergütung, S.  138  f.; Wirkes, Vorstandsvergütung, S.  189  ff.; Hohenstatt ZIP 2009, 1349, 1354; Lieder ZGR 2018, 523, 546 ff.; Reichert/Ullrich, FS U.H. Schneider, S. 1017, 1021 ff. So wohl auch Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 87 AktG Rn. 8, die von der Kon­ trolle des Entscheidungsverfahrens spricht. S. ferner Drygala/Staake/Szalai KapGesR § 21 Rn. 75: Evidenzkontrolle. 16 Freilich setzt der AR die Bezüge nicht einseitig fest, sondern die Vorstandsvergütung wird mit den Vorstandsmitgliedern verhandelt; s. nur Drygala/Staake/Szalai KapGesR § 21 Rn. 71. 478

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nitionsmacht hinsichtlich des Unternehmenswohls überlassen, hätte er §  87 Abs.  1 AktG nicht einführen müssen, weil sich die Bindung an das Gesellschaftswohl schon aus § 116 Satz 1 AktG in Verbindung mit § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG ergibt. Der regulatorische Eingriff ist ein Zeichen dafür, dass der Aufsichtsrat enger gebunden sein soll als im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.17 In diese Richtung spricht zudem der Umstand, dass sich § 87 Abs. 1 AktG wie eine Konditionalnorm formulieren lässt. Die Vorstandsvergütung ist nur dann rechtmäßig, wenn der Aufsichtsrat die in § 87 Abs. 1 AktG genannten Kriterien beachtet hat.18 Auch die verbandsinternen Sonderinteressen gebieten es, die Vergütungsentscheidung nicht nur einer inhaltlichen Evidenzkontrolle zu unterwerfen.19 Es ist anerkannt, dass die Vorstandsvergütung ein Instrument ist, das zur Lösung der Agency-Konflikte innerhalb der Gesellschaft beitragen kann. Sind die Vorstandsbezüge so strukturiert, dass die Geschäftsleiter zu einem Handeln im langfristigen Interesse der Gesellschaft incentiviert werden, ist die Gefahr eines moral hazard geringer.20 Eine solche Funktion kann die Vergütung aber nur dann erfüllen, wenn sichergestellt ist, dass sie in der Tat im Einklang mit dem Gesellschaftsinteresse festgesetzt wurde. Dies könnte man jedenfalls dann annehmen, wenn diejenigen Personen über die Vergütungsfestsetzung entscheiden, die die Vorstandsbezüge finanzieren: die Aktionäre.21 In diesem Fall dürfte man davon ausgehen, dass die Aktionäre eigenverantwortlich festlegen, inwieweit die von ihnen bereitgestellten Mittel für die Entlohnung der Geschäftsleiter eingesetzt werden, ohne dass eine engmaschige gerichtliche Kontrolle erforderlich ist. Eine solche Annahme ist jedoch nicht angezeigt, wenn der Aufsichtsrat als Agent der Aktionäre über die Ausgestaltung der Vorstandsbezüge bestimmt. Bei einer solchen Kompetenzverteilung besteht die Gefahr, dass der Aufsichtsrat im Hinblick auf die engen Beziehungen zum Vorstand22 die ihm zur Ver17 Ähnlich Schwark, FS Raiser, S. 377, 392. 18 So wohl auch Wirkes, Vorstandsvergütung, S. 189: Angemessenheitsgebot als Tatbe­ standsvoraussetzung; Schwark, FS Raiser, S. 377, 388: Angemessenheit als unbestimm­ ter Rechtsbegriff. 19 Auf Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Vergütungsfestlegung weisen zutr. Reichert/Ullrich, FS U.H. Schneider, S. 1017, 1022 hin. 20 Zum Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung der Vorstandsvergütung und dem Prinzipal-Agent-Konflikt vgl. etwa bereits § 4 V 4 mit Nachw. in Fn. 120.  21 Vor diesem Hintergrund sind die Bestrebungen des europäischen Richtliniengebers zu sehen, das Mitspracherecht der Aktionäre bei der Ausgestaltung der Vorstandsvergütung zu stärken, s. Art. 9a ff. Aktionärsrechte-RL. 22 Hierzu bereits § 4 V 4 und § 14 II 2. 479

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fügung stehenden Mittel nicht optimal im Unternehmensinteresse einsetzt. Es ist nicht gänzlich unplausibel, dass die Mitglieder des Überwachungsorgans geneigt sein können, die Vorstandsbezüge zu erhöhen, um ihre eigene Position zu stärken.23 Wollte man die Entscheidung des Aufsichtsrats einer bloßen Evidenzkontrolle unterwerfen, gäbe es kein effektives Instrument, um opportunistisches Verhalten der Verwaltungsorgane bei der Ausgestaltung der Geschäftsleitervergütung zu korrigieren.24 Vor diesem Hintergrund kann eine intensivere gerichtliche Kontrolle der Vorstandsbezüge dazu beitragen, die Agency-Konflikte in der Gesellschaft zu lösen. Daher ist die Festsetzung der Vergütung nach § 87 Abs. 1 AktG nicht nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu überprüfen. Freilich führt dieser Befund nicht dazu, dass die Gerichte anstelle des Aufsichtsrats die konkrete Höhe der Vorstandsbezüge festlegen dürfen. Vielmehr bezieht sich die richterliche Kontrolle allein auf die Frage, ob die vom Aufsichtsrat festgelegte Vergütung angemessen ist. Die Angemessenheit der Bezüge ist im Lichte des Gesellschaftswohls zu bestimmen, so dass § 87 Abs. 1 AktG finale Züge aufweist; außerdem ist der Aufsichtsrat gestalterisch tätig. Er muss eine Entscheidung treffen, die man nicht als richtig oder falsch bezeichnen kann. Niemand ist in der Lage, centgenau zu bestimmen, welche Vorstandsvergütung angemessen ist. Deshalb trifft den Aufsichtsrat nur die Pflicht, die Bandbreite der zulässigen Gestaltungen zu ermitteln und die Vorstandsbezüge so zu wählen, dass sie innerhalb dieses Korridors liegen. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, im Rahmen des §  87 Abs.  1 AktG einen tatbestandlichen  Beurteilungsspielraum anzuerkennen.25 Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich also auf die Frage, ob das Überwachungsorgan die Grenzen dieses Spielraums eingehalten hat. Das Gericht hat insbesondere zu prüfen, ob der Aufsichtsrat die Entscheidungsgrundlagen aufgearbeitet hat und ob die Vorstandsbezüge im Hinblick auf das Angemessenheitsgebot vertretbar sind.26 23 Anschaulich Thüsing ZGR 2003, 457, 465 f. Zum Zusammenhang zwischen der Er­ höhung der Vorstandsbezüge und der (nachfolgenden) Erhöhung der AR-Bezüge G.H. Roth/Wörle ZGR 2004, 565, 615 f. Krit. zur Rolle des AR auch Adams ZIP 2002, 1325, 1330 f.; Lutter ZIP 2003, 737, 739. Zurückhaltend aber A. Arnold, Steuerung, S. 143. 24 Dies gilt umso mehr, als sich die Klagebereitschaft auf Seiten des Vorstands (Schadensersatzanspruch der AG aus § 116 Satz 1 und 3 iVm § 93 Abs. 2 AktG) und der AR-Mitglieder in der Regel in Grenzen halten dürfte, s.  nur Lutter ZIP 2003, 737, 741.  Die Aktionärsklage nach § 148 AktG ist in diesem Bereich – wie auch sonst – totes Recht. 25 Zu den abstrakten Kriterien im Zusammenhang mit der Vorstandskontrolle § 9 III 2 a. 26 Hierzu ausf. § 9 III 2 b. Im Kontext der Vergütungsfestsetzung Kort in GK-AktG § 87 Rn.  349.  Speziell zur Informationsgrundlage Reichert/Ullrich, FS U.H. Schneider, S. 1017, 1022. 480

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Der Korridor der rechtlich zulässigen Gestaltungen ist also enger als im Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. c) Herabsetzung der Vergütung Kontrovers ist ferner die Diskussion um die Kontrolle der Aufsichtsratsentscheidungen, die die Herabsetzung der Vorstandsvergütung gem. § 87 Abs. 2 AktG zum Gegenstand haben. Auch wenn die Auffassungen im Detail voneinander abweichen, können drei Meinungsgruppen gebildet werden: Manche Autoren plädieren für die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG,27 während andere ungeschriebene Beurteilungsspielräume des Aufsichtsrats befürworten28 oder die Einschränkungen der richterlichen Kontrolle weitestgehend ablehnen.29 Wie bei anderen Streitfragen um die Intensität der gerichtlichen Kontrolle beginnt die Untersuchung des § 87 Abs. 2 AktG mit der normstrukturellen Analyse. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass § 87 Abs. 2 AktG konditional for­ muliert ist. Wenn sich die Lage der Gesellschaft so verschlechtert, dass die 27 So Grigoleit/Tomasic AktG § 116 Rn. 9; Spindler in MüKoAktG § 87 Rn. 184 aE (obwohl er in einem Atemzug von einem sehr eingeschränkten Ermessen spricht, was nicht zur Rechtsfolge des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG passt); Diller NZG 2009, 1006, 1009; Gaul/Janz NZA 2009, 809, 814; Klöhn ZGR 2012, 1, 32; Reichert/Ullrich, FS U.H. Schneider, S. 1017, 1031; M. Weber DB 2016, 815, 816 f.; Weppner NZG 2010, 1056, 1057. Vgl. ferner Lieder ZGR 2018, 523, 549 ff., der von einer gebundenen Entscheidung auf der Tatbestandsebene und einer Ermessensentscheidung auf der Rechtsfolgenseite ausgeht. S.  zudem Grigoleit/Schwennicke AktG §  87 Rn.  41: „Das Absehen von einer Herabsetzung nach §  87 II ist eine unternehmerische Entscheidung des AR, die nach § 93 I 2 nur begrenzt nachprüfbar ist.“ Ähnlich Wachter/Link AktG §  87 Rn.  53; Hoegen, Vorstandsvergütung, S.  275; Hoffmann-Becking/Krieger NZG-Beilage Heft 26/2009, S. 1, 5 (Rn. 38). Widersprüchlich Georg Seyfarth, der einerseits strenge Angemessenheitskontrolle durch die Gerichte befürwortet (Seyfarth VorstandsR § 5 Rn. 155 aE), andererseits für Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG plädiert (Seyfarth VorstandsR § 5 Rn. 170 ff.). 28 Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 43; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 147; Oetker ZHR 175 (2011), 527, 539 ff. (der aber auf der Rechtsfolgenseite die BJR anwenden will, vgl. S.  548  ff.); Waldenberger/Kaufmann BB 2010, 2257, 2262.  S.  ferner Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  87 AktG Rn.  40: weiter Spielraum; Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 87 Rn. 41: eingeschränktes Ermessen. 29 Gegen Spielräume des AR BGHZ 207, 190 Rn. 35 aE, 45 f. = NJW 2016, 1236; Hüffer/J. Koch AktG § 87 Rn. 56; Kort in GK-AktG § 87 Rn. 440 (s. aber Kort AG 2016, 209, 210: Beurteilungsspielraum wegen Unbestimmtheit der Herabsetzungskriterien); Keiser RdA 2010, 281, 285; Schockenhoff ZIP 2017, 1785, 1790. Vorsichtig in diese Richtung auch Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG § 116 Rn. 52. 481

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Weitergewährung der nach § 87 Abs. 1 AktG festgesetzten Vorstandsbezüge unbillig für die Gesellschaft wäre, dann soll der Aufsichtsrat die Bezüge auf eine angemessene Höhe herabsetzen. Der konditionale Charakter des §  87 Abs. 2 AktG deutet darauf hin, dass die Entscheidung über die Herabsetzung der Vorstandsvergütung keine unternehmerische im Sinne des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG ist. Der Gesetzgeber hat die Zulässigkeit der Herabsetzung an näher ausformulierte Kriterien geknüpft, so dass der Aufsichtsrat seine Entscheidung nicht allein am Gesellschaftswohl ausrichten darf, sondern er muss sich am gesetzlichen Tatbestand orientieren. Diese Ausgestaltung des § 87 Abs. 2 AktG dient nicht zuletzt dem Schutz der Vorstandsmitglieder, die eine bereits erworbene Rechtsposition durch eine einseitige Maßnahme des Aufsichtsrats verlieren können. Die Durchbrechung des Grundsatzes pacta sunt servanda sollte man nicht dadurch vertiefen, dass man die Entscheidung über die He­ rabsetzung lediglich einer gerichtlichen Evidenzkontrolle unterwirft. Um die Rechtspositionen der Vorstandsmitglieder zu schützen, ist den Gerichten eine intensivere Überprüfung der Aufsichtsratsmaßnahme zu gestatten. Dies lässt sich aber nicht mit der Anwendung der Business Judgment Rule vereinbaren. Die vorstehenden Überlegungen sind auch aufzugreifen, wenn es um die Frage geht, ob der Aufsichtsrat einen tatbestandlichen Beurteilungsspielraum oder ein Rechtsfolgenermessen genießt. Jedenfalls auf der Tatbestandsebene ist eine Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte abzulehnen, weil das Vorstandsmitglied anderenfalls nur unzureichend gegen einseitige Maßnahmen des Aufsichtsrats geschützt wäre. Die Gerichte dürfen also vollständig überprüfen, ob die Voraussetzungen der Vergütungsherabsetzung erfüllt sind. Sie haben eine Letztentscheidungskompetenz hinsichtlich der Frage, ob sich die Lage der Gesellschaft verschlechtert hat und ob die Weitergewährung der Bezüge deshalb unbillig wäre.30 Ist der Tatbestand des § 87 Abs. 2 AktG erfüllt, erfolgt die Entscheidung des Aufsichtsrats in zwei Schritten, die im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der Vergütungsherabsetzung nachvollzogen werden. Zunächst muss der Aufsichtsrat entscheiden, ob er die Vorstandsbezüge herabsetzt. Entschließt er sich dazu, von seiner Herabsetzungsbefugnis Gebrauch zu machen, muss er bestimmen, wie hoch die künftige Vorstandsvergütung sein soll. Hinsichtlich des „Ob“ der Herabsetzung deutet der Wortlaut des § 87 Abs. 2 AktG darauf

30 AA noch Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 147. 482

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hin, dass der Aufsichtsrat ein gebundenes Entschließungsermessen31 hat. Die Vorgabe, dass der Aufsichtsrat die Vorstandsbezüge herabsetzen soll, ist dahingehend zu verstehen, dass er nur in atypischen Ausnahmefällen von der Ausübung seiner Befugnis absehen darf.32 Beschließt das Überwachungsor­gan mehrheitlich, die Vorstandsvergütung nicht herabzusetzen, und klagt ein opponierendes Aufsichtsratsmitglied gegen diesen Beschluss, darf das Gericht überprüfen, ob die Annahme der Aufsichtsratsmehrheit, ein solcher Ausnahmefall liege vor, vertretbar ist.33 Eine bloße Evidenzkontrolle im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist mit dem Soll-Charakter des § 87 Abs. 2 AktG nicht zu vereinbaren. Auch im Hinblick auf das Auswahlermessen – also die Entscheidung, auf welche Höhe die Vorstandsbezüge herabzusetzen ist  – sind die Spielräume des Aufsichtsrats beschränkt. Der Aufsichtsrat genießt nur insoweit eine Letztentscheidungskompetenz, als es darum geht, die Bandbreite der Bezüge festzulegen, die im Zeitpunkt der Vergütungsherabsetzung angemessen sind. Ob die Bestimmung der Vergütungsgrenzen den Vorgaben des § 87 Abs. 1 AktG entspricht, unterliegt einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, deren Intensität in §  15 I 2 b erläutert wurde.34 Hat der Aufsichtsrat den Korridor der zulässigen Gestaltungen ermessensfehlerfrei ermittelt, darf er – anders als bei der ursprünglichen Entscheidung nach § 87 Abs. 1 AktG – nicht eine Vergütung auswählen, die innerhalb des Korridors liegt. Vielmehr gebietet der Schutz der Vorstandsmitglieder, dass der Aufsichtsrat den höchstmöglichen angemessenen Betrag auswählt.35 Wollte man dem Aufsichtsrat etwaige Spielräume einräumen, ließe man zu weitgehende Eingriffe in die Rechtspositionen der Geschäftsleiter zu. 31 Lehnt man sich an die verwaltungsrechtlichen Begrifflichkeiten an, ist es missverständlich, vom „intendierten Ermessen“ zu sprechen (so aber etwa Lieder ZGR 2018, 523, 549). Zur Unterscheidung zwischen gebundenem und intendiertem Ermessen s. § 5 I mit Fn. 9 und 10. 32 Aus der gesellschaftsrechtlichen Diskussion statt vieler BGHZ 207, 190 Rn. 43 = NJW 2016, 1236: Vorliegen besonderer Umstände. Zum verwaltungsrechtlichen Vorbild § 5 I mit Fn. 9. 33 Großzügiger aber Grigoleit/Schwennicke AktG §  87 Rn.  41; Reichert/Ullrich, FS U.H.  Schneider, S.  1017, 1031; M. Weber DB 2016, 815, 816: Anwendung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG; ähnlich Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 87 AktG Rn. 40: weiter Spielraum. Gegen jeglichen Entscheidungsspielraum aber Kort in GK-AktG § 87 Rn. 440. 34 So wohl auch Kort AG 2016, 209, 210. 35 Zutr. BGHZ 207, 190 Rn. 35 aE, 45 f. = NJW 2016, 1236; Hüffer/J. Koch AktG § 87 Rn. 56. Krit. aber Kort AG 2016, 209, 210 f. 483

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3. Abberufung der Geschäftsleiter Die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte ist auch bei der Abberufung der Vorstandsmitglieder nach § 84 Abs. 3 AktG problematisch.36 Wie im Zusammenhang mit der Festsetzung und Herabsetzung der Vorstandsbezüge ist das Meinungsbild disparat. Einige Autoren räumen dem Aufsichtsrat im Rahmen des §  84 Abs.  3 AktG generell einen Beurteilungsspielraum ein,37 während die herrschende Ansicht die Abberufungsvoraussetzungen der vollen gerichtlichen Kontrolle unterwerfen will und ein Ermessen nur insoweit anerkennt, als es darum geht, ob der Aufsichtsrat von der Abberufungsmöglichkeit Gebrauch macht.38 Manche Stimmen verneinen nicht nur etwaige Beurteilungsspielräume auf der Tatbestandsebene, sondern halten das Überwachungsorgan darüber hinaus für verpflichtet, ein Vorstandsmitglied abzuberufen, wenn die Voraussetzungen des § 84 Abs. 3 AktG erfüllt sind;39 damit geht eine hohe gerichtliche Prüfungsdichte einher. Nähert man sich dem § 84 Abs. 3 AktG mit der hier vertretenen Auffassung aus einer normstrukturellen Perspektive, kann der Aufsichtsrat seine Abbe­ rufungsentscheidung jedenfalls nicht mit der Business Judgment Rule verteidigen. Der Umstand, dass §  84 Abs.  3 AktG ein klassisches „Wenn-Dann“Schema zugrunde liegt und es sich damit um eine Konditionalnorm handelt, spricht gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Darauf deutet auch der Adäquanzgedanke hin. § 84 Abs. 3 AktG setzt für den Widerruf der Vorstandsbestellung einen wichtigen Grund voraus, damit die Vorstandsmitglie36 Wie schon im Zusammenhang mit der Auswahl der Vorstandsmitglieder und den Vergütungsfragen erläutert, wird das Gericht in der Regel nicht das Stimmverhalten der AR-Mitglieder in einem Haftungsprozess überprüfen, sondern der Kontrollgegenstand wird der Beschluss des AR sein, ein Vorstandsmitglied abzuberufen. 37 So Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 43; ders. DB 2015, 787, 788 (unter Bezugnahme auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG); Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 84 Rn. 53; ders., FS Bergmann, S.  693, 709  f.; Schockenhoff ZIP 2017, 1785, 1786  f. In der Zeit vor UMAG: Krieger, Personalentscheidungen, S. 137 ff.; Mutter, Entscheidungen, S. 155, 234; Dreher ZHR 158 (1994), 613, 631 f.; Vollmer GmbHR 1984, 5, 7 f. 38 OLG Frankfurt NZG 2015, 514, 515; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR §  84 AktG Rn.  30; Hopt/M.  Roth in GK-AktG §  116 Rn.  66 mit Fn.  301; Hüffer/J. Koch AktG § 84 Rn. 34; Wachter/Link AktG § 84 Rn. 54; Heidel/M. Oltmanns AktG § 84 Rn. 20; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 342 f.; Spindler in MüKoAktG §  84 Rn.  130; Hölters/M. Weber AktG §  84 Rn.  72; Wentrup in MHdB GesR IV, § 20 Rn. 52, 62. In der Zeit vor dem UMAG: OLG Stuttgart NZG 2002, 971, 972; Lüpkemann, Ermessen, S. 168 ff. Gegen die Anwendung der BJR auch Göppert, Business Judgment Rule, S. 79 f. 39 So Wiesner in MHdB GesR IV, 4. Aufl., § 20 Rn. 51, 61. 484

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der die Gesellschaft eigenverantwortlich leiten können (§  76 Abs.  1 AktG), ohne dass sie einen grundlosen Verlust ihres Postens befürchten müssen.40 Diese gesetzliche Einschränkung des Abberufungsrechts unterstreicht die Position des Vorstands innerhalb der Gesellschaft. Damit dient die gerichtliche  Kontrolle der Abberufungsentscheidung auch dem Institutionenschutz. Mit denselben Überlegungen ist ein tatbestandlicher Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrats hinsichtlich des wichtigen Grundes abzulehnen. Nur eine volle gerichtliche Kontrolle der Abberufungsentscheidung gewährleistet einen wirksamen Schutz der eigenverantwortlichen Leitungsmacht des Vorstands. Liegt ein Abberufungsgrund vor, kann der Aufsichtsrat den Geschäftsleiter abberufen. Aus dem Wortlaut des § 84 Abs. 3 AktG folgt, dass der Aufsichtsrat ein Rechtsfolgenermessen genießt.41 Demnach darf das Gericht kontrol­lieren, ob der Aufsichtsrat seine Handlungsoptionen erkannt, den Entscheidungssachverhalt ausermittelt und keine sachfremden Erwägungen angestellt hat. Da ein wichtiger Grund nur dann zu bejahen ist, wenn das Verbleiben des Vorstandsmitglieds im Amt für die Gesellschaft unzumutbar ist, spricht viel dafür, dass die Abberufung des Vorstandsmitglieds der Regelfall ist. Entscheidet sich der Aufsichtsrat gegen den Widerruf, ist die richterliche Kontrolldichte hinsichtlich der Ermessensausübung zu intensivieren.42 Das Gericht ist nicht nur zu einer Evidenzkontrolle befugt, sondern darf überprüfen, ob das Absehen vom Widerruf im Hinblick auf das Gesellschaftswohl vertretbar ist. 4. Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder Schließlich kann der Aufsichtsrat darauf hinwirken, dass eines seiner Mitglieder abberufen wird. Im Ausgangspunkt entscheidet zwar die Hauptversammlung mit einer qualifizierten Mehrheit über die Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder (§  103 Abs.  1 AktG), der Aufsichtsrat kann aber mit einfacher Mehrheit beschließen, einen Antrag auf gerichtliche Abberufung zu stellen (§ 103 Abs. 3 Satz 2 AktG).43 Nach § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG hat das Gericht 40 Zum Zusammenhang zwischen §  76 Abs.  1 AktG und §  84 Abs.  3 AktG s. bereits in § 6 III 3 mit Nachw. in Fn. 79. 41 S. dazu schon § 9 III 3. 42 Ein Gericht kann mit einem solchen AR-Beschluss konfrontiert werden, wenn ein opponierendes AR-Mitglied gegen den Beschluss eine Nichtigkeitsfeststellungsklage erhebt. 43 Überdies kann eine qualifizierte Aktionärsminderheit gem. § 103 Abs. 3 Satz 3 AktG die Abberufung eines entsandten AR-Mitglieds beantragen, s. dazu statt vieler Habersack in MüKoAktG § 103 Rn. 37 f. 485

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ein Aufsichtsratsmitglied abzuberufen, wenn in dessen Person ein wichtiger Grund vorliegt. Will man in einem solchen Fall die gerichtliche Prüfungsdichte bestimmen, kann man sich an den Ausführungen zur Abberufung der Vorstandsmitglieder gem. § 84 Abs. 3 AktG orientieren. Da § 103 Abs. 3 AktG konditional strukturiert ist, greift die Business Judgment Rule nicht ein. Auf der Tatbestandsebene hat die Aufsichtsratsmehrheit keinen Beurteilungsspielraum hinsichtlich des wichtigen Grundes. Dafür spricht zum einen – wie das Schrifttum zutreffend hervorhebt – die Schutzbedürftigkeit des betroffenen Aufsichtsratsmitglieds.44 Zum anderen deutet die Ausgestaltung des Abberufungsverfahrens gegen die Letztentscheidungskompetenz der Aufsichtsratsmehrheit. Die Abberufung ist kein Gestaltungsrecht, sondern sie bedarf einer richterlichen Entscheidung. Wenn das Gericht schon im Vorfeld der Abberufung eingeschaltet wird, um zu überprüfen, ob ein wichtiger Grund vorliegt, ist es ein Zeichen dafür, dass es zu einer vollständigen Kontrolle des Abberufungsgrundes befugt ist. Liegt ein wichtiger Grund vor, ergibt sich aus dem Wortlaut des § 103 Abs. 3 Satz 1 AktG, dass das Gericht dem Abberufungsantrag des Überwachungsorgans entsprechen muss. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass der Aufsichtsrat ein Rechtsfolgenermessen bei der Frage genießt, ob eines seiner Mitglieder den Posten räumen soll.45 Dieses Ermessen wirkt in zwei Richtungen: Hat der Aufsichtsrat die Abberufung eines Kontrolleurs beantragt, beschränkt sich die richterliche Prüfung im Wesentlichen auf die Frage, ob das Organ aus sachfremden Erwägungen gehandelt hat; dies wird in der Regel nicht der Fall sein. Der Entscheidungsspielraum ist auch zu respektieren, wenn die Aufsichtsratsmehrheit beschlossen hat, den Abberufungsantrag nicht zu stellen, obwohl ein wichtiger Grund gegeben ist.46 Wie bei § 84 Abs. 3 AktG darf das Gericht lediglich überprüfen, ob das Absehen vom Widerruf im Hinblick auf das Gesellschaftswohl vertretbar ist.47 44 OLG München NZG 2018, 1389, 1390 (mit Ausführungen zum Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts); Hölters/Simons AktG § 103 Rn. 30; Spindler in BeckOGK AktG § 103 Rn. 38.  45 So auch die hM, s. Hopt/M. Roth in GK-AktG §  103 Rn.  55; Hölters/Simons AktG § 103 Rn. 30; Spindler in BeckOGK AktG § 103 Rn. 38; Tielmann/Struck DStR 2013, 1191, 1193 f. 46 Der Beschluss kann (theoretisch) im Rahmen eines Intraorganstreits Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sein, wenn ein AR-Mitglied oder der Vorstand der Meinung ist, dass der pflichtvergessene Kontrolleur hätte abberufen werden müssen. 47 Das Schrifttum spricht in diesem Zusammenhang von einer Ermessensreduzierung auf Null, s. Hölters/Simons AktG §  103 Rn.  30; Tielmann/Struck DStR 2013, 1191, 1193; vgl. ferner Spindler in BeckOGK AktG § 103 Rn. 38. 486

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Einbeziehung des Aufsichtsrats als Teil der zukunftsgerichteten Überwachung

II. Einbeziehung des Aufsichtsrats als Teil der zukunftsgerichteten Überwachung 1. Allgemeine Zustimmungsvorbehalte nach § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG Ein weiterer Bereich, in dem Aufsichtsratsentscheidungen nach herrschender Auffassung einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegen, ist die zukunftsgerichtete Überwachung des Vorstands.48 Als Beispiel für solche prospektive Überwachungsmaßnahmen mit gestalterischem Charakter gelten insbesondere Entscheidungen über die Ausübung der Zustimmungsvorbehalte, die im Allgemeinen in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG geregelt sind.49 Geht es um die richterliche Überprüfung der Aufsichtsratsentscheidungen im Kontext des §  111 Abs. 4 Satz 2 AktG, differenziert das Schrifttum zwischen dem Erlass des Zustimmungsvorbehalts und der Zustimmungsentscheidung in der konkreten Situation. Während die Anwendung der Business Judgment Rule im erstgenannten Fall umstritten ist,50 erstreckt die einhellige Auffassung den sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Zustimmungsentscheidung als solche.51 Geht man vom Wortlaut des § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG aus, hat der Aufsichtsrat die Pflicht, einen Katalog mit Zustimmungsvorbehalten aufzustellen, wenn die 48 Davon geht der BGH augenscheinlich aus in BGHZ 135, 244, 254 = NJW 1997, 1926. S. auch schon Lutter ZHR 159 (1995), 287, 292: beratende Begleitung als unternehmerische Maßnahmen. Vgl. ferner Simon, FS Seibert, S. 847, 849 ff. 49 Zu den besonderen Zustimmungsvorbehalten nach §§ 89, 89 AktG und nach §§ 114, 115 AktG s. noch in § 15 II 2 und 3. 50 Dafür Michalski/Giedinghagen GmbHG §  52 Rn.  306; Hüffer/J. Koch AktG §  111 Rn. 42; Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68; Rodewig in Semler/v. Schenck ARHdB § 8 Rn. 43 ff.; Huthmacher, Pflichten, S. 139; Cahn WM 2013, 1293, 1294; Hopt ZGR 2019, 507, 524; Lieder ZGR 2018, 523, 536 f.; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 386, 391. Für ein „pflichtgemäßes Ermessen“ des AR auch LG Duisburg, Urt. v. 9.11.2016 – 25 O 54/12, juris-Rn. 45; Henssler in Henssler/Strohn GesR § 111 AktG Rn. 18. Gegen Anwendung der BJR Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG § 111 Rn. 74a; so auch Habersack ZHR 178 (2014), 131, 139 f., der aber einen Beurteilungsspielraum erwägt. Für Beurteilungsspielräume im verwaltungsrechtlichen Sinne hinsichtlich grundlegender Geschäfte Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S. 192 ff., 362 f., die aber bei sonstigen Geschäften die BJR anwenden will (S. 314 ff., 362). Für pflichtgemäßes Ermessen vor Einführung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG BGHZ 124, 111, 127 = NJW 1994, 520. 51 S. nur BGH NJW 2018, 3574 Rn. 50; Grigoleit/Tomasic AktG § 111 Rn. 94; Hüffer/​ J. Koch AktG § 111 Rn. 48 f.; Göppert, Business Judgment Rule, S. 129; Huthmacher, Pflichten, S. 137, 139; Schönberger, Zustimmungsvorbehalt, S. 325; Cahn WM 2013, 1293, 1294; Hopt ZGR 2019, 507, 524; Lieder ZGR 2018, 523, 538 ff.; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 451, 453; E. Vetter, 50 Jahre AktG, S. 103, 121. 487

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Aktionäre einen solchen Katalog nicht in der Satzung verankert haben. Ob das Überwachungsorgan dieser Pflicht nachkommt, liegt jedenfalls nicht in seinem unternehmerischen Ermessen.52 Auf die Business Judgment Rule kann sich der Aufsichtsrat überdies nicht berufen, wenn er die Geschäftsleitungsmaßnahmen auswählt, die einem Zustimmungsvorbehalt unterliegen sollen. Zwar stellt § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG keine inhaltlichen Anforderungen an den Katalog auf, was darauf hindeutet, dass sich der Aufsichtsrat allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen muss und durch eine finale Regelung gesteuert wird. Gleichwohl gebietet der Adäquanzgedanke, die Entscheidung des Aufsichtsrats einer intensiveren gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen. Erlässt das Überwachungsorgan einen Zustimmungsvorbehalt, greift er in die Leitungsbefugnis des Vorstands ein. Wollte man diesen Eingriff nur auf eine evidente  Überschreitung der Ermessensgrenzen überprüfen, wäre kein wirksamer Schutz der aktienrechtlichen Organisationsverfassung gewährleistet. Deshalb ist es vorzugswürdig, den Katalog mit Zustimmungsvorbehalten einer Vertretbarkeitskontrolle zu unterwerfen.53 Dieselben Grundsätze gelten für Zustimmungsvorbehalte, die der Aufsichtsrat ad hoc verhängt. Übt der Aufsichtsrat den Zustimmungsvorbehalt aus, kann er sich hingegen auf die Business Judgment Rule berufen, wenn die zustimmungspflichtige Vorstandsmaßnahme eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat.54 In einem solchen Fall muss sich der Aufsichtsrat allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen und trifft deshalb selbst eine unternehmerische Entscheidung. Hält er die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ein,55 unterliegt die Ausübung des Zustimmungsvorbehalts einer inhaltlichen Evidenzkontrolle.56 Untersagt der Aufsichtsrat die anvisierte Geschäftsleitungsmaßnahme, ist der Vorstand daran gebunden,57 es sei denn, die 52 Allg. Ansicht, s. nur Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 144; Hopt ZGR 2019, 507, 524. 53 Die Bedeutung der Leitungsmacht des Vorstands für die Beurteilung des Zustimmungskatalogs räumen auch diejenigen Autoren ein, die sich für die Anwendung der BJR aussprechen, s. etwa Lieder ZGR 2018, 523, 537. 54 Bei gebundenen Vorstandsmaßnahmen ist also der AR verpflichtet, die Zustimmung zu versagen, wenn die anvisierte Maßnahme einen Rechtsverstoß nach sich ziehen würde; zutr. Lieder ZGR 2018, 523, 538 f.; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 451, 453. 55 Dabei gelten die Ausführungen in § 14 III und IV. 56 Vgl. BGH NJW 2018, 3574 Rn. 50 ff.; Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 144; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG §  111 Rn.  82; Lieder ZGR 2018, 523, 539  f.; Schnorbus/Ganzer BB 2020, 451, 453; Weißhaupt ZIP 2019, 202, 209.  Zu eng H.-J. Fonk ZGR 2006, 841, 866 f. 57 Freilich kann der Vorstand nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG die HV einschalten, um die verweigerte Zustimmung des AR auszuhebeln. Der AR darf einer Vorstandsmaßnah488

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Untersagung ist völlig unverantwortlich. Im letztgenannten Fall hat der Vorstand einen Anspruch auf Zustimmungserteilung.58 2. Einbindung des Aufsichtsrats nach §§ 88, 89, 112 AktG Neben den allgemeinen Zustimmungsvorbehalten nach §  111 Abs.  4 Satz  2 AktG kennt das Aktienrecht weitere Vorschriften, die eine Einbindung des Aufsichtsrats in die Entscheidungsfindung der Geschäftsleiter sicherstellen. So dürfen die Vorstandsmitglieder eine anderweitige Tätigkeit gem. § 88 Abs. 1 AktG nur dann aufnehmen, wenn der Aufsichtsrat dem zustimmt. Außerdem wird die Gesellschaft gem. § 112 AktG durch den Aufsichtsrat vertreten, wenn sie ein Rechtsgeschäft mit einem Vorstandsmitglied abschließt. Diese allgemeine Vertretungsvorgabe wird in § 89 AktG für die Kreditgewährung an die Vorstandsmitglieder und nahestehenden Personen konkretisiert.59 Welche materiellen Vorgaben das Überwachungsorgan bei Entscheidungen nach §§ 88, 89, 112 AktG einzuhalten hat, wird meist stiefmütterlich behandelt. Erteilt der Aufsichtsrat eine Zustimmung nach § 88 AktG, unterwerfen ihn manche Autoren dem Sorgfaltsmaßstab der § 116 Satz 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG.60 Andere sind der Auffassung, dass die Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen61 oder gar im Belieben des Aufsichtsrats steht.62 Die Zustimmung nach § 89 Abs. 1 AktG hat nach herrschender Auffassung nach pflichtgemäßem Erme zustimmen, die er zwar selbst nicht getroffen hätte, die aber vertretbar ist; s. E. Vetter, 50 Jahre AktG, S. 103, 121. 58 Zutr. Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  144; ähnlich Schnorbus/Ganzer BB 2020, 451, 455 (mit Ausführungen zur Zustimmungspflicht auf S.  453); s. aber Grigoleit/ Tomasic AktG § 111 Rn. 97: Nichtiger AR-Beschluss könne die Zustimmung nicht ersetzen. 59 Dass der AR für den Abschluss der Kreditverträge mit den Vorstandsmitgliedern zuständig ist, ergibt sich bereits aus §  112 AktG (s. statt vieler Fleischer in BeckOGK AktG § 89 Rn. 10). Eine eigenständige Bedeutung hat aber § 89 Abs. 3 AktG, der die Beteiligung des AR bei Geschäften mit nahestehenden Personen vorschreibt  – auf solche Geschäfte ist § 112 AktG nach ganz hM nicht anwendbar (s. Grigoleit/Tomasic AktG § 112 Rn. 7). 60 Grigoleit/Schwennicke AktG § 88 Rn. 8; Hölters/M. Weber AktG § 88 Rn. 13. 61 Kort in GK-AktG § 88 Rn. 61; Mertens/Cahn in KK-AktG § 88 Rn. 18; Wachter/Link AktG §  88 Rn.  15; Seyfarth VorstandsR §  10 Rn.  22; Paefgen, Entscheidungen, S. 199. So augenscheinlich auch Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 88 Rn. 10, der vom Sorgfaltsmaßstab der §§ 116, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG spricht und zugleich auf die Ausführungen zur Angemessenheitsprüfung nach § 87 Abs. 1 AktG verweist – dort will er die BJR anwenden (Seibt aaO § 87 Rn. 35). 62 Fleischer in BeckOGK AktG § 88 Rn. 29. So wohl auch Spindler in MüKoAktG § 88 Rn. 26: freies Ermessen. 489

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messen zu erfolgen.63 Im Zusammenhang mit § 112 AktG werden etwaige Entscheidungsspielräume des Überwachungsorgans vereinzelt problematisiert.64 Analysiert man die Regelungsstruktur der §§ 88, 89, 112 AktG, fällt auf, dass diese Vorschriften – anders als etwa § 87 Abs. 1 AktG – keine materiellen Vorgaben an das Überwachungsorgan formulieren. Daraus kann man im Ausgangspunkt den Schluss ziehen, dass der Aufsichtsrat eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trifft, wenn er ein Vorstandsmitglied vom Wettbewerbsverbot freistellt oder die Konditionen eines Vertrags mit einem Vorstandsmitglied verhandelt. Allerdings stößt die Anwendung der Business Judgment Rule auf Bedenken, wenn man die Ausführungen zur Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte hinsichtlich der Festsetzung der Vorstandsbezüge berücksichtigt. Der Umstand, dass die Verwaltungsorgane bei Vergütungsverhandlungen in einem Lager stehen und deshalb zu opportunistischem Verhalten zulasten der Aktionäre und sonstiger stakeholder tendieren können, spricht für eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle. Dieser Gedanke ist auch im Zusammenhang mit den Entscheidungen nach §§ 88, 89, 112 AktG aufzugreifen. Der Aufsichtsrat kann aufgrund eines internen Interessenkonflikts geneigt sein, die Belange der Vorstandsmitglieder dem Gesellschaftswohl vorzuziehen. Ein solches Risiko liegt insbesondere bei Verträgen nahe, über die der Aufsichtsrat nach §§ 89, 112 AktG entscheidet. Solche Rechtsgeschäfte können aus einer wirtschaftlichen Perspektive mit der Vorstandsvergütung funktional vergleichbar sein, so dass die gerichtliche Kontrolle nach denselben Kriterien zu bestimmen ist wie bei § 87 Abs. 1 AktG.65 Unterwirft man die Vorstandsvergütung einer Vertretbarkeitskontrolle,66 spricht viel dafür, dass die Gerichte die 63 Für Anwendung der BJR Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68. S. ferner Fleischer in BeckOGK AktG § 89 Rn. 12; Hüffer/J. Koch AktG § 89 Rn. 4; Seibt in K. Schmidt/ Lutter AktG §  89 Rn.  7a (der dieselben Kriterien anlegen will wie bei §  87 Abs.  1 AktG, was die Anwendung der BJR nahelegt – s. Seibt aaO § 87 Rn. 35); Spindler in MüKoAktG § 89 Rn. 47; Hölters/M. Weber AktG § 89 Rn. 8; Lieder ZGR 2018, 523, 535. 64 Für Anwendung der BJR Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68; Möslein, Leitungsmacht, S. 164 f. Vgl. ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG § 112 Rn. 108, die bei „ermessensfehlerhafter Vertretung“ einen Schadensersatzanspruch der AG nach §§ 116, 93 AktG erwägen, woraus sich der vorsichtige Schluss ziehen lässt, dass sich der AR grundsätzlich auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen darf. Paefgen, Entscheidungen, S. 193 ff. will die BJR anwenden, problematisiert aber etwaige Interessenkonflikte des AR. 65 Ähnlich Seibt in K. Schmidt/Lutter AktG § 88 Rn. 10, § 89 Rn. 7a. 66 Hierzu ausf. § 15 I 2 b. 490

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Aufsichtsratsentscheidungen nach §§ 88, 89, 112 AktG mit der gleichen Intensität überprüfen dürfen.67 3. Besondere Zustimmungsvorbehalte nach §§ 114, 115 AktG Die Gefahr einer opportunistischen Lagerbildung durch die Verwaltungsorgane besteht auch dann, wenn die Aufsichtsratsmitglieder für ihre Tätigkeit vergütet werden. Wollte man die Festsetzung der Aufsichtsratsvergütung allein in die Hände des Vorstands legen, wäre dieser geneigt, die Vergütung so auszugestalten, dass der Aufsichtsrat seiner Kontrolltätigkeit nicht mit allzu großem Eifer nachgeht. Diesen – auf der Hand liegenden – Interessenkonflikt versucht das Aktienrecht dadurch zu vermeiden, dass es die Aktionäre an der Festsetzung der Aufsichtsratsvergütung beteiligt. Nach § 113 Abs. 1 Satz 2 AktG muss die Vergütung in der Satzung festgesetzt oder durch die Hauptversammlung bewilligt werden. Gleichwohl müssen die Aktionäre nicht bei jedem entgeltlichen Vertrag zwischen der Gesellschaft und den Kontrolleuren einbezogen werden. Verpflichtet sich ein Aufsichtsratsmitglied außerhalb seiner organschaftlichen Tätigkeit durch einen Dienst- oder Werkvertrag gegenüber der Gesellschaft zu einer Tätigkeit höherer Art, hängt die Wirksamkeit des Vertrags nach § 114 Abs. 1 AktG von der Zustimmung des Aufsichtsrats ab. Außerdem ist eine Einwilligung des Überwachungsorgans gem. § 115 AktG erforderlich, wenn die Gesellschaft den Aufsichtsratsmitgliedern oder ihnen nahestehenden Personen einen Kredit ­gewährt.68 In beiden Fällen wendet die herrschende Auffassung auf die Zustimmungsentscheidung des Aufsichtsrats die Business Judgment Rule an.69

67 Großzügiger Paefgen, Entscheidungen, S. 193 ff., 199 f., der dem AR trotz verbandsinterner Konflikte unternehmerisches Ermessen einräumen will. 68 Vertreten wird die Gesellschaft vom Vorstand, s. nur Habersack in MüKoAktG § 115 Rn. 16. 69 Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG §  114 Rn.  22; Habersack in MüKoAktG §  114 Rn. 30, § 115 Rn. 17; Spindler in BeckOGK AktG § 114 Rn. 26; Wetzig, Rechtsberatungsverträge, S. 92, 157; Haarmann, FS Wegen, S. 423, 437; Rahlmeyer/Gömöry NZG 2014, 616, 619  f. Für die Anwendung der BJR offenbar auch J. Wilhelm KapGesR Rn. 1115. In diese Richtung ferner Hopt/M. Roth in GK-AktG § 114 Rn. 75: Ermessen vergleichbar mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Für pflichtgemäßes Ermessen Grigoleit/Tomasic AktG § 114 Rn. 19; Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG § 114 Rn. 4; Henssler in Henssler/Strohn GesR § 114 AktG Rn. 19, § 115 AktG Rn. 2; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar §  114 AktG Rn.  80, §  115 AktG Rn.  38; Kanzler, Beratungsverträge, S. 87 ff. 491

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Manche sprechen von einer Pflichtaufgabe mit Ermessensspielraum und befürworten damit offenbar eine intensivere Inhaltskontrolle.70 Im Ergebnis ist die letztgenannte Auffassung vorzugswürdig. Zwar stellen die §§ 114, 115 AktG keine inhaltlichen Vorgaben an die Zustimmung auf, so dass der Aufsichtsrat wohl eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trifft. Gleichwohl befinden sich die Aufsichtsratsmitglieder in einem verbandsinternen Interessenkonflikt,71 der die Anwendung der Business Judgment Rule sperrt. Der Gesetzgeber macht mit §§ 114, 115 AktG deutlich, dass er die Verflechtungen zwischen den Verwaltungsorganen für einen Umstand hält, der zusätzliche Kontrollmechanismen gebietet. Die Einbindung des Gesamtaufsichtsrats in den Entscheidungsprozess kann aber das Risiko ­eines opportunistischen Verhaltens der Organmitglieder nicht ausschließen. Dieses Risiko resultiert nicht schon aus dem Umstand, dass die Aufsichtsratsmitglieder wegen der gemeinsamen Organtätigkeit eng miteinander verbunden sind. Wie im Zusammenhang mit der Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds zum Vorstand erläutert wurde,72 führt die Ausgestaltung des Aufsichtsratsmandats als Nebenamt dazu, dass ein Interessenkonflikt nicht pauschal kraft Organzugehörigkeit begründet werden kann. Allerdings ist die Situation bei der Erteilung einer Zustimmung nach §§ 114, 115 AktG anders als bei der Vorstandswahl. Die Aufsichtsratsmitglieder sind sich bei der Beschlussfassung der Tatsache bewusst, dass sie in der Zukunft als potentielle Parteien des Beratungs- oder Kreditvertrags in Betracht kommen und deshalb ihrerseits auf eine Zustimmung der Kollegen angewiesen sein können. Vor diesem Hintergrund ist die Gefahr, dass sie ein Geschäft im Sinne der §§  114, 115 AktG wegen einer wechselseitigen Abhängigkeit gestatten, nicht von vornherein auszuräumen. Diese Gefahr dürfte im Rahmen der Vorstandswahl geringer sein. Wird ein Aufsichtsratsmitglied zum Vorstand gewählt, kann er sich seinen Kollegen nicht dadurch revanchieren, dass er sie selbst zum Vorstand wählt, weil es schlicht nicht mehr dem Wahlorgan angehört. Wegen der wechselseitigen Abhängigkeit der Kontrolleure bei der Beschlussfassung nach §§ 114, 115 AktG kann nicht vermutet werden, dass die Billigung des Geschäfts dem Gesellschaftswohl entspricht und eine richterli-

70 So Hüffer/J. Koch AktG § 114 Rn. 8. Vgl. ferner Wiedemann, Organverantwortung, S. 18: Angemessenheitskontrolle (vor Kodifizierung der BJR). 71 Dazu § 14 IV 1 b. 72 S. § 15 I 1. 492

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che Evidenzkontrolle genügt. Vielmehr erscheint es geboten, die Zustimmung auf inhaltliche Vertretbarkeit zu überprüfen.73 4. Zustimmung zu related party transactions a) Unternehmerischer Charakter der Zustimmungsentscheidung Im Zusammenhang mit einer zukunftsgerichteten Überwachung in einer börsennotierten AG74 stellt sich die Frage der richterlichen Prüfungsdichte auch dann, wenn der Aufsichtsrat (§ 111b Abs. 1 AktG) oder ein Aufsichtsratsausschuss (§ 107 Abs. 3 Satz 4 AktG) über die Zustimmung zu den Geschäften mit nahestehenden Personen entscheidet.75 Zwar legen weder § 111b AktG noch §  107 Abs.  3 Satz  4 AktG einen inhaltlichen Maßstab fest, an dem sich der Aufsichtsrat zu orientieren hat, die herrschende Auffassung stellt aber darauf ab, ob das Geschäft aus der Perspektive des Gesellschaftswohls angemessen ist.76 Geht es um die Beurteilung der Angemessenheit, wollen zahlreiche Autoren dem Aufsichtsrat und dem Ausschuss den Schutz der Business Judgment Rule gewähren.77 Die Einordnung der Aufsichtsratszustimmung als unternehmerische Entscheidung überzeugt, weil sich der Aufsichtsrat bzw. der Ausschuss allein am 73 Der verbandsinterne Interessenkonflikt dürfte idR nicht so gravierend sein, dass eine volle gerichtliche Kontrolle angezeigt ist. Zur Abstufung der Kontrollintensität bei Interessenkonflikten s. bereits § 9 IV 3. 74 Die Regelungen über die related party transactions sind auf börsennotierte AG beschränkt, s. Hüffer/J. Koch AktG § 111a Rn. 1. 75 Wann ein solches Geschäft vorliegt, ist in §  111a AktG geregelt; s. dazu statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 111a Rn. 2 ff. 76 Manche ziehen dabei einen Schluss aus § 111c Abs. 2 Satz 3 AktG, wonach alle wesentlichen Informationen veröffentlicht werden müssen, die erforderlich sind, um zu bewerten, ob das Geschäft aus Sicht der Gesellschaft und der Aktionäre, die keine nahestehenden Personen sind, angemessen ist; so Hüffer/J. Koch AktG § 111b Rn. 7; Spindler/Seidel in BeckOGK AktG § 111b Rn. 29; Lieder/Wernert DB 2020, 882, 888; H.-F. Müller, FS E. Vetter, S. 479, 481. Andere orientieren sich an den Maßstäben, die für §  57 Abs.  1 AktG bzw. für §  311 AktG entwickelt wurden; so J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 311b Rn. 86; H.-F. Müller ZIP 2019, 2429, 2425; ders., FS E.  Vetter, S.  479, 483; Verse, FS Hopt, 2020, S.  1335, 1347.  S.  ferner Grigoleit AktG § 311b Rn. 29. 77 Grigoleit AktG § 111b Rn. 29; Spindler/Seidel in BeckOGK AktG § 111b Rn. 29, 33 f.; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 111b Rn. 87, 90; Bungert/Wansleben BB 2019, 1026, 1029; Fiebelkorn ZIP 2020, 953, 956; Lieder/Wernert DB 2020, 882, 888; Markworth AG 2020, 166 Rn. 37; H.-F. Müller, FS E. Vetter, S. 479, 485 f. (der in ZIP 2019, 2429, 2435 vom unternehmerischen Ermessen spricht). 493

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Gesellschaftsinteresse orientieren muss; §  111b Abs.  1 AktG ist eine final strukturierte Norm. Überdies haben die Gerichte keinen Kompetenzvorsprung hinsichtlich der Angemessenheit des anvisierten Geschäfts. Wie in den sonstigen Fällen müssen die beteiligten Aufsichtsratsmitgleider vernünftigerweise davon ausgehen dürfen, auf Grundlage angemessener Information zu handeln, um in den Genuss der Privilegierung zu gelangen.78 Problematisch erscheint die Anwendung der Business Judgment Rule aber im Hinblick auf etwaige Interessenkonflikte, in die die Kontrolleure verstrickt sein können. Insbesondere in Fällen, in denen das zustimmungsbedürftige Geschäft zwischen der Gesellschaft und einem herrschenden Unternehmen zustande kommt, liegt es nicht fern, dass die Aufsichtsratsmitglieder dem Vertragspartner verbunden sind und deshalb die Gefahr besteht, dass sich die Entscheidungsträger nicht allein am Gesellschaftswohl orientieren. b) Interessenkonflikte bei Zustimmung durch Gesamtaufsichtsrat Entscheidet der Gesamtaufsichtsrat über die Zustimmung, wirkt sich das ­Problem der Befangenheit nicht aus, wenn die Vorgaben des §  111b Abs.  2 AktG eingehalten sind. Nach § 111b Abs. 2 AktG können diejenigen Mitglieder des Aufsichtsrats bei der Beschlussfassung ihr Stimmrecht nicht ausüben, die an dem Geschäft als nahestehende Personen beteiligt sind oder bei denen die Besorgnis eines Interessenkonfliktes auf Grund ihrer Beziehungen zu der nahestehenden Person besteht.79 Der weitreichende Stimmrechtsausschluss sorgt dafür, dass befangene Aufsichtsratsmitglieder an der Entscheidung nicht mitwirken und den übrigen Mitgliedern den Zugang zum sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht versperren.80 Wirkt ein befangenes Aufsichtsratsmitglied trotz des Stimmrechtsausschlusses nach § 111b Abs. 2 AktG an der Entscheidung mit, kann dies zum einen zur Nichtigkeit des Beschlusses führen. Zum anderen beeinflusst es die richterliche Kontrolldichte. Ist die Stimme des befangenen Mitglieds für das Beschluss­

78 Es gilt das in § 14 III Gesagte entsprechend. Zur Informationsversorgung des RTP-­ Ausschusses Markworth AG 2020, 166 Rn. 32 f. 79 Zur Reichweite des Konfliktbegriffs in §  111b Abs.  2 AktG s. Spindler/Seidel in BeckOGK AktG § 111b Rn. 27. Die Einstufung eines AR-Mitglieds als befangen ist keine unternehmerische Entscheidung, s. nur RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 76; Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 69; Barg AG 2020, 149 Rn. 39. 80 Dabei liegt es im unternehmerischen Ermessen des Aufsichtsrats, die Zustimmung zu einem Geschäft zu verweigern, das der Vorstand als angemessen qualifiziert hat, s. nur Lieder/Wernert DB 2020, 882, 888; H.-F. Müller, FS E. Vetter, S. 479, 485 f. 494

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ergebnis relevant, ist der Beschluss nichtig;81 das Mitglied kann sich auf die Business Judgment Rule nicht berufen. Ob die anderen Kontrolleure den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG genießen, hängt davon ab, ob sie vom Interessenkonflikt Kenntnis hatten.82 Wirkt sich das Stimmverbot auf das Beschlussergebnis nicht aus, führt die Beteiligung des befangenen Mitglieds zur Intensivierung der gerichtlichen Prüfungsdichte in einem etwaigen Streit um die Angemessenheit der Zustimmungsentscheidung.83 c) Interessenkonflikte bei Zustimmung durch Aufsichtsratsausschuss Obliegt die Zustimmungsentscheidung einem Ausschuss, lässt §  107 Abs.  3 Satz 6 AktG die Beteiligung befangener Aufsichtsratsmitglieder zu, solange die Mehrheit der Mitglieder nicht in einem Interessenkonflikt verstrickt ist.84 Nutzt der Aufsichtsrat die Option des § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG aus, kommt eine bloße Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Betracht, wenn man dem in § 8 V 3 b, 4 b und § 14 IV 2 entwickelten Standpunkt konsequent folgt: Die befangenen Kontrolleure können sich nicht auf die Business Judgment Rule berufen.85 Der offengelegte Interessenkonflikt infiziert ihre Kollegen und den Beschluss. Gegen eine solche Lösung hat Dirk Verse im Hinblick auf die Konflikttoleranz des § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG Bedenken erhoben: Der Gesetzgeber habe gezeigt, dass er der unbefangenen Mehrheit zutraue, zu einer unvoreingenommenen Beurteilung zu gelangen, auch wenn ein befangenes Mitglied mitberate und mitabstimme. Es sei den unbefangenen Kontrolleuren nicht möglich, das befangene Mitglied von der Entscheidungsfindung auszuschließen, um in den Genuß der Business Judgment Rule zu gelangen. Wollte man ihnen den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG versagen, sei der Sinn und Zweck der Business Judgment Rule verfehlt. Erforderlich sei allerdings, dass die unbefangenen Aufsichtsratsmitglieder die Argumente mit der gebotenen kritischen Distanz hinterfragen und sicherstellen würden, dass sie auf einer unabhängig ermittelten Informationsgrundlage eine von dem Konflikt unbeeinflusste Entscheidung treffen können.86 Überdies sei der Interessenkonflikt der befangenen 81 Grigoleit AktG § 111b Rn. 35; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 311b Rn. 145. 82 Dies dürfte bei einer konzernierten AG häufig der Fall sein. 83 Zu den Auswirkungen des Interessenkonflikts auf die einzelnen AR-Mitglieder und den Beschluss § 14 IV 2. 84 Das Stimmverbot des § 111b Abs. 2 AktG gilt nach einhelliger Auffassung nicht, s. nur Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 53; Markworth AG 2020, 166 Rn. 22. 85 So auch Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR § 311 AktG Rn. 107. 86 Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1354 ff. 495

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Aufsichtsratsmitglieder neutralisiert, wenn die Mehrheit der unbefangenen Mitglieder in Kenntnis des Konflikts für die Transaktion gestimmt habe. Unter diesen Umständen könnten sich auch die befangenen Kontrolleure auf die ­Business Judgment Rule berufen.87 In der Tat zeigt § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG, dass der Gesetzgeber die Mitwirkung der befangenen Aufsichtsratsmitglieder an der Zustimmungsentscheidung duldet. Es geht aber zu weit, aus diesem Umstand den Schluss zu ziehen, dass der Interessenkonflikt im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gänzlich unbeachtlich sein soll, wenn die Mehrheit der unbefangenen Aufsichtsratsmitglieder in Kenntnis des Konflikts der related party transaction zugestimmt hat. Der Gesetzgeber hat nach eigenem Bekunden nur den nahestehenden Personen die Beteiligung im Ausschuss untersagt (§ 107 Abs. 3 Satz 5 AktG) und die Mitwirkung der befangenen Aufsichtsratsmitglieder zugelassen (§ 107 Abs. 3 Satz 6 AktG), um einen Anreiz zu schaffen, einen solchen Ausschuss einzurichten, in dem die Argumente aller Seiten ausgetauscht werden können.88 Dieses Ziel lässt sich auch dann erreichen, wenn Entscheidungen, an denen befangene Aufsichtsratsmitglieder beteiligt sind, über die bloße Evidenzkon­ trolle hinaus inhaltlich daraufhin überprüft werden, ob sie angemessen sind.89 Für eine intensivere gerichtliche Kontrolle spricht auch der Zweck der Regelungen über die related party transaction, die Gesellschaft vor unausgewogenen Vermögensverlagerungen zu schützen.90 §  107 Abs.  3 Satz  6 AktG ist rechtspolitisch bedenklich,91 weil er diesen Schutz schwächt. Eine taktische 87 Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1360 f. 88 RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 76. Krit. dazu Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 61; Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1343. 89 Dies gilt umso mehr, wenn die von Dirk Verse aufgestellte, durchaus stichhaltige Vermutung zutrifft, § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG sei den mitbestimmungsrechtlichen Besonderheiten geschuldet (vgl. Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1343 f.; s. auch Grigoleit/Tomasic AktG §  107 Rn.  62 aE; Tarde NZG 2019, 488, 493): Soll §  107 Abs.  3 Satz  6 AktG bei paritätisch mitbestimmten Gesellschaften in der Tat sicherstellen, dass weder die Arbeitnehmervertreter die ausschlaggebenden Stimmen im Ausschuss haben noch die Anzahl der unabhängigen Mitglieder im Gesamtaufsichtsrat die Position des Kontrollaktionärs schwächt, leuchtet es nicht ein, wieso die Duldung der befangenen Aufsichtsratsmitglieder im RTP-Ausschuss die Frage nach der richterlichen Prüfungsdichte hinsichtlich der Zustimmungsentscheidung beeinflussen sollte. Zur Bedeutung der Mitbestimmung beim RTP-Ausschuss Markworth AG 2020, 166 Rn. 19 f. 90 Zu diesem Zweck RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 35; J. Vetter in K. Schmidt/ Lutter AktG §  311a Rn.  16  ff. (der aber in Rn.  21 zur Zurückhaltung hinsichtlich zweckorientierter Auslegung mahnt). 91 Hopt ZGR 2019, 507, 536 f. Fn. 135; Tarde NZG 2019, 488, 493; Verse, FS Hopt, 2020, S. 1335, 1343. 496

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Besetzung des Ausschusses mit den „richtigen unbefangenen Mitgliedern“92 kann nämlich dazu führen, dass die nahestehende Person faktisch die Zustimmungsentscheidung maßgeblich beeinflussen kann. Im Hinblick darauf ist es überzeugender, die Business Judgment Rule auf die Ausschlussentscheidung nicht anzuwenden, wenn ein Ausschlussmitglied einem (allseits bekannten) Interessenkonflikt unterliegt. Eine Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle kann den – duch § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG geschwächten – Schutz vor unausgewogenen Vermögensverlagerungen ein Stück weit verbessern. Dadurch wird den unbefangenen Aufsichtsratsmitgliedern die Möglichkeit, sich auf die Business Judgment Rule zu berufen, nicht gänzlich genommen: Zum einen kann der Aufsichtsrat dafür sorgen, dass der Ausschuss ausschließlich mit unbefangenen Kontrolleuren besetzt ist. Zum anderen kann das Ple­ num die Entscheidung an sich ziehen,93 so dass die befangenen Mitglieder nach § 111b Abs. 2 AktG nicht mitwirken dürfen. Selbst wenn der Gesamtaufsichtsrat das Geschäft dem Ausschuss vorlegt und dieser deshalb verpflichtet ist, über die Zustimmung zu entscheiden,94 ist zu beachten, dass die infizierten Aufsichtsratsmitglieder nicht zwingend einer vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Wer mit der hier vertretenen Auffassung eine „Alles-odernichts“-Lösung ablehnt, kann die Entscheidung der infizierten Mitglieder – auch wegen der Konflikttoleranz des § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG – einer Vertretbarkeitskontrolle unterwerfen.95

III. Vergangenheitsgerichtete Kontrolle der Unternehmensleitung 1. Finalität der Überwachungspflicht In den vorstehenden Ausführungen wurde deutlich, dass die überwiegende Auffassung dem Aufsichtsrat im Bereich der Personalmaßnahmen und der prospektiven Überwachung Ermessens- oder Beurteilungsspielräume einräumt. Anders ist das Meinungsbild, wenn es um die gerichtliche Kontrolle der rückschauenden Überwachungstätigkeit geht. Da den Überwachungsmaß92 Die Begrifflichkeit geht auf Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 63 zurück, die treffend von einer zustimmungsgeneigten Mehrheit sprechen. S. ferner Markworth AG 2020, 166 Rn. 16: befangene AR-Mitglieder als „Zünglein an der Waage“. Großzügiger aber Barg AG 2020, 149 Rn. 43. 93 Zu dieser Möglichkeit RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S.  84; Grigoleit/Tomasic AktG § 107 Rn. 52; Hüffer/J. Koch AktG § 111b Rn. 7; J. Vetter in K. Schmidt/Lutter AktG § 311b Rn. 96. 94 S. RegBegr ARUG II BT-Drs. 19/9739, S. 76; Hüffer/J. Koch AktG § 107 Rn. 26a. 95 S. dazu bereits § 9 IV 3. 497

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nahmen ein prognostisches Element fehlt und der Aufsichtsrat insoweit keine Unternehmensfunktion ausfüllt, trifft dieser nach herrschender Ansicht keine unternehmerischen Entscheidungen und kann sich deshalb nicht auf die § 93 Abs.  1 Satz  2 AktG berufen.96 Nur vereinzelt wird vertreten, dass dem Aufsichtsrat auch im Rahmen der vergangenheitsbezogenen Überwachung die Privilegierung der Business Judgment Rule97 oder zumindest ein Beurteilungsspielraum jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG98 zugutekommt. Legt man der Untersuchung die oben entwickelten Kriterien zur Abgrenzung der unternehmerischen und nicht-unternehmerischen Entscheidungen zugrunde, spricht viel dafür, die vergangenheitsbezogenen Überwachungsmaßnahmen des Aufsichtsrats im Ausgangspunkt als unternehmerische Entscheidungen im Sinne des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einzuordnen. Die allgemeine Überwachungspflicht folgt aus §  111 Abs.  1 AktG, der final strukturiert ist. Das Gesetz schreibt dem Aufsichtsrat vor, die Geschäftsführung zu überwachen, ohne dass es die Überwachungsmaßnahmen im Einzelnen benennt oder den Aufsichtsrat in einer tatbestandlich näher umschriebenen Situation zu konkreten Handlungen verpflichtet. Diese Normstruktur ist mit § 76 Abs. 1 AktG vergleichbar, der ebenfalls nur ganz allgemein von einer Leitungsbefugnis des Vorstands spricht, was auf eine gelockerte gerichtliche Inhaltskontrolle hindeutet. 2. Adäquanzgedanke Der vorstehende Befund wird bestätigt, wenn man die normstrukturelle Analyse um die Frage ergänzt, ob die Gerichte besser als der Aufsichtsrat beurteilen können, welche Überwachungsmaßnahmen ergriffen werden sollten. Dem Aufsichtsrat stehen nämlich zahlreiche Instrumente zur Verfügung, mit denen 96 Heidel/Breuer/Fraune AktG § 116 Rn. 5; Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 6, § 116 Rn. 5; v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 305; Göppert, Business Judgment Rule, S. 128 f.; Huthmacher, Pflichten, S. 138 f.; Hüffer NZG 2007, 47, 48.  Im Ergebnis auch Habersack in MüKoAktG §  116 Rn.  44; Arden, Haftung, S. 184 ff. Vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG BGHZ 135, 244, 254 ff. = NJW 1997, 1926. Zudem beschäftigt sich Lieder (ZGR 2018, 523) im Kontext der BJR nur mit der strategisch-präventiven Überwachung durch den AR, was den vorsichtigen Schluss erlaubt, dass er die vergangenheitsbezogenen Überwachungsmaßnahmen mit der hM nicht als unternehmerisch iSd § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG qualifiziert. 97 Paefgen WM 2016, 433, 439 (s. auch bereits vor Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Paefgen, Entscheidungen, S. 149; Dreher ZHR 158 [1994], 614, 621). 98 Dafür Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 106 f., § 116 Rn. 69 ff.: keine unternehmerische Entscheidung, aber Kontrollermessen. 498

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er die Geschäftsleitung kontrollieren kann. So kann das Überwachungsorgan auf seine Informationsrechte zurückgreifen, zu den geplanten Geschäftsführungsmaßnahmen informell Stellung beziehen und bei drohenden Nachteilen die Vorstandsmaßnahmen unterbinden, etwa durch Erlass von einzelfallbezogenen Zustimmungsvorbehalten oder Androhung von Personalkonsequenzen.99 Es erschließt sich nicht, wieso ein Gericht besser als der Aufsichtsrat beurteilen soll, ob es vorzugswürdig ist, mit dem Vorstand ein klärendes Gespräch zu suchen oder ihm gegenüber eine härtere Gangart einzulegen. Überdies zeigen die einzelnen Kontrollinstrumente, dass es nicht möglich ist, zwischen der (ermessensfreien) vergangenheitsbezogenen Überwachung einerseits und den Personalmaßnahmen sowie der zukunftsgerichteten Überwachung mit gestalterischem Einschlag andererseits strikt zu unterscheiden.100 Vielmehr gehen diese Bereiche fließend ineinander über. Die Abberufung der Vorstandsmitglieder ist zum einen eine Personalmaßnahme, die zumindest auf der Rechtsfolgenseite des § 84 Abs. 3 AktG nur eingeschränkt gerichtlich überprüft werden kann,101 zum anderen kann sie als Folge der vergangenheitsbezogenen Überwachung eingeordnet werden, die aber nach der herrschenden Auffassung einer vollen richterlichen Kontrolle unterliegen soll. Dies gilt auch für die Anordnung und Ausübung von Zustimmungsvorbehalten, die einerseits als gestalterische Instrumente angesehen werden, deren Einsatz im unternehmerischen Ermessen des Aufsichtsrats liegt,102 andererseits aber aus dem Umstand resultieren können, dass der Aufsichtsrat im Rahmen der retrospektiven Überwachung auf Missstände bei der Geschäftsleitung reagieren will. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die pauschale Ausklammerung der vergangenheitsbezogenen Überwachung aus dem Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht überzeugen kann. Umgekehrt ginge es zu weit, wenn man die gesamte retrospektive Kontrolle durch den Aufsichtsrat dem Schutz der Business Judgment Rule unterwerfen wollte. Das Argument der herrschenden Auffassung, der retrospektiven Überwachungstätigkeit des Aufsichtsrats fehle der gestalterische Einschlag, hat durchaus Gewicht. Erschöpfen sich die Maßnahmen des Überwachungsorgans darin, die Geschäftsleitungsmaßnahmen nachzuvollziehen, bleibt für eine Lockerung der gerichtlichen Kontrolle in der Tat kein Raum. Deshalb ist für jedes Kontrollinstrument ge 99 Zu den Überwachungsinstrumenten des AR ausf. Hopt/M. Roth in GK-AktG § 111 Rn. 312 ff. 100 Dies konzediert auch Hüffer/J. Koch AktG § 116 Rn. 5. 101 Zum Rechtsfolgenermessen bei § 84 Abs. 3 AktG s. § 15 I 3. 102 S. § 15 II. 499

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sondert festzustellen, ob es im sicheren Hafen der Business Judgment Rule ­liegen kann. Dabei ist insbesondere ausschlaggebend, wie stark die Überwachungsmaßnahme die aktienrechtliche Organisationsverfassung beeinflusst. Eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle ist etwa dann geboten, wenn der Aufsichtsrat mit Hilfe seiner Kontrollinstrumente die Leitungsautonomie des Vorstands beeinträchtigt. Dies gilt auch dann, wenn die Verflechtungen zwischen den Verwaltungsorganen das Risiko eines opportunistischen Verhaltens erhöhen.103 3. Geltendmachung von Informationsrechten als unternehmerische Entscheidung Ein Beispiel dafür, dass der Aufsichtsrat auch im Bereich der vergangenheitsbezogenen Kontrolle diskretionäre Spielräume genießen kann, ist die aktive Informationsbeschaffung. Folgt man der These der herrschenden Auffassung und ordnet man die Informationsbeschaffung als eine Maßnahme der retro­ spektiven Überwachung ein,104 dürfte der Aufsichtsrat in diesem Zusam­ menhang keine Letztentscheidungskompetenz haben. Dies steht in einem ­Widerspruch zu den Stellungnahmen im Schrifttum, die dem Überwachungsorgan ein Ermessen bei der Durchsetzung der Informations- und Einsichtsrechte gegenüber dem Vorstand einräumen.105 An manchen Stellen sprechen die Autoren zwar nicht vom Ermessen, sie gewähren dem Aufsichtsrat aber das Einsichtsrecht aus §  111 Abs.  2 AktG, wenn die Informationen nach seiner Einschätzung erforderlich sind,106 und lassen den Informationsanspruch aus § 90 Abs. 3 AktG erst dann scheitern, wenn der Aufsichtsrat im konkreten Fall rechtsmissbräuchlich handelt.107 Nimmt man diesen Erforderlichkeits- oder 103 Zu diesen Gesichtspunkten bereits § 14 II 2. 104 Dies wird in der Kommentarliteratur angenommen, s. etwa Hopt/M. Roth in GKAktG § 111 Rn. 313 ff. 105 So zu den Anforderungsberichten des Vorstands nach § 90 Abs. 3 AktG J. Koch ZHR 180 (2016) 578, 589.  Zur Ausübung des Einsichts- und Prüfungsrechts aus §  111 Abs.  2 Satz  1 AktG Drygala in K.  Schmidt/Lutter AktG §  111 Rn.  33; Spindler in BeckOGK AktG §  111 Rn.  45.  Zur Bestellung von Sachverständigen nach §  111 Abs. 2 Satz 2 AktG Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 88; Spindler in BeckOGK AktG § 111 Rn. 50 (einschränkend aber J. Koch ZHR 180 [2016] 578, 596 im Hinblick auf den Kostenfaktor). 106 Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 72, 78.  107 RegBegr TransPuG BT-Drucks. 14/8769, S.  14; Dauner-Lieb in Henssler/Strohn GesR § 90 AktG Rn. 21; Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 49; Grigoleit/Tomasic AktG §  90 Rn.  10  f., 24; Kort in GK-AktG §  90 Rn.  112  ff.; Mertens/Cahn in KKAktG § 90 Rn. 50; Hölters/Müller-Michaels AktG § 90 Rn. 15; Spindler in MüKoAktG 500

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Missbrauchsvorbehalt ernst, obliegt die Entscheidung über den Informationsbedarf in erster Linie dem Aufsichtsrat und der Vorstand darf den Informationszugang nur in Ausnahmefällen verweigern.108 Dieses Verständnis der Missbrauchsschranke als Ausnahmefall steht freilich in einem Spannungsverhältnis zu der verbreiteten Feststellung, der Vorstand könne nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob ein Grund für die Verweigerung der Berichte bestehe.109 Die vorstehend skizzierten Widersprüche im Schrifttum lassen sich vermeiden, wenn man mit der hier vertretenen Ansicht die retrospektive Überwachung nicht pauschal aus dem Anwendungsbereich der Business Judgment Rule ausklammert und die aktive Informationsbeschaffung durch den Aufsichtsrat am Maßstab des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kontrolliert. Macht der Aufsichtsrat den Berichtsanspruch aus §  90 Abs.  3 AktG oder das Einsichtnah­ me-  und Prüfungsrecht aus §  111 Abs.  2 AktG geltend, muss er sich allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen. Er trifft deshalb eine unternehmerische Entscheidung, die einer inhaltlichen Evidenzkontrolle unterliegt, wenn die Aufsichtsratsmitglieder unbefangen waren und zu einer vertretbaren Einschätzung gelangt sind, dass sie über die regulären Vorstandsberichte hinaus weitere Informationen benötigen. Diese Kontrollintensität gilt nicht nur im Rahmen des gerichtlichen Prozesses, sondern sie ist auch für den Vorstand maßgeblich.110 Sind die prozeduralen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, darf der Vorstand die Berichterstattung oder Einsichtnahme nur dann verweigern, wenn es auf der Hand liegt, dass die Geltendmachung der

§ 90 Rn. 57; Grobe, Inter- und Intraorganklagen, S. 460 f.; Manger NZG 2010, 1255, 1257.  Zu §  111 Abs.  2 AktG auch Hölters/Hambloch-Gesinn/Gesinn AktG §  111 Rn. 45. 108 In diese Richtung J. Koch ZHR 180 (2016) 578, 589  f., der aber an einer anderen Stelle von der Entscheidungszuständigkeit des Vorstands spricht (Hüffer/J. Koch AktG § 90 Rn. 12a). 109 So Fleischer in BeckOGK AktG § 90 Rn. 49 (der aber in BeckOGK AktG § 93 Rn. 85 feststellt, dass Ermessensspielräume bei gesellschaftsrechtlichen Informationspflichten grds. nicht zur Debatte stünden); Kort in GK-AktG § 90 Rn. 115; Manger NZG 2010, 1255, 1258. Für einen „gesetzlichen Entscheidungsspielraum“ Linnertz, Delegation, S. 234 Fn. 128. Widersprüchlich Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter AktG § 90 Rn. 49, die einerseits ein pflichtgemäßes Ermessen des Vorstands annimmt und andererseits von der vollen gerichtlichen Kontrolle der Vorstandsentscheidung spricht. Gegen ein Ermessen aber Pfertner, Entscheidungen, S. 186. 110 Es wurde bereits in § 2 VI 2 herausgearbeitet, dass die Intensität der gerichtlichen Kontrolle die Handlungsspielräume der Gesellschaftsorgane beeinflusst. 501

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Informationsrechte nicht dem Gesellschaftswohl entspricht.111 Ist die Forderung des Aufsichtsrats nicht völlig unverantwortlich, muss ihr der Vorstand Folge leisten. Der Vorteil der hier vorgeschlagenen Lösung liegt darin, dass sie den Rechtsanwender nicht dazu zwingt, mit dem diffusen Missbrauchsgedanken zu arbeiten, sondern sie gibt ihm mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine tatbestandlich schärfer umrissene – wenn auch in Einzelheiten immer noch unklare – Vorschrift an die Hand. Überdies führt die Anwendung der Business Judgment Rule zu einem dogmatisch stimmigen Ergebnis in Fällen, in denen die Informationsweitergabe an ein Aufsichtsratsmitglieder bedenklich erscheint, weil dieses auch für einen (potentiellen) Wettbewerber tätig ist und die Gefahr droht, dass es trotz der Verschwiegenheitspflicht sensible Informationen weitergibt.112 Der Kontrolleur ist in einem solchen Fall in einen Interessenkonflikt verstrickt, so dass das Gericht intensiver kontrollieren darf, ob die Inanspruchnahme des Vorstands dem Gesellschaftswohl entspricht. Da sich die Befugnisse der Organe an der richterlichen Prüfungsdichte orientieren,113 fällt es dem Vorstand leichter, die Verweigerung der Informationsweitergabe zu begründen. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist zudem nicht einschlägig, wenn es um die Befragung von Mitarbeitern durch den Aufsichtsrat ohne Einschaltung des Vorstands geht.114 Unternehmerische Ermessensspielräume kann das Überwachungsorgan nur in Anspruch nehmen, wenn er die aktienrechtliche Zuständigkeitsordnung wahrt und die Informations- und Einsichtsrechte gegenüber dem Vorstand geltend macht. Schaltet es das Leitungsorgan nicht ein, droht die ­Gefahr, dass es dessen Kompetenzen und damit die Organisationsverfassung verletzt. Ein solches Vorgehen ist mit einer bloßen Evidenzkontrolle nicht zu vereinbaren. Vielmehr darf das Gericht prüfen, ob die unmittelbare Mitarbeiterbefragung vertretbar war. 4. Verfolgungspflicht bei Vorstandsinnenhaftung Eine weitere vergangenheitsbezogene Überwachungsmaßnahme, die im Fokus der Diskussion um die richterliche Prüfungsdichte steht, ist die Pflicht des 111 Für Entscheidungszuständigkeit des Gesamt-AR aber Mertens/Cahn in KK-AktG § 90 Rn. 17, 50. 112 Zu diesen Fällen etwa Kort in GK-AktG § 90 Rn. 114. 113 Hierzu § 2 VI 2. 114 AA wohl J. Koch ZHR 180 (2016) 578, 590, der zwar § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ausdrücklich nennt, aber von weitem Ermessen spricht. 502

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Aufsichtsrats, Schadensersatzansprüche der Gesellschaft gegen die Vorstandsmitglieder zu verfolgen. Die Verfolgungspflicht ist zweistufig aufgebaut. Auf der ersten Stufe steht die Sachverhaltsermittlung, auf der zweiten Stufe die Abwägung des Aufsichtsrats zwischen Belangen, die für und gegen die Anspruchsverfolgung sprechen.115 Die Intensität der gerichtlichen Kontrolle ist namentlich auf der zweiten Stufe umstritten. Während zahlreiche Stimmen die Anwendung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG befürworten116 oder einen ungeschriebenen Beurteilungsspielraum des Aufsichtsrats hinsichtlich der Abwägungsentscheidung annehmen,117 plädieren manche für eine uneingeschränkte gerichtliche Überprüfung der Verfolgungsentscheidung.118 Lehnt man mit der hier vertretenen Auffassung die pauschale Ausklam­merung der retrospektiven Überwachung aus dem Anwendungsbereich der Business Judgment Rule ab und geht man zugleich davon aus, dass die Ver­folgungspflicht des Aufsichtsrats aus § 111 Abs. 1 AktG folgt, spricht die Normstruktur für den unternehmerischen Charakter der Verfolgungsentscheidung. §  111 Abs.  1 AktG ist eine finale Vorschrift,119 was auf eine Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte hindeutet. Gleichwohl ist die Rechtsentwicklung nicht beim offenen Wortlaut des § 111 Abs. 1 AktG stehen geblieben. Der BGH hat nämlich in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung die Voraussetzungen der Verfolgungspflicht so präzise umrissen, dass sie sich wie eine geschriebene, konditionale Regel anwenden lässt. Wenn der Aufsichtsrat greifbare Anhaltspukte für ein schadensstiftendes Verhalten eines Vorstandsmitglieds hat, muss er den Sachverhalt aufklären und prüfen, ob er etwaige Ansprüche gegen den Geschäftsleiter geltend machen kann. Führt die Ermittlungstätigkeit des Aufsichtsrats zum Ergebnis, dass sich ein Vorstandsmitglied gem. §  93 Abs.  2

115 Zu den zwei Stufen der Verfolgungspflicht statt vieler Hüffer/J. Koch AktG §  111 Rn. 8 ff. 116 So v. Schenck in Semler/v. Schenck AR-Kommentar § 116 AktG Rn. 305 ff.; Cahn WM 2013, 1293, 1296 f.; W. Goette ZHR 176 (2012), 588, 591 ff., 615; Paefgen AG 2008, 761, 762 ff.; ders. AG 2014, 554, 571 ff. 117 Dafür die wohl hM, s. nur Habersack in MüKoAktG §  111 Rn.  44; E. Vetter in Marsch-Barner/Schäfer Rn.  29.70; Arden, Haftung, S.  174  ff.; Dendl, Disposition, S. 77 ff. Vor Einführung der BJR in diese Richtung Heermann AG 1998, 201, 207 ff. 118 So Hüffer/J. Koch AktG § 111 Rn. 11 ff. mwN zum Meinungsstand. S. ferner Göppert, Business Judgment Rule, S. 133 ff.; Holle ZHR 182 (2018), 569, 579 ff.; Lutter, FS Hoffmann-Becking, S. 747 ff.; S.H. Schneider DB 2005, 707, 711. Widersprüchlich Huthmacher, Pflichten, S. 137 (für Anwendung der BJR), S. 138 (gegen BJR). 119 S. schon § 15 III 1. 503

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Satz 1 AktG schadensersatzpflichtig gemacht hat, muss der Aufsichtsrat den Anspruch grundsätzlich verfolgen.120 Diese Konditionalisierung der ursprünglich finalen Norm121 legt nahe, dass die Verfolgungsentscheidung nicht unternehmerisch ist und deshalb einer intensiveren gerichtlichen Überprüfung unterliegt.122 Dass der Gesetzgeber die Gerichte für befähigt hält, eine solche Kontrolle durchzuführen, zeigt nicht zuletzt §  148 Abs.  1 AktG. Beantragt eine qualifizierte Aktionärsminderheit ein Klagezulassungsverfahren, müssen die Richter selbständig prüfen, ob eine Schadensersatzklage gegen die Vorstandsmitglieder geboten ist. Wieso eine solche Prüfung außerhalb des Klagezulassungsverfahrens nicht möglich sein soll, leuchtet nicht ein.123 Dieser Befund wird bestätigt, wenn man die weiteren Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG untersucht. Die Anwendung der Business Judgment Rule dürfte nämlich am latenten Interessenkonflikt der Aufsichtsratsmitglieder scheitern.124 Dies wird insbesondere bei Kontrolleuren deutlich, die im Zeitpunkt der Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds im Amt waren.125 Da jeder Sorgfaltsverstoß eines Vorstandsmitglieds als Argument für eine unzureichende Überwachung durch den Aufsichtsrat aufgegriffen werden kann, können die Aufsichtsratsmitglieder geneigt sein, pflichtwidriges Verhalten der Geschäftsleiter unter den Teppich zu kehren. Wie schon in § 14 IV 1 b erläutert, sprechen solche internen Interessenkonflikte dafür, die Intensität der gerichtlichen Kontrolle zu erhöhen. Auf diesem Wege kann die Gefahr des opportunistischen Verhaltens der Verwaltungsorgane verringert werden.126 120 BGHZ 135, 244, 254 ff. = NJW 1997, 1926. 121 Zu einer solchen Möglichkeit Fleischer ZHR 168 (2004), 673, 699 f. 122 Gegen die Einordnung des Verfolgungsbeschlusses als unternehmerische Entscheidung etwa Dendl, Disposition, S. 65 ff.; Lutter, FS Hoffmann-Becking, S. 747, 750 ff. 123 Ausf. J. Koch AG 2009, 93, 99 f. Ähnlich etwa Dendl, Disposition, S. 73 ff. 124 Darauf weisen hin: Habersack in MüKoAktG § 111 Rn. 44; Holle ZHR 182 (2018), 569, 579 f.; Lutter, FS Hoffmann-Becking, S. 747, 748 f. 125 Für eine Differenzierung nach einem etwaigen Wechsel der Mandatsträger zutr. Lutter, FS Hoffmann-Becking, S. 747, 748 f. 126 Dieselben Überlegungen können in dem umgekehrten Fall aufgegriffen werden, in dem der Vorstand verpflichtet ist, Schadensersatzansprüche gegen pflichtvergessene AR-Mitglieder zu verfolgen (zu einer solchen Vorstandspflicht s. statt vieler OLG Stuttgart BeckRS 2015, 14340 Rn. 226 ff.; Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 114; Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 8; Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 146; S.H. Schneider DB 2005, 707, 711  f.; anders aber Spindler in MüKoAktG §  93 Rn.  116; Bachmann ZHR 180 [2016], 563, 574  f.). Knüpft man die Verfolgungspflicht des Vorstands an die ARAG/Garmenbeck- Rspr. an, muss der Vorstand eine 504

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Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht

IV. Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht Die Frage nach der Intensität der gerichtlichen Kontrolle stellt sich zudem bei der Durchbrechung der Verschwiegenheitspflicht. Wie die Vorstandsmitglieder sind die Aufsichtsratsmitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet, was nicht nur aus dem Verweis in § 116 Satz 1 AktG auf § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG folgt, sondern auch in § 116 Satz 2 AktG besonders unterstrichen wird. Anders als bei den Geschäftsleitern wird im Schrifttum aber die Frage beantwortet, ob die Kontrolleure sich auf die Business Judgment Rule berufen dürfen, wenn sie vertrauliche Informationen an Dritte weitergeben. Während im Vorstandsrecht weitgehend konsentiert ist, dass der Vorstand einen Ermessensspielraum genießt,127 steht die herrschende Auffassung im Zusammenhang mit §  116 Satz 2 AktG auf dem Standpunkt, dass dem Aufsichtsrat und seinen Mitgliedern eine solche Privilegierung nicht zugutekommt.128 Der Ausschluss der Business Judgment Rule wird meist nicht näher begründet. Vereinzelt wird der Vorrang der Treuepflicht vor dem unternehmerischen Ermessen genannt,129 was insoweit verblüffend ist, als dieses Argument genauso im Vorstandsrecht formuliert werden könnte, dort aber nur vereinzelt aufgegriffen wird.130 Bei Lichte besehen kann die Qualifizierung der Verschwiegenheitspflicht als eine Ausprägung der Treuepflicht nicht zu einer Intensivierung der richterlichen Kontrolle führen, weil auch die Treuepflicht einen finalen Charakter hat.131 Deshalb überzeugt die herrschende Auffassung nur zum Teil. Der Aufsichtsrat kann sich nur dann nicht auf die Business Judgment Rule berufen, wenn er Informationen preisgeben will, die er vom Vorstand erlangt hat. Wollte man dem Aufsichtsrat in einer solchen Situation die Berufung auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gestatten, würde man die Position des Vorstands als „Herrn der Geschäftsgeheimnisse“132 unterminieren und die aktienrechtliche Organisationsverfassung stören. Im Hinblick darauf dient eine engmaschige gerichtliche Kontrolle des Aufsichtsrats dem Institutionenschutz. Der Auf-

konditionale Regel anwenden. Zudem sprechen die verbandsinternen Interessenkonflikte (s. § 14 IV 1 b) gegen die Anwendung der BJR. 127 Dazu bereits in § 11 II 4 a mit Nachw. in Fn. 81 und 84 (für Anwendung der BJR). 128 Grigoleit/Tomasic AktG § 116 Rn. 18; Habersack in MüKoAktG § 116 Rn. 56; Hüffer/J. Koch AktG § 116 Rn. 11; Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 113; Lutter Information Rn. 420, 444 f. AA Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 50.  129 Spindler in BeckOGK AktG § 116 Rn. 113. 130 S. § 11 II 4 b mit Fn. 87. 131 S. bereits § 8 II 6 und § 11 II 4. 132 Dazu BGH NJW 2016, 2569 Rn. 35. 505

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sichtsrat soll dazu angehalten werden, vor Preisgabe von vertraulichen Informationen eine Einwilligung des Vorstands einzuholen. Anders ist der Fall zu beurteilen, in dem der Aufsichtsrat über die Weitergabe von vertraulichen Informationen entscheidet, die ausschließlich in seiner Sphäre liegen. Als Beispiel mag die Auswahl neuer Geschäftsleiter dienen. Gibt der Aufsichtsrat solche Unternehmensinterna preis, ist die Position des Vorstands als „Herr der Geschäftsgeheimnisse“ nicht beeinträchtigt, weil dieser gar nicht über diese Geheimnisse verfügen kann. In einem solchen Fall steht die aktienrechtliche Organisationsverfassung der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht entgegen. Der Aufsichtsrat darf selbständig entscheiden, ob es im Gesellschaftsinteresse liegt, die Geheimnisse zu lüften.133 Handelt er auf angemessener Informationsgrundlage und ohne Sonderinteressen, unterliegt seine Entscheidung einer inhaltlichen Evidenzkontrolle.

V. Übernahmesituation 1. Problemaufriss und Meinungsstand In einem letzten Schritt ist die richterliche Prüfungsdichte der Aufsichtsratsmaßnahmen in der Übernahmesituation zu bestimmen. Es wurde bereits im Zusammenhang mit dem Vorstandsrecht ausführlich diskutiert, ob sich die Geschäftsleiter der Zielgesellschaft auf die Business Judgment Rule berufen dürfen, wenn sie eine Stellungnahme nach § 27 WpÜG abgeben und Maßnahmen ergreifen, die geeignet sind, die Übernahme zu vereiteln (§  33 Abs.  1 WpÜG).134 Vergleichbare Fragen stellen sich bei Maßnahmen des Aufsichtsrats in einer Übernahmesituation. Auch das Überwachungsorgan muss gem. § 27 Abs. 1 WpÜG zum Angebot des Bieters Stellung beziehen. Außerdem kann der Aufsichtsrat einer abwehrgeeigneten Maßnahme des Vorstands zustimmen und das Vereitelungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG außer Kraft setzen (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG).135 In all diesen Fällen ist zu klären, ob sich der Aufsichtsrat auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen darf.136 Zudem wurde oben die Frage offengelassen, ob den Ge133 In diese Richtung auch Hopt/M. Roth in GK-AktG § 116 Rn. 226. 134 Hierzu § 11 II 5 bis 8. 135 Anders als der Vorstand unterliegt der AR keinem übernahmerechtlichen Verhinderungsverbot; s.  Noack/Zetzsche in KMRK §  33 WpÜG Rn.  19; Röh in FK-WpÜG § 33 Rn. 94 ff.; Heyers Der Konzern 2017, 231, 232, 235. AA Schlitt in MüKoAktG § 33 WpÜG Rn. 180. 136 Zur Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG s. § 15 V 2; zur Zustimmung nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG s. § 15 V 3. 506

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Übernahmesituation

schäftsleitern die Business Judgment Rule zugutekommt, wenn sie eine abwehrgeeignete Maßnahme mit Zustimmung des Aufsichtsrats treffen; die Antwort wird in § 15 V 4 nachgeholt. Die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist insbesondere wegen übernahmebedingter Interessenkonflikte problematisch. Es wurde bereits im Kontext der Vorstandsmaßnahmen ausführlich erläutert, dass die Geschäftsleiter in einer Übernahmesituation latent befangen sind, weil sich der Anteilseignerwechsel auf ihre Position auswirken kann.137 Dies gilt umso mehr für die Aufsichtsratsmitglieder, die als Vertreter der Anteilseigner agieren.138 Investiert eine Person Mittel, um ihre Macht in der Gesellschaft auszubauen, liegt es nahe, dass sie die Aufsichtsratsbesetzung be­ einflussen wird.139 Zudem weist das Schrifttum auf Interessenkonflikte der Aufsichtsratsmitglieder hin, die Verbindungen zu den finanzierenden oder beratenden Banken haben.140 Wertet man das juristische Schrifttum hinsichtlich der Stellungnahme nach § 27 WpÜG aus, stellt man fest, dass manche Autoren dem Aufsichtsrat insoweit die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gewähren;141 andere sprechen von einem (nicht näher definierten) Beurteilungsspielraum.142 Wie schon im Vorstandsrecht blenden die meisten Abhandlungen die Auswirkungen der übernahmebedingten Interessenkonflikte auf die Business Judgment Rule weitgehend aus.143 Stattdessen wird darüber diskutiert, ob die Aufsichts-

137 Vgl. § 11 V 8 a. 138 Vgl. Louven in Angerer/Geibel/Süßmann § 27 Rn. 8: „(…) Interessenkonflikte von Mitgliedern der Gesellschaftsorgane, bei denen solche von Mitgliedern des Aufsichtsrats wiederum praktisch ganz im Vordergrund stehen.“ Anders Seibt, FS Hoffmann-Becking, S. 1119; ähnlich Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 136, der aber zutr. zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter differenzieren will. 139 Vgl. Heyers Der Konzern 2017, 231, 233. 140 Aufschlussreich zu den Interessenkonflikten des AR bei Übernahmen Möllers ZIP 2006, 1615, 1616 ff.; E. Vetter, FS Hopt, 2010, S. 2657, 2668 f. 141 Louven in Angerer/Geibel/Süßmann § 27 Rn. 5; Mertens/Cahn in KK-AktG § 116 Rn. 68; Röh in FK-WpÜG § 27 Rn. 61 iVm Rn. 22; Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 30; Winner in Fleischer/Hüttemann Rn. 23.35; Lieder ZGR 2018, 523, 535; Seibt, FS Hoffmann-Becking, S. 1119, 1140, 1143. 142 So OLG Stuttgart AG 2019, 527, 536; Harbarth in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 27 Rn.  74 (ARAG-Standard); Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 27 Rn. 33; Noack/Holzborn in KMRK § 27 WpÜG Rn. 16 iVm Rn. 8. 143 Symptomatisch Harbarth in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 27 Rn. 74, der zwar den Interessenkonflikt erkennt, aber ohne nähere dogmatische Begründung den „ARAG-­ Standard“ anwenden will. Für einen Ermessensspielraum im Zusammenhang mit der Amtsniederlegung auch Lange WM 2002, 1737, 1745 f. Anders aber Möllers ZIP 507

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ratsmitglieder ihre Sonderinteressen offenlegen müssen144 und ob sie einem Stimmverbot unterliegen.145 Mehr Sensibilität für die ermessensausschließende Wirkung der Sonderinte­ ressen haben Autoren, die sich mit der Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in Fällen befassen, in denen der Aufsichtsrat einer abwehrgeeigneten Maßnahme des Vorstands nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zustimmt. Hier will die wohl herrschende Auffassung die Business Judgment Rule wegen der Befangenheit der Vorstandsmitglieder nur modifiziert anwenden. Die Vorstandsmitglieder dürften sich nur dann auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen, wenn ein besonderes qualifiziertes Unternehmensinteresse vorliege. Dies sei der Fall, wenn das Verteidigungsinteresse der Gesellschaft das Interesse der Aktionäre an einer unbeeinflussten Entscheidung deutlich überwiege.146 Manche wollen die Business Judgment Rule auch bei § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG ohne Modifizierungen anwenden,147 andere versagen befangenen Geschäftsleitern die Privilegierung.148 Ähnlich ausdifferenziert ist der Meinungsstand zu den Ermessensspielräumen des Aufsichtsrats, der einer Abwehrmaßnahme zustimmt. Nach einer Ansicht soll die Zustimmung nur dann im sicheren Hafen der Business Judgment Rule 2006, 1615, 1618  f.: kein Ermessensspielraum bei der Feststellung des Interessenkonflikts. 144 Vgl. Louven in Angerer/Geibel/Süßmann §  27 Rn.  8; Wackerbarth in MüKoAktG § 27 WpÜG Rn. 11. 145 Zur Diskussion s. E. Vetter, FS Hopt, 2010, S. 2657, 2669 ff. 146 Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR Vor § 311 AktG Rn. 19; Hirte in KKWpÜG §  33 Rn.  83; Röh in FK-WpÜG §  33 Rn.  92  f.; Schlitt in MüKoAktG §  33 WpÜG Rn. 172 ff.; Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 29 f.; Paschos in HdB ÜbernahmeR §  24 Rn.  133; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S.  306  ff.; Winter/Harbarth ZIP 2002, 1, 9 f. 147 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG §  33 Rn.  56 (wie die hM aber noch Brandi in Thaeter/Brandi Teil  3 Rn.  387); Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 105; Buckel, Einsatz, S. 187 ff., insb. S. 192 ff.; Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 172 ff. (insb. S. 190 ff. zum Interessenkonflikt); Tröger DZWiR 2002, 397, 403. So wohl auch Weiß, Handlungsrahmen, S. 100 ff.; J. Koch, FS Säcker, S. 403, 418 f.; Lieder ZGR 2018, 523, 535 (der auf den Interessenkonflikt gar nicht eingeht). Vgl. ferner Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn. 178, die aber einen Ermessensausschluss befürworten, wenn das Vorstandshandeln auf sachwidrigen Motiven beruht. 148 Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG § 33 Rn. 58; Müller-Michaels in HdB Unternehmenskauf Rn.  13.161; Holtkamp, Interessenkonflikt, S.  303; Winnen, Innenhaftung, S. 269 f.; Zheng, Verhaltenspflichten, S. 140; Heyers Der Konzern 2017, 231, 238. 508

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Übernahmesituation

liegen, wenn sich der Aufsichtsrat nicht in einem übernahmebedingten Inte­ ressenkonflikt befindet.149 Andere Stimmen wollen die Business Judgment Rule wie beim Vorstand modifizieren und verlangen ein qualifiziertes Unternehmensinteresse.150 Schließlich stehen manche Autoren auf dem Standpunkt, dass dem Aufsichtsrat trotz übernahmebedingter Sonderinteressen die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ohne Modifizierungen zugutekommt.151 2. Stellungnahme des Aufsichtsrats nach § 27 Abs. 1 WpÜG Beginnt man die Untersuchung mit der Stellungnahme des Aufsichtsrats nach § 27 Abs. 1 WpÜG, ist zunächst festzuhalten, dass es sich bei der Stellungnahme um eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handelt. Wie bereits in § 11 II 6 im Zusammenhang mit der Stellung­ nahme des Vorstands erläutert wurde, muss sich der Aufsichtsrat allein am Gesellschaftswohl orientieren; er ist also final programmiert. Hinsichtlich der Informationsbeschaffung ist auf die Ausführungen zum Vorstandsrecht zu verweisen,152 wobei zu berücksichtigen ist, dass sich der Aufsichtsrat grundsätzlich auf die vom Vorstand geschaffenen Informationsgrundlagen verlassen darf.153 Schließlich stehen die übernahmebedingten Interessenkonflikte der 149 Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG § 33 Rn. 62; Zheng, Verhaltenspflichten, S. 140 f.; Heyers Der Konzern 2017, 231, 233, 238. So wohl auch Noack/Zetzsche in KMRK § 33 WpÜG Rn. 20, die einerseits hinsichtlich der Informationsgrundlage auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG verweisen, andererseits aber das Privileg einer freien unternehmerischen Risikoentscheidung wegen einer Konfliktlage ablehnen. 150 So Habersack in Emmerich/Habersack KonzernR Vor § 311 AktG Rn. 19; Hirte in KK-WpÜG § 33 Rn. 84; Röh in FK-WpÜG § 33 Rn. 95; Schlitt in MüKoAktG § 33 WpÜG Rn. 180; Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 29 f.; Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 136, 141. 151 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG §  33 Rn.  56 (wie die hM aber noch Brandi in Thaeter/Brandi Teil  3 Rn.  387); Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG §  33 Rn.  75, 111; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 185 f.; Buckel, Einsatz, S. 196 f.; Stelmaszczyk, Barkapitalemission, S. 172 ff. (insb. S. 190 ff. zum Interessenkonflikt); Weiß, Handlungsrahmen, S. 104; Seibt, FS Hoffmann-Becking, S. 1119, 1123, 1143 ff. So wohl auch M. Arnold/Wenninger CFL 2010, 79, 81. Vgl. ferner OLG Stuttgart AG 2019, 527, 533 f., das sich aber nicht eindeutig festlegt. Ohne Problematisierung des Interessenkonflikts Mertens/Cahn in KK-AktG §  116 Rn.  68.  Vor Kodifizierung der BJR Tröger DZWiR 2002, 397, 403. 152 § 11 II 7 a. 153 Ausf. §  14 III 1.  S.  ferner Krause/Pötzsch in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 27 Rn. 48; Goslar in HdB ÜbernahmeR § 22 Rn. 30. 509

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Gerichtliche Kontrolldichte bei ausgewählten Aufsichtsratsaufgaben

Aufsichtsratsmitglieder  – wie beim Vorstand  – der Business Judgment Rule nicht im Wege, wenn sie in der Stellungnahme offengelegt sind. In einem solchen Fall sind die Aktionäre hinreichend darüber informiert, dass die Stellungnahme des Aufsichtsrats nicht vollständig objektiv ist, und können sich vor den negativen Folgen einer (möglicherweise) verzerrten Bewertung selbst schützen, indem sie zusätzliche Informationen über das Angebot einholen. Aus diesem Grund fehlt der übernahmebedingten Befangenheit die Relevanz, so dass die Stellungnahme einer Evidenzkontrolle unterliegt.154 3. Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG Geht es um die abwehrgeeigneten Maßnahmen des Vorstands, denen der Aufsichtsrat nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zugestimmt hat, können zwei Entscheidungen der richterlichen Kontrolle unterliegen: einerseits der Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats, andererseits die Vorstandsentscheidung.155 Da der Aufsichtsrat wie der Vorstand sich allein am Gesellschaftswohl orientieren muss, handelt es sich jeweils um unternehmerische Entscheidungen,156 die im Ausgangspunkt von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfasst sind.157 Allerdings kann sich der Aufsichtsrat in der Regel nicht auf die Business Judgment Rule berufen, weil seine Mitglieder in einen latenten Interessenkonflikt verwickelt sind, der eine intensivierte gerichtliche Kontrolle gebietet. Die Anwendung der Business Judgment Rule kann auch nicht dann angenommen werden, wenn das Verteidigungsinteresse der Gesellschaft das Interesse der Aktionäre an einer unbeeinflussten Entscheidung deutlich überwiegt. Um den Vorrang des Verteidigungsinteresses festzustellen, muss sich das Gericht gerade vertieft mit dem Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats auseinandersetzen.158

154 S. dazu bereits ausf. in § 11 II 8 b. 155 Freilich kommt es auch hier in Betracht, die individuellen Entscheidungen der Organmitglieder im Rahmen der Abstimmung der gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. 156 Insoweit zutr. OLG Stuttgart AG 2019, 527, 532.  Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 183, 185. Vgl. ferner Heyers Der Konzern 2017, 231, 233. 157 Für die Informationsobliegenheiten gelten die Ausführungen in §  14 III entsprechend. 158 Diejenigen Autoren, die auf das qualifizierte Verteidigungsinteresse abstellen, ordnen die BJR wohl als die Regelung des Prüfungsmaßstabs und nicht der Prüfungsdichte. Dass diese Einordnung nicht überzeugt, wurde bereits in § 7 V 5 und 6 erläutert. 510

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Übernahmesituation

4. Auswirkungen der Aufsichtsratszustimmung auf den Vorstand Für die Abwehrmaßnahme des Vorstands gilt im Ausgangspunkt dasselbe. Sie ist zwar eine unternehmerische Entscheidung, die Vorstandsmitglieder sind aber in einer Übernahmesituation in der Regel befangen, was der Anwendung der Business Judgment Rule entgegensteht. Wie soeben im Zusammenhang mit dem Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats erläutert, hilft die Figur des qualifizierten Verteidigungsinteresses der Gesellschaft nicht weiter. Allerdings wurde in § 8 IV 6 d herausgearbeitet, dass die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trotz Befangenheit der Vorstandsmitglieder eingreift, wenn der Aufsichtsrat die Maßnahme billigt; die Zustimmung des Aufsichtsrats neutralisiert den Interessenkonflikt der Geschäftsleiter. Problematisch ist indes, dass der Aufsichtsrat in der Übernahmesituation seinerseits befangen ist. Im Hinblick auf die übernahmebedingten Sonderinteressen des Aufsichtsrats messen manche Autoren dem Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrats keine Neutralisierungswirkung bei.159 Es stimmt in der Tat bedenklich, dass die Billigung eines befangenen Organs den Interessenkonflikt eines anderen Organs neutralisieren soll. Wenn der Aufsichtsrat unter dem Einfluss von Sonderinteressen steht, liegt es nicht fern, dass er die Abwehrmaßnahme des Vorstands nicht mit der nötigen Distanz und Objektivität beurteilt. Deshalb führt die Zustimmung nicht dazu, dass der Schutz der Business Judgment Rule trotz der übernahmebedingten Befangenheit der Geschäftsleiter wieder auflebt.

159 Müller-Michaels in HdB Unternehmenskauf Rn. 13.161. 511

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§ 16 Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane I. Vorgaben an fakultative Aufsichtsorgane Ein Aufsichtsorgan ist nur in Aktiengesellschaften und mitbestimmten GmbH zwingend vorgeschrieben. In anderen Gesellschaftsformen ist ein solches Überwachungsgremium zwar nicht vorgesehen, den Gesellschaftern steht es jedoch frei, es in der Satzung bzw. im Gesellschaftsvertrag oder auf schuld­ rechtlicher Basis1 zu schaffen. Im GmbHG-Recht setzt § 52 Abs. 1 GmbHG eine solche Möglichkeit voraus. Im Recht der Personengesellschaften fehlt zwar eine vergleichbare Regelung, es folgt aber aus der Vertragsautonomie, dass die Gesellschafter die gesetzliche Binnenorganisation um ein statutarisches Gremium ergänzen dürfen.2 Ob und inwieweit die Gerichte die Maßnahmen der fakultativen Aufsichtsorgane kontrollieren dürfen, hängt davon ab, wie die Gesellschafter die Befugnisse und Pflichten dieser Organe ausgestaltet haben. Am einfachsten fällt die Bestimmung der Rechte und Pflichten des fakultativen GmbH-Aufsichtsrats. Sieht die Satzung die Bestellung eines Aufsichtsrats vor, ohne dessen Position näher auszugestalten, sind die in § 52 Abs. 1 GmbHG genannten aktienrechtlichen Vorschriften anzuwenden. Namentlich sind die Aufsichtsratsmitglieder entsprechend §§  116, 93 Abs.  1 Satz  1 AktG zur Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Kontrolleurs verpflichtet;3 auch müssen sie die organschaftlichen Treuebindungen beachten. Diese beiden zentralen Vorgaben, die auf die Verfolgung des Gesellschaftswohls abzielen, können ein Einfallstor für die gerichtliche Verhaltens- und Willensbildungskontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder sein. Verletzen die Aufsichtsratsmitglieder ihre Sorgfalts- und Treuepflichten, kann sie die Gesellschaft entsprechend § 93 Abs. 2 1 Freilich wird einem Überwachungsgremium, das auf schuldrechtlicher Grundlage geschaffen wurde, die Organqualität abgesprochen (s. etwa Zöllner/Noack in Baumbach/ Hueck GmbHG § 45 Rn. 23; Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 59). Die folgenden Ausführungen fokussieren sich auf die statutarischen Überwachungsorgane, weil sie die Unternehmenspraxis beherrschen (s. Bayer, FS U.H. Schneider, S. 75, 76). 2 Einhellige Ansicht, s. statt vieler Henze/Notz in EBJS HGB Anh. A nach § 177a Rn. 152; Wicke ZGR 2012, 450, 466 f. 3 Ähnlich E. Vetter GmbHR 2012, 181, 183: Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften „Überwachers“. 512

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Vorgaben an fakultative Aufsichtsorgane

AktG auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Zudem können die Pflichtverstöße einen Beschlussfehler provozieren.4 Bei anderen fakultativen Aufsichtsgremien ist ein Rückgriff auf die aktienrechtlichen Vorgaben nicht ausdrücklich gestattet. Die wohl herrschende Auffassung spricht sich dennoch dafür aus, die Pflichten der statutarischen Organe und ihrer Mitglieder sowie die Rechtsfolgen der Pflichtverletzungen aus einer Gesamtanalogie zu den Regelungen in §§ 116, 93 AktG, §§ 43, 52 Abs. 1 GmbHG und §§ 34, 41 GenG zu entwickeln, was jedenfalls für die GmbH und Publikumspersonengesellschaften überzeugt.5 In gesetzestypischen Personen­ gesellschaften ist die Anknüpfung an Vorschriften, die für die körperschaftlich strukturierten Verbände gelten, nicht gleichermaßen einleuchtend, die Pflichten der Aufsichtsorgane und ihrer Mitglieder lassen sich aber aus der vertraglichen Verbindung zu der Gesellschaft herleiten. Auch bei einem solchen dogmatischen Ausgangspunkt sind die Organmitglieder zur sorgfältigen Verfolgung des Gesellschaftswohls verpflichtet und dürfen sich nicht treuwidrig verhalten. Bei etwaigen Pflichtverstößen kann die Schadensersatzpflicht auf § 280 Abs. 1 BGB gestützt werden.6 Freilich müssen sich die Gesellschafter nicht auf die dogmatischen Unwägbarkeiten bei der Herleitung des Pflichtenkanons einlassen. Sie können die Befugnisse und Pflichten der fakultativen Aufsichtsgremien im Gesellschaftsvertrag bzw. in der Satzung festlegen.7 Denkbar ist etwa, das Aufsichtsorgan in Anlehnung an den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft auszugestalten und ihm umfassende Personal-, Überwachungs- und Zustimmungskompetenzen ein4 Ausf. zur Haftung der Mitglieder eines fakultativen GmbH-AR etwa E. Vetter GmbHR 2012, 181, 182  ff. Zum Beschluss und zur Beschlusskontrolle bei fakultativen Aufsichtsgremien s. schon in § 2 V 2 c mit Nachw. in Fn. 126. Zur Verbindung zwischen Sorgfalts- und Treuepflichten und Beschlussfehlern § 7 III 3. 5 Für die GmbH Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 761 f.; Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1796. Für die Publikums-KG BGHZ 69, 207, 213 = NJW 1977, 2311; Mutter in MHdB GesR II § 8 Rn. 94. Für den Beirat einer GmbH & Co. KG Binz/Sorg GmbH & Co. KG § 10 Rn. 51 f. Rechtsformübergreifend Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG §  19 Rn.  140; Bayer, FS U.H. Schneider, S.  75, 81  ff.; Reich/Bode ZIP 2017, 1798, 1802; Wicke ZGR 2012, 450, 470 f. 6 Für eine solche Herleitung etwa Mutter in MHdB GesR II § 8 Rn. 88. Dagegen etwa Binz/Sorg GmbH & Co. KG § 10 Rn. 52; Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 140. 7 Aufschlussreiche Typologisierung der fakultativen Aufsichtsorgane findet sich bei Grunewald in MüKoHGB § 161 Rn. 158 ff.; Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG §  19 Rn.  45  ff. Speziell zu den Aufgaben der Beiräte in Familiengesellschaften Reich/Bode ZIP 2017, 1798, 1799 f. 513

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Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane

zuräumen.8 Das Überwachungsgremium kann aber auch nur über ausgewählte Befugnisse verfügen, etwa wenn es die Geschäftsleiter lediglich beraten darf, ohne eigene Entscheidungsmacht zu haben.9 Legen die Gesellschafter den Pflichtenkanon fest, können sie zugleich klären, welche Folgen eintreten, wenn die Organmitglieder den vertraglichen Vorgaben nicht nachkommen. Dabei können die Gesellschafter die Intensität der gerichtlichen Inhaltskon­ trolle im Hinblick auf die Maßnahme der Aufsichtsorgane bestimmen.

II. Bestimmung der Kontrolldichte 1. Inhaltliche Evidenzkontrolle unternehmerischer Entscheidungen Wie bei den obligatorischen Aufsichtsorganen hängt die richterliche Prüfungsdichte nämlich davon ab, auf welche Art und Weise die fakultativen Gremien und ihre Mitglieder gesteuert werden. Das Gesetz oder der Gesellschaftsvertrag können den Aufsichtsgremien vorschreiben, im Rahmen ihrer Tätigkeit das Gesellschaftswohl zu verfolgen, ohne konkrete Verhaltensvorgaben zu formulieren. In einem solchen Fall obliegt es den Aufsichtsorganen, selbständig das Gesellschaftswohl zu definieren.10 Die Gerichte müssen diese Definitionskompetenz respektieren und die Intensität der Inhaltskontrolle lockern.11 In methodischer Hinsicht bietet es sich an, mit der herrschenden Auffassung § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog heranzuziehen.12 Die finale Steuerung der Überwachungsorgane spricht dafür, dass diese unternehmerische Entscheidungen treffen dürfen. Haben die Organe dabei die prozeduralen Vorgaben der Busi 8 Dazu (insb. in Fällen der Publikums-KG) Mutter in MHdB GesR II §  8 Rn.  12  ff. S.  ferner Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG §  19 Rn.  72  ff.; E. Vetter ­GmbHR 2011, 449, 452 ff. In einem solchen Fall wird das Gremium idR ein AR iSd § 52 Abs. 1 GmbHG sein, s. Bayer, FS U.H. Schneider, S. 75, 77. 9 Zu rein beratenden Beiräten etwa Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 70 f. 10 So auch für den KG-Beirat Mutter in MHdB GesR II § 8 Rn. 77: pflichtgemäßes Ermessen. 11 S. dazu bereits § 6 III 2 und § 8 II 3. 12 Bei fakultativem GmbH-AR folgt dies bereits aus der ausdrücklichen Verweisung in § 52 Abs. 1 GmbHG, bei anderen Überwachungsgremien kann die Analogie mit denselben Argumenten bejaht werden wie beim GmbH-Geschäftsführer (s. §  12 II 2). Für die Anwendung der BJR auf den GmbH-Beirat Spindler in MüKoGmbHG § 52 Rn. 762; Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1797. Für den Beirat einer GmbH & Co. KG Binz/Sorg GmbH & Co. KG § 10 Rn. 56. Rechtsformübergreifend Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 143; Bayer, FS U.H. Schneider, S. 75, 83; Erker DStR 2014, 105, 108 f. 514

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Bestimmung der Kontrolldichte

ness Judgment Rule eingehalten,13 können ihre Maßnahmen nur beanstandet werden, wenn sie offensichtlich dem Gesellschaftswohl zuwiderlaufen.14 Eine inhaltliche Evidenzkontrolle ist etwa angezeigt, wenn die fakultativen Aufsichtsorgane für die Personalmaßnahmen verantwortlich zeichnen, was namentlich in der GmbH in Betracht kommt.15 In der Regel werden die Auswahl der geeigneten Geschäftsleiter und die Ausgestaltung des Anstellungsvertrags als unternehmerische Entscheidungen einzuordnen sein.16 Allerdings steht es den Gesellschaftern frei, Kriterien für die Geschäftsleiterwahl zu formulieren und dadurch die Spielräume der Aufsichtsgremien einzugrenzen. Je enger die gesellschaftsvertraglichen Vorgaben für die Kandidatensuche sind, desto intensiver können die Gerichte die Personalentscheidungen kontrollieren. Anders als im Aktienrecht dürfte die Festlegung der Geschäftsleitervergütung von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfasst sein.17 § 87 Abs. 1 AktG ist eine spezifisch aktienrechtliche Vorschrift, die in anderen Gesellschaftsformen nicht gilt, so dass ein mit Personalkompetenz ausgestattetes Überwachungsorgan bei der Ausgestaltung der Bezüge freier agieren kann als der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft.18 Die Business Judgment Rule ist auch einschlägig, wenn das Aufsichtsgremium den (weisungsgebundenen) Geschäftsleiter ohne wichtigen Grund abberufen kann. In einem solchen Fall bedarf es keiner richterlichen Inhaltskontrolle, um die Leitungsautonomie des Geschäftsleiters zu schützen.19 Ist eine grundlose Abberufung nicht gestattet, spricht dies für eine Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte. Eine Anlehnung an die aktienrechtlichen Grundsätze ist möglich, wenn das Aufsichtsorgan in die Entscheidungsfindung der Geschäftsleitung eingebunden wird, etwa wenn er bestimmten unternehmerischen Maßnahmen zustimmen muss. Wie bei der Ausübung des Zustimmungsvorbehalts nach §  111 Abs. 4 Satz 2 AktG sind die richterlichen Prüfungsbefugnisse nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingeschränkt, wenn die Gesellschafter keine konkreten Vorgaben an die Entscheidung des Überwachungsorgans formuliert 13 Hierzu noch unter § 16 III und IV. 14 Selbstverständlich steht es den Gesellschaftern frei, die Anwendbarkeit der BJR auszuschließen oder ihre Voraussetzungen zu modifizieren. 15 Zu den Personalkompetenzen des Überwachungsorgans Reich/Bode ZIP 2017, 1798, 1800; Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1802 f.; Wicke ZGR 2012, 450, 468. 16 S. schon § 15 I 1 und 2 a. Zum Beirat Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1802.  17 Zur Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle bei der Festsetzung der Vorstandsbezüge § 15 I 2 b. 18 Spindler, FS U.H. Schneider, S. 1287, 1292.  19 Anders ist die Rechtslage nach § 84 Abs. 3 AktG, s. § 15 I 3. 515

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Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane

haben.20 Dies gilt auch, wenn der Gesellschaftsvertrag dem Überwachungsorgan eine Weisungsbefugnis gegenüber den Gesellschaftern einräumt.21 Bei retrospektiven Überwachungsmaßnahmen hängt die Kontrollintensität von der Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags ab. So ist es denkbar, dass die Gesellschafter die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen die Geschäftsleiter in die Hände des Aufsichtsorgans legen und dabei bestimmen, dass das Organ selbständig über die Zweckmäßigkeit der Haftungsdurchsetzung entscheiden soll. In einem solchen Fall bleibt für die Übertragung der strengen ARAG/Garmenbeck-Grundsätze kein Raum.22 2. Intensivierung der Inhaltskontrolle jenseits der Business Judgment Rule Haben die Gesellschafter das Pflichtenkorsett der Überwachungsorgane enger geschnürt, ist die richterliche Kontrolle zu intensivieren. Insbesondere wenn die Aufsichtsgremien an konditionale Regelungen gebunden sind, ist der Gesellschaftsvertrag dahingehend auszulegen, ob die Gerichte zu einer vollen Inhaltskontrolle befugt sind oder ob die Organe trotz der engeren Bindung über Letztentscheidungskompetenzen verfügen. Im letztgenannten Fall beschränkt sich die richterliche Prüfung im Zweifel auf die Frage, ob die Organentscheidung vertretbar erscheint.23 Die Vertretbarkeitskontrolle ist in der Regel auch dann geboten, wenn das Überwachungsgremium bei einer unternehmerischen Entscheidung die prozeduralen Vorgaben des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG missachtet hat.24

III. Informationsbeschaffung im fakultativen Aufsichtsorgan Vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung im Gesellschaftsvertrag kann die gerichtliche Kontrolldichte nur gelockert werden, wenn die Mitglieder des Überwachungsorgans vernünftigerweise davon ausgehen durften, auf ange20 So auch Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1801; E. Vetter GmbHR 2011, 449, 456. S. ferner Mutter in MHdB GesR II § 8 Rn. 25 (pflichtgemäßes Ermessen); Reichert/ Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 77, 81 (unternehmerisches Ermessen). 21 Zutr. Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1801. Zur Zulässigkeit der Weisungsbefugnisse statt vieler Wicke ZGR 2012, 450, 468. 22 Für eine Lockerung der Verfolgungspflicht Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1803. Für eine Übertragung aktienrechtlicher Grundsätze aber Bayer, FS U.H. Schneider, S. 75, 84; E. Vetter GmbHR 2011, 449, 458. Zur aktienrechtlichen Lage ausf. § 15 III 4. 23 Hierzu § 9 III. 24 S. § 9 IV. 516

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Interessenkonflikte im fakultativen Aufsichtsorgan

messener Informationsgrundlage zu entscheiden. Die Anforderungen an die Entscheidungsgrundlage hängen in erster Linie von den Informationsbeschaffungsbefugnissen des Aufsichtsgremiums ab.25 Ist das Gremium auf Informationsversorgung durch die Geschäftsleiter oder Gesellschafter angewiesen, ohne dass es aktiv Berichtsansprüche oder Einsichts- und Prüfungsrechte geltend machen kann, dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden.26 Wenn die Gesellschafter das Überwachungsgremium nicht mit passenden Ermittlungsbefugnissen ausstatten, dürfen sie nicht erwarten, dass die Kontrolleure aktiv die Entscheidungsgrundlagen aufarbeiten. In einem solchen Fall können sich das Aufsichtsorgan und seine Mitglieder auch dann auf die Business Judgment Rule berufen, wenn sie (subjektiv) auf eine ausreichende Informationsversorgung vertrauen dürfen, aber objektiv auf einer lückenhaften Informationsgrundlage entscheiden.

IV. Interessenkonflikte im fakultativen Aufsichtsorgan Schließlich unterliegen die Entscheidungen des Beirats nur dann einer Evidenzkontrolle, wenn die Mitglieder des Aufsichtsorgans nicht durch Inte­ ressenkonflikte beeinflusst wurden. Wie schon im Zusammenhang mit dem obligatorischen Aufsichtsrat erläutert,27 ist bei der Bestimmung des Konfliktbegriffs zu beachten, dass die gesellschaftsvertraglichen Regelungen über die Zusammensetzung des Überwachungsgremiums28 auf eine gewisse Konflikttoleranz hindeuten können.29 Handelt es sich etwa um eine Familiengesellschaft und sind die einzelnen Familienstämme befugt, die Mitglieder des Aufsichtsgremiums selbständig zu bestimmen,30 entfällt die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG nicht schon deshalb, weil das Gremium über eine Angelegenheit entscheidet, die für „seinen“ Familienstamm besonders wichtig ist. Vielmehr spricht das Auswahl25 So wohl auch Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 143. Zu entsprechenden Überlegungen beim obligatorischen AR § 14 III 1. 26 In diese Richtung auch Schnorbus/Ganzer BB 2017, 1795, 1801. 27 § 14 IV 1. 28 Hierzu Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 97 ff.; Wiedemann, FS Lutter, S. 801, 812 f. 29 Strenger wohl Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 143. 30 Zur Zusammensetzung des Beirats in Familienunternehmen Reich/Bode ZIP 2017, 1798, 1801; Wicke ZGR 2012, 450, 469 f. Ein Aufsichtsorgan, das aus entsandten Mitgliedern besteht, aber als Organ der Gesellschaft installiert wurde, ist nicht zu verwechseln mit Gremien, die nur eine Gesellschaftergruppe vertreten; zur Gruppenvertretung s. etwa Bayer, FS U.H. Schneider, S. 75, 77. 517

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Kontrolle der fakultativen Aufsichtsorgane

verfahren dafür, dass die Interessen der Familienstämme im Überwachungsorgan berücksichtigt werden sollen. Freilich führt dieser Befund nicht dazu, dass die Mitglieder des Aufsichtsorgans etwaige Partikularinteressen zulasten des Gesellschaftswohls verfolgen dürfen.31 Ihre Entscheidungen sind aber solange hinzunehmen, bis sie nicht völlig unverantwortlich das Gesellschaftsinteresse missachten. Ob sie die – gegebenenfalls widerstreitenden – Belange der Entsendungsberechtigten und der Gesellschaft richtig abgewogen haben, unterliegt der gerichtlichen Evidenzkontrolle.

31 Zur Bindung der entsandten Mitglieder an das Gesellschaftswohl Mutter in MHdB GesR II § 8 Rn. 77; Reichert/Ullrich in Reichert GmbH & Co. KG § 19 Rn. 123; Wiedemann, FS Lutter, S. 801, 807 f. 518

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Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern § 17 Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle I. Lückenhafte gesetzliche Regelung der Gesellschafterpflichten Im Teil 3 wurde die Intensität der gerichtlichen Kontrolle von Maßnahmen der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder vermessen. Die Struktur der Ausführungen war an vielen Stellen gesetzlich vorgeprägt. Das Gesellschaftsrecht formuliert mehr oder weniger scharf umrissene Verhaltenspflichten, die als Anknüpfungspunkte für die richterliche Kontrolle des Organhandelns dienen können. Hierzu gehören insbesondere die Sorgfalts- und Treuepflichten, die zum Teil in Generalklauseln wie § 93 Abs. 1 Satz 1, § 111 Abs. 1, § 116 Satz 1 AktG oder § 43 Abs. 1 GmbHG verankert sind, zum Teil in Handlungsgeboten wie § 91 Abs. 2, §§ 87-89 AktG oder § 37 Abs. 1 GmbHG konkretisiert sind, zum Teil aber auch gesetzlich nicht vorgesehen sind und aus allgemeinen Grundsätzen des Gesellschaftsrechts hergeleitet werden. Einen so ausdifferenzierten Pflichtenkatalog, aus dem die Anknüpfungspunkte für die richterliche Inhaltskontrolle hergeleitet werden können, sieht das Gesellschaftsrecht für die Gesellschafter nicht vor. Zwar folgt aus dem Gesetz, welche Kompetenzen die Gesellschafter haben und welche Aufgaben sie er­ ledigen müssen,1 die Art und Weise der Aufgabenerfüllung ist aber nur in ­Ansätzen geregelt. Dabei überwiegen Regelungen über das Entscheidungsverfahren, das im Aktienrecht detailreich ausgeformt und streng formalisiert ist,2 im GmbH-Recht und Personengesellschaftsrecht hingegen in wenigen dis­ poniblen Vorschriften ausgestaltet ist.3 Inhaltliche Vorgaben für die Gesellschafter sind vereinzelt geblieben und vornehmlich im Aktienrecht zu finden. 1 Im Personengesellschaftsrecht folgt aus dem Grundsatz der Selbstorganschaft, dass sich die Gesellschafter um alle Angelegenheiten der Gesellschaft kümmern müssen. Im Aktienrecht ergeben sich die Aufgaben und Zuständigkeiten der Aktionäre insb. aus § 119 Abs. 1 AktG, im GmbH-Recht aus § 46 GmbHG. 2 S. §§ 121 ff. AktG zur Vorbereitung und Durchführung einer HV. 3 S. §§ 45 ff. GmbHG, § 709 BGB, § 119 HGB. 519

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

So müssen die Gesellschafter das Gleichbehandlungsgebot beachten, das im Aktienrecht in §  53a AktG ausdrücklich geregelt ist und in anderen Ge­ sellschaftsformen als ungeschriebener Grundsatz gilt.4 Außerdem lässt sich § 241 Nr. 3 und 4 AktG entnehmen, dass Gesellschafter keine Beschlüsse fassen dürfen, die gegen gläubigerschützende Vorschriften verstoßen oder sittenwidrig sind.5 Aus §  243 Abs.  2 AktG folgt ein Verbot der Verfolgung von Sondervorteilen,6 §§  250-252 AktG beschäftigen sich mit der fehlerhaften Aufsichtsratswahl und aus §§ 253, 254, 255 Abs. 2 AktG ergeben sich inhaltliche Vorgaben für Beschlüsse über die Gewinnverwendung und die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung. Schließlich adressieren §§ 256, 257 AktG die Feststellung des Jahresabschlusses. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die inhaltlichen Vorgaben für die Gesellschafter vor allem im Richterrecht zu finden sind. In einer langjährigen Spruchpraxis, die auf einem regen Austausch zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft beruht,7 haben die Gerichte ungeschriebene Pflichten der Gesellschafter entwickelt, die im Rahmen der Verhaltens- und Willensbildungskontrolle aufgegriffen werden können. Der Fokus der folgenden Untersuchung liegt – dem Schwerpunkt der Diskussion in Rechtsprechung und Schrifttum folgend – auf der Beschlusskontrolle. Die Verhaltenskontrolle, namentlich die Schadensersatzansprüche gegen pflichtvergessene Gesellschafter, werden nur am Rande behandelt.8 Die Ausführungen zur Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse sollen in einem ersten Schritt aufzeigen, dass die Grundsätze, die in Rechtsprechung und Schrifttum aufgestellt wurden, nach dem aktuellen Stand der Rechtsentwicklung trotz rechtsformspezifischer Unterschiede in allen Gesellschaftsformen 4 Zum Gleichbehandlungsgrundsatz im GmbH-Recht Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG Anh § 47 Rn. 55 (Analogie zu § 53a AktG); Blath RNotZ 2017, 218, 222; zum Personengesellschaftsrecht C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 244 ff. 5 § 241 Nr. 3 und 4 AktG wird im GmbH-Recht analog angewendet (s. nur Wertenbruch in MüKoGmbHG Anh § 47 Rn. 67 ff.). Im Personengesellschaftsrecht wird die Regelung zwar nicht aufgegriffen, dort kann aber eine vergleichbare Vorgabe aus §  138 BGB hergeleitet werden. 6 Die Bedeutung des § 243 Abs. 2 AktG ist nach der ausdrücklichen Anerkennung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und der mitgliedschaftlichen Treuepflicht schleierhaft, s. Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 31. 7 Mit krit. Zungenschlag Flume ZIP 1996, 161, 164. 8 Das bedeutet freilich nicht, dass die Verhaltenskontrolle in der Praxis gänzlich irrelevant ist. So stand die Haftung eines Stimmrechtsvertreters wegen treuwidrigen Stimmverhaltens im Zentrum des bahnbrechenden Girmes-Urteils; s.  dazu noch §  17 II 2 und VII. 520

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Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht

zu beachten sind.9 Das Einfallstor für die gerichtliche Inhaltskontrolle der Gesellschafterbeschlüsse ist die mitgliedschaftliche Treuepflicht, die die Gesellschafter rechtsformübergreifend zur Wahrung des Gesellschaftswohls und gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet.10 Sodann wird in einem zweiten Schritt die Konkretisierung der Treuepflicht als ein Problem der gerichtlichen Kontrolldichte beleuchtet.11

II. Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht 1. Ausgangspunkt: Begrenzung der Mehrheitsmacht nach §§ 138, 226, 826 BGB Die Feststellung, dass die Gesellschafter die mitgliedschaftliche Treuepflicht beachten müssen, klingt heutzutage trivial. Sie ist aber nicht selbstverständlich, wenn man die ältere Rechtsprechungspraxis auswertet, in denen sich die Gerichte mit der inhaltlichen Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse beschäftigt haben. Namentlich im Kapitalgesellschaftsrecht hat die Rechtsprechung zunächst nur die Treuepflicht im (vertikalen) Verhältnis zwischen den Gesellschaftern und der Gesellschaft anerkannt.12 Der Gedanke, dass die Gesellschafter einander zum loyalen Verhalten verpflichtet sind,13 hat sich erst verhältnismäßig spät durchgesetzt.14 Am Anfang dieser Entwicklung steht das vielzitierte Hibernia-Urteil, in dem das Reichsgericht im Zusammenhang mit einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung einer Aktiengesellschaft von einem strengen Mehrheitsprinzip ausging: Die mit der erforderlichen Stimmenzahl gefassten Beschlüsse der Mehrheit seien für die Minderheit auch dann maßgebend, wenn sie dieser als verkehrt, wirtschaftlich nachteilig und die Bestrebungen der Minderheit schädigend erscheinen würden. Dies sei eine unabwendbare Folge des gesetzlich 9 Aufschlussreicher Überblick zur Entwicklung unter dem Blickwinkel des Eingriffs in die Mitgliedschaft bei Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 39 ff. 10 Zur Rspr.-Entwicklung s. § 17 II und III. Zur Treuepflichtdogmatik s. § 17 IV bis VII. 11 Dazu § 18. 12 Aus der RG-Rspr.: RGZ 146, 71, 76; RGZ 146, 385, 395; RGZ 158, 248, 254. Aus der BGH-Rspr.: BGHZ 9, 157, 163 f. = NJW 1953, 780; BGHZ 14, 25, 38 = NJW 1954, 1401; BGHZ 127, 107, 110 ff. = NJW 1994, 3094. 13 Die Differenzierung zwischen Treuepflichten im Horizontal- und Vertikalverhältnis ist bei Lichte besehen unnötig, s. noch in § 17 V 2. 14 Ausf. zur Entwicklung etwa Winter, Treuebindungen, S.  38  ff.; Schmolke in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 435, 448 ff.; Lieder/V. Müller in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 285, 294 ff.; Verse in AktR im Wandel Bd. II Kap. 15 Rn. 8, 18 ff. 521

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

anerkannten Grundsatzes, dass die Mehrheit der Anteilseigner über die Verwaltung der Gesellschaft15 und darüber entscheide, was im Interesse der Gesellschaft und ihrer Aktionäre zu tun und zu lassen sei. Mit dieser Tatsache müsse sich jeder abfinden, der Aktien erwerbe.16 Schon in diesem Urteil erkannte das Reichsgericht aber an, dass § 138 BGB auch auf Beschlüsse der Generalversammlung anwendbar ist, freilich ohne den Beschluss der Generalversammlung im konkreten Fall für sittenwidrig zu erklären.17 Auf §  138 BGB und andere zivilrechtliche Schranken, wie etwa §§  226, 826 BGB, verwies das Reichsgericht in mehreren Folgejudikaten, wenn es die Frage zu beantworten hatte, ob ein Mehrheitsbeschluss unzulässigerweise in die Rechte der Minderheit eingriff.18 Aus einer Reihe von Entscheidungen ist das Victoria-Urteil hervorzuheben, in dem das Reichsgericht eine bezugsrechtslose Kapitalerhöhung für missbräuchlich befand, weil sie nicht der Deckung des Kapitalbedarfs diente, sondern allein die Stellung der Mehrheit gegenüber der Minderheit stärken sollte.19 Außerdem unterstrich das Reichsgericht die Bindung der Gesellschafter an den Gleichbehandlungsgrundsatz, verstand den Grundsatz aber formal und schränkte dadurch seinen Anwendungsbereich stark ein.20 Die Vorstellung, dass die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft über die allgemeinen Regeln in §§ 138, 226, 826 BGB und das Gleichbehand15 Gegenstand des 1908 gefällten Urteils ist ein im Jahr 1906 gefasster Beschluss. Der Sachverhalt stammt also aus einer Zeit, in der die Generalversammlung (und nicht der Vorstand) das Leitungsorgan der AG war, s. Bayer/Engelke in AktR im Wandel Bd. I Kap. 15 Rn. 79 (auch zur Diskrepanz zwischen dem gesetzlichen Leitbild und der Praxis). 16 RGZ 68, 235, 245 f. 17 RGZ 68, 235, 243. 18 Zur AG: RGZ 81, 37, 40; RGZ 107, 67, 71; RGZ 105, 373, 375 f.; RGZ 108, 322, 327; RGZ 112, 14, 17 ff.; RGZ 118, 67, 71; RGZ 119, 248, 257. Zur GmbH: RGZ 80, 385, 390 f.; RGZ 122, 159, 165 ff.; RGZ 170, 358, 373, 377 (auch zur Sittenwidrigkeit). 19 RGZ 132, 149, 161  ff. Das Reichsgericht stützte seine Begründung zwar nicht ausdrücklich auf § 138 BGB, schloß sich aber den Ausführungen des Klägers an, der sich auf die Sittenwidrigkeit der Kapitalerhöhung und § 138 BGB berief (vgl. S. 160 des Urteils; mit einer ähnlichen Argumentation bereits RGZ 112, 14, 17 ff.). Wie hier die Deutung des Victoria-Urteils bei W. Goette ZGR 2012, 505, 508  f. Anders augenscheinlich das Verständnis von Winter, Treuebindungen, S. 40, der darin die Anerkennung einer gesellschaftsrechtlichen Rücksichtnahmepflicht sieht. Vgl. ferner Lieder/V. Müller in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S.  285, 295: Verbot sittenwidriger Rechtsgeschäfte als Fundament für die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht; in diese Richtung auch Schmolke in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S.  435, 450; Verse in AktR im Wandel Bd. II Kap. 15 Rn. 8 mit Fn. 37. 20 Zum Gleichbehandlungsgebot etwa RGZ 118, 67, 71; RGZ 170, 358, 377  f. Ausf. Überblick über die RG-Rspr. Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 15 ff. 522

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Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht

lungsgebot hinaus einander zur Treue verpflichtet sind, lag der reichsgerichtlichen Rechtsprechung aber bei Lichte besehen nicht zugrunde.21 2. Grundsatz sachlicher Rechtfertigung und mitgliedschaftliche Treuepflicht als Schutzinstrumente der Minderheit vor der Mehrheitsmacht Der BGH folgte zunächst dem Ansatz des Reichsgerichts und verwendete das Missbrauchsverbot sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz als Instrumente des Minderheitenschutzes,22 ohne aber eine (horizontale) Treuepflicht zwischen den Gesellschaftern anzuerkennen.23 Erst 1975 leitete er in der ITT-­ Entscheidung eine Wende ein und bejahte eine mitgliedschaftliche Treuepflicht zwischen GmbH-Gesellschaftern. Er stützte sich zum einen auf die personalistische Struktur der GmbH und die damit einhergehenden engen persönlichen Bindungen zwischen den Gesellschaftern, die mit den Verhältnissen in einer Personengesellschaft vergleichbar seien. Zum anderen hob er die Möglichkeit der Gesellschaftermehrheit hervor, durch Einflussnahme auf die Geschäftsführung die Interessen der Mitgesellschafter zu beeinträchtigen.24 Fokussiert man sich auf den erstgenannten Begründungsstrang, ist es konsequent, dass der II. Zivilsenat 1976 eine horizontale Treuepflicht im Akti21 Deutlich RGZ 158, 248, 254 f. In die hier vertretene Richtung auch W. Goette ZGR 2012, 505, 508 f. Vgl. ferner Verse in AktR im Wandel Bd. II Kap. 15 Rn. 18: „Treuepflichten im Verhältnis der Aktionäre untereinander stand das RG bis zuletzt skeptisch gegenüber (…).“ Anders wohl die Deutung der RG-Rspr. bei Winter, Treuebindungen, S. 41, der insoweit auf RGZ 170, 358, 373 und 377 sowie auf RGZ 165, 68, 81 ff. verweist. Analysiert man die Ausführungen des RG genauer, fällt auf, dass es in RGZ 170, 358, 373 auf 377 den Begriff der Treuepflicht nur bei der Schilderung des Urteils des Berufungsgerichts verwendete, während es selbst auf die Grundsätze von Treu und Glauben (so S.  373  – damit ist wohl §  242 BGB gemeint) und auf das Gleichbehandlungsgebot (S. 377 f.) abstellte. In RGZ 165, 68, 81 ff. ging es eher um die Pflichten gegenüber der Gesellschaft, nicht zwischen den Gesellschaftern. 22 Auf den Missbrauchsgedanken (Sittenwidrigkeit) stellt das Minimax I-Urteil ab, s. BGHZ 21, 354, 358 = NJW 1956, 1753; das Gleichbehandlungsgebot greift das Minimax II-Urteil auf, s. BGHZ 33, 175, 186 ff. = NJW 1961, 26. Zum formalen Verständnis des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch BGHZ 76, 352, 354 = NJW 1980, 1278. Zum Unterschied zwischen der formalen und materiellen Ungleichbehandlung etwa Cahn/von Spannenberg in BeckOGK AktG § 53a Rn. 26 ff.; Hüffer/J. Koch AktG § 53a Rn. 9; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 231 ff. (mit nachdrücklichem Plädoyer für die Erstreckung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf materielle Ungleichbehandlung auf S. 239 ff.). 23 BGHZ 9, 157, 163 f. = NJW 1953, 780; BGHZ 14, 25, 38 f. = NJW 1954, 1401. 24 BGHZ 65, 15, 18 f. = NJW 1976, 191.  523

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

enrecht mit dem Argument ablehnte, eine solche persönliche Nähebeziehung zwischen den Aktionären bestehe nicht.25 Stellt man hingegen die Machtposition der Aktionärsmehrheit in den Vordergrund, erscheint die Ablehnung der gegenseitigen Rücksichtnahmepflicht im Aktienrecht zweifelhaft.26 Mit diesen Ungereimtheiten in der Argumentation befasste sich der BGH zunächst nicht näher.27 Stattdessen schuf er 1978 ein anderes Instrument des Minderheitenschutzes, als er in der Kali und Salz-Entscheidung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung entwickelte: Eine bezugsrechtslose Kapitalerhöhung greife so stark in die Mitgliedschaft der Aktionäre ein, dass der Bezugsrechtsausschluss nur gerechtfertigt sei, wenn er im Gesellschaftsinteresse liege und verhältnismäßig sei.28 Was in der zeitgenössischen Literatur als ein weitreichendes Bekenntnis zu einer flächendeckenden Inhaltskontrolle der Gesellschafterbeschlüsse wahrgenommen wurde,29 entpuppte sich bald jenseits der bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung als ein Papiertiger.30 Der II. Zivilsenat erstreckte das Gebot sachlicher Rechtfertigung lediglich auf den Beschluss über die Befreiung vom satzungsmäßigen Wettbewerbsverbot in der GmbH31 und auf den Ermächtigungsbeschluss über die Ausübung genehmigten Kapitals nach § 203 Abs. 2, § 186 Abs. 3 AktG.32 Für den letztgenannten Fall gab er aber im Siemens/Nold-Urteil seine frühere Rechtsprechung auf33 und schränkte ­damit den Anwendungsbereich des Grundsatzes wieder ein. Außerdem lehnte er in zahlreichen anderen Fällen eine Inhaltskontrolle mit dem Argument ab, der Beschluss trage die Rechtfertigung in sich. Zu nennen ist etwa die Ein­ führung von Höchststimmrechten nach §  134 Abs.  1 Satz  2 AktG34 und die 25 BGH JZ 1976, 561, 562. 26 Vgl. Lutter JZ 1976, 225, 227 ff.; ders. JZ 1976, 562 f.; Wiedemann JZ 1976, 392, 393 f. 27 Dies holte er erst 1988 in der Linotype-Entscheidung (BGHZ 103, 184 = NJW 1988, 1579) nach, s. sogleich. 28 BGHZ 71, 40, 44 ff. = NJW 1978, 1316. 29 Dafür insb. Wiedemann ZGR 1980, 147, 157.  In diese Richtung heute noch Heidel AktG § 243 Rn. 36; Bachmann, Ordnung, S. 213. 30 Wiedemann WM 2009, 1, 7 spricht treffend vom vorübergehenden Aufflackern. Zur Parallelentwicklung im GmbH-Recht etwa Blath RNotZ 2017, 218, 223 f. 31 BGHZ 80, 69, 74  f. = NJW 1981, 1512.  In diesem Fall diente der Grundsatz einer Konzerneingangskontrolle, s.  dazu nur Liebscher in MüKoGmbHG Anh §  13 Rn. 321 ff.; Böhm in MHdB GesR III § 32 Rn. 19. 32 BGHZ 83, 319, 321 ff. = NJW 1982, 2444. 33 BGHZ 136, 133, 136 ff. = NJW 1997, 2815. 34 Vgl. BGHZ 70, 117, 121 ff. = NJW 1978, 540. Streng genommen erging das Urteil vor „Entdeckung“ des Gebotes sachlicher Rechtfertigung, die Argumentation war aber in den Entscheidungsgründen angelegt. Davon ging auch der BGH im Kali und Salz-Urteil augenscheinlich aus, s. BGHZ 71, 40, 45 = NJW 1978, 1316. 524

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Entwicklungslinien im Kapitalgesellschaftsrecht

Auflösung der Gesellschaft nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG.35 Im Zusammenhang mit einem aktienrechtlichen Auflösungsbeschluss machte der BGH 1988 eine weitere Kehrtwende und erkannte in der Linotype-Entscheidung die horizontale Treuepflicht zwischen den Aktionären an.36 Bemerkenswert war dabei, dass er – anders als in den 1970er Jahren – den Grund für die gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten nicht mehr in der persön­lichen Nähebeziehung der Gesellschafter sah,37 sondern die Akzente in der Argumentation verschob:38 Auch bei der Aktiengesellschaft habe ein Mehrheitsgesellschafter die Möglichkeit, durch Einflussnahme auf die Geschäftsführung die Interessen der Mitgesellschafter zu beeinträchtigen, so dass hier als Gegengewicht ebenfalls die gesellschaftsrechtliche Pflicht zu fordern sei, auf diese Interessen Rücksicht zu nehmen.39 3. Treuepflicht als Schutzinstrument der Mehrheit vor Macht der Minderheit Erkennt man an, dass die Treuepflicht des Mehrheitsgesellschafters aus seinen Einflussmöglichkeiten resultiert, ist es konsequent, auch die Minderheit den Loyalitätsbindungen zu unterwerfen, sobald sie eine Machtposition innehat, etwa wenn sie über eine Sperrminorität verfügt und bedeutsame Maßnahmen ausbremsen kann.40 In diesem Sinne bejahte der BGH in den 1980er Jahren 35 Zu § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG BGHZ 76, 352, 353 = NJW 1980, 1278. Zu § 262 Abs. 1 Nr.  2 AktG BGHZ 103, 184, 189  ff. = NJW 1988, 1579.  Weitere Beispiele sind das Delisting (BGHZ 153, 47, 58  f. = NJW 2003, 1032), der Squeeze-Out-Beschluss (BGHZ 180, 154 Rn. 15 = NZG 2009, 585) und der sanierende Kapitalschnitt nach § 228 AktG (der BGH hat den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung gar nicht angesprochen in BGHZ 142, 167 = NJW 1999, 3197). Überblick bei Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 356 ff. Krit. zu dieser Entwicklung etwa Wiedemann WM 2009, 1, 7 f. 36 Überdies griff er in der Tradition der RG-Rspr. den Missbrauchsgedanken auf, verneinte aber im konkreten Fall ein missbräuchliches Verhalten des Mehrheitsaktionärs, s. BGHZ 103, 184, 191 ff. = NJW 1988, 1579. 37 Freilich konzedierte der II. Zivilsenat, dass eine AG eine personalistische Struktur haben könne und die Anerkennung der horizontalen Treuepflicht schon deshalb geboten sein könne, s. BGHZ 103, 184, 195 = NJW 1988, 1579. 38 Zu dieser Akzentverschiebung etwa Merkt, FS Bergmann, S. 509, 512 f. 39 BGHZ 103, 184, 194 f. = NJW 1988, 1579. S. seitdem etwa BGHZ 142, 167, 169 ff. = NJW 1999, 3197; BGHZ 153, 47, 51 = NJW 2003, 1032. 40 Zur Zustimmungspflicht kraft Treuepflicht in der GmbH etwa Winter, Treuebindungen, S. 172 ff. Zu den Voraussetzungen Merkt, FS Bergmann, S. 509, 522 ff. 525

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eine Zustimmungspflicht der GmbH-Gesellschafter, die mit jeweils 50% an der Gesellschaft beteiligt waren und deshalb die Beschlüsse blockieren konnten.41 Für die Aktiengesellschaft führte der BGH im Girmes-Urteil von 1995 aus, dass auch dem Minderheitsaktionär eine Treupflicht gegenüber seinen Mit­ aktionären obliege. Sie verpflichte ihn, seine Mitgliedsrechte, insbesondere seine Mitverwaltungs- und Kontrollrechte, unter angemessener Berücksichtigung der gesellschaftsbezogenen Interessen der anderen Aktionäre auszuüben. Insbesondere sei es dem einzelnen Aktionär nicht erlaubt, eine sinnvolle und mehrheitlich angestrebte Sanierung der Gesellschaft  – einschließlich einer zum Sanierungskonzept gehörenden Kapitalherabsetzung – aus eigennützigen Gründen zu verhindern.42 Zwar war der Prozessgegenstand im Girmes-Fall ein Schadensersatzanspruch eines Aktionärs, der sich bei einem Stimmrechtsvertreter wegen Treuepflichtverstoßes nach der Insolvenz der Gesellschaft schadlos halten wollte,43 die Ausführungen des BGH sind aber auch für die Willensbildungskontrolle maßgeblich. Wird die erforderliche Mehrheit wegen treuwidriger Stimmabgabe nicht erreicht, kann eine positive Beschlussfeststellungsklage erhoben werden, um dem Antrag zum Durchbruch zu verhelfen.44

III. Entwicklungslinien im Personengesellschaftsrecht 1. Bestimmtheitsgrundsatz als Instrument der Vertragskontrolle Anders als im Kapitalgesellschaftsrecht ist es im Personengesellschaftsrecht seit jeher unbestritten, dass die Gesellschafter nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch untereinander zur Treue verpflichtet sind. Dies überrascht im Hinblick auf die Ausgestaltung einer gesetzestypischen Personengesellschaft als Arbeits- und Haftungsgemeinschaft nicht. Weniger selbstverständlich ist der Umstand, dass die Rechtsprechung lange Zeit die Treuepflicht nicht als ein Instrument der Willensbildungskontrolle einsetzte. Vielmehr standen der Be-

41 Vgl. BGHZ 88, 320, 321, 328 f. = NJW 1984, 489; BGHZ 98, 276, 281 f. = NJW 1987, 189.  42 BGHZ 129, 136, 142 ff. = NJW 1995, 1739. 43 Zum Klageziel und Prozessverlauf im Girmes-Fall Schmolke in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 435, 447. 44 Statt vieler Cahn/von Spannenberg in BeckOGK AktG § 53a Rn. 58. 526

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stimmtheitsgrundsatz und die Kernbereichslehre im Zentrum der Diskussion um den Schutz der Minderheitsgesellschafter vor der Mehrheitsmacht.45 Der Ausgangspunkt dieser Diskussion liegt in § 709 BGB, § 119 HGB, die in Abs. 1 das Recht der Personengesellschaften dem Einstimmigkeitsprinzip unterwerfen46 und in Abs.  2 voraussetzen, dass die Gesellschafter das Mehrheitsprinzip im Gesellschaftsvertrag verankern dürfen.47 Der Bestimmtheitsgrundsatz setzte jahrelang an einer gesellschaftsvertraglichen Mehrheitsklausel an. Er besagte, dass sich eine allgemein gefasste Mehrheitsklausel nur auf die laufende Geschäftsführung beziehe, nicht aber auf außergewöhnliche Geschäfte und Vertragsänderungen.48 Er war also ein Instrument der gerichtlichen Vertragskontrolle. Das Gericht überprüfte nicht den Mehrheitsbeschluss oder die Stimmausübung der beschlusstragenden Gesellschafter, sondern die Reichweite einer Vertragsbestimmung.49 Als Geburtsstunde des Bestimmtheitsgrundsatzes gilt ein Urteil des Reichs­ gerichts von 1907.50 Darin entschied das Reichsgericht, dass §  707 BGB  – ­wonach die Gesellschafter die vereinbarten Beiträge nicht zu erhöhen brauchen  – im Gesellschaftsvertrag abbedungen werden könne: Der einzelne Gesellschafter könne sich bereits im Gesellschaftsvertrag einem künftigen Mehrheitsbeschluss unterordnen, mit dem die Beitragspflichten erhöht werden würden. Dafür reiche aber nicht aus, dass die Gesellschafter die Änderung des Vertrags durch Mehrheitsbeschlüsse zugelassen hätten. Vielmehr müsse die Mehrheitsklausel zum Ausdruck bringen, dass gerade auch § 707 BGB abbedungen werden solle. Dabei müsse die Angabe gewisser Grenzen verlangt werden, in denen sich der Erhöhungsbeitrag bewegen werde.51 In der Folgezeit bestätigte das Reichsgericht die Geltung des Bestimmtheitsgrundsatzes für Beschlüsse über die Beitragserhöhung52 und erstreckte ihn auf andere Be45 Allerdings wird der Bestimmtheitsgrundsatz zum Teil nicht als Instrument des Minderheitenschutzes eingeordnet, sondern schlicht als Ausfluss der Privatautonomie; s. Flume, FS Rittner, S. 119, 125; dem folgend Altmeppen NJW 2015, 2065, 2068 f. 46 Zu den Gründen einer solchen Ausgestaltung anschaulich K. Schmidt ZGR 2008, 1, 2 ff. 47 Bei Lichte besehen folgt die Berechtigung zur Einführung des Mehrheitsprinzips schlicht aus der Privatautonomie der Gesellschafter. 48 Wiedemann, GesR II, S. 300 f. 49 Vgl. nur W. Goette/M. Goette DStR 2016, 74, 77 („inhaltliche Kontrolle der Mehrheitsklausel“); Leenen, FS Larenz II, S. 371, 373, 375 („Auslegungsregel“); C. Schäfer ZIP 2015, 1313 („verdeckte“ Inhaltskontrolle mit Mitteln der Auslegung). 50 RGZ 91, 166. 51 RGZ 91, 166, 168 f. 52 RGZ 151, 321, 326 f.; RGZ 163, 385, 391 f. 527

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schlussgegenstände, etwa auf solche über die Art der Auseinandersetzung der Gesellschaft.53 Es klammerte aber „geschäftliche Fragen“ aus dem Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes aus.54 Diesen Ansatz entwickelte der BGH zunächst fort. So entschied er 1952, dass ein Beschluss über die Umwandlung einer Abwicklungsgesellschaft in eine werbende Gesellschaft durch eine Dreiviertelmehrheit getroffen werden könne, wenn sich die Zulässigkeit eines solchen Mehrheitsbeschlusses mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Gesellschaftsvertrag ergebe. Unterwerfe sich die Minderheit unbedingt dem Mehrheitswillen, müsse besonders sorgfältig geprüft werden, ob die Mehrheitsklausel den konkreten Beschlussgegenstand umfasse. Dies sei bei einer allgemein gehaltenen Mehrheitsklausel nicht der Fall, wenn es sich um eine ungewöhnliche Vertragsänderung handele. Es müsse sich stets aus dem Gesellschaftsvertrag zweifelsfrei ergeben, dass die Zulässigkeit des Mehrheitsbeschlusses auch gerade für die in Betracht kommende Maßregel gelten solle. Da eine Umwandlung eine ungewöhnliche Maßnahme sei, könne die allgemein gehaltene Bestimmung, dass Änderungen des Gesellschaftsvertrags durch eine Dreiviertelmehrheit gefasst werden könnten, noch nicht als ausreichende Grundlage für einen dahingehenden Mehrheitsbeschluss angesehen werden.55 Als weitere ungewöhnliche Maßnahmen zählte der BGH in einem obiter dictum auf: die Erhöhung der Beitragspflicht, die Ausschließung einzelner Gesellschafter und die Durchbrechung des Gleichbehandlungsgrundsatzes.56 In einer späteren Entscheidung stufte er die Änderung der Kündigungsfolgen, nachdem ein Gesellschafter gekündigt hatte, als eine ungewöhnliche Maßnahme ein und erklärte eine allgemeine Mehrheitsklausel insoweit für unzureichend.57 Auch die Änderung der vertraglichen Bestimmung über die Gewinnverteilung maß der II. Zivilsenat am Maßstab des Bestimmtheitsgrundsatzes.58 Die Instanzrechtsprechung ordnete die Aufnahme eines neuen Gesellschafters sowie die Umwandlung der Gesellschafterstellung eines Komplementärs in die  eines Kommanditisten, die zugleich die Umwandlung einer KG in eine

53 RGZ 114, 393, 395. 54 S. etwa RGZ 114, 393, 395. 55 BGHZ 8, 35, 38 ff. = NJW 1953, 102. Diese Aussagen übertrug das OLG Düsseldorf auf einen Mehrheitsbeschluss über die Verlängerung des Gesellschaftsverhältnisses um zwei Jahre, vgl. OLG Düsseldorf NJW 1977, 2216, 2217. 56 BGHZ 8, 35, 42 = NJW 1953, 102. 57 BGHZ 48, 251, 253 ff. = NJW 1967, 2157. 58 BGH WM 1976, 661, 662 f. 528

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GmbH & Co. KG nach sich zog, als Beschlussgegenstände ein, die dem Bestimmtheitsgrundsatz unterlagen.59 Eine Ausnahme von dieser Rechtsprechung ließ der BGH jedoch für Publikumspersonengesellschaften zu: Bei einem großen Gesellschafterkreis lasse sich eine geschlossene Beteiligung an Gesellschafterversammlungen praktisch nicht erreichen, so dass einverständliche Entscheidungen nicht mehr zu erwarten seien. Deshalb sei hier die Notwendigkeit offensichtlich, den Ge­ sellschaftsvertrag durch Mehrheitsbeschluss ändern zu können. Die Anwendung des Bestimmtheitsgrundsatzes in Publikumsgesellschaften würde dazu führen, dass die Fortführung des Unternehmens gerade in Krisensituationen unmöglich wäre. Deshalb könne der Gesellschaftsvertrag auch dann durch Mehrheitsbeschluss geändert werden, wenn sich der Beschlussgegenstand nicht aus der Mehrheitsklausel ergebe. Gleichwohl sei ein Minderheitenschutz durch andere Mechanismen  – namentlich durch die Kernbereichslehre60 und die mitgliedschaftliche Treuepflicht61 – selbstverständlich weiterhin möglich.62 Auch in einem Fall, in dem ein Beschluss einer großen Familiengesellschaft Gegenstand des Prozesses war, hielt der BGH an den Bestimmtheitsgrundsatz nicht fest. Ein Gesellschaftsvertrag einer Familiengesellschaft, die zunächst aus 18 Gesellschaftern bestand, konnte mit einer Mehrheit von 75% der anwesenden Stimmen geändert werden. Ein einstimmiger Beschluss war nur nötig, wenn wesentliche Grundlagen des Gesellschaftsverhältnisses neu geregelt werden sollten. Diese Ausnahme hoben 1970 alle 133 Gesellschafter einstimmig auf und bestimmten dabei, dass die Dreiviertelmehrheit den Gesellschaftsvertrag „in allen ihr richtig erscheinenden Punkten“ ändern durfte. Daraus zog der II.  Zivilsenat den Schluss, dass die Gesellschafter angesichts der großen Gesellschafterzahl das Einstimmigkeitsprinzip als Gestaltungsmittel für ungeeignet hielten und es insgesamt durch das Mehrheitsprinzip ersetzten, ohne am Bestimmtheitsgrundsatz festhalten zu wollen.63

59 Zum ersten OLG Zweibrücken OLGZ 1975, 402, 403; zum zweiten OLG Düsseldorf OLGZ 1983, 191, 193 f. Überblick über die Beschlussgegenstände bei C. Schäfer ZGR 2013, 237, 240. 60 Dazu in § 17 III 2. 61 Vgl. noch § 17 III 3. 62 BGHZ 71, 53, 58 f. = NJW 1978, 1382; BGH NJW 1985, 972, 973; BGHZ 191, 293 Rn. 19 = NJW 2012, 1439; BGH BeckRS 2013, 1864 Rn. 24; BGH BeckRS 2013, 1865 Rn. 24; BGH NJW 2019, 157 Rn. 23. 63 BGHZ 85, 350, 356 ff. = NJW 1983, 1056. 529

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2. Kernbereichslehre als Instrument des Individualschutzes Die Rechtsprechung beließ es nicht bei der Vertragskontrolle, sondern ergänzte ihr Schutzkonzept durch die Kontrolle des Gesellschafterbeschlusses, indem sie dem Bestimmtheitsgrundsatz die sog. Kernbereichslehre zur Seite stellte:64 Greife ein Mehrheitsbeschluss, der auf eine hinreichend bestimmte Vertragsklausel gestützt sei, in die Rechtsstellung des Gesellschafters ein, könne er rechtswidrig sein, wenn er den Kernbereich der Gesellschafterrechte berühre, der nicht zur beliebigen Disposition der Mehrheit stehe. Hierzu gehörten zum einen unverzichtbare Rechte. Zum anderen erstrecke sich der Kernbereich auch auf individuelle, wesentliche Gesellschafterrechte, die die Stellung des Gesellschafters in der Gesellschaft maßgeblich prägten. Damit bedürften Eingriffe in die individuelle Rechtsstellung des Gesellschafters, das heißt in die rechtliche und vermögensmäßige Position in der Gesellschaft, einer besonderen Rechtfertigung.65 So entschied der BGH bereits 1956, dass einem Gesellschafter das Stimmrecht nicht gänzlich entzogen werden könne. Der Stimmrechtsausschluss finde dort seine Grenze, wo der Gesellschafterbeschluss in die Rechtsstellung des Gesellschafters eingreife. Dies sei etwa bei Beschlüssen über die Beteiligung als Kommanditist, die Haftsumme, die Gewinnbeteiligung oder die Höhe des Aus­ einandersetzungsguthabens der Fall.66 Auch die Bilanzfeststellung, die das Gewinnrecht der Gesellschafter berührte, zählte der BGH früher zu den nicht entziehbaren Gesellschafterrechten und zog daraus den Schluss, dass sich die Mehrheitsklausel auf das zum Kernbereich gehörende Recht beziehen und Ausmaß und Umfang des zulässigen Eingriffs erkennen lassen müsse.67 Des Weiteren stufte der II. Zivilsenat das Informationsrecht eines Kommanditisten als so wesentlich ein, dass es zum Kernbereich gezählt werden muss.68 Anders als das Bestimmtheitsgebot galt die Kernbereichslehre nach der BGH-Rechtsprechung auch für Publikumspersonengesellschaften.69 So stellte der II. Zivilsenat fest, dass vertragsändernde Mehrheitsentscheidungen in 64 Überblick über einschlägige Beschlussgegenstände bei C. Schäfer ZGR 2013, 237, 254 ff. Ausf. Entwickiungsskizze bei Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 438 ff. 65 BGH NJW 1985, 972, 973; BGH NJW 1995, 194, 195. 66 BGHZ 20, 363, 369 f. = NJW 1956, 1198. 67 BGHZ 132, 263, 268 = NJW 1996, 1678. Vgl. ferner BGH NJW 1999, 571, 572: Der Anspruch des Gesellschafters auf Mitwirkung beim Rechnungsabschluss gehöre zu den Verwaltungsrechten, die die Substanz der Mitgliedschaft berühren. Diese Rspr. hat der BGH später relativiert, s. noch § 17 III 3 b mit Fn. 83. 68 BGH NJW 1995, 194, 195. 69 S. dazu C. Schäfer ZGR 2013, 237, 259 f. 530

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einer Publikums-KG nicht zulässig seien, soweit sie in die Rechtsstellung der Gesellschafter – in ihre rechtliche und vermögensmäßige Position in der Gesellschaft  – eingreifen würden: Den Gesellschaftern stehe ein unverfügbarer Kernbereich von Rechten zu, wozu auch die Frage gehöre, ob die Gesellschafterzinsen gezahlt würden, nachdem der Auszahlungsanspruch bereits entstanden sei.70 Auch Beitragserhöhungen in einer Publikums-GbR behandelte der BGH in Anlehnung an die Kernbereichslehre.71 Allerdings waren Gesellschafterrechte, die zum Kernbereich der Mitgliedschaft gehörten, nach der Konzeption des BGH nicht absolut geschützt: Soweit es sich um unentziehbare Rechte handele, könne der Gesellschafter dem Eingriff zustimmen und ihn dadurch legalisieren. Eine solche „antizipierte“ Zustimmung könne im Gesellschaftsvertrag enthalten sein oder nachträglich erfolgen.72 Außerdem komme es in Betracht, dass der Gesellschafter aufgrund der Treuepflicht einer Maßnahme zustimmen müsse. Entscheidend sei, ob die Vertragsänderung mit Rücksicht auf das Gesellschaftsverhältnis erforderlich und für den Gesellschafter zumutbar sei. Wolle die Mehrheit die individuellen Rechte der Minderheit einschränken, dürften ihr keine milderen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihr Ziel erreichen könne. Außerdem müsse sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten.73 Namentlich wenn es um die Erhaltung des gemeinschaftlichen Unternehmens gehe, sei das Treuegebot zu berücksichtigen. So könne es dem Gesellschafter aufgrund der Treuepflicht verwehrt sein, von der Gesellschaft Zahlungen zu verlangen, wenn dies zu ihrer Zahlungsunfähigkeit führte.74 Als Beispiel aus der bisherigen BGH-Rechtsprechung mögen abermals Beitragserhöhungen dienen: Nach §  707 BGB bestehe zwar eine Nachschusspflicht der Gesellschafter regelmäßig nicht; § 707 BGB sei jedoch dispositiv. Sei für die Beitragserhöhung nach dem Gesellschaftsvertrag ein Gesellschafterbeschluss notwendig, müsse jeder Gesellschafter dem Beschluss zustimmen. Die Zustimmung könne auch antizipiert  – etwa im Gesellschaftsvertrag  – erteilt werden. Die gesellschaftsrechtliche Bestimmung müsse aber eindeutig sein und Ausmaß und Umfang der möglichen zusätzlichen Belas70 BGH NJW 1985, 972, 973; BGH NJW 1985, 974. 71 Zur Abgrenzung der Beitragserhöhung von der Feststellung der Auseinandersetzungsbilanz, die nicht in den Anwendungsbereich des §  707 BGB fällt, vgl. BGHZ 191, 293 Rn. 20 f. = NJW 2012, 1439; BGH, Urt. v. 20.11.2012 – II ZR 98/10, juris-­ Rn. 25; BGH BeckRS 2013, 1865 Rn. 25. 72 BGH NJW 1995, 194, 195. 73 BGH NJW 1985, 972, 973; BGH NJW 1995, 194, 195. 74 BGH NJW 1985, 972, 973. 531

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

tung erkennen lassen. Erforderlich seien eine Obergrenze oder sonstige Kriterien, die das Erhöhungsrisiko eingrenzen.75 Eine nachträgliche Zustimmung könne in der Stimmabgabe für den Beschluss über die Beitragserhöhung gesehen werden.76 In Ausnahmefällen gebiete die mitgliedschaftliche Treuepflicht eine Zustimmung der Gesellschafter zu Beitragserhöhungen. Dabei müsse der Eingriff in die Gesellschafterrechte im Gesellschaftsinteresse geboten und dem Gesellschafter zumutbar sein.77 3. Materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht a) Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes Der Bestimmtheitsgrundsatz stieß im Schrifttum auf wenig Gegenliebe. Bemängelt wurde insbesondere, dass eine katalogartige Auflistung der Beschlussgegenstände, die dem Mehrheitsprinzip unterliegen sollen, nur die Vertragswerke aufbläht, statt dem Minderheitenschutz zu dienen.78 Diese berechtigte Kritik blieb nicht ohne Wirkung. In jüngster Vergangenheit distanzierte sich der II. Zivilsenat schrittweise von seiner früheren Konzeption. Den ersten Schritt machte der BGH im OTTO-Urteil.79 Im Zusammenhang mit der Feststellung eines Jahresabschlusses in einer GmbH & Co. KG hielt er zwar am Bestimmtheitsgrundsatz begrifflich fest, korrigierte aber die frühere Deutung der Rechtsprechung, die eine minutiöse Auflistung der betroffenen Gegenstände in der Mehrheitsklausel verlangte: Ein solches Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes würde ihn zu einer Formalie denaturieren. Dem Grundsatz sei Genüge getan, wenn die Auslegung des Gesellschaftsvertrags ergebe, dass der in Frage kommende Beschlussgegenstand von der Mehrheitsklausel gedeckt sei.80 75 BGH NZG 2005, 753 f.; BGH NZG 2006, 306 Rn. 10 ff., 19 ff.; BGH NZG 2009, 501 Rn. 14; BGH NZG 2009, 862 Rn. 18. 76 BGH NZG 2009, 862 Rn. 19. 77 BGH NZG 2005, 753 f.; BGH NZG 2006, 306 Rn. 10 ff., 19 ff. 78 Vgl. zu diesen Folgen des Bestimmtheitsgrundsatzes W. Goette, FS Sigle, S. 145, 151 f.; Hermanns, ZGR 1996, 103, 105 ff.; Hüffer ZHR 151 (1987), 396, 407; Leenen, FS Larenz II, S. 371, 387 ff.; Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 935 f.; C. Schäfer ZGR 2009, 768, 772; K. Schmidt ZHR 158 (1994), 205, 206, 208 f., 215 f. S. ferner K. Schmidt ZGR 2008, 1, 16: Mehrheitsermächtigung und Minderheitenschutz seien zwei verschiedene Themen. Differenzierter aber etwa Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 42 ff.; Hofmann, Minderheitsschutz, S. 202. 79 Zur Rspr.-Entwicklung Wertenbruch in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 637, 642. 80 BGHZ 170, 283 Rn. 9 = NJW 2007, 1685. Für ein solches Verständnis des Bestimmtheitsgrundsatzes bereits K. Schmidt ZHR 158 (1994), 205, 214 ff. 532

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Entwicklungslinien im Personengesellschaftsrecht

Deutlicher kam die Abkehr vom Bestimmtheitsgrundsatz in der Schutzgemeinschaftsvertrag II-Entscheidung zum Ausdruck, in der sich der BGH mit Mehrheitsbeschlüssen in einem Stimmrechtskonsortium befasste: Um einen sachgerechten Minderheitenschutz zu erzielen, bedürfe es keiner extensiven, auf eine verdeckte Inhaltskontrolle hinauslaufenden Anwendung des „Bestimmtheitsgrundsatzes“. Eine allgemeine Mehrheitsklausel sei eine wertneu­ trale Verfahrensregel und begründe nur eine formelle Legitimation für die von ihr erfassten Mehrheitsentscheidungen.81 Diese Aussagen bestätigte der BGH seitdem mehrfach.82 b) Distanzierung von der Kernbereichslehre Freilich begnügt sich der BGH nach der Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht mit einer formellen Kontrolle der Mehrheitsklausel. Er ergänzt sein Konzept um materielle Überlegungen, distanziert sich dabei aber von der Kernbereichslehre83 und verschiebt den Schwerpunkt des Minderheitenschutzes auf die inhaltliche Beschlusskontrolle am Maßstab der mitgliedschaftlichen

81 BGHZ 179, 13 Rn. 16 = NJW 2009, 669. 82 BGH NZG 2009, 862 Rn. 14; BGHZ 191, 293 Rn. 16 = NJW 2012, 1439 (wobei es sich hier um eine Publikums-GbR handelte, auf die der Bestimmtheitsgrundsatz nach ständiger Rspr. des BGH ohnehin nicht anwendbar war – s. nur Dettke, Gewinnthe­ saurierung, S. 77 f. und Wertenbruch NZG 2013, 641, 642); BGH BeckRS 2013, 1864 Rn.  21 (Publikums-KG); BGH BeckRS 2013, 1865 Rn.  21 (Publikums-KG); BGHZ 203, 77 Rn.  9  f., 14  ff. = NJW 2015, 859.  Krit. zu dieser Entwicklung Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 37; Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 79 ff. 83 Es änderte sich jedenfalls die Reichweite des Kernbereichs. So qualifizierte der BGH die Bilanzfeststellung noch 1996 als ein „Grundlagengeschäft“ und knüpfte die Zulässigkeit einer darauf bezogenen Mehrheitsklausel an strenge Voraussetzungen – insbesondere musste der Gesellschaftsvertrag Ausmaß und Umfang des zulässigen Eingriffs bestimmen (BGHZ 132, 263, 268 = NJW 1996, 1678) –, um diese Einordnung im OTTO-Urteil aufzugeben: Die Bilanzfeststellung falle zwar nicht in die Zuständigkeit der Geschäftsführungsorgane, berühre jedoch nicht die Grundlagen der Gesellschaft. Vielmehr betreffe sie eine Angelegenheit der laufenden Verwaltung, die den Gesellschaftern obliege und von einer Mehrheitsklausel umfasst sei. Es sei weder praktikabel noch sachgerecht, die Grenzen des zulässigen Eingriffs nach Art und Umfang im Gesellschaftsvertrag festzulegen. Allenfalls könne sich im Einzelfall die Frage stellen, ob die konkrete Beschlussfassung treuwidrig in das zum Kernbereich der Mitgliedschaft gehörende Gewinnrecht eingreife (BGHZ 170, 283 Rn. 13 = NJW 2007, 1685; bestätigt in BGH DStR 2009, 1544 Rn.  2). S.  hierzu etwa Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 209 ff.; K. Schmidt ZGR 2008, 1, 21 ff. Zur Intensität der Kon­ trolle von Gewinnverwendungsbeschlüssen noch § 22 IV 3. 533

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Treuepflicht.84 Bereits in den Entscheidungen OTTO und Schutzgemeinschaftsvertrag II verwendete er den Begriff des „Kernbereiches“ nur zurückhaltend und stellte die Frage in den Vordergrund, ob der Mehrheitsbeschluss ungerechtfertigt in absolut unverzichtbare oder relativ unentziehbare Gesellschafterrechte eingreift.85 Sodann führte der II. Zivilsenat 2014 aus, dass er bei der Prüfung der materiellen Wirksamkeit des Beschlusses nicht mehr darauf abstelle, ob der Mehrheitsbeschluss den Kernbereich der Mitgliedschaft beeinträchtige. Bei Eingriffen in die individuelle Rechtsstellung des Gesellschafters, das heißt in seine rechtliche und vermögensmäßige Position in der Gesellschaft, komme es da­ rauf an, ob der betroffene Gesellschafter zugestimmt habe oder ob der Eingriff im Interesse der Gesellschaft geboten und aus Sicht des betroffenen Gesellschafters zumutbar sei.86 Damit verschiebt der BGH den Schwerpunkt des Minderheitenschutzes auf die materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht.87 Die Gerichte sollen einen Mehrheitsbeschluss nicht mit der Begründung verwerfen, die Entscheidung greife in den Kernbereich der Gesellschafterrechte ein, sondern sie sollen überdies überprüfen, ob der Eingriff im Einzelfall gerechtfertigt ist.88

84 Ob der BGH damit die Kernbereichslehre aufgab, ist im Schrifttum streitig. Dafür Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 119 Rn. 20a; Caliebe, Diskussionsbericht bei Otte VGR 2016, S. 130; Escher-Weingart WM 2016, 1569, 1570; Wertenbruch in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 637, 642 ff. So auch die Deutung von Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 102, 107 ff., Priester NZG 2015, 529, 530 und Risse/Höfling NZG 2017, 1131, 1133, jeweils mit krit. Zungenschlag. Dagegen Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 54 f.; Heckschen/D. Bachmann NZG 2015, 531, 534 f.; Kleindiek GmbHR 2017, 674, 678 f.; Mülbert AcP 214 (2014), 188, 248 (der auf die Distanzierung nicht eingeht und die gesteigerte Bedeutung der Kernbereichslehre nach Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes unterstreicht); C. Schäfer NZG 2014, 1401, 1404; Schiffer BB 2015, 584, 586; T. Seidel/Wolf BB 2015, 2563, 2564 ff. Zur eigenen Auffassung s. noch § 17 VI 2. 85 BGHZ 170, 283 Rn. 10 = NJW 2007, 1685; BGHZ 179, 13 Rn. 16 f., 25 = NJW 2009, 669. Vgl. ferner BGH DStR 2009, 1544 Rn. 3; BGHZ 191, 293 Rn. 23 = NJW 2012, 1439; BGH BeckRS 2013, 1865 Rn. 28; BGHZ 203, 77 Rn. 11 f. = NJW 2015, 859. 86 BGHZ 203, 77 Rn. 19 = NJW 2015, 859. 87 Zum Unterschied zwischen Inhaltskontrolle des Gesellschaftsvertrags und Beschlusskontrolle als Ausübungskontrolle im kapitalgesellschaftsrechtlichen Kontext Wiedemann WM 2009, 1, 8. 88 So die Klarstellung des damaligen Vorsitzenden des II. Zivilsenats, Alfred Bergmann; s. Diskussionsbericht bei Ph. Scholz VGR 2015, S. 67. 534

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Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungsinstrument

c) Akzentverschiebung in der neueren BGH-Rechtsprechung Die nähere Ausgestaltung der materiellen Beschlusskontrolle befindet sich noch im Fluss. Noch in der OTTO-Entscheidung forderte der II. Zivilsenat eine Prüfung dahingehend, ob ein unzulässiger Eingriff in schlechthin unverzichtbare oder in „relativ unentziehbare”, das heißt in nur mit (antizipierter) Zustimmung des einzelnen Gesellschafters oder aus wichtigem Grund entziehbare Mitgliedschaftsrechte vorliegt. Im zweiten Fall komme es darauf an, ob die Gesellschaftermehrheit die inhaltlichen Grenzen der ihr erteilten Ermächtigung eingehalten und sie sich nicht etwa treupflichtwidrig über beachtenswerte Belange der Minderheit hinweggesetzt habe. Dies bedeute nicht, dass einer Mehrheit im Rechtsstreit der Nachweis einer sachlichen Rechtfertigung des Beschlusses obliege; vielmehr habe die Minderheit den Nachweis einer treupflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung zu führen.89 In der Schutzgemeinschaftsvertrag II-Entscheidung kam es zu einer leichten Akzentverschiebung: Die inhaltliche Wirksamkeitskontrolle gelte nicht nur bei Maßnahmen, die das Grundlagengeschäft berühren würden oder in den „Kernbereich” der Mitgliedschaftsrechte bzw. in absolut oder relativ unentziehbare Rechte der Minderheit eingreifen würden. Insbesondere in den zuletzt genannten Fällen liege regelmäßig eine treupflichtwidrige Ausübung der Mehrheitsmacht vor. In sonstigen Fällen habe die Minderheit den Nachweis einer treupflichtwidrigen Mehrheitsentscheidung zu führen.90 Diese Grundsätze bestätigte der II. Zivilsenat im Jahr 2014.91 Wie die Aussagen des BGH in ein dogmatisches Gesamtkonzept der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht unter der Berücksichtigung der richterlichen Kon­ trolldichte einzuordnen sind, wird noch in § 17 VI 2 und in § 18 VI 2 erläutert.

IV. Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungsinstrument 1. Kritik aus dem Schrifttum Die vorstehenden Ausführungen zur Rechtsprechungsentwicklung haben ­gezeigt, dass nach der Konzeption des BGH die mitgliedschaftliche Treuepflicht rechtsformübergreifend im Mittelpunkt der Willensbildungskontrolle steht. Zwar spricht der II. Zivilsenat in den Entscheidungen zum Kapitalgesell89 BGHZ 170, 283 Rn. 10 = NJW 2007, 1685. 90 BGHZ 179, 13 Rn. 17 = NJW 2009, 669. 91 BGHZ 203, 77 Rn. 12 = NJW 2015, 859. 535

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

schaftsrecht den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung,92 das Gleichbehandlungsgebot und die allgemeinen Missbrauchsschranken93 an,94 die Gewichtung seiner Ausführungen zeigt aber, dass die Pflicht zur gegenseitigen Loyalität das zentrale Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen den Gesellschaftern ist.95 Zudem werden die flankierenden Schutzmechanismen ohnehin als besondere Ausprägungen der Treuepflicht verstanden.96 Nach der Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Umgestaltung der Kernbereichslehre unterliegen auch Beschlüsse in Personengesellschaften der treuepflichtgestützten Inhaltskontrolle. Dabei stellt der BGH die rechtsformspezifischen Unterschiede nicht in den Vordergrund. Im Gegenteil: In einigen Entscheidungen zu Per92 Obwohl der BGH den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes stark einschränkte (s. § 17 II 2), gab er ihn bislang nicht ausdrücklich auf. Allerdings äußerte sich Volker Röhricht, seinerzeit Vorsitzender des II. Zivilsenats, im Zusammenhang mit dem Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital krit. zum Grundsatz sachlicher Rechtfertigung, s. Röhricht ZGR 1999, 445, 469 ff. Sein Nachfolger, Wulf Goette, interpretierte das Siemens/Nold-Urteil dahin, „dass die überstrenge Linie von Kali + Salz schlechthin zugunsten der gesetzesnäheren, alle beteiligten Interessen einbeziehenden liberalen Sicht aufgegeben worden ist.“, s. W. Goette ZGR 2012, 505, 511 f. Deutlich gegen die Aufgabe dieses Grundsatzes im Kontext der regulären Kapitalerhöhung der aktuelle Vorsitzende des II. Zivilsenats, Ingo Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 176. 93 Die praktische Bedeutung der allgemeinen zivilrechtlichen Schranken ist allerdings gering. Als Beispiel mag das Linotype-Urteil dienen, in dem der BGH den Rechtsmissbrauch ansprach, ihn jedoch für den konkreten Fall ohne Umschweife verneinte, s. BGHZ 103, 184, 191 ff. = NJW 1988, 1579. 94 Als Beispiel mag abermals die Linotype-Entscheidung dienen, in der der II. Zivilsenat auf den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung, den Rechtsmissbrauch und die Treuepflicht einging, s. BGHZ 103, 184, 189  ff. = NJW 1988, 1579.  Den Gleichbehandlungsgrundsatz griff er nicht auf, was im Hinblick auf das formelle Verständnis der Ungleichbehandlung (s. § 17 II 2 mit Fn. 22) konsequent war, in materieller Hinsicht aber nicht überzeugte. Zur instanzgerichtlichen Rspr. s. die Nachw. bei Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 44 f. 95 Deutlich kam diese Gewichtung im Hilgers-Fall zum Ausdruck, in dem die Wirksamkeit eines sanierenden Kapitalschnitts streitig war und den der BGH unter Rückgriff auf die Treuepflicht löste (BGHZ 142, 167, 169 ff. = NJW 1999, 3197), ohne auf den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung und das Gleichbehandlungsgebot einzugehen (zum Letzteren s. Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 44). Aus neuerer Zeit BGH NJW 2016, 2739 Rn. 12 ff. (Verstoß im konkreten Fall verneint); OLG München ZIP 2014, 472, 474 f. (Verstoß im konkreten Fall verneint). 96 Für den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung C. Schäfer in MüKoAktG §  243 Rn. 53 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 24, 27; Hüffer, FS Steindorff, S. 59, 67; Timm JZ 1980, 665, 667.  Für das Gleichbehandlungsgebot Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 185. 536

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Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungsinstrument

sonengesellschaften verweist er auf Urteile zu Kapitalgesellschaften.97 Umgekehrt knüpft er im kapitalgesellschaftsrechtlichen Kontext an seine Aussagen zum Personengesellschaftsrecht an.98 Die Fokussierung auf die Treuepflicht wird im Kapital- und Personengesellschaftsrecht von einigen Autoren kritisiert. Namentlich Werner Flume bemängelt im Kontext der Treuebindungen der Aktionäre, dass die Treuepflicht eine Leerformel sei,99 der es bei Lichte besehen nicht bedürfe. Die Fälle, in denen der BGH die horizontale Treuepflicht herangezogen habe, seien mit Hilfe anderer Instrumente wie dem Verbot von Sondervorteilen (§ 243 Abs. 2 AktG) zu lösen.100 Außerdem sei zu bedenken, dass auch törichte Entscheidungen der Gesellschafter von der Privatautonomie abgedeckt seien.101 Peter Mülbert vermisst einen normativen Geltungsgrund für die treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle im Aktienrecht und befürwortet einen vermögensbezogenen Aktionärsschutz bei Hauptversammlungsbeschlüssen.102 Auch Lorenz Fastrich weist darauf hin, dass eine materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht nicht in das dogmatische System des Aktiengesetzes passe.103 Dirk Verse legt dar, dass das materiell verstandene Gleichbehandlungsgebot aufgegriffen werden könne, um auf Missbräuche der Mehrheitsmacht zu reagieren. Dabei sei der Grundsatz der Gleichbehandlung schärfer konturiert als die Treuepflicht, so dass er mehr Rechtssicherheit biete.104 Die Kritik gilt auch dem Grundsatz sachlicher Rechtfertigung,105 der sich nach Ansicht zahlreicher Autoren normativ nicht begründen lässt und nicht in das System des aktienrechtlichen Beschlussmängelrechts passt.106 97 Vgl. BGHZ 183, 1 Rn. 23 = NJW 2010, 65. 98 So etwa in BGHZ 98, 276, 279 f. = NJW 1987, 189; BGH NJW 2016, 2739 Rn. 13. 99 Zum Personengesellschaftsrecht gleich Flume, FS Rittner, S.  119, 129.  Vgl. ferner Flume, BGB AT I/1, S. 261: „[Der Treuegedanke] ist keine Zauberformel, durch welche für die rechtliche Beurteilung der Widerstreit von Privatautonomie und Pflichtenbindung zu lösen wäre.“ 100 Ausf. Flume ZIP 1996, 161, 162 ff. 101 Flume, BGB AT I/2, S. 212; speziell für die Minderheitsaktionäre Flume ZIP 1996, 161, 167.  Dem folgend im Zusammenhang mit Personengesellschaften Altmeppen NJW 2015, 2065, 2071. 102 Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 225 ff. Skeptisch auch Mülbert AcP 214 (2014), 188, 245 ff. 103 Fastrich, Rechtsdenken, S. 17 ff. 104 Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 232 ff. 105 Anders aber Wiedemann WM 2009, 1, 7 f., der bemängelt, dass die Rspr. diese Figur zu stark eingeschränkt hat. 106 S. insb. Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 97 ff.; Fastrich, Rechtsdenken, S. 24 ff.; dens., FS Kreutz, S. 585, 587 ff.; Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 236 ff.; 537

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Im personengesellschaftsrechtlichen Kontext wird insbesondere die partielle Aufgabe der Kernbereichslehre kritisiert, die schärfer umrissen sei als die diffuse Treuepflicht und deshalb mehr Rechtssicherheit biete.107 Manche Autoren befürchten, dass die Neupositionierung des BGH zu einer Absenkung des Schutzniveaus zu Lasten der Minderheit führe.108 Andere beschwören die Gefahr, mit der einzelfallbezogenen Prüfung eines Treuepflichtverstoßes die Privatautonomie der Gesellschafter durch einen richterlichen Eingriff zu gefährden.109 2. Treuepflicht als Schicksal des Gesellschaftsrechts Die Argumente der Kritiker sind nicht von der Hand zu weisen. Namentlich im Aktienrecht sind die richterlichen Kontrollinstrumente so vielfältig, dass die Frage berechtigt ist, ob das Nebeneinander von der horizontalen und vertikalen Treuepflicht, den zivilrechtlichen Missbrauchsschranken, dem Gleichbehandlungsgebot und dem Grundsatz sachlicher Rechtfertigung in der Tat erforderlich ist. Da die zivilrechtlichen Missbrauchsverbote und das Gleichbehandlungsgebot im Gesetz verankert sind, kommt man de lege lata nicht umhin, sie als Schranken der Mehrheitsmacht zu akzeptieren. Die Treuepflicht und der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung sind hingegen Ergebnisse rich­ terrechtlicher Schöpfung, so dass sie (theoretisch) ohne einen Legislativakt wieder abgebaut werden könnten. Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 310 ff.; dens. AcP 214 (2014), 188, 252 f.; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  54  ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S.  305  ff. Auch im GmbH-Recht wird der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung in Zweifel gezogen, s. etwa Roth/Altmeppen GmbHG Anh § 47 Rn. 48. 107 So Priester NZG 2015, 529, 530. Vgl. ferner Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 41; Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 110 f.; Risse/Höfling NZG 2017, 1131 f.; C. Schäfer, FS Bergmann, S.  617, 626.  Auf Rechtssicherheit abstellend auch Fastrich, Rechts­ denken, S.  19, der aber zugleich der Kernbereichslehre skeptisch gegenübersteht (S.  11  ff.). Die mit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle einhergehende ­Flexibilität loben jedoch Escher-Weingart WM 2016, 1569, 1570 und W.  Goette/​ M.  Goette DStR 2016, 74, 80 (W.  Goette, FS Sigle, S.  145, 157 betont aber auf die Rechtsunsicherheit, die mit der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle einhergeht). Zum Argument der Rechtssicherheit s. noch § 18 I 4 b. 108 So insb. Böttcher in BeckOGK HGB § 119 Rn. 121; Oetker/Lieder HGB § 119 Rn. 54; Schöne in BeckOK BGB §  709 Rn.  43 aE; Dettke, Gewinnthesaurierung, S.  110  f.; Priester NZG 2015, 529, 530; C. Schäfer ZIP 2015, 1313, 1316; Ulmer ZIP 2015, 657, 659. Dagegen Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 119 Rn. 20c; Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 55; Wertenbruch DB 2014, 2875, 2877. 109 So Altmeppen NJW 2015, 2065, 2070 f.; T. Seidel/Wolf BB 2015, 2563, 2567. 538

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Treuepflicht als rechtsformübergreifendes Konfliktlösungsinstrument

Es spricht viel dafür, dass jedenfalls der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung als eigenständiges Kontrollinstrument seine Daseinsberechtigung verloren hat. Er ist zu einer Zeit entstanden, in der die Rechtsprechung sich gescheut hat, die gegenseitigen Treuebindungen zwischen den Aktionären zu akzep­ tieren.110 Nach der Anerkennung der (horizontalen) Loyalitätspflichten im Aktienrecht besteht bei Lichte besehen kein Grund, an einem Institut festzu­ halten, dessen Anwendungsbereich nach wie vor unklar ist und das ohne nennenswerte Schutzlücken durch die Treuepflicht ersetzt werden könnte. Zwar könnte man für den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung die für den Aktionär günstige Beweislastverteilung ins Feld führen, wonach die Gesellschaft die sachliche Rechtfertigung, der Aktionär den Treuepflichtverstoß beweisen muss.111 Dies ist aber kein zwingendes Argument für die Beibehaltung dieses Grundsatzes, weil man bei der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle dem Aktionär mit Beweiserleichterungen helfen kann. Es wird noch in §  18 herausgearbeitet, dass man die Argumentationslast steuern kann,112 indem man die treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle als ein Problem der richterlichen Prüfungsdichte begreift und es in Anlehnung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG löst.113 Darüber hinaus sind die (theoretischen) Schutzlücken überschaubar. Nimmt man die BGH-Rechtsprechung ernst, spielt der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ohnehin nur bei der bezugsrechtslosen regulären Kapitalerhöhung eine Rolle.114 Für die praktisch relevante Ermächtigung zur Ausübung des genehmigten Kapitals gilt er seit dem Siemens/Nold-Urteil nicht.115 Auch sonstige Beschlussarten fallen nicht in seinen Anwendungsbereich.116 Die Aktionärsinteressen werden in diesen Fällen mit Hilfe der Treuepflicht geschützt. 110 Vgl. auch Drygala, 50 Jahre AktG, S. 41, 55: „Kind ihrer Zeit“ (im Hinblick auf die Beteiligungsstruktur in Zeiten der „Deutschland AG“). 111 S. dazu statt vieler Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 344; Timm JZ 1980, 665, 668 f. 112 Speziell zur Darlegungs- und Argumentationslast § 18 VII. Damit wird ein gewichtiges und ernstzunehmendes Argument gegen die Treuepflicht entschärft, das Jan-David Geiger formuliert hat (Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 317 f.). 113 Zur Bedeutung der BJR für die Argumentationslast im Vorstandsrecht s. schon § 9 I. 114 Vgl. Austmann in MHdB GesR IV § 42 Rn. 71. Ob der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung im Rahmen der regulären Kapitalerhöhung auch nach dem Siemens/ Nold-Urteil eine Rolle spielt, ist im Schrifttum umstritten; s. dazu Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 96. 115 Vgl. bereits §  17 II 2.  Allerdings wird die Ausübung der Ermächtigung durch die Verwaltungsorgane vielerorts am Grundsatz sachlicher Rechtfertigung gemessen; s. noch § 20 III 2 a und d. 116 S. schon die Aufzählung in § 17 II 2 mit Fn. 33 bis 35. Bemerkenswert ist überdies die Kommentierung von Ingo Drescher, seines Zeichens der Vorsitzende des II. Zi539

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Freilich ist die Tendenz der Rechtsprechung, die Loyalitätspflicht als eine Allzweckwaffe zur Lösung verbandsinterner Konflikte zu verwenden, nicht unbedenklich. Als eine Generalklausel ist sie gewiss eine „Leerformel“, die für sich genommen wenig Rechtssicherheit bietet. Auch ist es nicht zu leugnen, dass die Treuepflicht bei einem allzu laxen Verständnis zu einem Einfallstor für eine flächendeckende gerichtliche Inhaltskontrolle der Gesellschafterbeschlüsse denaturieren könnte, was mit der Privatautonomie der Gesellschafter nicht zu vereinbaren ist.117 Ebenfalls trifft es zu, wenn im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum in umgekehrter Richtung auf das Risiko einer übermäßigen Beschränkung des Minderheitenschutzes verwiesen wird. Es gehört zu den ewigen Problemen des Rechts, dass die Anwendung von Generalklauseln unberechenbar ist, die Rechtsordnung aber auf sie nicht verzichten kann.118 Selbst Werner Flume, der schärfste Kritiker der Treuepflicht, bietet mit der Heranziehung der Mitgliedschaft ein Gegenkonzept an,119 das bei näherer Betrachtung ähnlich schwer zu handhaben ist wie die Treuepflicht, weil es ebenfalls einen generalklauselartigen Charakter aufweist.120 Auch die vielerorts gelobte Kernbereichslehre ist, wie noch in § 17 VI 2 zu zeigen sein wird, nicht mit einem Zugewinn an Rechtssicherheit verbunden. Ist man sich dieser Schwächen der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle bewusst, kann man mit den Rechtsprechungsvorgaben auf zweierlei Art und Weise umgehen. Auf der einen Seite ist es denkbar, alternative Schutzkonzepte zu entwickeln in der Hoffnung, dass der BGH sie übernimmt, so wie er nach fast 100 Jahren den Bestimmtheitsgrundsatz verworfen hat. Auf der anderen Seite kann man akzeptieren, dass die mitgliedschaftliche Treuepflicht – in Anlehnung an Franz Gamillscheg – unser Schicksal bleibt121 und die wissenschaftliche Energie darauf verwenden, ihr schärfere Konturen zu verleihen. Beide Ansätze haben ihre Daseinsberechtigung. Die vorliegende Untersuchung schlägt den letztgenannten Weg ein und versucht, die Leerformel mit Inhalt zu vilsenats, der in sechs von sieben Beispielsfällen ausführt, dass ein HV-Beschluss keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, s. Drescher in BeckOGK AktG §  243 Rn. 173 ff. 117 Insoweit zutr. Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 310 ff. 118 Vgl. hierzu (insb. zu den Vor- und Nachteilen) etwa Auer, Materialisierung, S. 54 ff. 119 S. Flume ZIP 1996, 161, 163 ff. 120 Krit. zum Eingriff in die Mitgliedschaft als Argumentationstopos insb. Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 107 ff., der von einem Scheinargument spricht (S. 191 ff.). 121 Vgl. Gamillscheg AcP 164 (1964), 385, 445: „Das Richterrecht bleibt unser Schicksal“. S.  auch die treffende Feststellung von Lutter ZHR 162 (1998), 164, 184: „die Leistungsfähigkeit der Erkenntnis Treupflicht ist enorm und aus der Realität des Rechts der privaten Verbände gar nicht mehr hinwegzudenken.“ 540

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls

füllen, indem sie die Intensität der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle mit Hilfe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bestimmt.

V. Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls 1. Vorherrschende zweispurige Treuepflichtdogmatik Doch bevor auf die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Gesellschafterbeschlüsse eingegangen wird, widmen sich die folgenden Ausführungen der Treuepflichtdogmatik. Auf diesem Fundament soll die mitgliedschaftliche Loyalitätspflicht konkretisiert werden. Dies kann nur gelingen, wenn man die Funktion der Treuepflicht im Blick behält. Es wurde in § 4 V 3 erläutert, dass die Gesellschafter in einer Beschlusssituation die Möglichkeit haben, ihre eigenen Interessen gegenüber den Interessen ihrer Mitgesellschafter durchzusetzen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschlussfassung nach dem Mehrheits- oder Einstimmigkeitsprinzip erfolgt. Sind sich die Gesellschafter nicht einig, bleibt der Wille mindestens eines von ihnen auf der Strecke. Im Hinblick auf diese Abhängigkeitslage, die nur eingeschränkt im Gesellschaftsvertrag behoben werden kann,122 ist die richterliche Kontrolle ein Instrument, mit dem opportunistisches Verhalten der Gesellschafter, die in der jeweiligen Situation am längeren Hebel sitzen, korrigiert werden kann.123 Da die denkbaren Konflikte zwischen den Gesellschaftern zu vielfältig sind, um sie beim Erlass eines Gesetzes im Detail vorherzusehen und die Vorgaben an die Gerichte in subsumtionsfähige Tatbestände zu gießen,124 bedarf es einer Generalklausel, die die Gesellschafter abstrakt zur Verfolgung der gemeinsamen Interessen und gegenseitiger Rücksichtnahme verpflichtet. Diese Funktion erfüllt die mitgliedschaftliche Treuepflicht,125 die sich nach herrschender Ansicht in zwei Kategorien aufteilen lässt. Zum einen bestehen Loyalitätsbindungen im Vertikalverhältnis zwischen den Gesellschaftern und der Gesellschaft, zum anderen im Horizontalverhältnis zwischen den Gesell122 Zu den Grenzen kautelarjuristischer Gestaltung § 4 V 5. 123 Ausf. § 4 VI. 124 S. schon § 6 III 2 b. 125 Im Kern zu dieser Funktion der Treuepflicht bereits Lutter AcP 180 (1980), 84, 90 f.; ders. ZHR 162 (1998), 164, 166 f. Vgl. ferner T. Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 14 Rn. 76; Bachmann, Ordnung, S. 210 f.; St. Schneider, Stimmpflichten, S. 198 ff.; Fleischer ZGR 2001, 1, 4 f.; dens. ZHR 179 (2015), 404, 441 ff.; Hüffer, FS Steindorff, S. 59, 68 f.; Immenga, FS GmbHG, S. 189, 206 f.; Klöhn AcP 216 (2016), 281, 309 ff. S. auch schon in § 6 III 2 b. 541

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

schaftern.126 Nach diesem Konzept zielt die vertikale Treuepflicht auf Beschlüsse ab, die das gemeinschaftliche Interesse aller Gesellschafter betreffen,127 etwa solche über Geschäftsführungsangelegenheiten.128 Dabei müssen sich nicht nur die Gesellschafter der Gesellschaft gegenüber loyal verhalten, sondern die Gesellschaft ist umgekehrt den Gesellschaftern gegenüber zur Treue verpflichtet.129 Die horizontale Treuepflicht ist auf Beschlüsse zugeschnitten, die zwar die Belange einzelner Gesellschafter berühren, nicht aber das Gesellschaftsinteresse. Auf solche Beschlussarten sollen sich die vertikalen Loyalitätspflichten nicht erstrecken.130 Als Beispiele werden der Auflösungsbeschluss und die Satzungs- bzw. Vertragsänderung genannt.131 Die Annahme, dass manche Beschlüsse die Interessen der Gesellschafter, nicht aber das Gesellschaftsinteresse132 berühren, hängt wohl damit zusammen, dass die herrschende Ansicht das Gesellschaftsinteresse als eine feststehende Größe begreift, die von den Belangen der Gesellschafter abstrahiert ist. Dies dürfte daran liegen, dass das Gesellschaftsinteresse mit dem Gesellschaftszweck vermengt wird. So bezeichnet Wolfgang Zöllner in seiner Habilitationsschrift das Verbandsinteresse als den „siamesischen Zwillingsbruder“ des ­Verbandszwecks.133 Einige Seiten später führt er aus: „Gänzlich andere Überlegungen kommen zum Zuge, wenn es darum geht, das Ausmaß der Treubin126 Statt vieler im Personengesellschaftsrecht Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 109 Rn. 12b; C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 226 ff.; im Aktienrecht Cahn/ von  Spannenberg in BeckOGK AktG §  53a Rn.  51  f.; im GmbH-Recht T. Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 14 Rn. 81. Rechtsformübergreifend Hofmann, Minderheitsschutz, S. 28 f. Andere Begrifflichkeiten bei Grigoleit, Gesellschafterhaftung, S. 299 ff., der zwischen der sozialen (= vertikalen) und individuellen (= horizontalen) Treuepflicht unterscheidet. 127 So wohl C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 226. 128 Drygala in KK-AktG § 53a Rn. 93; C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 226. 129 Statt vieler Michalski/Lieder GmbHG § 13 Rn. 140; T. Raiser in Habersack/Casper/ Löbbe GmbHG § 14 Rn. 77 aE. Dagegen, die Gesellschaft als Schuldnerin der Treuepflicht anzusehen, aber Geibel in BeckOGK BGB §  706 Rn.  73, der nur auf §  242 BGB abstellen will. 130 Dazu etwa C. Schäfer in MüKoBGB §  705 Rn.  229; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 37 f.; Winter, Treuebindungen, S. 88 ff.; Zöllner, Schranken, S. 349; Lutter ZHR 153 (1989), 446, 455.  131 Zum Liquidationsbeschluss C. Schäfer in MüKoBGB § 705 Rn. 229; Winter, Treuebindungen, S. 88. Zur Satzungs- und Vertragsänderung C. Schäfer aaO § 705 Rn. 229; Winter aaO S. 88. 132 Wie im Vorstandsrecht werden auch hier die Begriffe „Gesellschaftswohl“ und „Gesellschaftsinteresse“ synonym verwendet, s. schon § 6 III 2 b mit Fn. 55. 133 Zöllner, Schranken, S. 318. 542

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls

dungen gegenüber Mitgesellschaftern zu bestimmen. Die Bindung an den Verbandszweck hat damit unmittelbar nichts zu tun. Beeinträchtigungen der Interessen der Mitgesellschafter sind möglich, auch ohne daß das Verbandsinteresse hierdurch nachteilig berührt würde.“134 In eine ähnliche Richtung geht Marcus Lutter, wenn er sagt, dass ein Aktionär der Treuebindung gegenüber der Gesellschaft unterliegt, wenn seine Maßnahme „das Gesellschaftsinteresse, also die Zweckverfolgung in der AG auf der Grundlage von Gesetz und Satzung“ berührt. Und weiter: „[A]ußerhalb dieses Bereichs der rechtlich geschützten Interessen der Gesellschaft (…) unterliegen die Aktionäre den gegenseitigen Rücksichtspflichten, deren Bezug die subjektiven Interessen der Partner sind.“135 Den Überlegungen von Zöllner und Lutter haben sich zahlreiche Autoren angeschlossen, die explizit oder implizit für eine synonyme Verwendung der Begriffe „Gesellschaftszweck“ und „Gesellschaftsinteresse“ plädieren136 oder das Gesellschaftsinteresse aus dem Gesellschaftszweck ableiten wollen.137 Geht man von einem solchen Verständnis des Gesellschaftsinteresses aus, ist die Annahme konsequent, dass manche Beschlussarten nicht am Maßstab der vertikalen Treuepflicht kontrolliert werden können, weil sie zweckneutral sind.138 Ein Beschluss über die Gewinnverwendung oder über die Zustimmung zur Veräußerung der Anteile bei Vinkulierung berührt den Gesellschaftszweck – und damit auch das Gesellschaftswohl – nicht, so dass es in der Tat der horizontalen Treuepflichten bedarf, um die Belange der unterlegenen Gesellschafter zu wahren. Dies gilt auch für Änderungen der Satzung bzw. des Gesellschaftsvertrags. Der Gesellschaftszweck taugt zudem nicht als Prüfungsmaßstab, wenn der Beschluss auf eine Zweckänderung abzielt.139 Als ein Beispiel mag ein Auflö134 Zöllner, Schranken, S. 349. 135 Lutter ZHR 153 (1989), 446, 455 – mit kursiven Hervorhebungen des Verf. Freilich geht Lutter aaO davon aus, dass diese Abgrenzung etwaige Überschneidungen nicht ausschließt. Zu den damit verbundenen Problemen s. sogleich in §  17 V 2 mit Fn. 141 und 142. 136 So etwa Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 143.  137 Maier, Bezugsrechtsausschluss, S.  103; Mayer, Beschlusskontrolle, S.  240; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 254; Wallisch, Entscheidungen, S. 124. Synonymes Verständnis augenscheinlich auch bei Mülbert ZGR 1997, 129, 141. 138 Statt vieler Winter, Treuebindungen, S. 88; Lutter ZGR 1981, 171, 177. AA Wallisch, Entscheidungen, S. 140. 139 Anschaulich Lutter ZGR 1981, 171, 177  f.; im vereinsrechtlichen Kontext Reuter ZGR 1987, 475, 488. Einschränkend aber Wallisch, Entscheidungen, S. 136 ff., der 543

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

sungsbeschluss dienen. Mit der Auflösung ändert sich der Zweck des Verbands. Eine werbende Gesellschaft wandelt sich – untechnisch gesprochen – in eine Abwicklungs- oder Liquidationsgesellschaft um.140 Liegt der ursprüngliche Gesellschaftszweck etwa in der Gewinnerzielung und wollen die Gesellschafter diesen Zweck nicht weiter verfolgen, sondern die in der Gesellschaft gebundenen Mittel freisetzen, ist es vom Standpunkt der herrschenden Auffassung aus verständlich, dass die materielle Beschlusskontrolle nicht mit der Frage beginnen kann, ob der Auflösungsbeschluss der Gewinnerzielung dient. Anderenfalls wäre eine (auf dem Gesellschafterbeschluss beruhende) Auflösung nie möglich, was im Widerspruch zu § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, § 131 Abs. 1 Nr. 1 HGB stünde. 2. Einheitlicher Treuepflichttatbestand a) Unterschied zwischen Gesellschaftszweck und Gesellschaftsinteresse Auch wenn die zweispurige Treuepflichtdogmatik innerhalb des eigenen Begriffssystems zu konsequenten Ergebnissen gelangt, ist sie übermäßig kompliziert. Sie führt zu schwer lösbaren Problemen, wenn sowohl das (eng verstandene) Gesellschaftsinteresse als auch die Belange der einzelnen Gesellschafter berührt sind.141 In solchen Fällen stellt sich nämlich die Frage, in welchem Verhältnis die parallel bestehenden Ansprüche der Gesellschaft und der Gesellschafter gegen den treuwidrig handelnden Gesellschafter stehen: Können die Anspruchsberechtigten aus der Treuepflicht jeweils auf die gleiche Leistung klagen? Was passiert, wenn sich ein Kläger mit dem treuwidrig handelnden Gesellschafter vergleicht?142 Diese Probleme lösen sich in Luft auf, wenn man bereit ist, die Unterscheidung zwischen horizontalen und vertikalen Loyalitätspflichten zugunsten eines einheitlichen Treuepflichttatbestands zwischen der Gesellschaft und den GesellZweckänderungsbeschlüsse am Maßstab des Gesellschaftsinteresses messen will und eine Ausnahme nur für Auflösungsbeschlüsse befürwortet. 140 Zur Auflösung als Zweckänderung Bachmann in BeckOGK AktG §  262 Rn.  6; M.  Roth in Baumbach/Hopt HGB §  131 Rn.  2; Habersack, FS  K. Schmidt, 2009, S. 523, 529. Im GmbH-rechtlichen Schrifttum wird verbreitet von einer „Zwecküberlagerung“ gesprochen, s. Haas in Baumbach/Hueck GmbHG § 60 Rn. 9 mit Nachw. in Fn. 23. 141 Zu solchen Überschneidungen etwa T. Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 14 Rn. 81; Winter, Treuebindungen, S. 86 ff.; Lutter ZHR 162 (1998), 164, 176 ff. 142 Zu dieser Fragestellung und dem möglichen Lösungsweg s. etwa Lutter ZHR 162 (1998), 164, 176 ff. Vgl. ferner die Vorschläge von Winter, Treuebindungen, S. 88 ff. 544

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schaftern aufzugeben.143 Die Unterscheidung, die der herrschenden Treuepflichtdogmatik zugrunde liegt, beruht auf einem unnötig engen Verständnis des Gesellschaftsinteresses, das im Anschluss an Wolfgang Zöllner mit dem Gesellschaftszweck gleichgesetzt wird.144 Diese Annahme führt zu dem (fehlerhaften) Schluss, dass das Gesellschaftsinteresse bei der Gründung des Verbands bestimmt wird und sodann als eine objektiv festgelegte, von den Belangen der Gesellschafter losgelöste Größe herangezogen werden kann, um die Konflikte im Vertikalverhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern zu entschärfen. Ein solches Begriffsverständnis vernachlässigt den Umstand, dass der Gesellschaftszweck und das Gesellschaftsinteresse unterschiedliche Probleme adressieren und in einem unterschiedlichen Vorgang bestimmt werden. Der Gesellschaftszweck umschreibt das „Endziel“,145 die „Leitidee“146 des Verbandes. Seine Bestimmung liegt in den Händen der Gründungsgesellschafter, von dessen Willen die künftigen Gesellschafter analog § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich nur einstimmig abweichen dürfen.147 Das Einstimmigkeitserfordernis unterstreicht den statischen Charakter des Gesellschaftszwecks, der von den Interessen der einzelnen Gesellschafter losgelöst ist.148 Er ist häufig abstrakt formuliert. Der Zweck der Kapitalgesellschaften liegt im Zweifel in der Gewinnerzielung,149 bei Handelsgesellschaften im Betrieb eines Handelsgewerbes (§ 105 Abs. 1 HGB),150 bei karitativen Verbänden in der Verfolgung eines gemeinnützigen oder mildtätigen Ziels. Diese abstrakte Formulierung führt dazu, dass der Gesellschaftszweck bei der Lösung von konkreten Konflikten in der Gesellschaft wenig hilfreich ist. 143 Im Einklang mit der hM gilt die Treuepflicht in beide Richtungen, dh der Gesellschafter muss auf die Gesellschaft und die Gesellschaft auf den Gesellschafter Rücksicht nehmen; s. schon § 17 V 1 mit Fn. 129. 144 S. schon § 17 V 1 mit Nachw. in Fn. 134 bis 137. 145 So etwa Fleischer in MüKoGmbHG § 1 Rn. 9. Vgl. ferner Hüffer/J. Koch AktG § 23 Rn. 22: finaler Sinn des Zusammenschlusses. Zur Unterscheidung zwischen Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand s. bereits § 11 IV 1. 146 So im vereinsrechtlichen Kontext Reuter ZGR 1987, 475, 483. 147 Zur rechtsformübergreifenden Geltung des Einstimmigkeitsprinzips bei Zweckänderung Notz in BeckOGK BGB §  33 Rn.  12  ff. Eine Ausnahme vom Einstimmigkeitsprinzip sehen etwa § 262 Abs. 1 Nr. 2 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG für den Auflösungsbeschluss vor, der eine besondere Ausprägung des Zweckänderungsbeschlusses ist; s. bereits die Ausführungen in diesem Abschnitt bei Fn. 139. 148 Vgl. die plastische Umschreibung bei Tröger, Treupflicht, S. 68 f. 149 Für die AG s. § 11 IV 1 mit Nachw. in Fn. 194. Für die GmbH Fleischer in MüKo­ GmbHG § 1 Rn. 12 f. 150 S. nur Oetker/Lieder HGB § 105 Rn. 18. 545

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Es liegt nämlich nicht fern, dass sich die Gesellschafter zwar über die „Leit­ idee“ des Verbandes einig sind, aber darüber streiten, auf welchem Weg diese Idee verwirklicht werden soll. Deutlich wird dies am Beispiel des Gewinnverwendungsbeschlusses,151 der im Schrifttum als ein Anwendungsfall der horizontalen Treuepflichten eingeordnet wird.152 Liegt der Gesellschaftszweck in der Gewinnerzielung, können manche Gesellschafter eine hohe Gewinnausschüttung als die richtige Maßnahme für die Verfolgung des gemeinsamen Ziels ansehen, weil sie auf die Dividende angewiesen sind. Andere mögen auf die Dividende verzichten, aber die Verwendung der überschüssigen Mittel für Investitionen befürworten, weil sie sich davon höhere Gewinne in der Zukunft versprechen. Eine dritte Gesellschaftergruppe kann schließlich für eine Gewinnthesaurierung plädieren, weil die Stärkung der Eigenkapitalbasis ihren Präferenzen entspricht. All diese Maßnahmen sind mit der „Leitidee“ der Gewinnerzielung zu vereinbaren, der Gesellschaftszweck allein gibt aber keinen Aufschluss darüber, welcher Weg im konkreten Fall eingeschlagen werden sollte. Um diesen Weg zu bestimmen, bietet es sich an, im Einklang mit der herrschenden Auffassung die Figur des Gesellschaftsinteresses aufzugreifen. In den einschlägigen Abhandlungen ist zu lesen, dass das Gesellschaftsinteresse „die für den konkreten Fall entwickelte Anwendung des Verbandszwecks“ ist153 oder dass es „den Gesellschaftszweck anhand des jeweiligen Einzelfalls“ konkretisiert.154 Diese Umschreibungen sind insoweit richtig, als sie den einzelfallbezogenen Charakter des Gesellschaftsinteresses betonen. Missverständlich ist es aber, wenn im Schrifttum gesagt wird, dass das Gesellschaftsinteresse die Kehrseite des Gesellschaftszwecks ist155 oder dass es aus dem Gesellschaftszweck abgeleitet wird.156 Solche Formulierungen suggerieren, dass es sich bei 151 An dieser Stelle wird noch ausgeblendet, dass der Beschluss über die Gewinnverwendung ein eigennütziges Recht der Gesellschafter berührt, so dass die Treuepflichten in diesem Bereich sehr schwach ausgeprägt sind (zur Unterscheidung zwischen eigen- und fremdnützigen Rechten s. noch § 18 V 3 c); auch wird die aktienrechtliche Sonderregelung in § 254 AktG außer Betracht gelassen. Darauf wird in § 22 IV zurückzukommen sein. 152 Vgl. etwa T. Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 14 Rn. 89. 153 So Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 254. 154 Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 143. S. auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 253 ff. 155 So insb. Zöllner in KK-AktG, 1. Aufl., § 243 Rn. 178. Dieser Umschreibung folgend Mayer, Beschlusskontrolle, S. 240; Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 217; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 143. 156 So Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 105; Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 103; Mayer, Beschlusskontrolle, S. 240; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 254; Wallisch, Entscheidungen, S. 124. 546

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der Festlegung des Gesellschaftsinteresses um einen logisch-deduktiven Vorgang handelt, in dem zunächst der Gesellschaftszweck definiert wird und die Entscheidung sodann daraufhin überprüft wird, ob sie vom Gesellschaftszweck gedeckt ist. Vernachlässigt wird dabei der Umstand, dass die Vorstellungen der Gesellschafter über die Verfolgung des Gesellschaftszwecks im Einzelfall auseinanderdriften können.157 Dieser Umstand macht deutlich, dass das Gesellschaftsinteresse – anders als der Gesellschaftszweck – nicht statisch ist, sondern von den Präferenzen der Gesellschafter im Einzelfall abhängt. Im Hinblick auf diesen punktuellen und dynamischen Charakter des Gesellschaftsinteresses ist es nicht möglich, das Gesellschaftsinteresse von den Belangen der einzelnen Gesellschafter zu abstrahieren und es als eine objektiv feststehende Größe zu verstehen,158 an der sich die Beschlusskontrolle ausrichten kann.159 Vielmehr wohnt dem Gesellschaftsinteresse eine wertende Komponente inne, die die Gesellschafter vor der Herausforderung stellt, in jeder Beschlusssituation wiederholt zu ermitteln, welche Maßnahme am besten geeignet ist, um die divergierenden Interessen der Gesellschafter in Einklang zu bringen.160 In gedanklicher Anlehnung an die Überlegungen im Vorstandsrecht ist das Gesellschaftsinteresse als das Resultat einer Abwägung zwischen widerstreitenden Gesellschafterinteressen zu verstehen, die im Beschlussverfahren wiederholt durchgeführt wird.161 Der

157 S. auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 254. 158 So bereits Roitzsch, Minderheitenschutz, S. 177. AA etwa Mülbert ZGR 1997, 129, 141. 159 Zur Verwebung des Gesellschaftsinteressens mit den Interessen einzelner Gesellschafter im GmbH-rechtlichen Kontext s. Scholz/Bitter GmbHG §  13 Rn.  53, der freilich den Schwerpunkt auf die Treuepflicht unter den Gesellschaftern setzt (Rn. 54). 160 Treffend Schwab in K. Schmidt/Lutter AktG §  243 Rn.  5: aggregiertes Interesse sämtlicher Aktionäre an einer gedeihlichen Verfolgung des Gesellschaftszwecks. Ähnlich Köster, Rechtsschutz, S. 357 f.: Das Gesellschaftsinteresse setze sich aus den gebündelten Interessen der Gesellschafter zusammen. In diese Richtung bereits Roitzsch, Minderheitenschutz, S. 175 ff.; Wiedemann ZGR 1980, 147, 158. AA Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 255 f., 264 ff. 161 Der Vorstand konkretisiert das Gesellschaftswohl, indem er die potentiell betroffenen Belange der shareholder und stakeholder ermittelt und gewichtet, um sodann ein Rangverhältnis zu bestimmen und eine konkrete Entscheidung zu treffen. Freilich wird darüber gestritten, ob die Interessen der Aktionäre vorrangig vor Belangen anderer Interessengruppen zu bedienen sind oder ob die Interessen ohne Vorgewichtung in die Abwägung einfließen; s. dazu bereits § 8 I 1. Zur Bedeutung der Abwägung vgl. ferner § 6 III 2 b. 547

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Gesellschaftszweck ist lediglich die äußerste Grenze der Abwägung.162 Deshalb dürfen Gesichtspunkte, die jenseits des Gesellschaftszwecks liegen, grundsätzlich nicht in die Abwägung einfließen. b) Interessenabwägung bei Gesellschafterbeschlüssen Folgt man der Unterscheidung zwischen dem statischen Gesellschaftszweck und dem dynamischen Gesellschaftsinteresse und führt man die materielle Beschlusskontrolle am Maßstab des dynamisch verstandenen Gesellschaftsinteresses durch, lässt sich die Treuepflichtdogmatik vereinfachen. Es bedarf nicht der horizontalen Treuepflicht, um die Belange der Gesellschafter im Rahmen der Beschlusskontrolle zu berücksichtigen.163 Zielt die Treuepflicht auf die Verfolgung des Gesellschaftswohls ab und ist das Gesellschaftswohl ein Resultat der Abwägung zwischen widerstreitenden Gesellschafterinteressen, reicht es aus, wenn sich das Gericht auf die Frage fokussiert, ob der Beschluss im Einklang mit dem Gesellschaftswohl steht. Da der Beschluss als Verkörperung des Gesellschafterwillens der Gesellschaft zugerechnet wird,164 missachtet die Gesellschaft die Interessen der einzelnen Gesellschafter, wenn diese Interessen im Rahmen der Abwägung nicht hinreichend berücksichtigt wurden. Wird der Beschluss der richterlichen Inhaltskontrolle unterzogen, muss das Gericht prüfen, ob die widerstreitenden Gesellschafterbelange in die Abwägung einbezogen und im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz in einen Ausgleich gebracht wurden.165 Wie schon in § 17 V 2 a am Beispiel des Gewinnverwendungsbeschlusses erläutert, ist eine solche Prüfung auch dann möglich, wenn ein Beschluss für den Gesellschaftszweck neutral ist. Dies gilt auch für den Zweckänderungsbeschluss, bei dem die Besonderheit besteht, dass der Gesellschaftszweck nicht die äußerste Grenze der Abwägung ist, sondern diese Grenze gerade überwunden werden soll.166 Deshalb ist es vorzugs162 Insoweit ähnlich Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S.  257: Der Verbandszweck gebe selbst bei Verfolgung reiner Partikularinteressen eine äußerst grobe Leitlinie her. 163 So wohl auch Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 218 ff., insb. Fn. 229 auf S. 222. S. auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 290: „Die beide Treuepflichtebenen werden aber nicht strikt voneinander getrennt, sondern in ihrer Verschränkung ineinander nachvollzogen“. 164 S. schon § 2 V 1 mit Nachw. in Fn. 82. Zu den Auswirkungen auf die Bestimmung des Kontrollgegenstands s. noch § 17 V 3. 165 So auch Köster, Rechtsschutz, S. 358. Zum gerichtlichen Prüfungsprogramm s. noch § 17 VI. 166 S. bereits § 17 V 1 mit Nachw. in Fn. 140 (Auflösung als Zweckänderung). 548

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls

würdig, von einem einheitlichen Treuepflichttatbestand zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern auszugehen. Der Befund, dass auch ein Gesellschafterbeschluss das Ergebnis eines Abwägungsvorgangs. ist, mag überraschen, wenn man den Beschluss auf die Abstimmung reduziert. Stimmen die Gesellschafter für oder gegen den Antrag, wägen sie bei vordergründiger Betrachtung nicht ab, sondern sie bringen schlicht ihre Meinung über den Beschlussgegenstand zum Ausdruck. Ein solches punktuelles Verständnis des Beschlussverfahrens wird aber dem komplexen Entscheidungsfindungsprozess nicht gerecht. Wie schon Johannes Baltzer herausgearbeitet hat, erschöpft sich das Beschlussverfahren nicht in der Abstimmung, sondern es handelt sich um einen mehrstufigen Vorgang.167 Bevor die Gesellschafter über den Antrag abstimmen, müssen sie das Sachproblem formulieren und ermitteln, auf welchem Weg das Problem so zu lösen ist, dass die widerstreitenden Belange in einen gerechten Ausgleich gebracht werden. In dieser Phase können auch die Interessen derjenigen Gesellschafter berücksichtigt werden, die in der (späteren) Abstimmung unterliegen. Das Ziel dieses Abwägungsprozesses liegt darin, das übergeordnete Interesse der Gemeinschaft optimal zu verwirklichen. Der Beschluss ist ein Produkt der Abwägung. Die Gesellschafter legen in der Abstimmung fest, welche Belange vorzuziehen sind und welche Interessen sich hintanstellen müssen. Die vorstehende Umschreibung des Beschlussverfahrens als Abwägungsvorgang bezieht sich in erster Linie auf (geschlossene) Gesellschaften mit einer überschaubaren Anzahl von Gesellschaftern, die in den Gesellschafterversammlungen über die Probleme diskutieren und auf dieser Grundlage Beschlüsse fassen. Auf Publikumsgesellschaften trifft diese Umschreibung nicht vorbehaltslos zu. Dort sind die Gesellschafter in ihrer Gesamtheit nicht in die Entscheidungsvorbereitung einbezogen. Dieser Umstand führt aber nicht dazu, dass die Formulierung der Sachprobleme und der möglichen Lösungswege im Vorfeld der Abstimmung entfällt. Vielmehr sind die Verwaltungsorgane dazu berufen, eine Tagesordnung aufzustellen, die Beschlussgegenstände

167 Vgl. Baltzer, Beschluss, S.  97  ff., der zwischen dem vorbereitenden Verfahren (S.  101  ff.) und der Beschlussfassung im engeren Sinne (S.  120  ff.) unterscheidet. Zum vorbereitenden Verfahren gehört das Herausarbeiten des Sachproblems (S. 101 ff.), die Formulierung des Antrags (S. 103 ff.) und die Beratung (S. 118 ff.). Die Beschlussfassung im engeren Sinne setzt sich nach Baltzer aus der Abstimmung (S. 125 ff.) und der Stimmauswertung (S. 155 ff.) zusammen. Vgl. ferner Hieronymi, Haftung, S. 20 ff. 549

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

festzulegen und Beschlussvorschläge zu unterbreiten.168 Paradigmatisch für ein solches Modell sind die §§ 121 ff. AktG, in denen die Einbindung des Vorstands und Aufsichtsrats in die Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung detailliert geregelt sind. Die Interessenabwägung wird in der Aktiengesellschaft zum Teil auf die Verwaltungsorgane vorverlagert und durch die Debatte auf der Hauptversammlung ergänzt.169 3. Bestimmung des Kontrollgegenstandes Legt man den Fokus auf die vertikalen Loyalitätspflichten, fällt es leicht, den Gegenstand der gerichtlichen Willensbildungskontrolle zu bestimmen. Zwar legt der Begriff der „Beschlusskontrolle“ nahe, dass der Beschluss überprüft wird, ein Blick in die juristische Literatur zeigt jedoch, dass dieser Schluss vorschnell ist. Die gerichtliche Kontrolle kann sich nämlich zum einen auf die Stimmausübung des einzelnen Gesellschafters, zum anderen auf den Beschluss als Ergebnis der kollektiven Willensbildung beziehen.170 Die herrschende Ansicht befürwortet den erstgenannten Weg und stellt die Frage, ob die Stimm­ abgabe treuepflichtwidrig ist.171 Liegt eine Treuepflichtverletzung vor, ist die Stimme nichtig und kann bei der Stimmauswertung nicht berücksichtigt werden. Je nach Stimmgewicht des illoyal handelnden Gesellschafters kann dies dazu führen, dass der Beschluss fehlerhaft ist, weil die erforderliche Mehrheit ohne die treuwidrige Stimme nicht erreicht wird.172 Die „materielle Beschlusskontrolle“ ist nach der Konzeption der herrschenden Meinung bei Lichte besehen keine echte Beschlusskontrolle, sondern eine Stimmausübungskontrolle. 168 Bei Publikumsgesellschaften mit einem Großgesellschafter wird sich dieser freilich mit den Veraltungsorganen abstimmen und dadurch auf die Vorbereitung der Gesellschafterversammlung Einfluss nehmen. 169 Zu den Folgen für die richterliche Kontrolldichte im Hinblick auf die Informationsgrundlage s. noch in § 18 IV 3. Zur Entscheidungsvorbereitung im Vorstand Hieronymi, Haftung, S. 20 ff. 170 S. die anschauliche Darstellung bei Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 30 ff., der von unterschiedlichen „Anknüpfungspunkten“ der materiellen Beschlusskontrolle spricht. 171 Geistiger Vater dieser Auffassung ist Wolfgang Zöllner, der in seiner Habilitationsschrift die Schranken der Stimmrechtsmacht untersuchte, was die Anknüpfung an die Stimmausübung deutlich macht. 172 Für eine solche Konstruktion etwa Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 165; Hüffer/C. Schäfer in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 47 Rn. 204 f.; Notz in Beck­ OGK BGB § 32 Rn. 152; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 43 ff. (der konsequent von einem Verfahrensfehler ausgeht); Lutter ZHR 153 (1989), 446, 458; C. Schäfer ZGR 2013, 237, 264; ders., FS Bergmann, S. 617, 631 f. S. ferner Beckerhoff, Treupflichten, S. 47 ff. 550

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls

Will man mit der hier vertretenen Auffassung die Unterscheidung zwischen den horizontalen und vertikalen Loyalitätspflichten einebnen, spricht mehr dafür, die gerichtliche Willensbildungskontrolle auf den Beschluss als solchen zu fokussieren.173 Wie schon in §  17 V 2 ausgeführt, wird der Beschluss als Verkörperung des kollektiven Gesellschafterwillens der Gesellschaft zugerechnet; damit verkörpert er zugleich den Gesellschaftswillen. Haben die Gesellschafter im Rahmen der Abwägung die Belange der betroffenen Gesellschafter nicht hinreichend beachtet, wird der Abwägungsfehler der Gesellschaft zugerechnet, so dass diese die individuellen Interessen missachtet. In einem solchen Fall entspricht der Beschluss als solcher nicht dem Gesellschaftswohl und ist wegen eines Verstoßes gegen die Treuepflicht fehlerhaft.174 Im Aktien- und GmbH-Recht ist er gem. § 243 Abs. 1 AktG (analog) anfechtbar, im Personengesellschaftsrecht nach herrschender Auffassung nichtig.175 Eines Rückgriffs auf die treuwidrige Stimmabgabe bedarf es nach dem hier vertretenen Verständnis nicht.176 Die Anknüpfung an den Beschluss hat den Vorteil, dass die positive Beschlussfeststellungsklage in das System der treuepflichtgestützten Kontrolle eingeordnet werden kann.177 Gemeint sind damit insbesondere Sachverhalte, in denen die für den sanierenden Kapitalschnitt (§ 228 AktG) erforderliche Drei-Viertel-Mehrheit (§ 222 Abs. 1 Satz 1, § 182 Abs. 1 Satz 1 AktG) nicht erreicht wurde oder in denen zahlreiche Gesellschafter gegen einen „Sanieren oder Aus-

173 So im Ergebnis auch Boese, Anwendungsgrenzen, S.  37  ff.; Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 232 ff.; Zwissler, Treuegebot, S. 142. Für den Bezugsrechtsausschluss Liebert, Bezugsrechtsausschluss, S.  67.  Ebenso implizit Schwab in K. Schmidt/Lutter AktG § 243 Rn. 6. 174 Eine andere Frage geht dahin, wer die Letztentscheidungskompetenz im Hinblick auf die Abwägung hat. Das ist (wie schon im Vorstandsrecht, s. § 8 I 1 und 2) ein Problem der richterlichen Kontrolldichte, dem in § 18 nachgegangen wird. 175 Zur unterschiedlichen Behandlung fehlerhafter Beschlüsse im Kapital- und Personengesellschaftsrecht s. bereits § 2 V 2 b. 176 Nicht näher kann hier die Frage behandelt werden, wie sich die Anknüpfung an den Beschluss als solchen auf die Handlungsoptionen des Versammlungsleiters auswirkt. Nach der Konzeption der hA darf der Versammlungsleiter die treuwidrigen und damit nichtigen Stimmen bei der Feststellung des Beschlussergebnisses unberücksichtigt lassen (s. nur Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 166; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 45 ff.). Knüpft man an den Beschluss als solchen an, spricht viel dafür, dass dem Versammlungsleiter eine solche Befugnis fehlt (s. Zwissler, Treuegebot, S. 142). Dieses Problem bedarf einer eigenständigen Untersuchung. 177 Zum Folgenden s. schon die grundlegenden Überlegungen bei Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 247 ff. Vgl. ferner Zwissler, Treuegebot, S. 142 f. 551

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

scheiden“-Beschluss stimmen.178 Auf dem Boden der herrschenden Auffassung treffen die dissentierenden Gesellschafter unter bestimmten Voraussetzungen positive Stimmpflichten.179 Wollte man den stimmrechtsbezogenen Ansatz der herrschenden Auffassung konsequent zu Ende denken, müssten die Gesellschaft oder die Gesellschafter die treuwidrig handelnden Gesellschafter auf Erteilung der Zustimmung verklagen.180 Dieser Schritt wird aber gerade nicht immer gemacht, sondern die Konstruktion der positiven Beschlussfeststellungsklage zugelassen. Diese Konstruktion ist nur dann stimmig, wenn man mit der hier vertretenen Ansicht den Beschluss als solchen und nicht die Stimm­ausübung überprüft.181 Bezieht sich die gerichtliche Prüfung auf den Beschluss als solchen, lässt sich außerdem ohne Mühe erklären, wieso Gesellschafterbeschlüsse – im Einklang mit der herrschenden, aber nicht unbestrittenen Auffassung182 – auch bei Zufallsmehrheiten oder bei Zufallssperrminoritäten einer treuepflichtgestützten Kontrolle unterliegen. Überprüft man den Beschluss als das Ergebnis der kollektiven Willensbildung, ist es im Ausgangspunkt unerheblich, ob der Beschluss durch einen Gesellschafter mit großer Stimmmacht oder durch eine Vielzahl von Gesellschafter mit geringem Anteilsbesitz getragen wird.183 Maßgeblich ist allein, ob der Beschlussinhalt mit dem Gesellschaftsinteresse zu vereinbaren ist. Neben diesen dogmatischen Argumenten spricht die Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidung für die Anknüpfung an den Beschluss als solchen. Die 178 Zu den Sanierungsbeschlüssen s. noch § 20 IV. 179 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG §  222 Rn.  15a; C. Schäfer in MüKoBGB §  707 Rn.  10  f.; ders., FS Hommelhoff, S.  939, 949 ff.; Schöne in BeckOK BGB §  707 Rn. 10 ff. (mit krit. Stellungnahme); St. Schneider, Stimmpflichten, S. 244 ff., 283 ff.; Seibt ZIP 2014, 1909, 1912 f. 180 Vgl. C. Schäfer, FS Ganter, S. 33, 40, der aber darauf hinweist, dass speziell in Sanierungsfällen ein Gesellschafterausschluss qua Mehrheitsbeschlusses möglich ist, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Für die Notwendigkeit eines Urteils augenscheinlich noch Flume, FS Rittner, S. 119, 120. 181 Zu weiteren verfahrensrechtlichen Argumenten für das hier bevorzugte Konzept im Aktienrecht s. Mülbert, Aktiengesellschaft, S. 243 ff. 182 S. nur Götze in MüKoAktG Vor § 53 Rn. 32; Henze/Notz in GK-AktG, 4. Aufl., Anh §  53a Rn.  73; Hüffer/J.  Koch AktG §  53a Rn.  21; C. Schäfer in MüKoAktG §  243 Rn. 49; Nehls, Treuepflicht, S. 85 ff. Gegen Treuepflicht von Zufallsmehrheiten bzw. Zufallssperrminorität etwa Dreher ZHR 157 (1993), 150, 159 Fn. 35; Marsch-Barner ZHR 157 (1993), 172, 183; Merkt, FS Bergmann, S. 509, 523 f. 183 Diese Frage spielt erst bei der Bestimmung der Prüfungsdichte eine Rolle. Wie noch in § 18 V 6 herausgearbeitet wird, hängt die Intensität der richterlichen Inhaltskon­ trolle auch von der Realstruktur der Gesellschaft ab. 552

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und Schutz des Gesellschaftswohls

Stimmausübungskontrolle führt nämlich dazu, dass die Treuepflichten ohne Not sozialethisch aufgeladen werden.184 Es wird danach gefragt, ob sich die Gesellschafter „daneben verhalten“ haben. Diese Fragestellung ist vom Topos des treuepflichtgestützten Minderheitenschutzes beeinflusst, der die Richter dazu verleitet, die eigene emotionale Haltung zum Ausdruck zu bringen, statt eine nüchterne juristische Analyse durchzuführen.185 Beim Minderheiten­ schutz handelt es sich um ein Etikett, das falsche Assoziationen hervorruft und auch 25 Jahre nach dem Girmes-Urteil das Problem verdunkelt. Es geht nicht um den Schutz der Schwächeren, sondern um opportunistisches Verhalten, das sowohl von der Mehrheit als auch von der Minderheit ausgehen kann. Deshalb ist es vorzugswürdig, sich bei der Beschlusskontrolle vom Topos des Minderheitenschutzes zu lösen und die Treuepflicht auf ihre Funktion zurückzuführen, opportunistisches Verhalten der Gesellschafter zu unterbinden, um das Gesellschaftswohl zu schützen. Wie Marcus Lutter zutreffend festgestellt hat, „ist mit der ‚Verletzung der Treuepflichten‘ ein gewisser Geschmack verbunden, der sich eigentlich für die (schlichte) Nichterfüllung einer korpora­ tiven Hauptpflicht nicht recht ziemt“.186 Auch wenn die mitgliedschaftliche Treuepflicht aus dem gesellschaftsrechtlichen Vokabular nicht mehr hinwegzudenken ist,187 kann man den Geschmack neutralisieren, indem man die Fragestellung umformuliert. Maßgeblich ist nicht, ob sich ein Gesellschafter bei der Stimmausübung treupflichtwidrig verhalten hat, sondern ob der Beschluss als das Resultat der Abwägung zwischen widerstreitenden Gesellschafterinteressen die einzelnen Belange in einen angemessenen Ausgleich gebracht hat.

184 Für die Anerkennung der sozialethischen Dimension des Gesellschaftsrechts aber insb. Wiedemann JZ 1976, 392; ders. ZGR 1980, 147, 155 ff. 185 Dieser Befund darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Verf. den Gerichten vorwirft, die Treuepflicht-Fälle emotional zu entscheiden. Die richterliche Zurückhaltung bei der Überprüfung unternehmerischer Entscheidungen deutet eher auf das Gegenteil hin. Der Verf. will nur betonen, dass es bei Bildung dogmatischer Systeme vorzugswürdig ist, Begriffe zu wählen, die nicht emotional aufgeladen sind. 186 Lutter AcP 180 (1980), 84, 105.  Krit. zum rechtsethischen Verständnis der Treuepflicht auch Roth/Altmeppen GmbHG §  47 Rn.  79.  Vgl. zudem Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 292 Fn. 378. Deutlich ferner Flume, BGB AT I/2, S. 212: „Die Begriffe der Treue oder der ‚Verantwortungsethik‘ sind zu hoch gegriffen und sind zu sehr an dem Urteil über das subjektive Verhalten des oder der das Mehrheitsstimmrecht Ausübenden orientiert.“ 187 S. schon § 17 IV. 553

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

VI. Gerichtliches Prüfungsprogramm 1. Verhältnismäßigkeitsprüfung im Kapitalgesellschaftsrecht Vorstehend wurde herausgearbeitet, dass ein einheitlicher Treuepflichttatbestand und eine echte Beschlusskontrolle gegenüber dem Konzept der herrschenden Auffassung vorzugswürdig sind. Die Unterschiede in der dogmatischen Einordnung der treuepflichtgestützten Willensbildungskontrolle dürfen indes nicht den gemeinsamen Grundgedanken des Loyalitätsgebots verdecken. Die Gesellschafter sind verpflichtet, die widerstreitenden Interessen abzuwägen.188 Wird ein Beschluss unter Berufung auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht angegriffen, prüft das Gericht, ob die betroffenen Belange in die Abwägung einbezogen und im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz in einen Ausgleich gebracht wurden. Um die materielle Beschlusskontrolle operabel zu machen, ist an die zutref­ fenden Vorarbeiten der Rechtsprechung und des Schrifttums im Kapital­ gesellschaftsrecht anzuknüpfen, die auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ­hinauslaufen.189 Danach hält ein Beschluss unter vier Voraussetzungen der Abwägungskontrolle stand.190 Der Beschlussgegenstand muss auf einen legitimen Zweck gerichtet sein. Zudem muss die beschlossene Maßnahme für die Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sein. An der Erforderlichkeit fehlt es, wenn dasselbe Ziel mit weniger einschneidenden Instrumenten erreicht werden kann. Schließlich muss die Maßnahme angemessen sein. Dies bedeutet, dass die Eingriffe in die Belange der unterlegenen Gesellschaften nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Vorteilen stehen dürfen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).191

188 Zur Bedeutung der Abwägung für die Treuepflicht s. bereits Stimpel, Rechtsfortbildung, S. 15, 18. Gegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung dezidiert Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 264 ff. 189 Der Vorteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt darin, dass sie den Umgang mit zivilrechtlichen Generalklauseln strukturiert, s. Tischbirek JZ 2018, 421, 429. 190 Zu diesem Prüfungsprogramm etwa C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 57; T. Raiser in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 14 Rn. 88. 191 Wurde der Antrag abgelehnt und erhebt ein Gesellschafter eine positive Beschlussfeststellungsklage, ist in einem ersten Schritt die Verhältnismäßigkeit der Ablehnung zu prüfen. Ist die Ablehnung nicht zu beanstanden, bleibt der negative Beschluss wirksam und die Klage hat keinen Erfolg. Erweist sich der negative Beschluss als unverhältnismäßig (etwa weil die fehlende Umsetzung der Maßnahme einen Gesellschafter besonders stark trifft, ohne dass dafür ein triftiger Grund besteht), ist er wegen eines Treuepflichtverstoßes fehlerhaft. In diesem Fall ist in einem zweiten 554

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Gerichtliches Prüfungsprogramm

2. Verhältnismäßigkeitsprüfung im Personengesellschaftsrecht Dieses Prüfungsprogramm wurde in erster Linie für das Kapitalgesellschaftsrecht entwickelt, es lässt sich aber auch im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle im Personengesellschaftsrecht aufgreifen.192 Erste Anzeichen für eine solche Angleichung sind in den in § 17 III 3 skizzierten Entscheidungen des BGH zu finden. Nach der Aufgabe des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Relativierung der Kernbereichslehre prüft der II. Zivilsenat die Wirksamkeit der Mehrheitsbeschlüsse zweistufig.193 Auf der ersten Stufe geht er der Frage nach, ob der Beschluss durch eine gesellschaftsvertragliche Mehrheitsklausel formell legitimiert ist. Auf der zweiten Stufe folgt die inhaltliche Beschlusskontrolle am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht. Greift der Beschluss in die Rechte des Gesellschafters ein, prüft der II. Zivilsenat zunächst, ob der Gesellschafter dem Eingriff (antizipiert) im Rahmen des Vertragsschlusses oder der Beschlussfassung zugestimmt hat. Ist dies nicht der Fall, fragt der BGH, ob der Gesellschafter zur Zustimmung verpflichtet war, weil der Beschluss im Interesse der Gesellschaft geboten und für den Gesellschafter zumutbar ist. Die Vorgehensweise des BGH hält namentlich Carsten Schäfer für systematisch fragwürdig. Der II. Zivilsenat fasse auf der zweiten Prüfungsstufe die treuepflichtgestützte Inhaltskontrolle des Beschlusses und die Frage, ob der Gesellschafter in einen Eingriff in seine individuellen Rechtspositionen zugestimmt habe, zu Unrecht zu einem einheitlichen Prüfungspunkt zusammen. Diese Probleme seien aber unterschiedlich gelagert, so dass eine dreistufige Prüfung vorzugswürdig sei. Auf der ersten Stufe werde die formelle Legitimation des Beschlusses durch eine Mehrheitsklausel kontrolliert. Auf der zweiten Stufe gehe es um den Individualschutz. Die Prüfung beziehe sich auf die Frage, ob der Gesellschafter einem Eingriff in seine individuellen Rechte (antizipiert) zugestimmt hat. Auf der dritten Stufe erfolge schließlich die materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht.194 Schritt zu prüfen, ob der vom Kläger verfolgte Zweck allein durch die beantragte Maßnahme zu erreichen ist. 192 Für einen Gleichlauf zwischen Kapital- und Personengesellschaftsrecht im Rahmen der Beschlusskontrolle etwa Hüffer ZHR 151 (1987), 396, 407; ders., FS Steindorff, S. 59, 78. S. ferner Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 948 ff.; C. Schäfer ZGR 2013, 237, 266. Krit. aber Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 460 ff. 193 Zu dieser „Zweistufenlehre“ s. etwa BGHZ 203, 77 Rn. 11 ff. = NJW 2015, 859; Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 119 Rn. 29b; W. Goette/M. Goette DStR 2016, 74, 77 f. 194 C. Schäfer ZGR 2009, 768, 775 ff.; ders. ZGR 2013, 237, 248 f.; ders., FS Bergmann, S.  617, 621  f. S.  ferner Heckschen/D. Bachmann NZG 2015, 531, 535; Holler ZIP 555

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Beide Konzepte gehen zutreffend davon aus, dass eine allgemein gefasste Mehrheitsklausel die formelle Legitimation für einen Mehrheitsbeschluss schafft195 und dass weitere Schutzvorkehrungen erforderlich sind, um ungerechtfertigte Eingriffe der Mehrheit in die Rechtspositionen der Minderheit zu unterbinden. Sieht man in der mitgliedschaftlichen Treuepflicht ein rechtsformübergreifendes Institut des Gesellschaftsrechts, spricht viel dafür, sich von der Kernbereichslehre sowie den absolut unverzichtbaren und relativ unentziehbaren Mitgliedschaftsrechte als Schranken der Mehrheitsmacht zu verabschieden.196 Zunächst leuchtet die Kategorie der unverzichtbaren Mitgliedschaftsrechte im Kontext der Beschlusskontrolle nicht ein.197 Wenn ein Gesellschafter selbst seine Mitgliedschaft aus wichtigem Grund verlieren kann,198 ist nicht einzuse2010, 1678, 1681; K. Schmidt ZIP 2009, 737, 738  ff.; J. Weber ZfPW 2015, 123, 127.  Für ein Vier-Stufen-Konzept Dettke, Gewinnthesaurierung, S.  131  ff., die auf der ersten Stufe einen Eingriff in unverzichtbare Mitgliedschaftsrechte prüfen will, der zur Sittenwidrigkeit der Mehrheitsklausel führen soll (S. 117 f.). Es wird sogleich erläutert, dass es der Kategorie der unverzichtbaren Rechte nicht bedarf. 195 Umstritten ist freilich, ob sich eine solche Klausel ohne weiteres auf Vertragsänderungen erstreckt. Bejahend Caliebe, Diskussionsbericht bei Otte VGR 2016, S. 130; Wertenbruch in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 637, 653. Strenger aber C. Schäfer NZG 2014, 1401, 1403; ders., FS Bergmann, S. 617, 619 f. 196 Dies gilt aber nicht für das Belastungsverbot, das als gesetzlich verankerter, allgemeiner Grundsatz des Gesellschaftsrecht (s. § 707 BGB, § 53 Abs. 3 GmbHG, § 54 Abs.  1, §  180 Abs.  1 AktG) mehrheitsfest ist. Ein Gesellschafter kann nicht qua Mehrheitsbeschlusses zur Erbringung zusätzlicher Beiträge verpflichtet werden. Eine solche Pflicht setzt eine (ggf. antizipierte) Zustimmung des Gesellschafters ­voraus. Zu den Einzelheiten BGHZ 183, 1 Rn. 15 ff. = NJW 2010, 65; C. Schäfer in MüKo­BGB § 707 Rn. 10 f.; K. Schmidt ZHR 158 (1994), 205, 225 ff. Im GmbH-Recht etwa Harbarth in MüKoGmbHG § 53 Rn. 129 f. 197 Im Ergebnis ebenso T. Seidel/Wolf BB 2015, 2563.  Dass der BGH selbst an dieser Kategorie zweifelt, wird in BGHZ 203, 77 Rn. 19 = NJW 2015, 859 deutlich (so auch die Deutung von Haas in Röhricht/von Westphalen/Haas HGB § 119 Rn. 20b; Kleindiek GmbHR 2017, 674, 675; T. Seidel/Wolf BB 2015, 2563, 2564). Für die Beibehaltung dieser Kategorie aber die ganz hM, s. nur Böttcher in BeckOGK HGB §  119 Rn.  123  f.; Schöne in BeckOK BGB §  709 Rn.  42; Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 112 ff., 131; Hermanns ZGR 1996, 103, 109 f.; Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 938; C. Schäfer, FS Bergmann, S. 617, 622 ff.; Schiffer BB 2015, 584, 585 f.; J. Weber ZfPW 2015, 123, 127; Weitemeyer, FS Kreutz, S. 905, 915 f.; Wertenbruch DB 2014, 2875, 2880. Zu den dogmatischen Begründungsproblemen Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 505 ff. 198 Schöne ZIP 2015, 501, 506 weist darauf hin, dass der Erhalt der Mitgliedschaft nicht zum Kernbereich der Mitgliedschaft zählt (freilich ohne die Kategorien der unver556

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Gerichtliches Prüfungsprogramm

hen, wieso seine Rechte, die aus der Mitgliedschaft resultieren, ausnahmslos nicht qua Mehrheitsbeschluss eingeschränkt oder entzogen werden können. Die Schwierigkeit liegt darin, die Voraussetzungen zu formulieren, unter denen ein Eingriff in die „unverzichtbaren“ Rechte gerechtfertigt ist. Diese Frage bedarf einer eigenständigen Untersuchung, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Es sei nur bemerkt, dass die Hürden an einen Eingriff in die „unverzichtbaren“ Rechte ähnlich hoch sein müssen wie an einen Ausschluss aus wichtigem Grund. Da ein Ausschluss eine grob fahrlässige oder vorsätzliche Verletzung der wesentlichen Gesellschafterpflichten voraussetzt,199 wird ein gerechtfertigter Eingriff in die „unverzichtbaren“ Rechte durch einen Mehrheitsbeschluss nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht kommen. Zu denken ist etwa an einen Fall, in dem einem Gesellschafter die Teilnahme an einer Gesellschafterversammlung aus wichtigem Grund versagt wird. Obwohl das Teilnahmerecht zu den „unverzichtbaren“ Mitgliedschaftsrechten zählt,200 wird ein solcher Ausschluss für zulässig erachtet.201 Freilich ist danach zu differenzieren, ob der Gesellschafter von einer bestimmten Versammlung ausgeschlossen wird oder ob sich der Ausschluss generell auf das Teilnahmerecht bezieht. Ein punktueller Ausschluss wird eher zu rechtfertigen sein als ein Entzug des Teilnahmerechts.202 Überdies sind der Kernbereich der Mitgliedschaft und die „relativ unent­ ziehbaren“ Rechte als eigenständige dogmatische Kategorien überflüssig.203 Sie zichtbaren Rechte und des Kernbereichs in Frage zu stellen). Zum Ausschluss der Gesellschafter s. bereits § 2 IV 3 b aa. 199 S. bereits § 2 IV 3 b aa. 200 Enzinger in MüKoHGB § 119 Rn. 68; Freitag in EBJS HGB § 119 Rn. 7; Wertenbruch DB 2014, 2875, 2880. 201 S. Wertenbruch DB 2014, 2875, 2880. 202 In diesem Sinne wohl Oetker/Lieder HGB §  119 Rn.  56, der nur den dauerhaften und vollständigen Ausschluss des Teilnahmerechts für unzulässig hält. Ähnlich ist die Lage, wenn ein Mehrheitsbeschluss in ein Sonderrecht im Sinne des § 35 BGB eingreift. Ob ein Sonderrecht aus wichtigem Grund entzogen werden kann, ist umstritten, aber wohl zu bejahen (für die Möglichkeit eines Entzugs etwa Leuschner in MüKoBGB § 35 Rn. 13; dagegen etwa Könen in BeckOGK BGB § 35 Rn. 39). Dass der Sonderrechtsberechtigte im Einzelfall wegen Loyalitätspflichten auf die Ausübung seines Rechts verzichten muss, ist hingegen allg. anerkannt (Könen in Beck­ OGK BGB § 35 Rn. 40; Leuschner in MüKoBGB § 35 Rn. 14). Der generelle Entzug des Sonderrechts ist an strengere Voraussetzungen geknüpft als die punktuelle Ausübungsbeschränkung. 203 Die Aufgabe der Kernbereichslehre ist insb. dann konsequent, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung im Kapitalgesellschaftsrecht für überflüssig hält. Bei Lichte besehen sind die Kernbereichslehre 557

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

verleiten zu begrifflichen Streitigkeiten über die Reichweite der jeweiligen Kategorie204 und verdecken damit den Blick auf die wesentliche Frage: Lässt sich der Beschluss mit dem Gesellschaftsinteresse vereinbaren? Es wurde bereits in § 17 V 2 ausgeführt, dass das Gesellschaftsinteresse ein Resultat der Abwägung zwischen den widerstreitenden Belangen der einzelnen Gesellschafter ist. Deshalb müssen die rechtlichen Positionen, die nach der herkömmlichen Lesart den Kernbereich der Mitgliedschaft ausmachen oder zu den „relativ unentziehbaren“ Rechten gehören, in der Abwägung berücksichtigt werden. Wie in jedem Abwägungsvorgang muss das Gewicht der widerstreitenden Belange bestimmt werden. Je gewichtiger die schutzwürdigen Positionen der Minderheit sind, die durch den Beschluss beeinträchtigt werden, desto beachtlicher müssen die Interessen der Mehrheit sein, die als Rechtfertigungsgrund für den Eingriff aufgeführt werden.205 Eine solche Vorgehensweise ist methodisch ehrlich, weil sie zu einer offenen Auseinandersetzung mit der jeweiligen Interessenlage zwingt. Der Richter muss sich mit dem Beschlussinhalt befassen und darf sich dabei nicht hinter Begrifflichkeiten verstecken.206 Dabei entspricht das richterliche Prüfungsprogramm der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Kapitalgesellschaftsrecht. Das Gericht muss der Frage nachgehen, ob der Beschluss einem legitimen Zweck dient und ob er für die Zweckerreichung geeignet, erforderlich und angemessen ist.207 Freilich spielt eine etwaige Zustimmung des Gesellschafters auch in dem hier vertretenen Konzept der offenen Interessenabwägung weiterhin eine Rolle. Es und der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung strukturell wesensverwandt. Sie reagieren auf einen Eingriff in die Gesellschafterrechte mit einer Intensivierung der gerichtlichen Kontrolle. Die Aufgabe, die Belange der Gesellschafter zu schützen, lässt sich aber treffsicherer mit Hilfe der Treuepflicht und der BJR lösen. Die relativ unentziehbaren Rechte hält offenbar auch J. Weber ZfPW 2015, 123, 127 für überflüssig. 204 So der zutr. Befund bei W. Goette/M. Goette DStR 2016, 74, 77 ff. 205 So wohl auch W. Goette/M. Goette DStR 2016, 74, 80. 206 Für eine offene Interessenabwägung auch Escher-Weingart WM 2016, 1569, 1570; W. Goette/M. Goette DStR 2016, 74, 80; Wertenbruch in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 637, 654. Zu einer offenen Abwägungskontrolle tendiert augenscheinlich der BGH, wenn er prüft, ob der Beschluss im Interesse der Gesellschaft geboten und für den Gesellschafter zumutbar ist, s. BGHZ 203, 77 Rn. 12 = NJW 2015, 859. 207 Zu diesem Prüfungsprogramm etwa Soergel/Hadding/Kießling BGB §  705 Rn.  60; Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 43. Ähnlich Oetker/Lieder HGB § 119 Rn. 63, der statt von Angemessenheit von Zumutbarkeit spricht. Für eine rechtsformübergreifende Angleichung auch Hofmann, Minderheitsschutz, S. 202, der von einer „inhaltlichen Rechtfertigungskontrolle“ spricht. 558

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Gerichtliches Prüfungsprogramm

bedarf nämlich keiner Abwägung zwischen den Interessen der Mehrheit und den schutzwürdigen Belangen des dissentierenden Gesellschafters, wenn dieser dem Eingriff in seine Rechtspositionen (ggf. antizipiert) zugestimmt hat: volenti non fit iniuria.208 Die legitimierende Wirkung der Zustimmung führt freilich nicht dazu, dass der Kernbereich der Mitgliedschaft oder die „relativ unentziehbaren“ Gesellschafterrechte als dogmatische Kategorien wiederaufleben. Vielmehr ist eine materielle Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht nicht erforderlich, wenn der Gesellschafter dem Beschluss zugestimmt hat.209 Gegen die Aufgabe der Kernbereichslehre zugunsten einer treuepflichtgestützten Kontrolle der Mehrheitsbeschlüsse werden im Schrifttum zwei Argumente vorgebracht: die Beweislastverteilung und die Rechtssicherheit. Unter Geltung der Kernbereichslehre musste die Mehrheit darlegen und beweisen, dass ein Eingriff in den Kernbereich der Mitgliedschaft gerechtfertigt war.210 Ersetzt man die Kernbereichslehre durch die treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle und folgt man den allgemeinen Beweislastgrundsätzen, ist die Minderheit gehalten, einen Treuepflichtverstoß der Mehrheit zu beweisen. Daraus wird im Schrifttum gefolgert, dass sich die Beweissituation der Minderheit grundsätzlich verschlechtert habe.211 Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen. Es ist schon zweifelhaft, ob die Aufgabe der Kernbereichslehre zugunsten einer materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht zu Beweislastproblemen führt.212 Die Abwägung zwischen den widerstreitenden Gesellschafterinteressen erfordert kei208 Zu den strengen Anforderungen an eine antizipierte Zustimmung C. Schäfer, FS Bergmann, S. 617, 627 f. 209 AA offenbar Krieger, FS Hommelhoff, S. 593, 600, der eine Treuepflichtverletzung trotz Zustimmung für möglich hält. 210 S. nur Priester NZG 2015, 529, 530 f. 211 Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 43 aE. Für die Darlegungs- und Beweislast der Minderheit auch Kleindiek GmbHR 2017, 674, 675. So auch im Ausgangspunkt Ulmer ZIP 2015, 657, 660, der aber darauf hinweist, dass der BGH etwaige Beweisnöte der Minderheit abgemildert hat, indem er bei einem Eingriff in relativ unentziehbare Rechte regelmäßig einen Treuepflichtverstoß annehmen will (s. BGHZ 179, 13 Rn. 17 = NJW 2009, 669; BGHZ 203, 77 Rn. 12 = NJW 2015, 859; zur Akzentverschiebung in der BGH-Rspr. s. schon § 17 III 3 b); vgl. ferner Heidel in NK-BGB § 709 Rn. 56; Kleindiek GmbHR 2017, 674, 677 f. Zu der Befürchtung, die Aufgabe der Kernbereichslehre führe zu einer Verschlechterung des Minderheitenschutzniveaus, s. § 17 IV 1 mit Nachw. in Fn. 108. 212 Ähnlich im Kontext der Treuepflichtverletzung und des Grundsatzes sachlicher Rechtfertigung im Kapitalgesellschaftsrecht C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 150 f. 559

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

nen Beweis im Sinne einer Aufklärung tatsächlicher Umstände. Vielmehr wird in der Regel feststehen, welchen Zweck die Mehrheit verfolgt und welche Rechtspositionen der Minderheit beeinträchtigt werden. Deshalb wird die Aufgabe des Gerichts nicht in der Sachverhaltsaufklärung, sondern in der rechtlichen Wertung liegen. Vor diesem Hintergrund ist die Minderheit nicht dem Risiko eines non liquet ausgesetzt, das durch Beweisverteilungsregeln zu steuern ist. Die Minderheit ist lediglich gehalten, rechtliche Argumente dafür vorzubringen, wieso der Eingriff der Mehrheit in die schützenswerten Positionen der Minderheit keinem legitimen Zweck dient bzw. nicht geeignet, erforderlich oder angemessen ist. Wie noch in § 18 herausgearbeitet wird, hängt die Verteilung der Argumentationslast davon ab, ob sich die Mehrheit auf die ­Business Judgment Rule berufen kann.213 Schließlich kann die fehlende Rechtssicherheit nicht als ein Argument für die Kernbereichslehre ins Feld geführt werden.214 Der Umstand, dass die richterliche Abwägungskontrolle im Einzelfall zu unberechenbaren Ergebnissen führen kann, ist kein spezifisches Problem der Beschlusskontrolle im Personengesellschaftsrecht. Vielmehr ist die Rechtsunsicherheit dem Umstand geschuldet, dass der Gesetzgeber und die Rechtsprechung im Gesellschaftsrecht durchweg auf Generalklauseln angewiesen sind, weil die Konflikte im Verband nicht in subsumtionsfähige Tatbestände gegossen werden können.215 Wieso für die Beschlusskontrolle im Personengesellschaftsrecht etwas anderes gelten soll, leuchtet nicht ein. Überdies dürfen die Gewinne an Rechtssicherheit, die mit der Kernbereichslehre einhergehen sollen, nicht überbewertet werden. Die Befürworter der Kernbereichslehre räumen ein, dass sich der Kernbereich nicht trennscharf umreißen lässt.216 Zudem kann ein Eingriff in den Kernbereich gerechtfertigt werden, wenn der dissentierende Gesellschafter dem Eingriff zustimmen muss. Die Zustimmungspflicht setzt voraus, dass der Beschluss im Interesse der Gesellschaft geboten und für den Gesellschafter zumutbar ist.217 Dies läuft 213 Speziell zur Darlegungs- und Argumentationslast § 18 VII 2. 214 Zu den krit. Stimmen hinsichtlich des Abwägungskonzepts s. § 17 IV 1 mit Nachw. in Fn. 107. 215 Zu diesem Problem im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse s. bereits §  6 III 2 b und § 17 V 1. 216 Treffend Kleindiek GmbHR 2017, 674, 677: „plakatives Kürzel“. S. auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 496 ff.; W. Goette, FS Sigle, S. 145, 154. 217 Insoweit zutr. Schöne in BeckOK BGB § 709 Rn. 43. Dass ein Eingriff in den Kernbereich unter Rückgriff auf die Zustimmungspflicht des Gesellschafters gerechtfertigt werden kann, hat der BGH bereits in den 1980er und 1990er Jahren anerkannt, s. BGH NJW 1985, 972, 973; BGH NJW 1985, 974 f.; BGH NJW 1995, 194, 195. 560

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Treuepflichten jenseits der Willensbildungskontrolle

auf eine Abwägung zwischen den Interessen der Mehrheit und Minderheit hinaus, die mit denselben Unsicherheiten behaftet ist wie die offene Abwägungskontrolle. Im Hinblick darauf ist die Rechtssicherheit kein Grund, um an der Kernbereichslehre festzuhalten. Vielmehr ist die offene Abwägungskontrolle das methodisch ehrlichere und damit vorzugswürdige Konzept.218

VII. Treuepflichten jenseits der Willensbildungskontrolle 1. Schadensersatzansprüche wegen Treuepflichtverletzung In den vorstehenden Ausführungen wurde vorgeschlagen, im Kontext der ­Beschlusskontrolle die bisherige zweispurige Treuepflichtdogmatik zu vereinfachen und von einem einheitlichen Treupflichttatbestand auszugehen. Zurückgestellt wurde die Frage, wie sich dieser Ansatz jenseits der Willensbildungskontrolle auswirkt, etwa auf etwaige Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der Loyalitätspflicht.219 Ein solcher Anspruch kommt zunächst in Betracht, wenn ein Gesellschafter durch illoyales Verhalten einen Schaden der Gesellschaft verursacht. Diese kann sich beim treuwidrig handelnden Gesellschafter nach § 280 Abs. 1 AktG schadlos halten.220 Umgekehrt kann der Gesellschafter einen Schadensersatzanspruch gegen die Gesellschaft geltend machen, wenn er aufgrund eines Beschlusses, der nicht im Gesellschaftsinteresse liegt, eine Vermögenseinbuße erlitten hat.221 218 Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht eingehend untersucht werden, wie sich die offene Abwägungskontrolle auf die Figur des relativ unwirksamen Beschlusses auswirkt (dazu insb. mit krit. Zungenschlag Ulmer ZIP 2015, 657, 660 ff.). Es spricht viel dafür, dass diese Figur im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht ihre Daseinsberechtigung verloren hat. Steht der Beschluss nicht im Einklang mit dem Gesellschaftswohl, ist er nicht nur gegenüber dem dissentierenden Gesellschafter unwirksam, sondern fehlerhaft und damit grds. nichtig (im Ergebnis ähnlich Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 491 ff.). Die relative Unwirksamkeit des Beschlusses kommt nur in Betracht, wenn die Mehrheit die Beitragspflicht entgegen § 707 BGB erhöhen will und ein Gesellschafter der Erhöhung nicht zustimmt (zur Zustimmungspflicht in Fällen des § 707 BGB s. Fn. 179); für eine Lösung über § 140 BGB aber Ulmer ZIP 2015, 657, 661 f. 219 Ein Anspruch wegen Verletzung der Treuepflichten wird verbreitet bejaht, s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 53a Rn. 28 ff. 220 Zu § 280 Abs. 1 BGB als Anspruchsgrundlage etwa Hüffer/C. Schäfer in Habersack/ Casper/Löbbe GmbHG § 47 Rn. 206. 221 Die Gesellschaft kann wiederum diejenigen Gesellschafter auf Schadensersatz in Anspruch nehmen, auf deren Stimmen der treuwidrige Beschluss beruht. So wird verhindert, dass der geschädigte Gesellschafter anteilig zu der Schadensersatzleistung beiträgt. Es spricht viel dafür, dass der geschädigte Gesellschafter im Wege der 561

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Treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle

Befürwortet man einen einheitlichen Treuepflichttatbestand im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern, können die Gesellschafter untereinander keine Schadensersatzansprüche geltend machen, die auf die horizontale Treuepflicht gestützt sind.222 Vielmehr sind die Haftungsverhältnisse in erster Linie auf die Gesellschaft kanalisiert. Freilich können sich die Gesellschafter auf allgemeine zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen wie § 826 BGB stützen, um gegen Mitgesellschafter vorzugehen. Darin mag bei vordergründiger Betrachtung eine Verschlechterung ihrer materiell-rechtlichen Position liegen, doch zeigt ein näherer Blick auf die Voraussetzungen der treuepflichtgestützten Schadensersatzansprüche, dass sich die Schutzlücken in Grenzen halten. Namentlich bei treuwidriger Stimmausübung kommt eine Schadensersatzhaftung nach herrschender Auffassung nur bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen die Loyalitätspflichten in Betracht.223 Vor diesem Hintergrund dürften Fälle, in denen das Stimmverhalten den Tatbestand einer vorsätzlichen Treuepflichtverletzung, nicht aber die Voraussetzung für eine Haftung wegen sittenwidrig vorsätzlicher Schädigung erfüllt, eher theoretischer Natur sein.224 2. Lösung von „Marktkonflikten“ Die horizontale Treuepflicht wurde schließlich aufgegriffen, um Fälle zu lösen, die Marcus Lutter mit dem Etikett „Marktkonflikte“ versehen hat.225 Als Beispiel mag der AUDI/NSU-Fall aus den 1970er Jahren dienen, in dem die VW AG als Großaktionär der AUDI/NSU AG 15% der Aktien der AUDI/NSU AG von der Israel-British-Bank zu einem Preis erwarb, der deutlich über dem früheren Abfindungsangebot an die außenstehenden Aktionäre und dem Börsenkurs der AUDI/NSU AG lag.226 Lutter schlug seinerzeit vor, die mitgliedschaftactio pro societate gegen den treuwidrig handelnden Gesellschafter vorgehen kann (vgl. Hüffer/C. Schäfer in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 47 Rn. 206). 222 Damit wäre dem Girmes-Urteil die Grundlage entzogen. In diesem Fall wollte sich ein Aktionär für die Entwertung seiner Aktien nach einem gescheiterten Sanierungsversuch schadlos halten. Freilich richtete sich die Klage nicht gegen die op­ ponierenden Aktionäre, sondern gegen einen Stimmrechtsvertreter, der gegen das Sanierungskonzept der Verwaltung abgestimmt hat. Zu den Prozessparteien etwa Schmolke in Gesellschaftsrechts-Geschichten, S. 435, 447. 223 BGHZ 129, 136, 162 ff. = NJW 1995, 1739; Hüffer/J. Koch AktG § 53a Rn. 28; Seibt ZIP 2014, 1909, 1915. 224 In diesem Sinne hat der BGH im Girmes-Urteil ausgeführt, dass die Ansprüche wegen vorsätzlicher Treuepflichtverletzung und aus § 826 BGB häufig nebeneinander bestehen werden, s. BGHZ 129, 136, 164 = NJW 1995, 1739. 225 Vgl. Lutter ZHR 162 (1998), 164, 171. 226 Ausf. zum Sachverhalt etwa Lutter JZ 1976, 225 f. 562

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Treuepflichten jenseits der Willensbildungskontrolle

liche Treuepflicht zu bemühen, um die benachteiligten Aktionäre vor dem Wertverlust zu schützen.227 Ob ein Rückgriff auf die Loyalitätspflicht heutzutage erforderlich ist, erscheint fraglich. Eine Konstellation wie im AUDI/NSUFall lässt sich zum einen mit dem Gleichbehandlungsgebot lösen, zum anderen können die kapitalmarktrechtlichen Pflichten herangezogen werden, um die Belange der außenstehenden Aktionäre zu schützen. Zu verweisen ist etwa auf die Preisregeln in §  31 Abs.  4 und 5 WpÜG, wonach der Preis, den der Bieter an die Aktionäre der Zielgesellschaft im Rahmen einer öffentlichen Übernahme zahlt, nachgebessert werden muss, wenn der Bieter die Aktien der Zielgesellschaft nach der Veröffentlichung des Übernahmeangebots (Parallel­ erwerbe) oder nach dem Ablauf der Annahmefrist (Nacherwerbe) zu einem höheren Preis erwirbt. Greift § 31 Abs. 4 oder 5 WpÜG ein, ist ein zusätzlicher Schutz der Aktionäre qua Treuepflicht obsolet.228

227 Lutter JZ 1976, 225, 229 ff.; ders. JZ 1976, 562 f. 228 Umgekehrt spricht viel dafür, dass bei einer Gestaltung, die nicht von § 31 Abs. 4 und 5 WpÜG erfasst wird, die Treuepflicht nicht benutzt werden kann, um die Wertungen des Übernahmerechts zu umgehen und damit den gesetzgeberischen Willen zu konterkarieren. 563

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§ 18 Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

I. Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­ kontrolle 1. Meinungsstand In § 17 V wurde herausgearbeitet, dass sich die treuepflichtgestützte Willensbildungskontrolle auf den Beschluss als solchen bezieht und dass das Gericht  der Frage nachgeht, ob der Beschluss im Einklang mit dem Gesell­ schaftsinteresse  – verstanden als das Resultat einer Abwägung zwischen widerstreitenden Belangen einzelner Gesellschafter – steht. Die Abwägungskontrolle läuft auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hinaus. Der Beschluss muss einem legitimen Zweck dienen und geeignet, erforderlich sowie angemessen sein. Das so umrissene Prüfungsprogramm sagt noch nichts darüber aus, wer verbindlich festlegen darf, ob der Beschluss dem Gesellschaftswohl entspricht. Die herrschende Auffassung im Kapitalgesellschaftsrecht steht auf dem Standpunkt, dass die Gesellschafter eine Letztentscheidungskompetenz im Rahmen der Interessenabwägung genießen, womit eine gelockerte richterliche Kon­ trolle einhergeht.1 Vor dem UMAG-Zeitalter räumten Rechtsprechung und Schrifttum den Gesellschaftern einen nicht näher definierten Beurteilungsoder Ermessensspielraum ein.2 Begründet wurde dieser Spielraum etwa mit 1 Zur Wechselwirkung zwischen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und der richterlichen Kontrolldichte s. Tischbirek JZ 2018, 421, 429. Vgl. ferner P. Huber, FS M. Schröder, S. 335, 339. 2 Vgl. allg. Henze/Notz in GK-AktG, 4. Aufl., Anh § 53a Rn. 98; Martens, FS GmbHG, S. 607, 628; Zöllner, Schranken, S. 328 f. Im Zusammenhang mit dem Grundsatz sachlicher Rechtfertigung BGHZ 71, 40, 49 f. = NJW 1978, 1316 (freie unternehmerische Verantwortung); OLG Celle GmbHR 2000, 388 (unternehmerische Gestaltungsfreiheit); Hirte, Bezugsrechtsausschluß, S. 223 ff. (in Anlehnung an das Planungsermessen); Liebert, Bezugsrechtsausschluss, S. 94; Nehls, Treuepflicht, S. 117 f.; Schockenhoff, Gesellschaftsinteresse, S.  16  ff.; Tettinger, Bezugsrechtsausschluß, S.  80; Lutter ZGR 1979, 401, 405, 407; Martens ZIP 1992, 1677, 1695; Timm ZHR 153 (1989), 60, 63; Wiedemann ZGR 1980, 147, 157.  So noch heute Drescher in BeckOGK AktG §  243 Rn. 169; Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 285. Für die Treuepflicht Voigt, Haf564

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Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­kontrolle

dem Grundsatz der Verbandsautonomie3 oder mit den Schwierigkeiten, eine Prognoseentscheidung im Rahmen einer gerichtlichen ex-post-Kontrolle auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.4 Unter welchen Voraussetzungen sich die Gesellschafter auf das Ermessen berufen dürfen, ließen die einschlägigen Stellungnahmen meistens offen. Vereinzelt wurde den Gesellschaftern die Freiheit zugestanden, törichte Entscheidungen zu treffen,5 was auf einen bedingungslosen Beurteilungsspielraum und die damit einhergehende extreme Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte hindeutet.6 Ab Mitte der 1990er Jahre lehnten sich einige Stimmen bei der Bestimmung der Ermessensgrenzen an die Business Judgment Rule an7 und bezogen sich zum Teil auf das ARAG/Garmenbeck-Urteil.8 Seit der Kodifizierung der Business Judgment Rule plädieren zahlreiche Autoren dafür,

tung, S. 169 f.; der Sache nach auch Immenga, FS GmbHG, S. 189, 201: Vertretbarkeit. Im Kontext der Treuepflicht bei Geschäftsführungsangelegenheiten auch Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG § 13 Rn. 26, 29a; Michalski/Lieder GmbHG § 13 Rn. 166; Merkt in MüKoGmbHG § 13 Rn. 124; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 13 Rn. 57; Scholz/K. Schmidt GmbHG § 47 Rn. 26, 30 (keine Zweckmäßigkeitskon­ trolle); Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG Anh §  47 Rn.  96; Lutter ZGR 1981, 171, 175; Reichert, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 229, 239 ff. Gegen die „Ermessenskontrolle“ aber Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 590. 3 Schockenhoff, Gesellschaftsinteresse, S. 17 ff. So noch heute Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 70; Köster, Rechtsschutz, S. 48. Der Sache nach auch Weitemeyer, FS Kreutz, S. 905, 921, die eine Übertragung der Letztkontrolle an die Gerichte befürchtet. Ähnlich Martens ZIP 1992, 1677, 1695: „Autonomie unternehmerischer Entscheidungsbefugnis“. S. ferner Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 590: Mehrheitsentscheidungen seien Ausdruck der autonomen Rechtsverfolgung. 4 Vgl. Tettinger, Bezugsrechtsausschluß, S. 80; Martens ZIP 1992, 1677, 1695; Reichert, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 229, 239 f. 5 Flume, BGB AT I/2, S.  212; speziell für Minderheitsaktionäre Flume ZIP 1996, 161, 167. Dagegen Boese, Anwendungsgrenzen, S. 102. 6 In diese Richtung bewegt sich der II. Zivilsenat: „Wie die Interessen der Gesellschaft am besten gewahrt bleiben, haben aber grundsätzlich die Gesellschafter zu beurteilen.“; s. BGH NJW 2016, 2739 Rn. 16. Ähnlich Fastrich in Baumbach/Hueck GmbHG § 13 Rn. 29a. Zurückhaltend abe Reichert, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 229, 242. 7 Boese, Anwendungsgrenzen, S.  97; Paefgen, Entscheidungen, S.  183  f.; Bungert WM 1995, 1, 7 f.; Zöllner AG 2000, 145, 153; ders. AG 2002, 585, 587 f. Nach Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Hofmann, Minderheitsschutz, S. 187. 8 So Boese, Anwendungsgrenzen, S. 96; Lutter ZHR 162 (1998), 164, 170 (Verweis auf ARAG in Fn. 42); Zöllner AG 2002, 585, 587 Fn. 21 aE. 565

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

§  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf Gesellschafterbeschlüsse anzuwenden;9 unumstritten ist dieser Wertungstransfer freilich nicht.10 Im Personengesellschaftsrecht wird die Frage nach den Letztentscheidungskompetenzen im Rahmen der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle nicht gleichermaßen deutlich gestellt. Einige Autoren wollen die Business Judgment Rule auf Gewinnverwendungsbeschlüsse in den Personengesellschaften anwenden.11 Manche räumen den Gesellschaftern im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle ein unternehmerisches Ermessen ein, freilich ohne auf die Ermessensgrenzen näher einzugehen.12 Diese Zurückhaltung dürfte daran liegen, dass die Debatte nach wie vor von Bestimmtheitsgrundsatz und Kernbereichslehre beherrscht ist und das Schrifttum sich damit schwer tut, die Treuepflicht ins Zentrum der materiellen Beschlusskontrolle rücken.13 In der Literatur werden alte Schlachten geschlagen und dadurch die Aufgabe vernachlässigt, der Treuepflicht als Instrument der Beschlusskontrolle schärfere Konturen zu verleihen und das Spannungsverhältnis zwischen der Kontrollkompetenzen der Gerichte und den Spielräumen der Gesellschafter zu beleuchten.14 9 Dafür Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 273 ff.; Wallisch, Entscheidungen, S. 69 ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 163 ff.; Paefgen ZIP 2016, 2293, 2296 f.; Spindler AG 2006, 677, 689. S. außerdem zum Bezugsrechtsausschluss die Nachw. in § 20 III 2 a Fn. 27. Speziell zur Kapitalherabsetzung J. Vetter in MüKoGmbHG Vor § 58 Rn. 62. Speziell zur Gewinnverwendung in der GmbH Priester in MHdB GesR III §  57 Rn. 37. Im Ausgangspunkt auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 258 ff. 10 Vgl. die grundlegende Kritik von Mayer, Beschlusskontrolle, S. 190 f., 243 ff. Gegen die Anwendung der BJR auch Köster, Rechtsschutz, S.  49  ff.; Weißhaupt ZIP 2019, 202, 209 f. (keine Bindung der HV an die BJR). 11 So OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn. 160; Staub/Casper HGB § 167 Rn. 12; Dettke, Gewinnthesaurierung, S.  323  ff.; Paefgen, FS U.H. Schneider, S.  929, 950.  Für Er­ streckung der BJR auf alle Beschlussarten Paefgen ZIP 2016, 2293, 2297. 12 S. OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn. 156 ff. (mit Aussagen zu „rechtsstrukturellen Leitlinien der business judgment rule“ in Rn. 160); Freitag in EBJS HGB § 119 Rn. 35; C. Schäfer ZGR 2013, 237, 266 f. Für die (wohl weitergehende) Freiheit der Gesellschafter, törichte Entscheidungen zu treffen, Altmeppen NJW 2015, 2065, 2071. S. ferner Böttcher in BeckOGK HGB § 119 Rn. 137, der sich an die öffentlich-rechtliche Ermessensfehlerlehre anlehnen möchte und die ARAG-Entscheidung sowie die BJR nur beiläufig in der Fn. 619 erwähnt. 13 Zu dieser Entwicklung s. bereits § 17 III. 14 Als Ausnahme können Risse/Höfling NZG 2017, 1131  ff. genannt werden, deren „Leitplankentheorie“ aber die Verteilung der Letztentscheidungskompetenzen und die damit zusammenhängende Frage nach der richterlichen Prüfungsdichte nicht berücksichtigt. 566

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Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­kontrolle

2. Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung der Gesellschafter Die vorstehend skizzierten Vorschläge gehen in die richtige Richtung. Es leuchtet ein, dass der Grundsatz der Verbandsautonomie und die Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Prognoseentscheidungen eine zu starke Einmischung der Gerichte in die verbandsinternen Entscheidungsprozesse verbieten. Für eine Einschränkung der richterlichen Inhaltsprüfung spricht nicht zuletzt ein Vergleich mit der Kontrolle von Entscheidungen der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder. Die Kompetenz der Geschäftsleitungs- und Aufsichtsorgane, über die Angelegenheiten der Gesellschaft zu bestimmen, lässt sich auf eine Entscheidung der Gesellschafter zurückführen15 und hat damit einen derivativen Charakter. Wenn die Verwaltungsorgane, die für fremde Rechnung tätig sind, über Letztentscheidungsbefugnisse verfügen, müssen Gesellschafter, die über eigene Angelegenheiten bestimmen, erst recht diskretionäre Spielräume genießen, die dem gerichtlichen Zugriff entzogen sind.16 Allerdings darf dieser Befund nicht dazu führen, dass eine Inhaltskontrolle des Beschlusses gänzlich ausbleibt.17 Die mitgliedschaftlichen Treuepflichten, die opportunistisches Verhalten der Gesellschafter verhindern sollen, liefen nämlich leer, wenn die Gerichte nicht prüfen dürften, ob die Gesellschafter ihre Spielräume im Einklang mit dem Gesellschaftswohl ausgenutzt haben.18 Gleichwohl kann die Beschlusskontrolle nicht so weit gehen, dass die Gerichte über die Angelegenheiten der Gesellschaft an Stelle der Gesellschafter entscheiden. Die Herausforderung liegt demnach darin, die Voraussetzungen für die rechtmäßige Ausnutzung der Letztentscheidungskompetenzen zu formu-

15 Zwar wird namentlich der AG-Vorstand nicht unmittelbar von den Aktionären eingesetzt, dennoch üben die Aktionäre einen mittelbaren Einfluss auf die Vorstandsbestellung aus. Sie wählen in der HV den AR (s. § 119 Abs. 1 Nr. 1 AktG), der seinerseits den Vorstand bestellt (s. § 84 Abs. 1 AktG). 16 Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 110; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 275 f. So auch Köster, Rechtsschutz, S. 52 und Mayer, Beschlusskontrolle, S. 190 f., 245 ff., die aber die BJR nicht auf HV-Beschlüsse anwenden wollen. 17 Gegen eine gerichtliche Inhaltskontrolle lässt sich nicht einwenden, dass die Gerichte nicht in der Lage wären, das Gesellschaftswohl zu definieren (in diese Richtung aber Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S.  261). Mit einer solchen Aufgabe sind die Richter auch bei unternehmerischen Entscheidungen der Verwaltungsorgane konfrontiert, wie § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und § 43 Abs. 1 GmbHG belegen (s. dazu bereits § 7 II bis IV). Zur Unterscheidung zwischen positiven und negativen Aussagen im Rahmen der Inhaltskontrolle s. § 18 II Fn. 34. 18 Zutr. Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 107. 567

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

lieren und damit das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Gesellschafter und den Kontrollbefugnissen der Gerichte aufzulösen.19 Ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Gesellschaftsorgane einerseits und dem gerichtlichen Kontrollauftrag andererseits wurde an einer anderen Stelle dieser Untersuchung beleuchtet: bei der Geschäftsleiterkontrolle in der Aktiengesellschaft.20 In § 7 I bis IV und § 8 I wurde herausgearbeitet, dass es nach § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zwar dem Vorstand obliegt, das Gesellschaftswohl zu definieren, diese Befugnis aber ihre Grenze in den Normen findet, die Einfallstore für die gerichtliche Kontrolle sind. Dabei verteilt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG die Definitionskompetenz hinsichtlich des Gesellschaftswohls zwischen dem Vorstand und den Gerichten, indem er festlegt, inwieweit die Gerichte unternehmerische Entscheidungen des Vorstands auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftswohl kontrollieren dürfen. Sind die Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt, so wird die Richtigkeit der Vorstandsentscheidung vermutet und die Gerichte sind nur zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt.21 Ist die Business Judgment Rule nicht einschlägig, wird die gerichtliche Kontrolle intensiviert.22 Über das Vorstandsrecht hinaus ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf andere Rechtsformen und Verwaltungsorgane entsprechend anwendbar.23 3. Prozedurale Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse Eine mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vergleichbare Norm fehlt zwar im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse, im Hinblick auf den rechtsform- und organübergreifenden Charakter der Business Judgment Rule liegt es aber nicht völlig fern, der verbreiteten Auffassung im kapitalgesellschaftsrechtlichen Schrifttum zu 19 Zu diesem Spannungsverhältnis auch Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S.  288; Paefgen ZIP 2016, 2293, 2295. 20 Die Gemeinsamkeiten zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle betont auch zutr. Paefgen ZIP 2016, 2293, 2295. AA Köster, Rechtsschutz, S. 50 f. und Mayer, Beschlusskontrolle, S.  245  ff., die die Vergleichbarkeit der Verwaltungsorgane und Gesellschafter leugnen, dabei aber nicht in Betracht ziehen, dass auch unter den ­Gesellschaftern eine Prinzipal-Agent-Beziehung entstehen kann (s. dazu bereits § 4 V 4). Außerdem liest Mayer § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vornehmlich durch die haftungsrechtliche Brille (S. 191) und unterschätzt damit die Bedeutung der BJR für die Willensbildungskontrolle. Die Vergleichbarkeit bestreitet ferner M. Oltmanns, Geschäftsleiterhaftung, S. 235 ff. (vor Kodifizierung der BJR). 21 S. § 7 V 1. 22 Im Einzelnen § 9. 23 Zur Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im GmbH- und Personengesellschaftsrecht §§ 12, 13. Zur BJR bei Aufsichtsgremien §§ 14-16. 568

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Letztentscheidungskompetenzen bei der Abwägungs­kontrolle

folgen und die Intensität der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht in Anlehnung an die Wertungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu bestimmen. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG beruht auf dem Gedanken, dass die Verwaltungsorgane einen Letztentscheidungsspielraum genießen, wenn sie durch finale Vorgaben gesteuert werden24 und wenn der Adäquanzgedanke gegen die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen auf die Gerichte spricht.25 In einem solchen Fall kontrollieren die Gerichte in erster Linie die Entscheidungsprozedur, namentlich die Aufarbeitung der Informationsgrundlagen und die Freiheit von Sonderinteressen; der Entscheidungsinhalt wird hingegen nur grobmaschig überprüft. Eine intensivere Kontrolle des Entscheidungsinhalts ist nur dann geboten, wenn die Verwaltungsorgane die prozeduralen Vorgaben missachtet haben.26 Auch bei Gesellschafterbeschlüssen ist es denkbar, das Augenmerk der Gerichte in erster Linie auf das Beschlussverfahren zu legen und den Beschlussinhalt einer eingeschränkten Überprüfung zu unterwerfen.27 Die Schwierigkeit liegt darin, die prozeduralen Voraussetzungen herauszuarbeiten, deren Einhaltung eine Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle gebietet. Jedenfalls kann die Prüfungsdichte nicht schon dann reduziert werden, wenn die Gesellschafter die verfahrensrechtlichen Vorgaben, die der Gesetzgeber insbesondere im Kapitalgesellschaftsrecht vorgesehen hat (s. §§  121  ff. AktG, §§  47  ff. GmbHG), beachtet haben. Bei der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle geht es gerade darum, einen Beschluss, der in einem formell einwandfreien Verfahren gefasst wurde, in materieller Hinsicht auf seine Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftswohl zu überprüfen.28 Will man die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle bestimmen, ist nach prozeduralen Kriterien zu suchen, deren Einhaltung die Vermutung trägt, dass der Entscheidungsinhalt dem Gesellschaftswohl entspricht. Dabei wird im Folgenden die vorherrschende These auf den Prüfstand gestellt, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf Gesellschafterbeschlüsse analog angewendet werden 24 Zur Normstruktur als zentralem Kriterium bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vgl. § 8 II 3. 25 Vgl. § 8 II 4. 26 Ausf. § 9 IV. 27 Den Zusammenhang zwischen der materiellen Beschlusskontrolle und der Einhaltung der Entscheidungsprozedur betont insb. Fastrich, Rechtsdenken, S. 45 f. und FS Kreutz, S. 585, 591 ff. (freilich ohne auf die BJR einzugehen). Hierzu auch bereits am Beispiel des Bezugsrechtsausschlusses Lutter ZGR 1979, 401, 407 f. Vgl. ferner zu den Mehrheitsbeschlüssen in Personengesellschaften Leenen, FS Larenz II, S. 371, 380 f. 28 Zu diesem Problem Schockenhoff, Gesellschaftsinteresse, S. 22 f. 569

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

kann und ein Beschluss, der eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat, einer eingeschränkten richterlichen Kontrolle unterliegt, wenn er auf angemessener Informationsgrundlage und frei von Sonderinteressen gefasst wurde. Die Untersuchung wird zeigen, dass die im Kontext der Verwaltungsorgane gewonnenen Erkenntnisse nicht unbesehen auf die kollektive Willensbildung durch die Gesellschafter übertragen werden können. Vielmehr sprechen die Besonderheiten des Gesellschafterbeschlusses dafür, die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu modifizieren. Die Komplexität der Interessenlage in der Beschlusssituation gebietet es, zusätzliche Kriterien heranzuziehen, um die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle zu bestimmen.

II. Drei Stufen der Kontrollintensität Bevor die einzelnen prozeduralen Vorgaben herausgearbeitet werden, ist ein Blick auf die Rechtsfolge der Business Judgment Rule im Kontext der mate­ riellen Beschlusskontrolle zu werfen. Die Autoren, die die analoge Anwendung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf Hauptversammlungsbeschlüsse befürworten,  erwecken den Eindruck, dass zwischen zwei Situationen unterschieden werden kann: Sind die Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt, genießen die Aktionäre einen unternehmerischen Ermessensspielraum. Greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein, entfällt der Ermessensschutz.29 Ein solches zweipoliges System ist übersichtlich, vernachlässigt aber die Komplexität der materiellen Beschlusskontrolle. Im Kontext der Entscheidungen der Verwaltungsorgane wurde herausgearbeitet, dass die Kontrolldogmatik mit der schlichten Unterscheidung zwischen den Ermessensspielräumen und der vollen gerichtlichen Überprüfung nicht auskommt. Vielmehr ist zwischen der Evidenzkontrolle, der Vertretbarkeitskontrolle und der vollen gerichtlichen Kontrolle des Entscheidungsinhalts zu differenzieren. Dabei hängt die richterliche Prüfungsdichte jenseits des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG davon ab, an welchem Tatbestandsmerkmal die Business Judgment Rule scheitert.30 29 Deutlich in diese Richtung Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 177 („vollumfängliche judizielle Kontrolle“); Wallisch, Entscheidungen, S.  258 (inhaltliche Überprüfung). So auch im Ausgangspunkt Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 165 ff. („Der unternehmerische Ermessensspielraum der Aktionäre entfällt …“ und „Neben der Unbefangenheit setzt die business judgement rule … voraus …“), der aber auf S. 219 für eine „Treuepflichtkontrolle mit abgestufter Intensität“ plädiert. Für eine abgestufte Kontrollintensität im Kontext des Bezugsrechtsausschlusses nun aber Schürnbrand/ Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 115. 30 Im Einzelnen § 9.  570

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Drei Stufen der Kontrollintensität

Auch bei der gerichtlichen Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse bietet es sich an, zwischen diesen drei Intensitätsstufen zu unterscheiden. Die Evidenzkontrolle ist geboten, wenn alle Vorgaben der Business Judgment Rule eingehalten wurden, das heißt, wenn der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat und auf angemessener Informationsgrundlage sowie frei von Interessenkonflikten gefasst wurde.31 In einem solchen Fall beschränkt sich die Inhaltskontrolle auf die Frage, ob die Abwägung der widerstreitenden Gesellschafterinteressen offensichtlich misslungen ist.32 Dies ist zu bejahen, wenn der Beschluss evident auf die Verfolgung eines gesellschaftsfremden und damit nicht legitimen Ziels gerichtet ist. Ist der Beschlusszweck legitim, hält der Beschluss der Evidenzkontrolle nur dann nicht stand, wenn es auf der Hand liegt, dass die Gesellschafter denselben Zweck mit einem milderen Mittel erreichen konnten oder dass sie die Belange eines opponierenden Gesellschafters völlig außer Betracht gelassen haben.33 In solchen Fällen ist der Beschluss inhaltlich fehlerhaft, weil die Gesellschafter die Ermessensgrenzen überschritten haben. Einer Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte bedarf es nicht. Scheitert die Anwendung der Business Judgment Rule daran, dass die Gesellschafter keine unternehmerische Entscheidung treffen, dass der Beschluss nicht auf einer angemessenen Informationsgrundlage beruht oder dass ein relevanter Interessenkonflikt dem Ermessensschutz entgegensteht, ist im Einzelfall zu ermitteln, mit welcher Intensität das Gericht den Beschluss daraufhin überprüfen kann, ob er im Einklang mit dem Gesellschaftsinteresse steht.34 31 Für die Evidenzkontrolle auch OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn. 165; Bayer in Lutter/Hommelhoff GmbHG Anh § 47 Rn. 53. Zu Evidenzfällen und § 138 BGB Fastrich, Rechtsdenken, S. 46. Großzügiger wohl Zöllner/Noack in Baumbach/Hueck GmbHG Anh § 47 Rn. 96, die Evidenz nicht für erforderlich halten. 32 Es geht also nicht nur um die Frage, ob der Beschluss im Einklang mit dem Gesellschaftszweck liegt (so aber Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 262). 33 Da nach der hier vertretenen Auffassung ein einheitlicher Treuepflichttatbestand ­vorzugswürdig ist, erübrigt sich die Frage, ob die BJR auch auf die Abwägung zwischen Interessen der Gesellschaft und der Gesellschafter anwendbar ist (dagegen etwa Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 116; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  116; zum Bezugsrechtsausschluss durch den Vorstand bei der Aus­nutzung des ­genehmigten Kapitals auch Mülbert, FS Schwark, S. 553, 557, 565): Das Gesellschafts­ interesse ist das Resultat einer Abwägung zwischen widerstreitenden Belangen einzelner Gesellschafter, so dass es keiner zusätzlichen Abwägung zwischen Gesellschaftsund Gesellschafterinteressen bedarf. 34 Dabei geht es nicht um eine positive Konkretisierung des Verbandszwecks durch die Gerichte (so aber augenscheinlich Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 261 f.), sondern nur um eine „Negativaussage“ (Wandrey, Beschlusskontrolle, S.  162): Die Gerichte 571

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

Eine pauschale „volle gerichtliche Kontrolle“, wie sie augenscheinlich im Schrifttum gefordert wird, wird der Komplexität der Beschlusssituation nicht gerecht. Es sind nämlich Fälle denkbar, in denen die optimalen prozeduralen Bedingungen nicht erfüllt sind, eine volle gerichtliche Kontrolle aber die Verbandsautonomie zu stark einschränken würde. Auf solche Konstellationen wird bei den einzelnen Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eingegangen.

III. Sachlicher Anwendungsbereich der Business Judgment Rule 1. Unternehmerische Entscheidungen der Gesellschafter Will man mit der herrschenden Auffassung § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Rahmen der Beschlusskontrolle heranziehen, fällt der Beschluss nur dann in den sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule, wenn er eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat. Während im Vorstandsund Aufsichtsratsrecht um die Reichweite des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kontrovers gestritten wird,35 beschäftigen sich die einschlägigen Stellungnahmen zur Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse meist nicht mit der Frage, wann die Gesellschafter eine unternehmerische Entscheidung treffen.36 Manche Autoren greifen im Anschluss an die Überlegungen zum Vorstandsrecht die Unterscheidung zwischen unternehmerischen und gebundenen Entscheidungen auf37 und wollen die Business Judgment Rule insbesondere dann nicht anwenden, wenn der Beschluss im Sinne der „Kali und Salz“-Rechtsprechung sachlich gerechtfertigt sein muss.38 Der letztgenannte Vorschlag geht ins Leere, wenn man mit der hier vertretenen Auffassung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung für überholt hält und die mitgliedschaftliche Treuepflicht ins Zentrum der materiellen Beschlusskon­ müssen nur eine Bandbreite von Entscheidungen festlegen, die die Belange der betroffenen Gesellschafter wahren, und kontrollieren, ob der Beschluss innerhalb dieser Bandbreite liegt. S. dazu bereits § 9 IV 2 mit Nachw. in Fn. 56. 35 Zum vielfältigen Meinungsstand s. § 8 II 1.  36 Mit der Definition der unternehmerischen Entscheidung im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse befassen sich nicht: Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  274  ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 165 ff.; Paefgen ZIP 2016, 2293, 2296 ff. 37 S. § 8 II 1 mit Nachw. in Fn. 55. 38 So Wallisch, Entscheidungen, S. 122 ff., insb. S. 128 f. Die hA lehnt eine solche Einschränkung stillschweigend ab und wendet die BJR auch auf Beschlüsse an, die einer sachlichen Rechtfertigung bedürfen; in diesem Sinne wohl auch das Kali und Salz-Urteil, vgl. BGHZ 71, 40, 49 f. = NJW 1978, 1316: freie unternehmerische Verantwortung. Zum Bezugsrechtsausschluss s. noch die Nachw. in § 20 III 2 a Fn. 27. 572

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Sachlicher Anwendungsbereich der Business Judgment Rule

trolle stellt.39 Überprüft man den Gesellschafterbeschluss am Maßstab der Treuepflicht, überrascht es, dass die einschlägigen Stellungnahmen § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG ohne eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Merkmal der „unternehmerischen Entscheidung“ anwenden wollen. Im Vorstandsrecht steht die herrschende Auffassung nämlich auf dem Standpunkt, dass die Treuebindungen der Geschäftsleiter einen Rückgriff auf die Business Judgment Rule verbieten.40 Wendet man § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die materielle Beschlusskontrolle analog an, drängt sich die Frage geradezu auf, welche Besonderheiten der Gesellschafterbeschlüsse es gebieten, den Anwendungsbereich der ­Business Judgment Rule auf Treuepflicht-Sachverhalte zu erstrecken.41 Eine solche Erweiterung ist nach dem hier vertretenen Konzept freilich nicht erforderlich. Es wurde bereits in § 8 II 6 erläutert, dass die organschaftlichen Treuebindungen der Vorstandsmitglieder der Anwendung der Business Judgment Rule nicht entgegenstehen. Vielmehr ist der Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG anhand einer normstrukturellen Analyse zu bestimmen.42 Diese Überlegungen sind auf Entscheidungen der Gesellschafter zu übertragen. Sind die Gesellschafter durch finale Normen gesteuert, ist §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG anwendbar. Bei der Treuepflicht handelt es sich um ein Paradebeispiel für eine finale Regelung.43 Die Gesellschafter sind zur Verfolgung des Gesellschaftsinteresses verpflichtet, ohne dass sie in ein „Wenn-dann“-Schema gepresst werden. Deshalb ist die Anwendung der Business Judgment Rule im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle unbedenklich.44 2. Kontrolldichte bei nicht-unternehmerischen Entscheidungen Treffen die Gesellschafter keine unternehmerischen Entscheidungen, weil sie – was selten der Fall sein dürfte  – konditionale Normen anwenden müssen,45 39 S. § 17 IV 2. 40 Hierzu bereits § 8 II 6 mit Nachw. in Fn. 82. 41 Mehr Problembewusstsein zeigen allerdings Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1183, die im Kontext der Gewinnverwendung in der GmbH die BJR nicht heranziehen wollen, weil der Gesellschafterbeschluss am Maßstab der Treuepflicht zu messen sei, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sich aber auf die Sorgfaltspflicht beziehe. 42 S. dazu § 8 II 3. 43 S. hierzu schon § 6 III 2 b und § 8 II 6. 44 Zum Adäquanzgedanken, das im Recht der Verwaltungsorgane ergänzend herangezogen werden kann (s. § 8 II 4 und § 14 II), s. noch in § 18 IV 4 im Zusammenhang mit der Realstruktur der Gesellschaft. 45 So ist § 254 Abs. 1 AktG eine Konditionalnorm, s. dazu in § 22 IV 1. Als weitere Beispiele mögen die Regelungen über den Gesellschafterausschluss (§§ 737, 723 Abs. 1 573

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

hängt die richterliche Kontrolldichte von der Ausgestaltung der konkreten Regelung ab. Wie bei Entscheidungen der Verwaltungsorgane kommt es darauf an, ob die Norm den Gesellschaftern auf der Tatbestandsebene einen Beurteilungsspielraum oder auf der Rechtsfolgenseite ein Rechtsfolgenermessen gewährt.46 Maßgeblich ist insbesondere, ob die einzelnen Tatbestandsmerkmale finale Züge aufweisen und die Gesellschafter zu einer Abwägung der widerstreitenden Belange zwingen. Auf der Rechtsfolgenseite wird sich aus der Formulierung der Vorschrift ergeben, ob die Gesellschafter eine bestimmte Entscheidung treffen müssen oder aus einer Bandbreite zulässiger Maßnahmen auswählen können. Im letztgenannten Fall genießen sie ein Rechtsfolgenermessen und die richterliche Prüfungsdichte ist eingeschränkt. Die Gerichte sind zu einer Vertretbarkeitskontrolle dahingehend befugt, ob sich der Beschluss mit dem Zweck der angewendeten Regelung vereinbaren lässt.

IV. Informationsgrundlage und Richtigkeitsvermutung 1. Informationsbeschaffung bei Verwaltungsorganen Im Kontext der Verwaltungsorgane setzt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zunächst voraus, dass die Organmitglieder vernünftigerweise davon ausgehen durften, auf angemessener Informationsgrundlage zu entscheiden. Die Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle wird dadurch kompensiert, dass die Gerichte die Informationsbeschaffung durch die Organmitglieder intensiver überprüfen.47 Die Anforderungen an die Informationsversorgung hängen in der Beschluss­ situation maßgeblich von den Mehrheitserfordernissen und der organinternen Arbeitsteilung ab. Bei einem Beschluss, der dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt, müssen alle Organmitglieder auf angemessener Informationsgrundlage abstimmen. Bei einem Mehrheitsbeschluss kommt es darauf an, ob sich die Organmitglieder auf einen „Berichterstatter“ oder einen vorbereitenden Ausschuss verlassen dürfen oder ob jedes einzelne Mitglied zur Informationsbeschaffung berufen ist.48

Satz 3 Nr. 1 BGB, §§ 140, 133 Abs. 2 HGB) oder den Entzug der Geschäftsführungsbefugnis (§§ 712, 715 BGB, §§ 117, 127 HGB) dienen. 46 S. dazu § 9 III. 47 Zu diesem Grundgedanken der BJR s. schon § 8 III. 48 Im Einzelnen § 8 V 4 c und § 14 III 3. 574

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Informationsgrundlage und Richtigkeitsvermutung

2. Interessenabwägung im Rahmen der Informationsbeschaffung Die für die Verwaltungsorgane geltenden Grundsätze können im Ausgangspunkt auf die Gesellschafterbeschlüsse übertragen werden. Haben die Gesellschafter den Beschluss auf angemessener Informationsgrundlage gefasst, spricht dies dafür, dass sie sich mit den vom Beschluss betroffenen Belangen befasst haben. Nur wenn klar ist, welche Interessen durch den Beschluss berührt werden, können die relevanten Informationen identifiziert und ermittelt werden. Ein Teil der Interessenabwägung, die Gegenstand der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht ist, wird also bereits bei Aufarbeitung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen vollzogen. Kontrolliert das Gericht die Angemessenheit der Informationsgrundlage, muss es auch auf die Frage eingehen, ob die abwägungsrelevanten Belange ermittelt wurden. Fällt die Prüfung positiv aus und sind die weiteren prozeduralen Kriterien erfüllt, ist die Vermutung gerechtfertigt, dass der Beschluss dem Gesellschaftswohl entspricht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein Wertungstransfer aus dem Vorstandsrecht nicht immer angezeigt ist. Dies gilt zunächst für die Anforderungen an die Angemessenheit der Information. In § 8 III 1 und § 14 III 1 wurde erläutert, dass diese Anforderungen nicht überzogen werden dürfen. Geht es um den Vorstand, ist insbesondere maßgeblich, dass die Geschäftsleiter häufig unter Zeitdruck entscheiden, so dass eine lückenlose Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen praktisch nicht möglich sein wird; beim Aufsichtsrat spielen die begrenzten Informationsbeschaffungsbefugnisse eine entscheidende Rolle. Diese Überlegungen können namentlich dann nicht auf die Gesellschafterbeschlüsse übertragen werden, wenn der Beschlussgegenstand ein Grundlagengeschäft ist. In einem solchen Fall wird zwar keine lückenlose Informationsbeschaffung erforderlich sein, die Anforderungen an die Gesellschafter werden aber umso höher ausfallen, je mehr Zeit diese für die Beschlussvorbereitung haben und je schwerer der Eingriff in die Gesellschafterinteressen wiegt. Müssen die Gesellschafter aber schnell entscheiden, wie etwa in einer Sanierungssituation, sind die Anforderungen zu reduzieren. 3. Bedeutung der Gesellschafterstruktur Außerdem ist eine Anlehnung an die Überlegungen zur Informationsbeschaffung durch die Verwaltungsorgane lediglich bei Gesellschaften angebracht, deren Struktur mit der eines Verwaltungsorgans vergleichbar ist.49 Nur bei (ge49 Zu weiteren Auswirkungen der Realstruktur der Gesellschaft s. noch § 18 IV 4. 575

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

schlossenen) Gesellschaften mit einer überschaubaren Mitgliederzahl wird man davon ausgehen können, dass die Gesellschafter – ähnlich wie die Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder – in die Informationsbeschaffung involviert sind oder zumindest an der Delegation der Vorbereitungsaufgaben an einen „Berichterstatter“ oder an einen Ausschuss teilnehmen.50 Im letztgenannten Fall ist die materielle Beschlusskontrolle zu lockern, wenn der „Berichterstatter“ vernünftigerweise davon ausgehen durfte, hinreichend informiert zu sein. Die übrigen Gesellschafter dürfen sich auf die Vorarbeiten verlassen. Waren alle Gesellschafter für die Informationsbeschaffung zuständig, ist die Entscheidungsprozedur nur dann optimal, wenn so viele informierte Gesellschafter für den Antrag abgestimmt haben, dass sie den Beschluss alleine tragen könnten.51 Anders ist die Lage in Publikumsgesellschaften oder großen Familienge­ sellschaften. Hier werden die Gesellschafter in der Regel weder in die Entscheidungsvorbereitung einbezogen noch können sie die Aufgabendelegation beeinflussen, so dass die vorstehenden Überlegungen zur Kontrolle der Informationsbeschaffung sich nicht ohne weiteres übertragen lassen. Vielmehr obliegt die Vorbereitung des Beschlusses den Verwaltungsorganen.52 Überdies kann es namentlich in Gesellschaften im Streubesitz vorkommen, dass sich die Kleinanleger mit den Informationen, die die Verwaltung zur Verfügung gestellt hat, nicht vertieft auseinandersetzen, ihre Stimmen aber dennoch für die Beschlussfassung bedeutsam sind. Wie sich die Arbeitsteilung zwischen den Verwaltungsorganen und den Gesellschaftern sowie die rationale Apathie der Anleger auf die Business Judgment Rule auswirken, wird im aktienrechtlichen Schrifttum erörtert. Nach allgemeiner Auffassung setzt die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vo­ raus, dass die Verwaltungsorgane ihren Berichts- und Informationspflichten nachgekommen sind. Ob die einzelnen Aktionäre die Informationen verarbeitet haben, sei dagegen unerheblich. Vielmehr werde ein Beschluss auf angemessener Informationsgrundlage gefasst, wenn die Hauptversammlung einem Beschlussvorschlag der Verwaltung folge und der Vorschlag seinerseits den Vorgaben der Business Judgment Rule genüge.53 50 S. dazu beispielsweise OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn. 164 (zum Gewinnverwendungsbeschluss). 51 Bei einem negativen Beschluss kommt es auf den Informationsstand der Gesellschafter, die gegen den Antrag gestimmt haben. 52 Zur Beschlussvorbereitung durch die Verwaltung im Zusammenhang mit der Inte­ ressenabwägung § 17 V 2 b. 53 Maier, Bezugsrechtsausschluss, S.  112; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  277 Fn. 127; Wallisch, Entscheidungen, S. 261 ff.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 166 f. 576

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Informationsgrundlage und Richtigkeitsvermutung

Diese Argumentation überzeugt. Sie kann über das Aktienrecht hinaus auf Gesellschaften übertragen werden, in denen die Verwaltungsorgane für die Entscheidungsvorbereitung zuständig sind. Es kann sich etwa um Publikumspersonengesellschaften oder große Familiengesellschaften handeln, aber auch um kleine GmbH, deren Geschäftsführer im Vorfeld der Gesellschafterversammlung nach § 51a Abs. 1 GmbHG Auskunft erteilen müssen. Die Verwaltung übernimmt in solchen Gesellschaften die Rolle des „Berichterstatters“, auf dessen Vorarbeiten sich die Gesellschafter – wie bei der Arbeitsteilung in Gesellschaften mit einem überschaubaren Mitgliederkreis  – verlassen dürfen. Hat die Verwaltung für eine angemessene Informationsgrundlage gesorgt – insbesondere indem sie ihren Berichtspflichten nachgekommen ist54 und etwaige Fragen der Gesellschafter ordnungsgemäß beantwortet hat – und folgt die Gesellschaftermehrheit ihrem Vorschlag, kompensiert die richterliche Überprüfung der Entscheidungsvorbereitung die Lockerung der Inhaltskontrolle.55 4. Folgen unzureichender Information Durften die Gesellschafter nicht davon ausgehen, einen Beschluss auf angemessener Informationsgrundlage zu fassen, stellt sich die Frage, mit welcher Intensität der Beschluss inhaltlich überprüft werden darf. Im Ausgangspunkt bietet es sich an, jene Grundsätze heranzuziehen, die im Zusammenhang mit den Verwaltungsbeschlüssen aufgestellt wurden. Haben die Verwaltungsorgane die Entscheidungsgrundlagen unzureichend aufgearbeitet, ist der Beschluss nicht fehlerhaft, sondern das Gericht darf ihn inhaltlich auf Vertretbarkeit überprüfen.56 Diese Regel lässt sich auf die Gesellschafterbeschlüsse jedenfalls dann übertragen, wenn die Gesellschafter vergleichbar mit den Mitgliedern der Verwaltungsorgane in die Informationsbeschaffung involviert sind. In einem solchen Fall führt die Nachlässigkeit bei der Beschlussvorbereitung dazu, dass die Gerichte zu einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle befugt sind. Anders sind die Auswirkungen der unzureichenden Information zu beurteilen, wenn die Verwaltungsorgane für die Aufarbeitung der EntscheidungsVor UMAG bereits Paefgen, Entscheidungen, S. 233 ff. (ohne auf die rationale Apathie einzugehen). AA Köster, Rechtsschutz, S. 53 f. 54 Aufschlussreiche Aufzählung der Berichtspflichten bei Paefgen, Entscheidungen, S. 233 ff.; Wallisch, Entscheidungen, S. 261. 55 Bei einem negativen Beschluss kommt es darauf an, ob die Gesellschafter, die gegen den Beschlussvorschlag der Verwaltung abgestimmt haben, ihrerseits behaupten dürfen, dass sie sich bei der Abstimmung hinreichend informiert haben. 56 S. § 9 IV 4. 577

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

grundlagen zuständig sind, was namentlich im Aktienrecht der Fall ist. Sorgen die Verwaltungsorgane nicht für eine ausreichende Informationsversorgung der Aktionäre – sei es, weil die Berichte den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen, sei es, weil der Vorstand seinen Auskunftspflichten aus §  131 AktG nicht nachkommt – erhöht sich nicht nur die gerichtliche Kontrolldichte hinsichtlich des Beschlussinhalts. Vielmehr leidet der Beschluss an einem Verfahrensfehler und ist schon deshalb anfechtbar.57 Die Versuche des Schrifttums, die Folgen der unzureichenden Information der Hauptversammlung durch die Anwendung der Business Judgment Rule einzudämmen,58 lassen sich mit dem geltenden Recht nicht vereinbaren. Es entspricht der nahezu einhelligen Auffassung, dass die unzureichende Information der Aktionäre einen Verfahrensfehler nach sich zieht,59 dessen Folgen über § 243 Abs. 4 AktG eingeschränkt werden können.60 In einem solchen System kann §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG nicht aufgegriffen werden, um die Auswirkungen eines Verfahrensfehlers für unbeachtlich zu erklären.61

V. Interessenkonflikte 1. Grundgedanken bei Kontrolle der Verwaltungsbeschlüsse In seinem originären Anwendungsbereich setzt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG neben der angemessenen Informationsgrundlage voraus, dass die Organmitglieder unbefangen sind. Dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal liegt der Gedanke zugrunde, dass Organmitglieder, die von Sonderinteressen beeinflusst sind, das Gesellschaftswohl aus dem Auge verlieren und nachlässig entscheiden können.62 Diese Gefahr führt dazu, dass die Entscheidung nicht unter optimalen Bedingungen zustande kommt, was eine Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle gebietet. Ein Interessenkonflikt, der den Zugang zum 57 Dies gilt auch für die GmbH, deren Geschäftsführer seinen Informationspflichten aus § 51a Abs. 1 GmbHG nicht nachgekommen ist und der Verstoß für den Beschluss relevant war, s. statt vieler Wertenbruch in MüKoGmbHG Anh § 47 Rn. 168 f. 58 Grundlegend Paefgen, Entscheidungen, S. 237 ff. (vor Einführung des § 243 Abs. 4 AktG in der derzeit geltenden Fassung). Dem unter der geltenden Rechtslage folgend Wallisch, Entscheidungen, S. 263 ff. 59 Statt vieler C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 38 ff. 60 Zur dogmatischen Einordnung des § 243 Abs. 4 AktG als Einschränkung des Anfechtungsrechts s. nur C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 114. 61 So auch im Ergebnis Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 167 Fn. 176. Zu den Folgen unzureichender Information im Zusammenhang mit dem Bezugsrechtsausschluss s. auch Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 115 Fn. 359. 62 Zur Herleitung und Teleologie dieses Tatbestandsmerkmals § 8 IV 1. 578

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Interessenkonflikte

sicheren Hafen versperrt, liegt nach der hier vertreten Ansicht vor, wenn sich ein Organmitglied in einer Situation befindet, die in eine Treuepflichtverletzung umschlagen kann.63 Das Risiko einer pflichtwidrigen Entscheidung, die zur Erhöhung der gerichtlichen Prüfungsdichte führt, besteht auch dann, wenn die Organentscheidung die Interessen einer nahestehenden Person des Organmitglieds berührt.64 Damit das unbestimmte Tatbestandsmerkmal nicht ausufert, schließen nur relevante Interessenkonflikte § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aus.65 Speziell bei Aufsichtsratsmitgliedern ist die Relevanzschwelle wegen der aktienrechtlichen Konflikttoleranz anzuheben.66 Außerdem scheidet die Anwendung der Business Judgment Rule nur dann aus, wenn das Organmitglied den konfliktbegründenden Sachverhalt kennen muss.67 Dem Wortlaut nach ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Entscheidungen der einzelnen Organmitglieder zugeschnitten. Geht es um die Auswirkungen der Sonder­ interessen auf die Intensität der Beschlusskontrolle, ist maßgeblich, ob das befangene Mitglied an der Beratung und Abstimmung teilgenommen hat. Beteiligt sich das Mitglied an der Entscheidungsfindung, erhöht sich das Risiko, dass seine Kollegen in seiner Anwesenheit und in Kenntnis seiner Sonderinteressen das Gesellschaftswohl aus dem Auge verlieren, was der Richtigkeitsvermutung die Grundlage entzieht und eine Erhöhung der richterlichen Kontrolldichte gebietet.68 2. Bisherige Ansätze Das aktienrechtliche Schrifttum, das für die analoge Anwendung des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Hauptversammlungsbeschlüsse plädiert, hält die Freiheit von Sonderinteressen auch in diesem Kontext für eine Voraussetzung für den Schutz des Beschlusses durch die Business Judgment Rule.69 Dabei wird 63 Zur Schwierigkeiten bei der Definition eines Interessenkonflikts § 8 IV 2. 64 Vgl. § 8 IV 3. 65 Zur Bestimmung der Relevanzschwelle § 8 IV 4 66 § 14 IV 1 a. 67 Zur subjektiven Seite des Konfliktbegriffs § 8 IV 5. 68 Ausf. § 8 V 4 b. 69 Vereinzelt wird allerdings behauptet, dass der Interessenkonflikt als Element der BJR bei der Beschlusskontrolle seinen spezifischen Standort in Stimm- und Sondervorteilsverbot (§§  136, 243 Abs.  2 AktG) habe, aus dem er nicht herausgelöst werden könne (so Mayer, Beschlusskontrolle, S. 191). Damit wird nicht hinreichend beachtet, dass auch Vorstands- und AR-Mitglieder – auf die § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zweifelslos anwendbar ist – einem Stimmverbot analog § 34 BGB unterliegen können (statt vieler Leuschner in MüKoBGB § 34 Rn. 2) und organschaftliche Treuebindungen beachten 579

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mitunter der Eindruck erweckt, dass die für den Interessenkonflikt der Mitglieder von Verwaltungsorganen entwickelten Grundsätze cum grano salis auf die Aktionäre übertragen werden können.70 So vertritt Kai Wallisch einen weiten Konfliktbegriff, der an die Überlegungen zum Vorstandsrecht angelehnt ist. Er will die Business Judgment Rule nicht anwenden, wenn die Aktionärsmehrheit mit der Beschlussfassung Eigen- oder Drittinteressen verfolgt.71 Andere Autoren sind augenscheinlich restriktiver und stellen darauf ab, ob der Beschluss einen Sondervorteil für einzelne Gesellschafter oder nahe stehenden Dritte vorsieht und die Stimmen gerade dieser Gesellschafter das Beschlussergebnis tragen.72 Unabhängig davon, ob in den Stellungnahmen ein weiter oder ein enger Konfliktbegriff befürwortet wird, soll die Befangenheit der Gesellschafter zu einer vollen gerichtlichen Kontrolle des Beschlusses auf die Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftsinteresse führen.73 Diese Ansätze haben zwei Schwächen. Sie sind im „Alles-oder-nichts“-Prinzip verhaftet und berücksichtigen nicht, dass sich die Gesellschafter in der Beschlusssituation in einem latenten Interessenkonflikt befinden. Es wurde bereits im Kontext der Verwaltungsentscheidungen herausgearbeitet, dass die Behandlung von Interessenkonflikten nach dem „Alles-oder-nichts“-Prinzip nicht überzeugt. Vielmehr ist es vorzugswürdig, die Intensität der richterlichen Kontrolle anhand von zwei Kriterien auszudifferenzieren, wenn ein Verwaltungsbeschluss unter Einfluss von Sonderinteressen der Organmitglieder zustande gekommen ist.74 Zum einen ist die Konfliktschwere maßgeblich. Zum anderen kommt es darauf an, inwieweit das Organmitglied erkennen konnte, dass es sich in einer Situation befindet, die auf der juristischen Ebene als konmüssen, die ähnliche Probleme adressieren wie das Sondernachteilsverbot. Dennoch ist die Freiheit von Sonderinteressen im originären Anwendungsbereich der BJR eine Voraussetzung für die Lockerung der richterlichen Kontrolldichte. 70 So schon vor Kodifizierung der BJR Paefgen, Entscheidungen, S.  184  ff., der nicht deutlich zwischen den Verwaltungsorganen und Aktionären trennt. S. ferner Paefgen ZIP 2016, 2293, 2297 f. 71 Wallisch, Entscheidungen, S. 258 f. In diese Richtung wohl auch Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 112. 72 Vgl. Wandrey, Beschlusskontrolle, S.  166.  So auch für den Fall, dass die Ungleich­ behandlung in einem Sondervorteil besteht Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 277. Vgl. ferner Hofmann, Minderheitsschutz, S. 187. Unklar Zöllner AG 2002, 585, 587: „Entscheidung im spezifischen Interesse der Aktionärsmehrheit“ [Hervorhebung des Verf.]. 73 Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 277; Wallisch, Entscheidungen, S. 258; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 165 f. S. auch schon § 18 IV 1. 74 Hierzu § 9 IV 3. 580

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Interessenkonflikte

fliktträchtig eingeordnet wird.75 Diese Ausdifferenzierung ist dem Umstand geschuldet, dass Interessenkonflikte, die die Relevanzschwelle überschreiten, eine unterschiedliche Prägewirkung auf die Entscheidungen der Verwaltungsorgane haben. Die Bedenken gegen die „Alles-oder-nichts“-Lösung gelten umso mehr für die Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse. Dass die Interessenkonflikte der Gesellschafter nicht zum völligen Wegfall der Entscheidungsspielräume führen können, folgt namentlich aus der unterschiedlichen Position der Verwaltungsorgane und der Gesellschafter. Der Handlungsauftrag an die Verwaltungsorgane und ihre Mitglieder ist klar formuliert. Als fremdnützige Geschäftsbesorger sollen sie die Interessen ihrer Prinzipale verfolgen76 und die Eigeninteressen zurückstellen. Aus der Stellung der Verwaltung als Geschäftsbesorger folgt der Gedanke, dass etwaige Sonderinteressen eine Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle gebieten.77 Die Stellung der Gesellschafter ist in einer Beschlusssituation anders. Sie entscheiden immer über eigene Angelegenheiten und sind deshalb latent durch – mehr oder weniger stark ausgeprägte – Sonderinteressen beeinflusst.78 Bis zu der Grenze der Stimmverbote nimmt das Gesellschaftsrecht die Beteiligung der Gesellschafter an der verbandsinternen Willensbildung trotz der immanenten Interessenkonflikte hin. Diese „Konflikttoleranz“ des Gesetzes muss – ähnlich wie im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft79 – bei der Befangenheitsprüfung berücksichtigt werden. Wollte man einen Gesellschafterbeschluss schon dann aus dem sicheren Hafen konsequent verbannen, wenn sich die beschlusstragenden Gesellschafter in einem Interessenkonflikt befinden, wären die Gerichte zu einer uneingeschränkten Inhaltskontrolle befugt. Damit wäre aber der Grundsatz der Verbandsautonomie faktisch ausgehöhlt. Die Gesellschafter wären nicht mehr berechtigt, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, obwohl sie – wie schon in § 18 I 2 erläutert – tendenziell mehr Gestaltungsspielräume haben sollten als die Verwaltungsorgane. Aus diesem 75 Zur Unterscheidung zwischen der Erkennbarkeit der konfliktbegründenden Umstände und der juristischen Wertung § 8 IV 5. 76 Folgt man im Aktienrecht dem stakeholder-value-Ansatz, kommen freilich die Belange von weiteren Interessengruppen hinzu, s. § 8 I 1. 77 Vgl. bereits § 8 IV 1. 78 Zu diesem latenten Interessenkonflikt anschaulich Bieder, Verhältnismäßigkeitsprinzip, S.  288.  S.  ferner Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S.  261 Fn.  232; Köster, Rechtsschutz, S. 52 f. Speziell zu Gewinnverwendungsbeschlüssen Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 530: Konflikt zwischen dem Ausschüttungs- und Thesaurierungsinteresse sei von vornherein in der Mitgliedschaft angelegt. 79 S. § 14 IV 1. 581

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Grund kann der im Kontext der Verwaltungsentscheidungen entwickelte Konfliktbegriff nicht unbesehen auf die Gesellschafterbeschlüsse übertragen werden.80 3. Qualifizierte Interessenkonflikte a) Sondervorteile als Ermessensschranke Im Hinblick auf die latente Befangenheit der Gesellschafter geht es deshalb jedenfalls zu weit, mit Kai Wallisch die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schon dann entfallen zu lassen, wenn die Gesellschafter Eigen- oder Drittinteressen verfolgen. In Kombination mit dem „Alles-oder-nichts“-Prinzip führt der weite Konfliktbegriff dazu, dass die Gerichte immer zu einer vollständigen Inhaltskontrolle der Gesellschafterbeschlüsse befugt wären, was aber mit dem Grundsatz der Verbandsautonomie nicht in Einklang zu bringen ist. Deshalb besteht die Aufgabe darin, die Anforderungen an den ermessensausschließenden Interessenkonflikt so zu formulieren, dass die Entscheidungskompetenzen der Gesellschafter nicht über Gebühr eingeschränkt sind. Dabei sind Kriterien zu erarbeiten, die eine Aussage darüber ermöglichen, wann die Sonderinteressen die Ermessensspielräume gänzlich ausschließen und wann sie eine Vertretbarkeitskontrolle des Beschlusses gebieten. Als ein erster Anknüpfungspunkt können die Vorschläge von Dirk Verse und Marcus Wandrey dienen, die offenbar von einem engeren Konfliktbegriff ausgehen als Kai Wallisch. Sie stellen darauf ab, ob der Beschluss den Gesellschaftern einen „Sondervorteil“ gewährt. Dieser Begriff legt nahe, dass nicht jedes Eigeninteresse des Gesellschafters zur Intensivierung der Beschlusskon­trolle führen soll. Vielmehr scheint nur ein qualifizierter Interessenkonflikt die ­Business Judgment Rule auszuschließen. Freilich erläutern weder Verse noch Wandrey im Kontext des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wann ein solcher Sondervorteil vorliegt.81 Da sie aber einen terminus technicus wählen, der in § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG verwendet wird, wollen sie augenscheinlich an den Anfechtungsgrund in § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG anknüpfen.82 80 Insoweit zutr. Köster, Rechtsschutz, S. 52 f., der aber die Anwendung der BJR generell ablehnt, statt die Reichweite des Konfliktbegriffs zu justieren. 81 S. aber im Zusammenhang mit der Ungleichbehandlung Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 240: besondere Vorteile, die einzelne Gesellschafter aus einer Maßnahme erzielen, so dass ein Anlass zur Befürchtung besteht, dass bei der Beschlussfassung die Partikularinteressen ausschlaggebend waren. 82 Darauf deutet auch hin, dass Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 166 den Sondervorteil iSd § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG in der Fn. 161 nennt. Verse, Gleichbehandlungsgrund582

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Interessenkonflikte

Die Anknüpfung an § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG geht in die richtige Richtung, weil sie versucht, den Kreis der relevanten Interessenkonflikte mit Hilfe einer gesetzlichen Regelung einzugrenzen. Damit sorgt sie für eine normative Basis bei der Bestimmung der Kontrollintensität. Gleichwohl liegt die Schwäche dieses Ansatzes darin, dass eine subsumtionsfähige Definition eines Sondervorteils nur mit Mühe herausgearbeitet werden kann. Nach einer in Rechtsprechung und Schrifttum gängigen Formel liegt ein Sondervorteil vor, wenn der Aktionär einen Vorteil erlangt, der bei einer Gesamtwürdigung als eine sachwidrige Bevorzugung erscheint, dem Aktionär oder einem Dritten den Vorteilserwerb zu gestatten oder den bereits vollzogenen Erwerb hinzunehmen.83 Einige Autoren stellen ergänzend darauf ab, ob die Bevorzugung mit den Interessen der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre unvereinbar ist.84 Diese Formel provoziert eine Folgefrage: Was macht eine „sachwidrige Bevorzugung“ aus? Die Antwort ist nicht eindeutig. Während manche nach der wirtschaftlichen Rechtfertigung des Vorteils fragen85 oder einen Vergleich mit der (hypothetischen) Position des Vorstands ziehen,86 folgt die herrschende Auffassung einem Vergleichsmarktkonzept. Entscheidend sei, ob der begünstigte Aktionär auf Kosten der Gesellschaft besser gestellt wird als ein anderer Aktionär oder ein vergleichbarer Dritter.87 Dies sei insbesondere der Fall, wenn der betreffende Aktionär eine Leistung der AG ohne eine angemessene Gegenleistung erhält.88

satz, S. 240 betont, dass im Unterschied zu § 243 Abs. 2 AktG unerheblich sei, ob die Entscheidung durch die Verfolgung von Partikularinteressen motiviert gewesen sei; ein Vorsatzerfordernis bestehe nicht. Daraus lässt sich der behutsame Schluss ziehen, dass er den Begriff des Sondervorteils an den objektiven Tatbestand des § 243 Abs. 2 AktG anlehnen will. So wohl auch Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 260 f. 83 S.  nur BGHZ 138, 71, 80  f. = NJW 1998, 2054.  Umfassende Rspr.-Nachweise bei Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 414 Fn. 625. Aus dem Schrifttum statt vieler K. Schmidt in GK-AktG, 4. Aufl., § 243 Rn. 55. 84 Dafür Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 202; Schwab in K. Schmidt/Lutter AktG § 243 Rn. 25. 85 So Hölters/Englisch AktG §  243 Rn.  60; K. Schmidt in GK-AktG, 4.  Aufl., §  243 Rn. 55. Sympathisierend Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 417. 86 Dafür C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 79 (der aber im Ausgangspunkt dem Vergleichsmarktkonzept der hM folgt). Vorsichtig in diese Richtung auch Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 204. 87 Drescher in BeckOGK AktG §  243 Rn.  204; Noack/Zetzsche in KK-AktG §  243 Rn. 418 ff. Vgl. ferner Hölters/Englisch AktG § 243 Rn. 60; C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 79. 88 C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 79. 583

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

Das Vergleichsmarktkonzept der herrschenden Auffassung kann aufgegriffen werden, um Beschlüsse zu identifizieren, die nicht im sicheren Hafen der ­Business Judgment Rule liegen.89 Dieser Ansatz kann auch außerhalb des Aktienrechts fruchtbar gemacht werden. Eine gelockerte gerichtliche Inhaltskontrolle ist nicht angezeigt, wenn ein Beschluss einem Gesellschafter Vorteile gewährt, die den anderen Gesellschaftern nicht zugute kommen oder einem (ggf. fiktiven) außenstehenden Dritter nicht zufließen würden.90 Maßgeblich sind dabei die tatsächlichen Auswirkungen des Beschlusses, nicht seine formelle Ausgestaltung. Werden die Gesellschafter auf dem Papier gleich betroffen, wirkt sich das Beschlussergebnis aber unterschiedlich auf ihre Situation in der Gesellschaft aus, besteht das Risiko, dass die Abwägung der widerstreitenden Interessen unverhältnismäßig war.91 b) Sondernachteil als Konfliktquelle Die vorstehenden Überlegungen hatten zum Ziel, die Reichweite des ermessensausschließenden Interessenkonflikts einzugrenzen, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Autonomie der Gesellschafter und der richterlichen Inhaltskontrolle zu wahren. Die hier befürwortete Anknüpfung an §  243 Abs. 2 Satz 1 AktG hat allerdings eine Schwachstelle. Sie ist geeignet, den Konfliktbegriff zu stark einzuschränken und die richterliche Kontrolldichte in ­Fällen zu lockern, in denen die Benachteiligung mancher Gesellschafter oder Gesellschaftergruppen die optimalen Beschlussvoraussetzungen stört. §  243 Abs. 2 Satz 1 AktG ist nämlich in erster Linie auf Sachverhalte zugeschnitten, in denen ein Aktionär einen Vermögensvorteil oder eine sonstige Stärkung der korporativen Stellung erlangt. Ob sich § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG auch auf Fälle erstreckt, in denen die Position mancher Aktionäre geschwächt wird, ohne dass einem Aktionär ein materieller oder immaterieller Vorteil (positiv) zu-

89 Nicht zu prüfen ist an dieser Stelle, ob die Bevorzugung mit den Interessen der Gesellschaft oder ihrer Aktionäre zu vereinbaren ist. Diese Frage ist der Kern der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht. Dasselbe gilt für eine etwaige wirtschaftliche Rechtfertigung des Sondervorteils. 90 Vgl. auch Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 594 ff., der eine Sachkontrolle für geboten hält, wenn die Mehrheit externe Vorteile hat, die den nachteiligen Beschluss kompensieren (freilich ohne die BJR heranzuziehen). 91 Bei Lichte besehen handelt es sich um dasselbe Problem, das im Zusammenhang mit dem Gleichbehandlungsgebot diskutiert wird. Hier wie dort ist ein materielles Verständnis vorzugswürdig. S. dazu ausf. Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 231 ff. S. hierzu schon § 17 II 2 Fn. 22. 584

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Interessenkonflikte

fließt,92 wird in der Kommentarliteratur nicht vertieft diskutiert.93 Die dort genannten Beispiele deuten darauf hin, dass § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG in solchen Fällen nicht eingreift.94 Unabhängig davon, wie diese Frage im Rahmen des § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG beantwortet wird, sollte ein Gesellschafterbeschluss auch dann einer inten­ siveren gerichtlichen Kontrolle unterliegen, wenn der Beschluss für manche Gesellschafter einen relevanten Sondernachteil nach sich zieht.95 In einer ­solchen Situation lässt sich eine Richtigkeitsvermutung hinsichtlich des Beschlussinhalts nicht aufstellen. Vielmehr erhöht sich das Risiko, dass die ­Belange der Gesellschafter nicht in einen angemessenen Ausgleich gebracht wurden, wenn die Gesellschafter von einem Nachteil unterschiedlich stark betroffen sind. Um den Begriff des Sondernachteils nicht ausufern zu lassen, sind im Anschluss an Dirk Verse rein private Interessen der Gesellschafter außer Betracht zu lassen. Ein Sondernachteil kommt nur dann in Betracht, wenn der Beschluss die mitgliedschaftlichen Interessen berührt.96 Dies ist insbesondere in Fällen anzunehmen, die im personengesellschaftsrechtlichen Schrifttum unter dem Etikett „Kernbereichslehre“ oder „relativ unentziehbare Rechte“ diskutiert werden. c) Relevanzschwelle Damit die Autonomie der Gesellschafter nicht über Gebühr eingeschränkt wird, muss der Sondervorteil bzw. der Sondernachteil eine Relevanzschwelle überschreiten. Wie bei Verwaltungsorganen ist eine wertende Betrachtung dahingehend erforderlich, ob der Interessenkonflikt, der aus der Sonderbehand92 Zu denken ist etwa an eine bezugsrechtslose Kapitalerhöhung, bei der sämtliche junge Aktien einem (bislang) gesellschaftsfremden Investor zugeteilt werden und die wegen der Anteilsverwässerung dazu führt, dass nur manche Altaktionäre die Möglichkeit verlieren, minderheitsschützende Rechte geltend zu machen, andere Aktionäre aber weiterhin ihren Einfluss ausüben können. S. hierzu noch ausf. in § 20 III 2 c. 93 Dagegen augenscheinlich Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 442. In die umgekehrte Richtung könnte man lediglich die Aussage von Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 200 deuten, der von „unmittelbaren und mittelbaren materiellen Vorteilen“ spricht; zweifelsfrei ist diese Deutung freilich nicht. 94 S. etwa die Aufzählung bei Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 35 f. 95 So auch im Ergebnis Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 278, der für eine intensivere Überprüfung der Interessenabwägung bei Sondernachteilen plädiert. AA wohl Wallisch, Entscheidungen, S. 260. 96 Zur weiteren Eingrenzung des Begriffs „Sondernachteil“ ausf. Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 241 ff., der insb. bei rein faktischen Beeinträchtigungen zurückhaltend ist. S. hierzu im Kontext der Kapitalmaßnahmen § 20 III 3 c und § 20 IV 2 a. 585

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

lung resultiert, eine intensivierte Inhaltskontrolle des Beschlusses gebietet.97 In diesem Zusammenhang liegt es nahe, eine Differenzierung aufzugreifen, die in der Treuepflichtdogmatik fest verankert ist. Es entspricht der allgemeinen Auffassung, dass die Loyalitätspflicht bei der Ausübung und Wahrnehmung fremdnütziger Rechte stärker wirkt als bei der Verfolgung eigennütziger Rechte.98 Dieser Gedanke lässt sich auf die Bestimmung der Relevanzschwelle übertragen. Hat der Beschluss eine fremdnützige Angelegenheit zum Gegenstand,99 wird die Relevanz des Interessenkonflikts eher anzunehmen sein als bei Beschlüssen über eigennützige Angelegenheiten.100 Im letztgenannten Fall ist in der Regel davon auszugehen, dass etwaige Sondervorteile oder ­Sondernachteile nicht zu einer vollständigen gerichtlichen Inhaltskontrolle führen, sondern ggf. eine Vertretbarkeitskontrolle gebieten. Ist der Beschlussgegenstand hingegen fremdnützig, spricht viel für eine volle inhaltliche Überprüfung des Beschlusses. Eine weitergehende Konkretisierung des Relevanzkriteriums ist nur anhand konkreter Beschlussgegenstände möglich.101 4. Bedeutung subjektiver Kriterien? Die Konkretisierung des Sondervorteils bzw. des Sondernachteils und die Bestimmung der Relevanzschwelle betreffen die objektive Seite des Interessenkonflikts. Die Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die richterliche Prüfungsdichte können aber auch aus einer subjektiven Perspektive betrachtet werden.102 Im Recht der Verwaltungsorgane spielen die subjektiven Kriterien in zweierlei Hinsicht eine Rolle. In § 8 IV 5 wurde herausgearbeitet, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht eingreift, wenn die Organmitglieder den konfliktbegründenden Sachverhalt kennen mussten.103 Überdies wurde in § 9 IV 3 dar 97 Vgl. ferner Fastrich, Rechtsdenken, S.  20  f., 51, der bei „externen Interessen“ der Mehrheit eine richterliche Beschlusskontrolle für ausnahmsweise zulässig hält. Dies liegt durchaus auf einer Linie mit dem Befund, dass gewichtige Interessenkonflikte die Privilegierung der BJR verhindern. 98 Statt vieler Geibel in BeckOGK BGB § 706 Rn. 66 ff.; Michalski/Lieder GmbHG § 13 Rn. 155, 157; Merkt in MüKoGmbHG § 13 Rn. 92; Reichert, FS K. Schmidt, 2019, Bd. II, S. 229, 232 ff. 99 Als Beispiel mag die Geschäftsführung dienen (s. Michalski/Lieder GmbHG §  13 Rn. 157). 100 Zum Beispiel bei einem Beschluss über die Gewinnverwendung (hierzu noch in § 22 IV). 101 Hierzu noch Teil 5. 102 In den einschlägigen Stellungnahmen zur Anwendung der BJR auf Gesellschafterbeschlüsse wird die subjektive Seite des Konfliktbegriffs nicht beleuchtet. 103 Speziell zur Kenntnis bei den Verwaltungsbeschlüssen § 8 V 4 b. 586

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Interessenkonflikte

gestellt, dass eine volle gerichtliche Kontrolle nur dann geboten ist, wenn sich aufgrund des Sachverhalts die juristische Wertung aufdrängt, dass das Organmitglied befangen ist. Diese Kriterien helfen im Kontext der Gesellschafterbeschlüsse nur bedingt weiter. Der Inhalt des Beschlussantrags ist bekannt, so dass die Gesellschafter in der Regel werden einschätzen können, ob der Beschluss einen Sondervorteil oder einen Sondernachteil zur Folge hat. Konkretisiert man den Konfliktbegriff in Anlehnung an § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG, stellt sich allerdings die Frage, ob eine Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle nur dann in Betracht kommt, wenn der Gesellschafter den Sondervorteil „zu erlangen suchte“. Diese Formulierung wird einhellig dahingehend verstanden, dass der Hauptversammlungsbeschluss nur dann nach § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG angefochten werden kann, wenn der Aktionär den Sondervorteil vorsätzlich verfolgt hat.104 Gleichwohl ist es nicht angezeigt, das Vorsatzerfordernis des § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG bei der Bestimmung der Prüfungsdichte aufzugreifen. Hier geht es nicht unmittelbar um die Frage, ob ein Beschluss fehlerhaft ist, sondern es muss lediglich bestimmt werden, mit welcher Intensität das Gericht die Interessenabwägung überprüfen darf. Wollte man den Gesellschafterbeschluss nur dann einer engmaschigen gerichtlichen Inhaltskontrolle unterwerfen, wenn ein Gesellschafter den Sondervorteil vorsätzlich verfolgt hat, liefe die mitgliedschaftliche Treuepflicht leer. Das Vorsatz­ erfordernis wird als ein maßgeblicher Grund dafür genannt, dass § 243 Abs. 2 Satz  1 AktG keine praktische Bedeutung hat.105 Um eine ähnliche Entwicklung im Rahmen der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle zu vermeiden, ist es vorzugswürdig, die gerichtliche Prüfung schon dann zu intensivieren, wenn der Beschluss objektiv einen qualifizierten Interessenkonflikt begründet.106 5. Einfluss des Stimmgewichts des befangenen Gesellschafters? Der qualifizierte Interessenkonflikt ist ein Ausschlusskriterium, das auf den einzelnen Gesellschafter bezogen ist. Wie im Zusammenhang mit den Vorstandsbeschlüssen107 stellt sich auch hier die Frage, wie sich Sonderinteressen der einzelnen Personen auf die Privilegierung des Beschlusses auswirken. Die herrschende Auffassung folgt einer Mehrheitsbetrachtung: Die Business Judg104 Statt vieler Noack/Zetzsche in KK-AktG § 243 Rn. 447 ff. 105 Vgl. Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 31. 106 S. auch Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 240, der einen Sondervorteil unabhängig vom Vorsatzerfordernis des § 243 Abs. 2 AktG annimmt. 107 S. dazu § 8 V 4 b. 587

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

ment Rule sei lediglich ausgeschlossen, wenn die Stimmen der bevorzugten Gesellschafter das Beschlussergebnis trügen. Unschädlich sei ein Interessenkonflikt, der nur nicht entscheidungstragende Gesellschafter betreffe.108 Zur Begründung wird namentlich ein Vergleich mit den Auswirkungen der Stimmverbote gezogen: Es sei anerkannt, dass ein Stimmverbot, das auf einer Interessenkollision beruhe, nur relevant sei, wenn der Beschluss ohne die verbots­ widrige Stimmabgabe nicht gefasst worden wäre. Dies müsse auch für die Relevanz der Interessenkonflikte im Rahmen der Business Judgment Rule gelten.109 Die Mehrheitsbetrachtung überzeugt, wenn man mit der überwiegenden Ansicht die Stimmausübung auf die Vereinbarkeit mit der mitgliedschaftlichen Treuepflicht überprüft. Bei einem solchen Anknüpfungspunkt ist es konsequent, einen Vergleich mit den Auswirkungen der Stimmverbote zu ziehen und dem Beschluss die Privilegierung der Business Judgment Rule lediglich dann zu versagen, wenn die entscheidungstragende Mehrheit befangen war. Allerdings fokussiert sich die richterliche Kontrolle nach der hier vertretenen Auffassung auf den Beschluss;110 die Stimmausübung tritt in den Hintergrund. Maßgeblich ist, ob vermutet werden kann, dass der Beschluss als Ergebnis der kollektiven Willensbildung mit dem Gesellschaftswohl im Einklang steht. Eine solche Vermutung kann bereits dann nicht aufgestellt werden, wenn das Risiko besteht, dass die befangene Minderheit die Beschlussfassung derart beeinflusst hat, dass der Beschluss dem Gesellschaftswohl widerspricht.111 Da die Gesellschafter, die in einen Interessenkonflikt verstrickt sind, nicht nur durch Stimm­ ausübung auf die verbandsinterne Willensbildung Einfluss nehmen können, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Belange der unterlegenen Gesell108 Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 112; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 277; Wallisch, Entscheidungen, S. 259 f.; Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 165 f.; Paefgen ZIP 2016, 2293, 2297. Vor dem UMAG Paefgen, Entscheidungen, S. 218; Zöllner AG 2002, 585, 587 (der nur auf spezifische Interessen der Mehrheit abstellt). Vgl. ferner Verse aaO S.  240  f.: Sondervorteil müsse einem Gesellschafter mit maßgeblichem Einfluss zugute kommen; ein solcher Einfluss sei jedenfalls bei Sperrminorität anzunehmen. Komme der Sondervorteil einem Minderheitsgesellschafter zugute, handele es sich um eine bloße Begleiterscheinung, die die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung nicht in Frage stelle. Im Kontext des Bezugsrechtsausschlusses jetzt auch Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 115. 109 Grundlegend Paefgen, Entscheidungen, S.  218.  Dem nach Kodifizierung der BJR folgend Wallisch, Entscheidungen, S. 260. 110 S. schon § 17 V 3. 111 Zu diesem Risiko als Grund für die Intensivierung der Inhaltskontrolle im Kontext der Verwaltungsorgane § 8 V 3 b. 588

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Interessenkonflikte

schafter im Rahmen der Abwägung nur unzureichend berücksichtigt wurden. Deshalb ist eine intensivere richterliche Inhaltskontrolle auch dann geboten, wenn der Sondervorteil nur einer Minderheit zugute kommt.112 Der inhaltliche Bezug der Business Judgment Rule zeigt überdies, dass ein Vergleich mit den Grundsätzen, die für die Stimmverbote gelten, nicht gezogen werden kann. Beruht ein Gesellschafterbeschluss auf Stimmen, die wegen eines Stimmverbots nicht hätten berücksichtigt werden dürfen, leidet der Beschluss an einem Verfahrensfehler.113 Ob der Beschluss mit dem Gesellschaftswohl im Einklang steht, ist in einem solchen Fall unerheblich. §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG ist aber gerade auf Fälle zugeschnitten, in denen der Richter einen Beschluss auf einen Inhaltsfehler überprüft. Insoweit überzeugt es nicht, bei der Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte Kategorien heranzuziehen, die für die Verfahrensfehler entwickelt wurden. 6. Folgen eines qualifizierten Interessenkonflikts a) Bedeutung der Realstruktur Die von der herrschenden Ansicht favorisierte Mehrheitsbetrachtung hängt bei Lichte besehen eng mit dem „Alles-oder-nichts“-Prinzip zusammen. In einem System, das zwischen der vollen inhaltlichen Überprüfung des Entscheidungsinhalts und der Evidenzkontrolle differenziert, ist die Mehrheitsbetrachtung wohl das einzige Instrument, das den Umstand berücksichtigt, dass sich die Sonderinteressen eines Mehrheitsgesellschafters anders auf die Beschlussfassung auswirken als etwaige Interessenkonflikte von Gesellschaftern mit einem geringen Stimmanteil. Löst man sich von den Fesseln des „Alles-odernichts“-Prinzips und lässt man eine Differenzierung zwischen mehrerer Stufen der Kontrollintensität zu,114 bedarf es keiner Mehrheitsbetrachtung, um das unterschiedliche Stimmgewicht der befangenen Gesellschafter in die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte einfließen zu lassen. Vielmehr ist ein anderes Kriterium vorzugswürdig: die Realstruktur der Gesellschaft. Mit der Realstruktur sind zwei Aspekte gemeint: zum einen die Zusammensetzung des Gesellschafterkreises, zum anderen die Möglichkeit der Gesellschafter, ihre Anteile an einem organisierten Markt zu veräußern. Manche Autoren 112 Freilich führt dies – wie noch in § 18 V 6 erläutert wird – nicht zwingend zur vollen gerichtlichen Inhaltskontrolle. 113 S. nur Drescher in BeckOGK AktG § 243 Rn. 109; C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 41. 114 Hierzu im Kontext der Vorstandskontrolle § 9 IV 3. 589

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im Schrifttum greifen diese Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der sachlichen Rechtfertigung einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung auf, um zu begründen, dass dieses Erfordernis über das Ziel hinausschießen kann.115 Hält man mit der hier vertretenen Auffassung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ohnehin für überholt,116 spielen diese Überlegungen insoweit keine Rolle. Sie können aber bei der Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte herangezogen werden, wenn es um die Frage geht, ob ein qualifizierter Inte­ ressenkonflikt eines Gesellschafters die volle Überprüfung des Entscheidungsinhalts gebietet oder ob eine Vertretbarkeitskontrolle ausreicht.117 b) Zusammensetzung des Gesellschafterkreises Für die Berücksichtigung der Realstruktur sprechen im Wesentlichen zwei Gründe: der Adäquanzgedanke und der Vergleich zwischen dem Beschlussverfahren und dem Mechanismus, der beim Vertragsschluss die Richtigkeitsvermutung trägt. Dass der Adäquanzgedanke einen Einfluss auf die Intensität der Inhaltskontrolle hat, wurde bereits aus einer intradisziplinären Perspek­ tive in § 6 III 3 erläutert. Dort wurde insbesondere die Figur des unabhängigen, pluralistisch zusammengesetzten Gremiums aufgegriffen, die im Jugendschutz-, Wein-, Geheimdienste- und Regulierungsrecht als Argument genutzt wird, um behördliche Beurteilungsspielräume zu begründen.118 Dieses Argument lässt sich auf die Gesellschafterbeschlüsse übertragen. Setzt sich die Gesellschafterversammlung aus einer Vielzahl von Gesellschaftern zusammen, deren Abstimmungsverhalten nicht von vornherein in eine bestimmte Richtung koordiniert ist, kann diese Beteiligungsstruktur dafür sorgen, dass die Belange der einzelnen Gesellschafter im Rahmen des Abwägungsprozesses hinreichend berücksichtigt werden.119 Das Beschlussverfahren sorgt in einem solchen Fall für einen natürlichen Interessenausgleich, weil es etwaige Sonder­ interessen der einzelnen Gesellschafter neutralisieren kann.

115 Vgl. Drygala, 50 Jahre AktG, S. 41, 53 f., der auf die Beteiligungsstruktur und die Börsennotierung abstellt. 116 § 17 IV 2. 117 Für die Berücksichtigung der Realstruktur bei der Treuepflichtprüfung Michalski/ Lieder GmbHG § 13 Rn. 155 f.; Winter, Treuebindungen, S. 185 ff. Vgl. ferner Hofmann, Minderheitsschutz, S. 206 ff. 118 S. § 5 II 3 sowie § 5 IV 3. 119 Insoweit zutr. Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 590, der aber zu weit geht, wenn er wegen dieses Umstands die materielle Beschlusskontrolle gänzlich ablehnen will. S. ferner Decher ZGR 2019, 1122, 1154. 590

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Dieser Befund wird bekräftigt, wenn man einen Vergleich mit den Überlegungen zur gerichtlichen Vertragskontrolle zieht. Es wurde in § 4 IV 2 erläutert, dass die privatautonome Willensübereinstimmung der Vertragspartner die Richtigkeitsvermutung trägt. Die Parteien können in Vertragsverhandlungen für einen – aus ihrer Perspektive angemessenen – Interessenausgleich sorgen. Bei einem Mehrheitsbeschluss, der einer richterlichen Überprüfung unterzogen wird, fehlt zwar eine solche allseitige Willensübereinstimmung, die für eine ausgewogene Gewichtung der widerstreitenden Interessen spricht. Der Dissens unter den Gesellschaftern ist gerade der Grund dafür, dass sich ein Gericht mit dem Beschlussinhalt befasst. Allerdings kann das Beschlussverfahren in einer Gesellschaft, die sich aus zahlreichen Gesellschaftern zusammensetzt, vergleichbare Mechanismen des Interessenausgleichs in Gang setzen.120 In einem diversifizierten Gesellschafterkreis steigt die Wahrscheinlichkeit wechselnder Mehrheiten, weil die Gesellschafter immer wieder in einer offenen Diskussion um die optimale Pro­ blemlösung ringen müssen. Ist der Beschluss in einem solchen Verfahren zustande gekommen, besteht kein Grund, den im dynamischen Prozess ermittelten Mehrheitswillen durch eine volle richterliche Überprüfung zu korri­ gieren. Vielmehr liegt es nahe, dem Gericht lediglich eine inhaltliche Vertretbarkeitskontrolle zu gestatten. Hat ein Gesellschafter dagegen eine so starke Stellung, dass er im Alleingang die in Frage stehende Entscheidung treffen kann, tritt der Prinzipal-Agent-Konflikt zwischen der Mehrheit und Minderheit so deutlich zutage, dass eine volle Kontrolle geboten erscheint.121 c) Möglichkeit der Anteilsveräußerung am organisierten Markt Neben der Zusammensetzung des Gesellschafterkreises ist zu berücksichtigen, ob die Gesellschafter ihre Anteile an einem organisierten Markt veräußern

120 Vgl. dazu bereits Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 590. 121 Ähnliche Überlegungen sind in Fällen anzustellen, in denen mehrere Gesellschafter zu einer gleichgerichteten Abstimmung verpflichtet sind, etwa weil sie sich in einem Konsortium zusammengeschlossen haben. Führt die Konsortialbindung dazu, dass die Konsorten in der Hauptgesellschaft eine Stellung erlangen, die mit der Position eines machtvollen Einzelgesellschafters vergleichbar ist, spricht es für die Intensivierung der richterlichen Beschlusskontrolle in der Hauptgesellschaft (s. dazu bereits Leenen, FS Larenz II, S. 371, 392). Eine Lockerung der gerichtlichen Prüfungsdichte kommt aber in Betracht, wenn der Beschluss auf der Konsortialebene intensiver daraufhin überprüft wird, ob er dem Wohl der Hauptgesellschaft entspricht. 591

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

können.122 Dass eine Notierung auf einem organisierten Markt einen Einfluss auf die richterliche Beschlusskontrolle hat, zeigt namentlich § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG. Danach ist eine bezugsrechtslose Barkapitalerhöhung  – die nach der überkommenen BGH-Rechtsprechung sachlich gerechtfertigt werden muss123 – zulässig, wenn die Erhöhung 10% des Grundkapitals nicht übersteigt und der Ausgabebetrag den Börsenpreis nicht wesentlich unterschreitet.124 Sind diese Voraussetzungen erfüllt, ist eine materielle Beschlusskontrolle nicht erforderlich.125 Hinter dieser Erleichterung – die auf eine deutliche Reduzierung der gerichtlichen Kontrolle hinausläuft – steht der Gedanke, dass sich die Aktionäre in Fällen des § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG vor den negativen Auswirkungen der bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung126 selbst schützen können. Sie haben zwar kein Bezugsrecht, können aber die jungen Aktien am Markt erwerben.127 Der Gedanke, dass die Nachkaufsoption die Auswirkungen eines einschneidenden Beschlusses kompensiert, ist auf den Kapitalerhöhungsbeschluss zu­ geschnitten und lässt sich deshalb nicht auf alle Beschlussarten übertragen. Dennoch macht §  186 Abs.  3 Satz  4 AktG deutlich, dass funktionierende Marktmechanismen die Intensität der richterlichen Beschlusskontrolle beeinflussen können. Sind die Anteile auf einem liquiden Markt frei handelbar, kann der Gesellschafter auf eine – aus seiner Sicht – unverhältnismäßige Interessenabwägung mit der Veräußerung der Anteile reagieren.128 Die bloße Veräußerungsmöglichkeit erzeugt einen wirtschaftlichen Druck auf die Mehrheit und die Verwaltung, die den Beschluss vorbereitet. Werden die Belange man122 Eine solche Möglichkeit steht in der Praxis nur Aktionären offen, die in einer Aktiengesellschaft investiert sind, deren Anteile an einem der in Art. 2 Abs. 1 MAR genannten Märkte notiert sind (allein auf die Börsennotierung abstellend aber Hofmann, Minderheitsschutz, S. 211 ff.; Drygala, 50 Jahre AktG, S. 41, 53 f.). Die Anteile an geschlossenen Gesellschaften sind zwar theoretisch auch handelbar, es existieren aber praktisch keine funktionierenden Märkte mit hinreichender Liquidität, vgl. Fleischer ZHR 179 (2015), 404, 409. 123 S. § 17 II 2. 124 Zu den Voraussetzungen des vereinfachten Bezugsrechtsausschlusses im Einzelnen etwa Hüffer/J. Koch AktG § 186 Rn. 39b ff. 125 Zum Zusammenhang zwischen der materiellen Beschlusskontrolle und vereinfachtem Bezugsrechtsausschluss etwa Schürnbrand/Verse in MüKoAktG §  186 Rn.  92, 135, 147. 126 Genannt seien an dieser Stelle die Gefahr einer Verwässerung der Beteiligung und einer Verringerung von Gewinnerzielungschancen, s. statt vieler Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 2 mwN. 127 Hüffer/J. Koch AktG § 186 Rn. 39a. 128 Ähnlich Henze/Notz in GK-AktG, 4.  Aufl., Anh §  53a Rn.  98; Hofmann, Minderheitsschutz, S. 212 ff. 592

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Verteilung der Beweis- und Argumentationslast

cher Gesellschaftergruppen im Rahmen der Interessenabwägung nur unzureichend beachtet und führt dies zu einer Veräußerungswelle, drückt dies den Marktwert der Gesellschaft. Die mittelbare Kontrolle durch den Markt erlaubt es, die richterliche Prüfungsdichte auf das Vertretbarkeitsniveau zu lockern. Hinzu kommt der Einfluss institutioneller Investoren und aktivistischer Ak­ tionäre, die in börsennotierten Gesellschaften investiert sind und als qualifizierte, gut informierte Marktteilnehmer für einen Interessenausgleich sorgen können;129 ähnlich können sich Empfehlungen von Stimmrechtsberatern auswirken.130 Solche Mechanismen greifen in geschlossenen Gesellschaften nicht ein, so dass dort eher ein Bedürfnis nach einer vollen richterlichen Kontrolle der Mehrheitsbeschlüsse bestehen kann.

VI. Verteilung der Beweis- und Argumentationslast 1. Ansätze in Rechtsprechung und Schrifttum Nachdem die Kriterien für die Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte herausgearbeitet wurden, soll im Folgenden die Verteilung der Beweis- und Argumentationslast geklärt werden. Das Schrifttum setzt sich mit diesem Problem nicht auseinander, was nicht überrascht, wenn man bedenkt, dass den Gesellschaftern meist nur stichwortartig ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, ohne dass die Voraussetzungen dieses Spielraums näher analysiert werden. Die Literatur widmet sich in erster Linie der Beweislastverteilung hinsichtlich der Inhaltsfehler. Nach herrschender Auffassung im Kapitalgesellschaftsrecht muss der Anfechtungskläger die Tatsachen darlegen und beweisen, aus denen sich der inhaltliche Beschlussmangel ergibt.131 Eine Ausnahme wird aber für Fälle befürwortet, in denen der Beschluss einer sachlichen Rechtfertigung bedarf; für die Rechtfertigung soll die Gesellschaft die Darlegungs- und Beweislast des Beschlusses tragen.132 Eine ähnliche Differen129 Hierzu im Kontext der sachlichen Rechtfertigung Drygala, 50 Jahre AktG, S. 41, 53. 130 Solche Auswirkungen werden in der Unternehmenslandschaft tatsächlich beobachtet. Die kritische Haltung von institutionellen Investoren und Stimmrechtsberatern soll etwa dazu geführt haben, dass die HV deutscher Aktiengesellschaften bei Schaffung des genehmigten Kapitals die Höchstgrenze des § 202 Abs. 3 Satz 1 AktG nicht ausreizen, insb. wenn Bezugsrechtsausschluss möglich ist; s. zu dieser Haltung und den Empfehlungen Hölters/Apfelbacher/Niggemann AktG § 186 Rn. 4, § 202 Rn. 29; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 59 Rn. 30; Decher ZGR 2019, 1122, 1153 f.; Reger/ Wieneke GWR 2013, 195, 196; Rieckers DB 2019, 107, 114.  S.  auch Schürnbrand/ Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 3. 131 S. nur C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 149. 132 C. Schäfer in MüKoAktG § 243 Rn. 150 f. 593

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

zierung wird im Personengesellschaftsrecht vorgenommen:133 Greife ein Beschluss in die relativ unverzichtbaren Rechte bzw. in den Kernbereich der Mitgliedschaft ein, obliege es der Gesellschaftermehrheit, darzulegen und zu beweisen, dass der dissentierende Gesellschafter dem Eingriff zugestimmt habe oder zur Zustimmung verpflichtet sei. Stehe ein Treuepflichtverstoß im Raum, sei der dissentierende Gesellschafter darlegungs- und beweisbelastet.134 Diejenigen Autoren, die eine Analogie zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG befürworten,  gehen nur vereinzelt auf die Beweislastverteilung ein.135 Allein Marcus Wandrey setzt sich mit dem Problem vertieft auseinander. Im Einklang mit der Normentheorie seien die klagenden Aktionäre für den Interessenkonflikt der Mehrheit beweisbelastet. Da sie aber keinen Einblick in die Informationsbeschaffung durch die Verwaltungsorgane hätten, müsse die Gesellschaft entsprechend § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG darlegen und beweisen, dass die Verwaltungsorgane vernünftigerweise hätten annehmen dürfen, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Gelinge dies der Gesellschaft nicht, obliege ihr der Beweis, dass der Beschluss das Gesellschaftsinteresse fördere.136 Eine andere Beweislastverteilung schlug Walter Paefgen vor der Kodifizierung der Business Judgment Rule vor: Den Anfechtungskläger treffe eine anfängliche Substantiierungs- und Beweislast dahingehend, dass die Informationspflichten nicht erfüllt worden seien oder dass etwaige Loyalitätspflichten vorlägen. Komme der Kläger seiner Substantiierungslast nach, obliege es der Gesellschaft, die Verletzung des Informations- und Loyalitätsprinzips zu entkräften. Wenn ihr dies nicht gelinge, werde der Beschluss inhaltlich auf seine Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftsinteresse überprüft.137 2. Beweislastverteilung und Schutz der Verbandsautonomie Geht man mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, dass die Intensität der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht in Anleh133 Auch dies zeigt, dass es sich bei der Kernbereichslehre und dem Grundsatz sachlicher Rechtfertigung um wesensverwandte Institute handelt; s. hierzu bereits § 17 VI 2 Fn. 203. 134 BGHZ 179, 13 Rn. 17 = NJW 2009, 669; BGHZ 203, 77 Rn. 12 = NJW 2015, 859; s. ferner § 17 III 3 b. 135 Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S.  274  ff. und Wallisch, Entscheidungen, S. 257 ff. gehen nur auf die Voraussetzungen der BJR in der Beschlusssituation ein, ohne sich mit der Beweislast auseinanderzusetzen. 136 Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 168 f. 137 Paefgen, Entscheidungen, S. 254 ff. Ob diese Grundsätze auch nach Kodifizierung der BJR gelten, erläutert Paefgen etwa in ZIP 2016, 2293 nicht. 594

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Verteilung der Beweis- und Argumentationslast

nung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bestimmt werden kann, bietet es sich an, die Grundsätze heranzuziehen, die im Zusammenhang mit der Überprüfung der Vorstandsbeschlüsse herausgearbeitet wurden. Dort wurde zunächst dargelegt, dass die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG138 im Organstreit nicht gilt, weil § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG auf Haftungsprozesse zugeschnitten ist. Der Schaden der Gesellschaft, der auf ein Verhalten der Vorstandsmitglieder zurückzuführen ist, rechtfertigt es, den Vorstandsmitgliedern in Haftungsprozessen die Darlegung- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG aufzuerlegen. Da ein solcher Schaden in Fällen des Organstreits meistens fehlt, greift § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG insoweit nicht ein.139 Diese Überlegungen lassen sich auf die Kontrolle des Gesellschafterbeschlusses übertragen. Auch hier liegt ein Schaden der Gesellschaft nicht vor, so dass § 93 Abs. 2 Satz  2 AktG nicht herangezogen werden kann,140 um die Beweislast der ­Gesellschaft bzw. den beklagten Gesellschaftern für die Voraussetzungen der Business Judgment Rule aufzuerlegen.141 Außerdem wurde im Kontext der Vorstandsbeschlüsse erläutert, dass weder der Wortlaut noch die Systematik des § 93 Abs. 1 AktG es gebieten, der Vorstandsmehrheit die Beweislast dafür aufzubürden, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt ist. Vielmehr hat das klagende Vorstandsmitglied darzulegen und zu beweisen, dass die Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht eingreifen. Dadurch wird die Binnenorganisation des Vorstands geschützt; der Mehrheitswille soll nicht auf der Beweislastebene ausgehebelt werden. Diese Beweislastverteilung ist für das klagende Organmitglied zumutbar, weil dieses an der Beschlussfassung teilnimmt und deshalb dieselbe Sachnähe zum Klagegenstand hat wie der Gegner.142 138 Aus § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG folgt, dass das auf Schadensersatz in Anspruch genommene Vorstandsmitglied grds. die Voraussetzungen der BJR darlegen und beweisen muss, s. § 8 VI 1.  139 Ausf. § 8 VI 2. 140 Eine Analogie zu § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG kommt aber in Betracht, wenn ein Gesellschafter die Gesellschaft auf Ersatz des Schadens in Anspruch nimmt, den er infolge des treuwidrigen Beschlusses erlitten hat (hierzu §  17 VII). In einem solchen Fall darf sich die Gesellschaft auf die BJR berufen, um den Anspruch abzuwehren, ist aber im Hinblick auf die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG darlegungsund beweisbelastet. Dies gilt auch für einen etwaigen Regressanspruch, den die Gesellschaft gegen einen Gesellschafter geltend macht, der sich ihr gegenüber illoyal verhalten hat (zur Anspruchsgrundlage s. § 17 VII mit Fn. 220). 141 So auch im Ausgangspunkt für die aktienrechtliche Anfechtungsklage Wandrey, Beschlusskontrolle, S. 168 f. 142 Ausf. § 8 VI 4. 595

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Mitgliedschaftliche Treuepflicht und richterliche Kontrolldichte

Auch an diese Ausführungen kann man im Zusammenhang mit den Ge­ sellschafterbeschlüssen anknüpfen. Die Business Judgment Rule soll einen ­Beschluss, der im gesetzlich oder vertraglich festgelegten Entscheidungsverfahren zustande gekommen ist, vor einer engmaschigen gerichtlichen Inhaltskontrolle schützen; dadurch wird die Verbandsautonomie gestärkt.143 Eine intensivere richterliche Überprüfung des Beschlussinhalts ist nur dann geboten, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die optimalen Entscheidungsvo­ raussetzungen nicht vorliegen und damit die Grundlage für die Richtigkeitsvermutung fehlt. Wollte man der Gesellschaft bzw. der beschlusstragenden Mehrheit die Beweislast für die Voraussetzungen der Business Judgment Rule auferlegen, dürfte das Gericht den Beschluss bereits dann einer intensiveren Inhaltskontrolle unterwerfen, wenn nicht erwiesen wäre, ob die Entscheidungsprozedur optimal war; die Verbandsautonomie wäre damit über Gebühr eingeschränkt. Dies lässt sich vermeiden, wenn man die Darlegungs- und Beweislast – und das damit einhergehende Risiko eines non liquet – grundsätzlich dem klagenden Gesellschafter auferlegt. Demnach ist im Ausgangspunkt entscheidend, ob der Kläger darlegen und beweisen kann, dass der Beschluss nicht auf einer angemessenen Informationsgrundlage beruht144 oder dass Tatsachen vorliegen, aus denen ein qualifizierter Interessenkonflikt resultiert.145 Misslingt dem Kläger der Beweis, darf das Gericht den Beschluss nur daraufhin überprüfen, ob er evident dem Gesellschaftswohl zuwiderläuft.146 Kann der Kläger dagegen beweisen, dass die Voraussetzungen der Business Judgment Rule nicht vorliegen, ist das Gericht zu einer intensivierten Inhaltskontrolle befugt. Ob in einem solchen Fall eine volle richterliche Überprüfung oder eine bloße Vertretbarkeitskontrolle angezeigt ist, wird meist nicht von Beweisfragen abhängen, sondern meist von einer rechtlichen Wertung. Namentlich bei einem qualifizierten Interessenkonflikt 143 Zum Zusammenhang zwischen Verbandsautonomie und Einschränkung der richterlichen Prüfungsdichte s. § 18 I 1 und 2.  144 Eine Beweiserleichterung ist aus Gründen der Sachnähe nur angezeigt, wenn die Verwaltungsorgane für die Informationsbeschaffung zuständig sind (s. § 18 IV 3 c). S. hierzu im aktienrechtlichen Kontext Hüffer/J. Koch AktG § 243 Rn. 62. 145 Ähnlicher Gedanke (ohne Bezug zur BJR) bei Fastrich, FS Kreutz, S. 585, 596. Die Wertung, dass ein Sachverhalt einen relevanten Interessenkonflikt begründet, ist keine Rechtsfrage, so dass die Beweislastverteilung keine Rolle spielt. Dies gilt auch für die Frage, ob der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat (s. bereits § 8 VI 1). 146 Obliegt die Beschlussvorbereitung den Verwaltungsorganen, führt die unzureichende Informationsgrundlage freilich nicht nur zu einer Intensivierung der Beschlusskontrolle, sondern zu einem Beschlussfehler, s. schon § 18 IV 4. 596

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Verteilung der Beweis- und Argumentationslast

wird die Frage nach der Realstruktur der Gesellschaft in der Regel keine Pro­ bleme auf der Tatsachenebene hervorrufen. Die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass die Beweislastverteilung hinsichtlich der Voraussetzungen der Business Judgment Rule die Argumentationslast in Bezug auf die Einhaltung des Gesellschaftsinteresses steuert und eine pauschale „Inversion der Argumentationslast“147 verhindert. Ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, wird es dem Kläger schwieriger fallen, eine Begründung dafür zu liefern, dass der Beschluss evident nicht mit dem Gesellschaftswohl zu vereinbaren ist. Steigt die richterliche Prüfungsdichte, weil die Business Judgment Rule nicht einschlägig ist, reduzieren sich die Anforderungen an die Begründung, wieso die Interessenabwägung im Beschlussverfahren misslungen ist.148

147 Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 317 f. 148 Vgl. dazu Zöllner AG 2000, 145, 153  ff., der den Begriff der Argumentationslast zwar nicht nennt, aber der Sache nach ein ähnliches Konzept verfolgt. In diese Richtung auch Hofmann, Minderheitsschutz, S. 222 f. 597

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Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle § 19 Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG I. Besonderheiten der Querschnittsmaterien Die Ausführungen in Teil 3 und 4 sind in erster Linie auf Situationen bezogen, in denen die Gesellschaftsorgane die Entscheidungen ohne Mitwirkung an­ derer Organe treffen dürfen. Entscheidet der Vorstand über den Aufbau eines Compliance-Systems, über die Durchführung einer Unternehmenstransaktion oder über soziale Maßnahmen, muss er  – vorbehaltlich eines Zustimmungsvorbehalts oder einer (ungeschriebenen) Hauptversammlungskompetenz – weder den Aufsichtsrat noch die Aktionäre in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Wählt der Aufsichtsrat künftige Geschäftsleiter aus oder entscheidet er über die Erteilung einer Zustimmung nach §  111 Abs.  4 Satz  2 AktG, muss er keine Stellungnahme der Aktionäre einholen.1 Überprüft das Gericht eine im Alleingang getroffene Maßnahme eines Gesellschaftsorgans und will es die richterliche Kontrolldichte bestimmen, muss es lediglich der Frage nachgehen, ob dieses Organ die Voraussetzungen der Business Judgment Rule oder eines tatbestandlichen Beurteilungsspielraums eingehalten hat bzw. ob das Organ das Rechtsfolgenermessen im Einklang mit der gesetzlichen Vorgabe ausgeübt hat. Die Komplexität bei der Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte nimmt zu, wenn mehrere Organe an der Entscheidungsfindung beteiligt sind. Dies wurde insbesondere im Zusammenhang mit den Interessenkonflikten deutlich. In § 8 IV 6 und § 12 VI 3 wurde herausgearbeitet, dass etwaige Sonderinteressen der Geschäftsleiter neutralisiert werden können, wenn das Aufsichtsorgan oder die Gesellschafter eine Maßnahme in Kenntnis des Interessenkonflikts billigen. In § 15 V 4 wurde dargelegt, dass die Konfliktneutralisierung nicht in Betracht kommt, wenn ein seinerseits befangenes Überwachungsorgan der Geschäftsleitermaßnahme zustimmt. Schließlich wurde in § 18 IV 3 ausgeführt, 1 Freilich kann es aus unternehmenspolitischen Gründen opportun sein, den jeweiligen Prinzipal an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. 599

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

dass die Entscheidungsvorbereitung durch die Verwaltungsorgane die Kontrolle des Gesellschafterbeschlusses beeinflussen kann. Diese punktuellen Aussagen werden im Folgenden durch weitere Beispiele ergänzt. Es werden ausgewählte Konstellationen beleuchtet, in denen die richterliche Kontrolle an einer Schnittstelle zwischen den Verwaltungsmaßnahmen einerseits und den Gesellschafterbeschlüssen andererseits angesiedelt ist. Das Ziel liegt nicht darin, die zahlreichen Einzelprobleme der jeweiligen Maßnahme zu lösen. Vielmehr konzentrieren sich die Ausführungen auf die Bestimmung der Intensität, mit der die Gerichte die Entscheidungen der Verwaltungsorgane und der Gesellschafter inhaltlich überprüfen dürfen. Zu den Maßnahmen, die an einer Schnittstelle zwischen Verwaltung und Gesellschaftern liegen, gehören zunächst Vergleichs- und Verzichtsverträge über Organhaftungsansprüche. Solche Verträge kommen zwischen den pflichtvergessenen Vorstandsmitgliedern und der durch den Aufsichtsrat (§ 112 AktG) vertretenen Gesellschaft zustande, bedürfen aber nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG einer Zustimmung der Hauptversammlung.2 Ein Zusammenwirken zwischen der Verwaltung und den Aktionären ist auch bei Kapitalmaßnahmen erforderlich.3 Die Kapitalmaßnahmen werden meist durch die Geschäftsleiter ange­ stoßen, die für die Unternehmensfinanzierung verantwortlich zeichnen.4 Die Maßnahme als solche bedarf der Mitwirkung der Gesellschafter,5 durchgeführt wird sie durch die Verwaltungsorgane. So muss der Vorstand die Hauptversammlungsbeschlüsse, die einer Kapitalmaßnahme zugrunde liegen, nach § 83 Abs. 2 AktG ausführen; außerdem sind in §§ 182 ff. AktG zahlreiche Mitwirkungspflichten der Verwaltungsorgane vorgesehen. Auch in Übernahmesituationen kann sich die gerichtliche Kontrolle zum einen auf einen Hauptversammlungsbeschluss, zum anderen auf eine Verwaltungsentscheidung beziehen. § 33 Abs. 2 WpÜG sieht nämlich vor, dass eine Abwehrmaßnahme des Vorstands, die nach § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG grundsätzlich untersagt ist, durch einen Ermächtigungsbeschluss der Hauptver2 Hierzu § 19 II-IV. 3 Die Ausführungen konzentrieren sich in erster Linie auf die Kapitalmaßnahmen in der AG, sie sind aber cum grano salis auf die GmbH übertragbar. 4 Zu Finanzierungsverantwortung und Finanzierungsermessen des Vorstands s. nur ­Ekkenga in KK-AktG Vor § 182 Rn. 59 ff.; Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 176; Seibt ZIP 2013, 1597 f. 5 Die Gesellschafter können die Kapitalmaßnahme selbst beschließen (so bei der regulären Kapitalerhöhung, §§ 182 ff. AktG) oder die Verwaltungsorgane zu einer Kapitalmaßnahme ermächtigen (so bei genehmigtem Kapital, §§ 202 ff. AktG). 600

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Entscheidungen im Rahmen des Verzichts und Vergleichs nach § 93 Abs. 4 AktG

sammlung legitimiert werden kann.6 Zudem setzt die Gewinnverwendung ein Zusammenspiel zwischen den Verwaltungsorganen und den Gesellschaftern voraus, das einige Fragen nach der richterlichen Kontrolle der jeweiligen Entscheidung aufwirft.7 Schließlich wird im GmbH-Recht darauf hingewiesen, dass die mitgliedschaftliche Treuepflicht die richterliche Kontrolle der Geschäftsführermaßnahmen beeinflussen kann.8

II. Entscheidungen im Rahmen des Verzichts und Vergleichs nach § 93 Abs. 4 AktG Das Zusammenspiel zwischen Verwaltungsentscheidungen und Gesellschafterbeschlüssen wird deutlich am Beispiel des Vergleichs über oder Verzichts auf Schadensersatzansprüche gegen Verwaltungsmitglieder einer Aktiengesellschaft. Sollen die Vorstandsmitglieder enthaftet werden, müssen sie – wie soeben erwähnt – einen Verzichts- oder Vergleichsvertrag mit der Gesellschaft abschließen, die nach § 112 AktG durch den Aufsichtsrat vertreten wird.9 Da in einem solchen Fall die Gefahr droht, dass sich die Verwaltungsorgane gegenseitig zu Lasten des Gesellschaftsvermögens schonen, sieht §  93 Abs.  4 Satz  3 AktG vor, dass die Aktionäre an der Entscheidungsfindung beteiligt werden müssen.10 Deshalb setzt ein wirksamer Verzicht oder Vergleich nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG voraus, dass die Gesellschaft erst drei Jahre nach der Entstehung des Anspruchs und nur dann auf Ersatzansprüche verzichten oder sich über sie vergleichen kann, wenn die Hauptversammlung zustimmt und nicht eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen, zur Niederschrift Widerspruch erhebt. In diesem Verfahren treffen die Gesellschaftsorgane zwei Entscheidungen, die Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein können. Zum einen entscheidet der Aufsichtsrat, einen Verzichts- oder Vergleichsvertrag mit dem Vorstand abzuschließen,11 zum anderen beschließt die Hauptversammlung, dem Vertrag zu 6 Zur gerichtlichen Kontrolle dieser Entscheidungen s. § 21. 7 Hierzu § 22. 8 S. bereits § 12 VI 2. Eigene Stellungnahme in § 23 II. 9 Bei einem Verzichts- oder Vergleichsvertrag mit AR-Mitgliedern, die sich der Schadensersatzhaftung nach §§ 116 Satz 1, 93 Abs. 2 AktG ausgesetzt sehen, wird die Gesellschaft durch den Vorstand vertreten (§  78 AktG). Die folgenden Ausführungen gelten spiegelbildlich auch für diese Konstellation. 10 Zum Zweck des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG statt vieler BGHZ 202, 26 Rn. 20 = NZG 2014, 1058; Hölters AktG § 93 Rn. 306. 11 Je nach Prozesskonstellation kann das Gericht den AR-Beschluss (etwa wenn ein AR-Mitglied mit dem Vorschlag nicht einverstanden ist) oder die individuelle Ab601

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

zustimmen oder ihn abzulehnen. Das Schrifttum ist sich darüber einig, dass jedenfalls der Hauptversammlungsbeschluss keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, weil ein Vergleich oder ein Verzicht nicht in die Mitgliedschaft der Aktionäre eingreift.12 Manche Autoren fügen hinzu, dass die Hauptversammlung weder die ARAG-Grundsätze13 einhalten muss14 noch gesteigerten Treuebindungen unterliegt.15 Vielmehr sei der Beschluss lediglich auf etwaigen Rechtsmissbrauch zu überprüfen;16 die Hauptversammlung genieße ein freies, ungebundenes Ermessen.17 Dieses freie Ermessen räumen manche Autoren auch dem Aufsichtsrat ein: Da die Aktionäre nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG dazu berufen seien, eine Selbstschädigung zu beschließen, könne es nicht überzeugen, den Aufsichtsrat bei der vorgelagerten Entscheidung an ein abstrakt definiertes Gesellschaftswohl zu binden, das eine kompensationslose Schmälerung des Gesellschaftsvermögens verbiete. Dem Aufsichtsrat sei es nur verwehrt, der Hauptversammlung einen Verzichts- oder Vergleichsvorschlag zu unterbreiten, den diese keinesfalls billigen werde. Außerdem müsse der Aufsichtsrat die Aktionäre informieren und sicherstellen, dass er die Schadensersatzansprüche durchsetzen könstimmungsentscheidung der AR-Mitglieder (etwa wenn die AR-Mitglieder wegen eines gesellschaftsschädigenden Vergleiches auf Schadensersatz in Anspruch genommen werden) überprüfen. 12 LG Frankfurt, Urt. v. 15.12.2016 – 3–5 O 154/16, juris-Rn. 116; Hopt/M. Roth in GKAktG § 93 Rn. 507; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 78; Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 182 f.; N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S. 145; Unmuth, Vergleich, S. 278 ff.; Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 150; Dietz-Vellmer NZG 2011, 248, 252; Fleischer ZIP 2014, 1305, 1308; ders. AG 2015, 133, 137; Habersack, FS Baums, S. 531, 540, 542 f.; Hasselbach NZG 2016, 890, 892. So wohl auch R. Werner CCZ 2011, 201, 203. 13 Zu den ARAG-Grundsätzen, wonach den AR grds. eine Verfolgungspflicht trifft, s. schon § 15 III 4. 14 Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 188; Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 151; Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 269. 15 Hasselbach NZG 2016, 890, 892. S. auch Unmuth, Vergleich, S. 278 ff. 16 Zur Missbrauchsschranke Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 183 ff.; Dietz-Vellmer NZG 2011, 248, 252; Fleischer ZIP 2014, 1305, 1308. 17 Deutlich Hasselbach NZG 2016, 890, 891: freie unternehmerische Entscheidung. Vgl. ferner LG Frankfurt, Urt. v. 15.12.2016 – 3–5 O 154/16, juris-Rn. 116 (keine inhalt­ liche Bindungen); N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S.  148  f. (keine treuepflichtgestützte Missbrauchskontrolle); Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 151 (keinerlei inhaltliche Bindungen); Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 269 (keine besonderen inhaltlichen Anforderungen). Für einen Beurteilungsspielraum Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 187. 602

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Kontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses

ne, wenn die Hauptversammlung dem Vorschlag nicht zustimme.18 Andere Autoren sind strenger: Ein Aufsichtsrat, der über einen Verzicht oder einen Vergleich entscheide, müsse die ARAG/Garmenbeck-Grundsätze beachten. Auf die Business Judgment Rule könne er sich nur insoweit berufen, als ihm die ARAG-Grundsätze einen Spielraum belassen würden.19 Die herrschende Auffassung verpflichtet den Aufsichtsrat auf Verfolgung des Gesellschaftswohls (§§ 116 Satz 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG), ohne aber die ARAG/Garmenbeck-Grundsätze heranzuziehen. Sie hält den Verzichts- und Vergleichsvorschlag für eine unternehmerische Entscheidung, die unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einem engmaschigen gerichtlichen Zugriff entzogen ist.20 Manche Autoren betonen, dass die Business Judgment Rule nicht einschlägig ist, wenn die Aufsichtsratsmitglieder einem konkreten Interessenkonflikt unterliegen. Ein solcher Konflikt sei namentlich gegeben, wenn Anhaltspunkte für ein Überwachungsverschulden gegeben seien.21

III. Kontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses Was die Kontrolle des Zustimmungsbeschlusses der Hauptversammlung angeht, ist der einhelligen Auffassung zu folgen, die eine sachliche Rechtferti18 Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 151 ff., die eine Bindung an die ARAG-Grundsätze und die BJR ablehnen. 19 Hasselbach NZG 2016, 890, 891, der – entgegen der hier vertretenen Auffassung (s. § 15 III 4) – augenscheinlich davon ausgeht, dass dem AR bei der Verfolgungsentscheidung die BJR zugute kommt. In diese Richtung auch R. Werner CCZ 2011, 201, 202 f. 20 Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 503; Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 76; N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S.  215  ff.; Unmuth, Vergleich, S.  204  ff., insb. S.  217  ff. zur BJR; Dietz-Vellmer NZG 2011, 248, 251; Fleischer AG 2015, 133, 135; Habersack, FS Baums, S. 531, 539 ff.; Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 276 ff., insb. S. 280 ff. (zum allg. Sorgfaltsmaßstab) und S. 291 f. (zur BJR). Gegen die Anwendung des ARAG-Maßstabs auch Dendl, Disposition, S. 299 ff., der hinsichtlich der BJR danach differenziert, ob der AR den Vertrag vor oder nach dem Zustimmungsbeschluss der HV abgeschlossen hat. Im erstgenannten Fall sei der AR durch § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG geschützt, so dass kein Raum für die Anwendung der BJR bleibe. Bei einer nachträglichen Zustimmung sei die BJR anwendbar. 21 Fleischer AG 2015, 133, 135; Habersack, FS Baums, S. 531, 541; so wohl auch Hüffer/​ J.  Koch AktG §  93 Rn.  76 (bloße Möglichkeit des Überwachungsverschuldens be­ gründe keinen Interessenkonflikt). Auf Möglichkeit eines ermessensausschließenden Interessenkonflikts weist zudem Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 292 Fn. 149 hin. Auch Unmuth, Vergleich, S. 242 sieht in Interessenkonflikten eine Ermessensgrenze, geht aber auf das Problem des (potentiellen) Überwachungsverschuldens nicht ein. 603

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

gung des Beschlusses für entbehrlich hält. Nach der hier vertretenen Ansicht ist der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ohnehin überholt.22 Selbst wer diesem Ansatz nicht folgen will und an der Kali und Salz-Rechtsprechung festhält, muss berücksichtigen, dass ein Vergleich oder Verzicht nicht in die Mitgliedschaft der Aktionäre eingreift und deshalb nicht mit einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung23 vergleichbar ist. Überdies erlauben die gesetzlichen Vorgaben – namentlich die Widerspruchsmöglichkeit der qualifizierten Aktionärsminderheit – den Schluss, dass die Mehrheitsentscheidung die Rechtfertigung in sich trägt.24 Ebenfalls zutreffend stellt die herrschende Auffassung fest, dass der Zustimmungsbeschluss im Ermessen der Hauptversammlung liegt. Da §  93 Abs.  4 Satz 3 AktG keine inhaltlichen Vorgaben an die Aktionäre enthält, sind diese lediglich an die mitgliedschaftliche Treuepflicht gebunden. Der Beschluss muss zwar mit dem Gesellschaftswohl im Einklang stehen, es obliegt aber der Aktionärsmehrheit, das Gesellschaftswohl zu definieren. Gleichwohl geht es zu weit, wenn im Schrifttum vom freien Ermessen der Hauptversammlung die Rede ist. Vielmehr hat der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand, die ein Gericht in Anlehnung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG überprüfen darf. Die Zustimmung unterliegt nur dann der inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn die Hauptversammlung auf angemessener Informationsgrundlage und frei von qualifizierten Interessenkonflikten entschieden hat. Dies setzt namentlich eine ordnungsgemäße Entscheidungsvorbereitung durch den Aufsichtsrat voraus. Der Aufsichtsrat muss die Hauptversammlung nach § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG über den Vergleichs- und Verzichtsvorschlag informieren;25 gegebenenfalls ist den Aktionären nach §  131 Abs.  1 AktG Auskunft zu erteilen.26 Anderenfalls leidet der Beschluss an einem Verfahrensfehler und er unterliegt einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle.

22 Vgl. § 17 IV 2. 23 S. hierzu § 20 III 2. 24 Zu dieser Argumentation, die in der BGH-Rspr. angelegt ist, s. § 17 II 2. 25 Hierzu ausf. N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S. 227 ff.; Fleischer AG 2015, 133, 136. 26 Zur Auskunfterteilung ist die Gesellschaft verpflichtet, die dabei vom Vorstand vertreten wird. Dies gilt nach hM auch dann, wenn die Auskunft eine Angelegenheit betrifft, die in den Kompetenzbereich des AR fällt (s. nur Hölters/Drinhausen AktG §  131 Rn.  6; Hüffer/J. Koch AktG §  131 Rn.  7; Kubis in MüKoAktG §  131 Rn.  22; Siems in BeckOGK AktG § 131 Rn. 17). Diese Ansicht steht zwar mit dem Gesetzeswortlaut im Einklang, kann aber unter teleologischen Gesichtspunkten nicht überzeugen. Gerade bei Verzichts- und Vergleichsvorschlägen des AR liegt ein gravieren604

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Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder

Eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle ist auch geboten, wenn sich die Aktionäre in einem qualifizierten Interessenkonflikt befinden.27 Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn das Stimmverbot des § 136 Abs. 1 AktG nicht eingreift, ein Teil der Aktionäre aber dennoch ein gesteigertes Interesse an der Enthaftung der Vorstandsmitglieder hat. Denkbar ist etwa eine enge persönliche oder wirtschaftliche Beziehung zwischen dem Aktionär und dem betroffenen Geschäftsleiter, die namentlich in Familiengesellschaften auftreten kann. Insbesondere wenn die Gesellschaft eine geschlossene Struktur hat und der Zustimmungsbeschluss mit den Stimmen des befangenen Großak­ tionärs zustande gekommen ist, ist die gerichtliche Inhaltskontrolle zu inten­ sivieren, um die dissentierenden Aktionäre vor einem opportunistischen Zusammenwirken zwischen den Geschäftsleitern und dem Großaktionär zu schützen.28 Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass §  93 Abs.  4 Satz  3 AktG einer qualifizierten Aktionärsminderheit ein Vetorecht einräumt, was gegen die volle gerichtliche Kontrolle spricht.

IV. Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder 1. Verzicht und Vergleich als unternehmerische Entscheidungen Geht man zur Kontrolle des Aufsichtsratsvorschlags über, ist im Ausgangspunkt ebenfalls der herrschenden Ansicht zu folgen, die eine Bindung des Aufsichtsrats an die ARAG-Grundsätze ablehnt und den Verzicht oder Vergleich als eine unternehmerische Entscheidung einordnet, die unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG von einer gerichtlichen Inhaltskontrolle weitgehend freigestellt ist.29 Es wurde schon vielerorts betont, dass der BGH die Verfolgungsentscheidung des Aufsichtsrats an besondere Bedingungen knüpft, um der Gefahr vorzubeugen, dass die Verwaltungsorgane an der Hauptversammlung vorbei das Gesellschaftsvermögen belasten. Werden die Aktionäre an der Verzichts- oder Vergleichsentscheidung des Überwachungsorgans beteiligt, entfällt die Grundlage für eine gerichtliche Kontrolle, die über den allgemeinen Sorgfaltsstandard hinausgeht.30 Da das Gesetz keine inhaltder Interessenkonflikt des Vorstands nahe, so dass viel dafür spricht, im Wege der Rechtsfortbildung eine Kompetenz des AR zu begründen. 27 So auch Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 188 Fn. 648. 28 Zu den Kriterien für die Bestimmung der Kontrolldichte im Fall eines Interessenkonflikts s. § 18 V 6.  29 S. schon die Nachw. in Fn. 20 und die abweichenden Stimmen in Fn. 18 und 19. 30 Ausf. etwa N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S. 211 ff.; Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 275 ff. 605

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

lichen Anforderungen an den Beschlussvorschlag formuliert, ist das Überwachungsorgan allein dem Gesellschaftswohl verpflichtet und trifft damit eine unternehmerische Entscheidung.31 Auf der anderen Seite führt die Beteiligung der Hauptversammlung nicht dazu, dass der Aufsichtsrat ein freies Ermessen genießt. Die Autoren, die eine so weitreichende Lockerung der Aufsichtsratsentscheidung befürworten,32 gehen davon aus, dass die Zustimmung der Hauptversammlung inhaltlich nicht überprüft werden kann.33 Es wurde aber bereits in §  19 III erläutert, dass der Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung einer inhaltlichen Kontrolle unterliegt, deren Intensität in Anlehnung an die Business Judgment Rule zu bestimmen ist. Folgt man dem, ist der Verzichts- und Vergleichsvorschlag des Aufsichtsrats erst recht gem. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu überprüfen. Der Aufsichtsrat, der den Zustimmungsbeschluss vorbereitet, kann nicht mehr Freiräume genießen als die Hauptversammlung selbst. 2. Aufsichtsratsvorschlag als Voraussetzung für Hauptversammlungs­ ermessen Wendet man mit der herrschenden Meinung die Business Judgment Rule ohne Modifizierungen an, unterliegt der Aufsichtsratsvorschlag einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn er auf einer angemessenen Informationsgrundlage und frei von Interessenkonflikten erarbeitet wurde. Maßgeblich ist demnach, ob der Vorschlag völlig unverantwortlich ist.34 Die unmodifizierte Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hat den Vorteil, dass sie sich auf die Buchstaben des Gesetzes zurückführen lässt. Dieser Ansatz vernachlässigt aber den Zusammenhang zwischen dem Aufsichtsratsvorschlag und dem Hauptversammlungsbeschluss. Der Umstand, dass der Aufsichtsrat für die Vorberei-

31 Im Ergebnis auch N. Oltmanns, Verzichts- und Vergleichsvereinbarungen, S. 217 ff.; Unmuth, Vergleich, S. 217 ff.; Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 291 f. 32 So insb. Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 152 f. Auch andere Autoren tendieren augenscheinlich dazu, den Zustimmungsbeschluss der HV als ein Argument für einen weiten Ermessensspielraum des AR zu nutzen. Vgl. Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 278 f.: Das Zustimmungserfordernis ersetze weitgehend das Ermessen des AR zur Identifikation des Unternehmenswohls. Ähnlich Habersack, FS Baums, S. 531, 539. 33 So Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 151: keinerlei inhaltliche Bindungen. 34 Unmuth, Vergleich, S.  225  ff.; Fleischer AG 2015, 133, 136 (grobmaschige Evidenzkontrolle); Habersack, FS Baums, S. 531, 542. Für eine Missbrauchskontrolle Dendl, Disposition, S. 312. So wohl auch Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 76. Im Ergebnis ähnlich, freilich ohne die BJR anzuwenden Bayer/Ph. Scholz ZIP 2015, 149, 152. 606

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Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder

tung des Zustimmungsbeschlusses verantwortlich ist, spricht nämlich dafür, die richterliche Überprüfung seines Vorschlags zu intensivieren.35 Es wurde im Kontext der Vorstandsentscheidungen herausgearbeitet, dass die Lockerung der gerichtlichen Inhaltskontrolle dadurch kompensiert wird, dass sich das Gericht eingehend mit dem Entscheidungsverfahren auseinandersetzt.36 Der Kompensationsgedanke führt nach der hier vertretenen Auffassung insbesondere im Hinblick auf die Informationsgrundlage dazu, dass eine „informationelle Business Judgment Rule“ nicht anzuerkennen ist und die Informationsbeschaffung einer Vertretbarkeitskontrolle unterliegt.37 Dieser ­ Gedanke kann auch im Zusammenhang mit dem Verzichts- oder Vergleichsvorschlag des Aufsichtsrats aufgegriffen werden. Die Aktionärsmehrheit darf sich nur dann auf die Business Judgment Rule berufen, wenn der Aufsichtsrat den Zustimmungsbeschluss sorgfältig vorbereitet hat.38 Die gelockerte Inhaltskontrolle des Zustimmungsbeschlusses wird dadurch kompensiert, dass die Beschlussvorbereitung durch den Aufsichtsrat einer intensiveren richterlichen Kontrolle unterzogen wird. Hierzu gehört neben der Informationsbeschaffung durch den Aufsichtsrat auch die sorgfältige Ausarbeitung des Entscheidungsvorschlags. Neben dem strukturellen Vergleich mit den Überlegungen zum Vorstandsrecht können die psychologischen Auswirkungen des Aufsichtsratsvorschlags ins Feld geführt werden, um eine Intensivierung der richterlichen Überprüfung zu begründen. Es wird gemeinhin vernachlässigt, dass der Aufsichtsrat die Entscheidung der Hauptversammlung steuern kann, indem er den sog. Ankereffekt ausnutzt. Mit diesem Etikett wird das Phänomen versehen, dass Menschen bei ihren Entscheidungen nach Vergleichswerten suchen und sich deshalb von – teils willkürlich ausgewählten – Ausgangswerten beeinflussen lassen.39 Solche Ankereffekte wurden etwa bei der Schätzung der angemessenen Schmerzensgeldforderungen beobachtet, in denen die Probanden den Klägern höhere Beträge zusprachen, wenn die ursprüngliche Klageforderung hoch bemessen war. War die Klageforderung niedrig, sank die Entschädigungshöhe.40 Es liegt nicht fern, dass auch die Aktionäre durch solche Anker­ 35 In diese Richtung auch Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 281. 36 Dazu § 8 I 2. 37 S. im Einzelnen § 8 III 2. 38 Hierzu schon im Kontext der Informationsbeschaffung § 18 IV 3. 39 S.  aus dem juristischen Schrifttum etwa Korch, Haftung, S.  40  ff. oder Effer-Uhe, Anker­effekt, S. 71 f., jeweils mwN zur verhaltensökonomischen Literatur. 40 S. nur Korch, Haftung, S. 41 und Effer-Uhe, Ankereffekt, S. 71, 75 f., jeweils mwN und weiteren Beispielen. 607

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

effekte beeinflusst werden können und dem Vorschlag des Überwachungsorgans folgen, ohne seine Angemessenheit zu überprüfen.41 Dieser Umstand spricht dafür, die richterliche Inhaltskontrolle des Aufsichtsratsvorschlags zu intensivieren. Entscheidet der Aufsichtsrat auf einer angemessenen Informationsgrundlage und frei von Interessenkonflikten, ist sein Vorschlag  – abweichend vom Regelfall des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – auf die inhaltliche Vertretbarkeit zu überprüfen.42 3. Sonderinteressen als Ermessensgrenze Unabhängig davon, ob man den Vorschlag einer Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle unterwerfen will, muss der Aufsichtsrat auf angemessener Informationsgrundlage handeln.43 Hinsichtlich der Anforderungen an die Informationsbeschaffung ist an die Ausführungen in §  14  III anzuknüpfen. Der Aufsichtsrat muss nicht alle verfügbaren Informationen beschaffen; die Informationsbeschaffung unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle.44 Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wann der Aufsichtsrat und seine Mitglieder keinerlei diskretionäre Spielräume genießen, weil ihr Vorschlag von Sonderinteressen beeinflusst ist. Zu denken ist namentlich an einen verbandsinternen Inte­ ressenkonflikt,45 der aus dem Umstand resultiert, dass sich der Verzicht oder 41 Ob diese Arbeitshypothese zutrifft, kann nur durch eine (empirische oder experimentelle) Untersuchung verifiziert werden, die im Rahmen der rechtsdogmatischen Arbeit nicht geleistet werden kann. Lassen sich die Ankereffekte im Kontext des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nicht beobachten, ist freilich eine unmodifizierte Anwendung der BJR und damit eine inhaltliche Evidenzkontrolle vorzugswürdig. Zum Einfluss der Verwaltungsorgane auf die Willensbildung der Aktionäre im Kontext des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG allg. Gaschler, Klagezulassungsverfahren, S. 192 f. 42 Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob die AR-Mitglieder zur Verantwortung gezogen werden können, wenn die HV den Vertragsentwurf im Wesentlichen billigt. Es spricht viel dafür, dass ein solcher Beschluss nach dem Rechtsgedanken des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG eine Legalisierungswirkung zugunsten des AR-Vorschlags entfaltet. Zwar beruht der Vorschlag nicht auf dem Zustimmungsbeschluss der HV, weil er dem Beschluss vorgeschaltet ist, jedoch lässt sich § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG die Aussage entnehmen, dass die Organmitglieder nicht auf Schadensersatz haften, wenn sie im Sinne der HV handeln. In diese Richtung Wilsing, FS Haarmann, S. 257, 288 ff., 293 f. Im Ergebnis auch Habersack, FS Baums, S. 531, 543 f., ohne aber auf die Wertung des § 93 Abs. 4 Satz 1 AktG zurückgreifen zu wollen. 43 Zur Informationsgrundlage jenseits des sachlichen Anwendungsbereichs der BJR s. § 9 III 2 b. 44 Speziell zur Informationsbeschaffung bei Vergleichsvorbereitung Fleischer AG 2015, 133, 136. 45 Zu dieser Kategorie s. § 14 IV 1 b. 608

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Kontrolle des Aufsichtsrats und seiner Mitglieder

Vergleich auf eine pflichtwidrige Entscheidung der Vorstandsmitglieder bezieht und deshalb zugleich ein Überwachungsverschulden des Aufsichtsrats vorliegen kann. Ein ermessensausschließender Interessenkonflikt liegt jedenfalls vor, wenn greifbare Anhaltspunkte für ein Kontrollversagen der Aufsichtsratsmitglieder vorliegen.46 Sind solche Anhaltspunkte nicht gegeben, hält die herrschende Auffassung im Kontext des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG die bloße Möglichkeit eines Über­ wachungsverschuldens für nicht ausreichend, um die Befangenheit der Aufsichtsratsmitglieder anzunehmen.47 Begründet wird dies in erster Linie mit einer Rechtsfolgenbetrachtung: Schlösse man aus einem potentiellen Kontrollversagen auf einen Interessenkonflikt, liege der Vergleichsbeschluss nur dann im sicheren Hafen, wenn die Aufsichtsratsmitglieder im Zeitpunkt der pflichtwidrigen Geschäftsleitermaßnahme dem Aufsichtsrat noch nicht angehört hätten. Damit liefe die Anwendbarkeit der Business Judgment Rule auf den Vergleichsbeschluss weitgehend leer. Erstreckt man den Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG entgegen der hier vertretenen Auffassung auf den Aufsichtsratsvorschlag, führt die Rechtsfolgenbetrachtung auf den ersten Blick zu stichhaltigen Ergebnissen, weil sie der Bedeutungslosigkeit der Business Judgment Rule in Fällen des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG entgegenwirkt. Allerdings geht sie zu weit. So ist zu beachten, dass der Aufsichtsrat die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG trotz des potentiellen Interessenkonflikts einzelner Mitglieder aufrechterhalten kann, wenn er diese nicht über den Aufsichtsratsbeschluss beraten und abstimmen lässt.48 Auf diesem Wege kann er verhindern, dass die Business Judgment Rule im Zusammenhang mit § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ihre praktische Bedeutung verliert. Außerdem passt das großzügige Verständnis des Interessenkonflikts nicht zum Zweck des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, der gerade einer Situation vorbeugen soll, in der Vorstand und Aufsichtsrat hinter dem Rücken der Aktionäre einen für die Gesellschaft ungünstigen Vertrag auskungeln. Dieser Zweck wäre konterkariert, wenn potenziell befangene Aufsichtsratsmitglieder an der Ausarbeitung des Vertragsentwurfs beteiligt sein könnten, ohne dass sie eine engmaschigere richterliche Kontrolle befürchten müssten. Diese Überlegungen gelten auch dann, wenn mit der hier vertretenen Ansicht die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf den Aufsichtsratsvorschlag ablehnt und eine Vertretbarkeitskontrolle bevorzugt. Der verbandsinterne Inte­ 46 S. schon die Nachw. in Fn. 21. 47 Zum Folgenden Habersack, FS Baums, S. 531, 541. Dem folgend Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 76. 48 Hierzu § 8 V 4 b mit Fn. 268 und J. Koch ZGR 2014, 697, 719 ff. 609

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Vergleich nach § 93 Abs. 4 AktG

ressenkonflikt des Aufsichtsrats steht einer Letztentscheidungskompetenz auch jenseits der Business Judgment Rule entgegen. Im Hinblick darauf erscheint es angezeigt, die Auswirkungen der Sonderinte­ ressen, die aus einem potentiellen Kontrollversagen des Aufsichtsrats resultieren, auf der Darlegungs- und Beweislastebene zu berücksichtigen. Nach der hier vertretenen Auffassung gelten in einem Haftungsprozess die Grundsätze der sekundären Darlegungslast. Im Ausgangspunkt obliegt es nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG den Aufsichtsratsmitgliedern, in einem Haftungsprozess zu beweisen, dass sie im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht befangen waren. Da der Interessenkonflikt aber eine negative Tatsache ist, müssen die Aufsichtsratsmitglieder diesen Beweis nur dann führen, wenn die Gesellschaft greifbare Anhaltspunkte dafür vorträgt, dass die Sonderinteressen die Entscheidung beeinflussen konnten.49 Vor dieser sekundären Darlegungslast ist die Gesellschaft im Rahmen des §  93 Abs.  4 Satz  3 AktG befreit, wenn die ­Befangenheit der Aufsichtsratsmitglieder mit dem potentiellen Kontrollversagen der Aufsichtsratsmitglieder begründet wird. In einem solchen Fall muss das betroffene Aufsichtsratsmitglied von sich aus darlegen und beweisen, dass es kein Überwachungsverschulden trifft. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass ein potentieller Interessenkonflikt einerseits nicht völlig ignoriert wird, das Aufsichtsratsmitglied andererseits eine Letztentscheidungskompetenz im Hinblick auf den Verzichts- oder Vergleichsvorschlag genießen kann, wenn ihm der Beweis einer pflichtkonformen Vorstandskontrolle gelingt.

49 S. § 8 VI 1 (zum Vorstand). 610

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§ 20 Kapitalmaßnahmen I. Überblick Eine weitere Querschnittsmaterie, bei der die Verwaltungsorgane und die Gesellschafter gemeinsam agieren müssen, sind die Kapitalmaßnahmen.1 Wie schon in § 19 I angedeutet, obliegt die Initiative für die Einleitung der Kapitalmaßnahmen dem Vorstand, der nach herrschender Ansicht die Finanzierungsverantwortung trägt.2 Dies kommt darin zum Ausdruck, dass der Vorstand die Hauptversammlung vorbereitet und dabei den Beschluss über eine Kapitalmaßnahme auf die Tagesordnung setzen kann (s. § 121 Abs. 3 Satz 2 AktG).3 Der Hauptversammlung obliegt es, die Erhöhung oder Herabsetzung des Grundkapitals zu beschließen bzw. den Vorstand zu ermächtigen, genehmigtes Kapital zu nutzen. Die Durchführung der Kapitalmaßnahmen fällt in den Verantwortungsbereich der Verwaltungsorgane.4 Dabei kann ihnen die Hauptversammlung Entscheidungsspielräume gewähren, etwa bei der Frage, in welcher Höhe der Ausgabebetrag festgesetzt werden soll5 oder ob bei der Ausnutzung genehmigten Kapitals das Bezugsrecht ausgeschlossen werden soll.6

II. Gerichtliche Kontrolle der Kapitalbeschaffung 1. Vorstandsinitiative zur Kapitalbeschaffung Analysiert man die einzelnen Schritte, die anlässlich einer Kapitalerhöhung vorgenommen werden müssen, liegt jedenfalls die Initialzündung des Vor1 Die folgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf Kapitalmaßnahmen in einer AG, sind aber cum grano salis auf die GmbH übertragbar. 2 Ekkenga in KK-AktG Vor § 182 Rn. 59 ff.; Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 176; Seibt ZIP 2013, 1597 f. 3 Dass die qualifizierte Aktionärsminderheit nach §  122 Abs.  2, 3 AktG eine Kapitalmaßnahme initiiert, dürfte der Ausnahmefall sein, s. Ekkenga/Jaspers in HdB AG-Finanzierung Kap. 4 Rn. 79. Hierzu noch die Fn. 11. 4 Zur Unterscheidung zwischen dem Beschluss und der Durchführung s. etwa Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 182 Rn. 4. 5 Hierzu § 20 III 3. Der Begriff „Ausgabebetrag“ wird im Folgenden synonym mit dem Begriff „Bezugspreis“ verwendet; zu den Unterschieden s. Kocher/Feigen CFL 2013, 116 f.; Tielmann, FS E. Vetter, S. 819, 820 f. 6 Hierzu § 20 III 2 d. 611

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Kapitalmaßnahmen

stands im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Die Aufnahme neuen Eigenkapitals ist ein Instrument der Unternehmensfinanzierung, die in der Verantwortung des Vorstands liegt. Dieser kann im Ausgangspunkt selbständig entscheiden, auf welchem Weg er für die Kapitalausstattung der Gesellschaft sorgt. Er kann sich an Fremdkapitalgeber wenden und einen Kredit aufnehmen oder Anleihen emittieren, er kann aber auch die Eigen­ kapitalbasis stärken und eine Kapitalerhöhung initiieren.7 Im letztgenannten Fall muss der Vorstand entscheiden, ob er einen Beschluss über die reguläre oder bedingte Kapitalerhöhung anregt oder ob er der Hauptversammlung vorschlägt, ihn nach §§ 202 ff. AktG zur Kapitalerhöhung zu ermächtigen. Bei den vorgenannten Weichenstellungen muss sich der Vorstand allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen und unterliegt dabei – von den Sonderregeln über die Kapitalausstattung der Kreditinstitute und Versicherungen abgesehen8 – keinen gesetzlichen Bindungen. Überdies gibt es keine festen ökonomischen Kriterien, die einen Aufschluss über einen optimalen Mix zwischen Eigen- und Fremdkapitalquote geben. Die im betriebswirtschaftlichen Schrifttum anzutreffenden „goldenen Finanzierungsregeln“ nehmen keine Rücksicht auf die Größe, den aktuellen Kapitalbedarf, die Branchenzugehörigkeit oder die Konjunktur und sind damit zu pauschal, um als eine verlässliche Richt­ schnur für die komplexe Unternehmensfinanzierung zu dienen.9 Vor diesem Hintergrund sprechen die normstrukturelle Analyse und der Adäquanzgedanke  – namentlich das außerrechtliche Erkenntnisvakuum10  – dafür, dass der Vorstand im Rahmen der Finanzierungsverantwortung unternehmerische Entscheidungen trifft, die nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kontrolliert werden können.11 7 Zum Unterschied zwischen Eigen- und Fremdkapital statt vieler Schürnbrand/Verse in MüKoAktG Vor § 182 Rn. 17 ff. 8 Zu nennen sind insb. die Kapitalvorgaben in Art. 25 ff. CRR. 9 Zur Kritik der Finanzierungsregeln etwa Michalski/Fleischer GmbHG Systematische Darstellung 5 Rn. 34 ff. S. ferner Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 176: „Die eine richtige Finanzierung gibt es nicht“. 10 Hierzu bereits § 5 II 4, § 6 III 3 und § 8 II 4. 11 So auch Ekkenga in KK-AktG Vor § 182 Rn. 59; Ekkenga/Jaspers in HdB AG-Finanzierung Kap. 4 Rn. 77; Seibt ZIP 2013, 1597, 1598 (Leitungsermessen), 1602 (BJR – mit aufschlussreichen Ausführungen zur Informationsgrundlage). Die BJR ist auch entsprechend anwendbar, wenn eine qualifizierte Aktionärsminderheit nach §  122 Abs. 2, 3 AktG einen Antrag stellt, eine Kapitalmaßnahme auf die HV-Tagesordnung zu setzen. Die inhaltliche Überprüfung des Antrags durch den Vorstand bzw. durch das Gericht ist auf bloße Evidenzkontrolle beschränkt. Im Schrifttum ist von der Missbrauchskontrolle die Rede (s. Hüffer/J. Koch AktG §  122 Rn.  9a; Rieckers in 612

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Gerichtliche Kontrolle der Kapitalbeschaffung

2. Kapitalerhöhungsbeschluss So wie der Vorstand bei der Initialzündung unternehmerisches Ermessen genießt, trifft die Hauptversammlung eine unternehmerische Entscheidung, wenn sie die reguläre oder bedingte Kapitalerhöhung beschließt oder den Vorstand ermächtigt, genehmigtes Kapital auszunutzen. Der Beschluss steht unter dem Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn die Verwaltungsorgane die Beschlussfassung ordnungsgemäß vorbereitet haben und die Aktionäre frei von qualifizierten Interessenkonflikten entscheiden.12 Sind die prozeduralen Vorgaben der Business Judgment Rule erfüllt, unterliegt namentlich die Frage, ob die Aufnahme von Eigenkapital erforderlich ist oder ob die Fremdkapitalbeschaffung vorzugswürdig ist, einer Evidenzkontrolle. Eine Intensivierung der richterlichen Überprüfung kann insbesondere wegen etwaiger Sonderinteressen der Aktionäre geboten sein, die in § 20 III näher beleuchtet werden. Die Business Judgment Rule ist im Grundsatz auch einschlägig, wenn der Vorstand die Ermächtigung nach § 202 AktG ausnutzt und eine Kapitalerhöhung beschließt.13 In Fällen des genehmigten Kapitals überträgt die Hauptversammlung das ihr zustehende unternehmerische Ermessen auf den Vorstand, dessen Entscheidung gem. §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einer engmaschigen gerichtlichen Kontrolle entzogen ist, wenn er auf Grundlage angemessener Information und frei von Sonderinteressen entscheidet;14 diese Grundsätze gelten auch für den Aufsichtsratsbeschluss nach § 204 Abs. 1 Satz 2 AktG.15 Auf den problematischen Fall des Bezugsrechtsausschlusses durch den Vorstand wird noch in § 20 III 2 d eingegangen.

BeckOGK AktG § 122 Rn. 52), was zu ähnlichen Ergebnissen führen dürfte wie die Anwendung der BJR. 12 Hierzu im Allgemeinen § 18 IV und V. 13 Zum Beschluss als rechtstechnischem Mittel bei der Ausübung der Ermächtigung s. nur Bayer in MüKoAktG § 202 Rn. 88. 14 Für Anwendung der BJR Veil in K. Schmidt/Lutter AktG § 203 Rn. 30; Pfertner, Entscheidungen, S. 213 ff.; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 197. In der Kommentarliteratur ist meist vom pflichtgemäßen oder unternehmerischen Ermessen die Rede, s. Bayer in MüKoAktG §  202 Rn.  87; Hüffer/J. Koch AktG §  202 Rn.  20; Grigoleit/ Rieder/Holzmann AktG §  202 Rn.  23; Wamser in BeckOGK AktG §  202 Rn.  86; s. ferner Habersack, FS Marsch-Barner, S.  203, 210.  AA Buse, Agency-Konstellation, S. 210 ff., der die BJR für unpassend hält. 15 S. nur Veil in K. Schmidt/Lutter AktG § 203 Rn. 31; Habersack, FS Marsch-Barner, S. 203, 210. 613

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Kapitalmaßnahmen

3. Durchführung der Kapitalerhöhung Ist die (reguläre) Kapitalerhöhung beschlossen, liegen die weiteren Schritte im Verantwortungsbereich des Vorstands, der gem. § 83 Abs. 2 AktG verpflichtet ist, die von der Hauptversammlung beschlossenen Maßnahmen auszuführen. Ob der Vorstand etwaige Freiräume genießt, hängt von der Ausgestaltung des Hauptversammlungsbeschlusses ab.16 Die Business Judgment Rule greift jedenfalls dann nicht ein, wenn die Hauptversammlung die Einzelheiten der Kapitalerhöhung festgelegt hat und der Vorstand als ein reines Ausführungsor­ gan handelt, dessen Aufgabe allein darin besteht, die Zeichnung der jungen Aktien zu organisieren und die Kapitalerhöhung sowie ihre Durchführung17 in das Handelsregister eintragen zu lassen.18 Überlässt der Beschluss die Festlegung der Durchführungsmodalitäten dem Vorstand, muss sich dieser allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen und kann sich auf die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen.19

III. Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung 1. Problemstellung und Systematisierung der Konstellationen Auch wenn die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung grundsätzlich im Anwendungsbereich des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegen, kann eine intensivierte Kontrolle namentlich wegen Sonderinteressen der Verwaltungsmitglieder und Aktionäre geboten sein. Die Maßnahmen der Kapitalbeschaffung sind für Interessenkonflikte besonders 16 Die Lage ist mit der Situation vergleichbar, in der die GmbH-Gesellschafterversammlung dem Geschäftsführer eine Weisung erteilt. Wie in §  12 III 2 herausgearbeitet wurde, hängt die Anwendbarkeit der BJR maßgeblich davon ab, ob die Weisung final oder konditional formuliert ist. S. dazu auch Pfertner, Entscheidungen, S. 202. 17 Die Eintragung der Kapitalerhöhung (§  184 AktG) und der Durchführung (§  188 AktG) sind zwar nach gesetzlichem Leitbild zwei separate Akte, sie können aber nach §  188 Abs.  4 AktG verbunden werden, wovon die Praxis meist Gebrauch macht, s. Ekkenga in KK-AktG § 184 Rn. 2; Hüffer/J. Koch AktG § 184 Rn. 1. 18 Gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zutr. Ekkenga in KK-AktG § 184 Rn. 3, § 188 Rn. 9; Pfertner, Entscheidungen, S. 209 ff. 19 Enger wohl Ekkenga/Jaspers in HdB AG-Finanzierung Kap.  4 Rn.  77, die augenscheinlich auch dann gegen die Anwendung der BJR im Bereich des § 83 Abs. 2 AktG plädieren, wenn die HV dem Vorstand Gestaltungsspielräume überlassen hat. Zu den Einschränkungen im Zusammenhang mit der Festsetzung des Bezugspreises s. noch in § 20 III 3. 614

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Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung

anfällig, weil sie die Zusammensetzung des Aktionariats beeinflussen und dadurch zur Machtverschiebungen innerhalb der Gesellschaft führen können, was für manche Aktionäre einen Sondervorteil, für andere einen Sondernachteil nach sich ziehen kann. Am deutlichsten tritt die Gefahr der Machtverschiebung zutage, wenn die Hauptversammlung (§ 182 Abs. 3, 4 AktG) oder die Verwaltungsorgane (§ 203 Abs. 2, § 204 Abs. 1 Satz 2 AktG) das Bezugsrecht der Aktionäre förmlich ausschließen.20 Ein ähnlicher Effekt kann eintreten, wenn die Aktionäre zwar formell bezugsberechtigt sind, die Ausgabebedingungen aber so festgelegt sind, dass sie die Aktionäre von der Ausübung des Bezugsrechts abhalten können. Solche Fälle werden unter dem Etikett „faktischer Bezugsrechtsausschluss“ insbesondere dann diskutiert, wenn der Bezugspreis unangemessen hoch ist.21 Umgekehrt können Interessenkonflikte eine Intensivierung der richterlichen Prüfungsdichte gebieten, wenn der Ausgabepreis so niedrig ist, dass er in Fällen der bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung den Vorgaben des §  255 Abs.  2 AktG nicht entspricht22 oder zu einem „faktischen Bezugszwang“ führt.23 2. Bezugsrechtsausschluss a) Rechtsentwicklung und Meinungsstand Beginnt man die Untersuchung ermessensausschließender Interessenkonflikte bei bezugsrechtsloser Kapitalerhöhung, kommt man nicht umhin, einen kurzen Blick auf die Rechtsentwicklung zu werfen. Wie schon in § 17 II 2 erläutert, nahm der BGH die Anteilsverwässerung, die mit dem Bezugsrechtsausschluss einhergeht, zum Anlass, in der Kali und Salz-Entscheidung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung aufzustellen: Der Eingriff in die Mitgliedschaft müsse verhältnismäßig sein. Allerdings schränkte der II. Zivilsenat in einem Atemzug die richterliche Prüfungsdichte ein: Es könne auch nicht die Aufgabe der Gerichte sein, die eigene wirtschaftliche Beurteilung nachträglich an die Stelle einer in freier unternehmerischer Verantwortung beschlossenen, sachlich abgewogenen Entscheidung zu setzen. Es müsse vielmehr genügen, dass die an der Entscheidung beteiligten Organe nach dem tatsächlichen Bild, wie es sich zur Zeit der Beschlussfassung dargeboten habe, aufgrund sorgfältiger, 20 Hierzu in § 20 III 2. 21 S. dazu § 20 III 3 a. Zu weiteren Fallgruppen des faktischen Bezugsrechtsausschlusses Kuntz/Stegemann ZIP 2016, 2341, 2342 ff. 22 Im Einzelnen § 20 III 3 b. 23 Hierzu § 20 III 3 c. 615

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Kapitalmaßnahmen

von gesellschaftsfremden Erwägungen freier Abwägung davon ausgehen dürften, die Kapitalerhöhung sei zum Besten der Gesellschaft und damit letztlich aller Aktionäre.24 Dass die Hauptversammlung beim Bezugsrechtsausschluss ein unternehmerisches Ermessen genießt, hat auch das Schrifttum betont25 und der BGH in späteren Entscheidungen bestätigt.26 Nach der Kodifizierung der Business Judgment Rule im Zuge des UMAG steht ein Großteil des Schrifttums auf dem Standpunkt, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf den Beschluss über die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung anwendbar ist.27 Manche Autoren sprechen in der Tradition der früheren Rechtsprechung vom unternehmerischen Ermessen, ohne sich auf § 93 Abs. 1 Satz AktG zu beziehen,28 andere lehnen die Anwendung der Business Judgment Rule ab und räumen der Hauptversammlung stattdessen einen Beurteilungsspielraum ein.29 Ähnlich kontrovers ist die Diskussion um die Pflichtenbindung und Gestaltungsspielräume der Gesellschaftsorgane im Zusammenhang mit dem Bezugsrechtsausschluss bei genehmigtem Kapital. Noch im Holzmann-Urteil übertrug der BGH die Kali und Salz-Grundsätze auf den Ermächtigungs­ beschluss der Hauptversammlung30 und hielt in späteren Entscheidungen ­daran fest, dass sich die Aktionärsmehrheit auf unternehmerisches Ermessen berufen darf.31 Sodann gab der II. Zivilsenat im Siemens/Nold-Urteil den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung für das genehmigte Kapital auf32 und verlagerte die Kontrolle auf die Ausübung der Ermächtigung zur bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung durch die Verwaltungsorgane.

24 BGHZ 71, 40, 49 f. = NJW 1978, 1316. 25 S. schon die Nachw. in § 18 I Fn. 2. 26 BGHZ 125, 239, 246 = NJW 1994, 1410 (zum genehmigten Kapital). 27 Hölters/Apfelbacher/Niggemann AktG §  186 Rn.  65; Wachter/Dürr AktG §  186 Rn.  25; Schürnbrand/Verse in MüKoAktG §  186 Rn.  114  f.; Servatius in BeckOGK AktG § 186 Rn. 60. Aus der Rspr. LG Kiel NJOZ 2010, 1330, 1332. 28 Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 186 Rn. 56; Kruse in Mülbert/Habersack/Schlitt Unternehmensfinanzierung Rn. 6.11. 29 Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 70 f. (für Beurteilungsspielraum) und Rn. 73 (gegen die Anwendung der BJR); Hüffer/J. Koch AktG § 186 Rn. 36 (verwaltungsrechtl. Beurteilungsermächtigung); Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 120 (objektive richterliche Nachprüfung erforderlich); Wiedemann WM 2009, 1, 9 (keine bloße Unternehmensleitung, sondern auch Gesellschaftsgestaltung). 30 BGHZ 83, 319, 320 ff. = NJW 1982, 2444. 31 BGHZ 125, 239, 246 = NJW 1994, 1410. 32 BGHZ 136, 133, 136 ff. = NJW 1997, 2815. 616

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Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung

Wie intensiv die gerichtliche Überprüfung der Verwaltungsbeschlüsse ausfallen darf, lässt sich der BGH-Rechtsprechung nicht zweifelsfrei entnehmen. Während der BGH im Siemens/Nold-Urteil zu einer eher grobmaschigen Kontrolle tendierte,33 betonte er in späteren Judikaten die Notwendigkeit eines effektiven Aktionärsschutzes.34 Diese Aussagen lassen sich dahingehend deuten, dass die Kontrollintensität zu erhöhen ist.35 Das Meinungsbild im Schrifttum ist wie bei der regulären Kapitalerhöhung geteilt: Manche wollen §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG auf die Ausübung der Ermächtigung anwenden36 oder räumen den Verwaltungsorganen im Anschluss an das Siemens/Nold-Urteil unternehmerisches Ermessen ein,37 andere plädieren für eine intensivere gerichtliche Kontrolle des Bezugsrechtsausschlusses.38

33 S. BGHZ 136, 133, 139 f. = NJW 1997, 2815: unternehmerisches Ermessen. So etwa die Deutung von Schumann, Bezugsrecht, S.  141  ff. (in Anlehnung an das ARAG/ Garmenbeck-Urteil und die BJR). 34 So im Zusammenhang mit der Zulässigkeit einer Feststellungsklage der BGH im Commerzbank/Mangusta II-Urteil, s. BGHZ 164, 249, 254 f. = NJW 2006, 374. S. ferner BGH NJW-RR 2006, 471 Rn. 7: gerichtlich überprüfbares Ermessen. Für die Anwendung der BJR aber OLG Nürnberg NZG 2018, 500 Rn. 67 ff. Für unternehmerisches Ermessen OLG Stuttgart AG 2019, 527, 538 (zum Erwerb eigener Aktien). 35 So auch das Verständnis von K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 59 Rn. 61. Zurückhaltender augenscheinlich Bungert BB 2005, 2757, 2759.  36 Veil in K. Schmidt/Lutter AktG § 203 Rn. 30 iVm § 186 Rn. 29; Kruse in Mülbert/Habersack/Schlitt Unternehmensfinanzierung Rn. 6.52; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV §  59 Rn.  62; Pfertner, Entscheidungen, S.  214; Schlimm, Geschäftsleiterermessen, S. 197 f.; Decher ZGR 2019, 1122, 1148 ff.; Groß-Langenhoff StudZR 2007, 43, 59 f. Für Einordnung als unternehmerische Entscheidung S.H. Schneider DB 2005, 707, 711; Waclawik ZIP 2006, 397, 405. So wohl auch Bungert BB 2005, 2757, 2759. Unklar Stöber in HdB AG-Finanzierung Kap. 5 Rn.  77, der einerseits die BJR anwenden will, andererseits aber feststellt, dass „sich der Ermessensspielraum nicht nach dem Umfang der aktienrechtlichen Leitungs- und Geschäftsführungsautonomie (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG)“ bemisst. Gegen die Anwendung der BJR noch Ekkenga/Bernau in HdB AG-Finanzierung, 1. Aufl., Kap. 5 Rn. 78. 37 Hölters/Apfelbacher/Niggemann AktG §  203 Rn.  52; Bayer in MüKoAktG §  203 Rn. 170; Wachter/Dürr AktG § 203 Rn. 20; Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 203 Rn.  29; Wasmer in BeckOGK AktG §  203 Rn.  97; Hofmann, Minderheitsschutz, S. Busch NZG 2006, 81, 85; Niggemann/Wansleben AG 2013, 269, 271. 38 Hüffer/J. Koch AktG § 203 Rn. 33; Eisele, Hafen, S. 339 ff.: keine BJR, aber doch Beurteilungsspielraum der HV/des Vorstands. Ähnlich Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 591. Gegen die Anwendung der BJR ferner Buse, Agency-Konstellation, S. 210; Köster, Rechtsschutz, S. 54 ff.; Mülbert, FS Schwark, S. 553, 564 ff. (im Hinblick auf die Abwägung des Gesellschaftsinteresses mit den Interessen der Aktionäre). 617

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b) Bezugsrechtsausschluss als unternehmerische Entscheidung Beginnt man die Untersuchung mit dem Bezugsrechtsausschluss im Rahmen der regulären Kapitalerhöhung, ist daran zu erinnern, dass der Kapitalerhöhungsbeschluss – wie schon in § 17 IV 2 erläutert – im Ausgangspunkt keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf, sondern am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht daraufhin überprüft wird, ob er mit dem Gesellschaftsinte­ resse im Einklang steht. Die Vereinbarkeit mit dem Gesellschaftsinteresse ist namentlich zu bejahen, wenn die Voraussetzungen des erleichterten Bezugsrechtsausschlusses (§ 186 Abs. 3 Satz 4 AktG) erfüllt sind. In § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG hat der Gesetzgeber ausbuchstabiert, in welchen Fällen die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung nicht zu beanstanden ist. Greift § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG ein, erübrigt sich der Rückgriff auf die Treuepflicht.39 Ist § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG nicht einschlägig, stellt sich die Frage, ob sich der Bezugsrechtsausschluss mit dem Gesellschaftswohl vereinbaren lässt. Um die Intensität der richterlichen Kontrolle zu bestimmen, ist zunächst zu klären, ob die Entscheidung der Hauptversammlung als unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu qualifizieren ist. Wie in den anderen Fällen sind dabei die normstrukturelle Analyse und der Adäquanzgedanke maßgeblich. Beide sprechen für den unternehmerischen Charakter des Bezugsrechtsausschlusses. Lehnt man mit der hier vertretenen Auffassung den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ab, formuliert das Aktienrecht – vom Angemessenheitsgebot hinsichtlich des Bezugspreises (§ 255 Abs. 2 AktG) abgesehen, das in § 20 III 3 b behandelt wird – keine materiellen Voraussetzungen, unter denen die Hauptversammlung das Bezugsrecht ausschließen darf. Vielmehr sind die Aktionäre allein dem Gesellschaftswohl verpflichtet und damit auch im Rahmen der Entscheidung über die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung final gesteuert. Dagegen lässt sich nicht einwenden, dass der Bezugsrechtsausschluss nicht nur eine Frage der Unternehmensleitung, sondern auch der Gesellschaftsgestaltung sei.40 Es wurde bereits in § 20 II erläutert, dass die Kapitalmaßnahmen die Unternehmensfinanzierung und damit den Kernbereich der Unternehmensleitung betreffen. Es leuchtet nicht ein, worin der Kompetenzvorsprung der Gerichte bei der Ausgestaltung der Finanzierungsmaßnahmen liegen 39 S.  etwa Decher ZGR 2019, 1122, 1149 (zum Grundsatz sachlicher Rechtfertigung). Allerdings darf der Beschluss weiterhin am Maßstab des Gleichbehandlungsgrundsatzes gemessen werden, s.  BGH NJW 2018, 2796 Rn.  41  ff.; Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 150 ff. 40 So aber Wiedemann WM 2009, 1, 9. Dem folgend Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 73. 618

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soll.41 Dies gilt auch für die Frage, wer zu der Finanzierung beiträgt: alle Aktionäre oder nur ausgewählte Personen? Freilich führt dieser Befund nicht dazu, dass die gerichtliche Kontrolle des Bezugsrechtsausschlusses gänzlich unterbleiben soll. Wie eingangs erläutert, muss der Beschluss der Überprüfung am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht standhalten; der Bezugsrechtsausschluss muss im Gesellschaftsinteresse liegen. Prüft man die einzelnen Tatbestandsmerkmale des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, kann man das Gesellschaftsinteresse gezielter schützen als durch einen pauschalen Ausschluss der Business Judgment Rule. So kann die Hauptversammlung die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur in Anspruch nehmen, wenn sie das Bezugsrecht auf angemessener Informationsgrundlage ausschließt. Dies setzt insbesondere einen Vorstandsbericht voraus, der den inhaltlichen Anforderungen des § 186 Abs. 4 Satz 2 AktG entspricht. Liegt kein oder ein unzureichender Bericht vor, ist der Kapitalerhöhungsbeschluss nicht nur wegen eines Verfahrensfehlers anfechtbar,42 sondern er unterliegt überdies einer engmaschigeren inhaltlichen Überprüfung.43 c) Qualifizierte Interessenkonflikte bei regulärer Kapitalerhöhung Eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle ist überdies geboten, wenn die Aktionäre bei der Beschlussfassung unter Einfluss eines qualifizierten Interessenkonflikts standen. Ein solcher Konflikt liegt vor, wenn der Bezugsrechtsausschluss für einen Aktionär oder eine Aktionärsgruppe mit einem Sondervorteil oder einem Sondernachteil verbunden ist.44 In einem solchen Fall steigt das Risiko, dass die beschlusstragende Mehrheit sich opportunistisch verhält und das Gesellschaftsinteresse aus dem Auge verliert, statt die widerstreitenden Aktionärsinteressen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. Die Herausforderung liegt darin, Konstellationen zu identifizieren, in denen der Interessenkonflikt so schwer wiegt, dass das Beschlussverfahren die Richtigkeitsvermutung im Hinblick auf den Beschlussinhalt nicht trägt. Die fehlen41 Zudem greift es zu kurz, auf die Eindämmung der Haftungsrisiken zu verweisen, um die Anwendung der BJR abzulehnen (so aber Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 73 aE). Wie schon in § 6 I, § 7 IV und § 18 I ausgeführt, dient die BJR auch dem Schutz des Beschlusses vor einer engmaschigen richterlichen Inhaltskontrolle. 42 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 186 Rn. 42. 43 S.  hierzu §  18 IV 4.  Vgl. ferner Schürnbrand/Verse in MüKoAktG §  186 Rn.  115 Fn. 359. 44 Zum Zusammenhang zwischen der richterlichen Prüfungsdichte und den qualifizierten Sonderinteressen der Gesellschafter s. bereits in § 18 V 3. 619

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de Legitimation des Verfahrens darf jedenfalls nicht damit begründet werden, dass die Aktionäre ihr Bezugsrecht verlieren und deshalb einen Sondernachteil erleiden. Eine solche Argumentation führte dazu, dass das Tatbestandsmerkmal des Interessenkonflikts seine Filterfunktion verlöre und jede bezugsrechtslose Kapitalerhöhung einer intensivierten richterlichen Inhaltskontrolle unterläge, was mit dem unternehmerischen Charakter der Finanzierungsmaßnahme in Widerspruch stünde.45 Schließt die Mehrheit das Bezugsrecht aller Aktionäre aus, um einen externen Investor zu gewinnen46 oder um die jungen Aktien an einem ausländischen Handelsplatz zu platzieren,47 und müssen alle Aktionäre dieselbe Verwässerung ihrer Beteiligung hinnehmen, liegt keine Sonderbehandlung vor und die Entscheidung ist daraufhin zu überprüfen, ob sie völlig unverantwortlich ist. Eine andere Beurteilung ist angezeigt, wenn die jungen Aktien einem Aktionär  oder einem begrenzten Aktionärskreis zugeteilt werden.48 In einem solchen Fall werden diese Aktionäre gegenüber den Anteilseignern bevorzugt, die kein Bezugsrecht ausüben können. Dies begründet die Gefahr einer op­ portunistischen Entscheidung und ist Anlass genug, um das Ermessen der Hauptversammlung einzuschränken49 und die richterliche Kontrolldichte zu 45 Am Beispiel des Bezugsrechtsausschlusses zeigt sich besonders deutlich, was bereits in § 18 V 2 erläutert wurde: Die Gesellschafter befinden sich im Beschlussverfahren in einem latenten Interessenkonflikt, der aber – um den Schutz der Verbandsautonomie willen – nicht zum Anlass genommen werden kann, um die Intensität der inhaltlichen Beschlusskontrolle zu erhöhen. Vgl. auch Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 99. 46 Hierzu etwa BGH NJW 2018, 2796 Rn. 56; Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 100 f. 47 Speziell zu ausländischen Börsen BGHZ 125, 239, 242 ff. = NJW 1994, 1410; Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 106 ff. 48 Im Kontext der materiellen Beschlusskontrolle s. Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 263. In einem solchen Fall ist der Bezugsrechtsausschluss nicht nur ein Problem der Treuepflicht, sondern er ist auch am Maßstab des Gleichbehandlungsgrundsatzes (§ 53a AktG) zu messen, vgl. BGH NJW 2018, 2796 Rn. 41 ff. (zur Ausübung genehmigten Kapitals). 49 Folgt man dem, spricht viel dafür, dass der BGH im Kali und Salz-Urteil die Ermessensgrenzen der HV wohl zu weit gezogen hat: Das Bezugsrecht wurde gerade zugunsten von Großaktionären ausgeschlossen, die eine unternehmerische Beteiligung in die Gesellschaft eingebracht haben. Obwohl ein qualifizierter Interessenkonflikt vorlag, lockerte der II. Zivilsenat die richterliche Prüfungsdichte merklich (BGHZ 71, 40, 49 f. = NJW 1978, 1316; vgl. auch Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 115; Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 275). In diese Richtung wohl auch Zöllner AG 2002, 585, 587.  Zur Rechtfertigung des Bezugsrechtsausschlusses in einem solchen Fall s. noch Fn. 55. 620

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erhöhen.50 Freilich ist damit nicht gesagt, dass der Bezugsrechtsausschluss rechtswidrig ist. Vielmehr verschiebt der Sondervorteil die Argumentationslast auf die Gesellschaft.51 Diese kann etwa darauf verweisen, dass der Ausschluss erforderlich ist, um freie Spitzen zu vermeiden,52 um die Mitarbeiterbeteiligung zu stärken,53 um die Anteilsquoten bei unterschiedlichen Aktiengattungen zu wahren54 oder um ein Unternehmen zu akquirieren, das sich in der Hand eines Gesellschafters befindet.55 Das Gericht darf die Begründung – je nach der Realstruktur der Gesellschaft – einer Vertretbarkeitskontrolle oder einer vollen Inhaltskontrolle unterziehen.56 Die vorstehenden Grundsätze sind auch heranzuziehen, wenn der Bezugsrechtsausschluss zu einer solchen Anteilsverwässerung führt, dass die Minderheitsaktionäre nach der Durchführung der Kapitalerhöhung die Möglichkeit verlieren, die aktienrechtlichen Schutzinstrumente zu nutzen. Zu nennen ist etwa der Verlust der Sperrminorität, des Widerspruchsrechts nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG, des Einberufungsrechts aus § 122 AktG oder des Antragsrechts nach § 142 Abs. 2 AktG und § 148 AktG.57 In diesen Fällen besteht das erhöhte Risiko, dass die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung nicht (nur) der Unternehmensfinanzierung dient, sondern (auch) dem Ziel, die mitgliedschaftliche

50 Dies gilt namentlich für den Fall, dass ein Aktionär, dessen Bezugsrecht nicht ausgeschlossen wurde, eine Machtposition innerhalb der Gesellschaft begründet oder ausbaut (für diesen Fall wie hier Paefgen, Entscheidungen, S.  211). Vgl. hierzu BGH NJW 2018, 2796 Rn. 56, der im Kontext der Ausübung genehmigten Kapitals und des § 53a AktG die „Konkurrenz um den maßgebenden Einflusses auf die Gesellschaft“ betont und mit keiner Silbe die Anwendung der BJR erwähnt. 51 Zur BJR und Verschiebung der Argumentationslast s. § 18 VI 2. 52 Ausf. Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 95. 53 In diesem Fall spricht namentlich die Wertung des § 192 Abs. 2 Nr. 3 AktG für die Zulässigkeit des Bezugsrechtsausschlusses; s. dazu Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 96. 54 Speziell zum gekreuzten Bezugsrechtsausschluss Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 97 f. 55 Auf diesem Wege könnte der Bezugsrechtsausschluss etwa im Kali und Salz-Fall (BGHZ 71, 40 = NJW 1978, 1316) gerechtfertigt werden. Zur Unternehmensakquisition als Rechtfertigungsgrund Ekkenga in KK-AktG § 186 Rn. 112 ff. 56 Zur Ausdifferenzierung der Kontrollintensität im Hinblick auf die Realstruktur der Gesellschaft s. §  18 V 6.  Großzügigeren Prüfungsmaßstab befürwortet aber Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 263 f. 57 Aufschlussreicher Überblick bei Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 186 Rn. 111. Im GmbH-Recht ist zudem die Möglichkeit der 10%-Minderheit zu beachten, nach § 50 GmbHG die Einberufung einer Gesellschafterversammlung und die Aufnahme von Beschlussgegenständen auf die Tagesordnung zu verlangen. 621

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Positionen der Minderheitsaktionäre zu unterminieren.58 Zwar kann die Kapitalmaßnahme trotz der einschneidenden Folgen im Gesellschaftsinteresse stehen, die Sondernachteile der Aktionäre sprechen aber dafür, die richterliche Prüfungsdichte über das Evidenzniveau anzuheben.59 d) Sonderinteressen der Verwaltungsorgane bei genehmigtem Kapital Schließen die Verwaltungsorgane bei der Ausübung genehmigten Kapitals das Bezugsrecht aus, gelten die vorstehenden Ausführungen im Ausgangspunkt entsprechend. Lehnt man mit der hier vertretenen Ansicht den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ab60 und hat die Hauptversammlung die Entscheidungsspielräume der Verwaltung nicht eingeschränkt, sind Vorstand und Aufsichtsrat final gesteuert und treffen deshalb eine unternehmerische Entscheidung. Da die §§ 202 ff. AktG keine inhaltlichen Vorgaben im Hinblick auf den Bezugsrechtsausschluss vorsehen,61 müssen sich der Vorstand und Aufsichtsrat allein vom Gesellschaftswohl leiten lassen.62 Hält man den sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule für eröffnet, gelangen jedenfalls nur angemessen informierte Verwaltungsorgane in den sicheren Hafen; insoweit ist auf § 8 III und § 14 III zu verweisen.

58 AA wohl Geiger, Mitgliedschaftseingriff, S. 263, der einen relevanten Interessenkonflikt nur bei einer Zuteilung der neuen Aktien an die Abstimmungsmehrheit anerkennen will. 59 Zurückhaltender aber etwa Martens ZIP 1992, 1677, 1695 f. 60 Dagegen konsequent die hM, die auch die Vorstandsentscheidung am Maßstab des Grundsatzes sachlicher Rechtfertigung überprüft, s. Bayer in MüKoAktG §  203 Rn. 127; Wachter/Dürr AktG § 203 Rn. 16, 19; Hirte in GK-AktG § 203 Rn. 79; Hüffer/J. Koch AktG § 203 Rn. 35; Marsch-Barner in Bürgers/Körber AktG § 203 Rn. 31; Grigoleit/Rieder/Holzmann AktG § 203 Rn. 29; Veil in K. Schmidt/Lutter AktG § 203 Rn. 27; Wasmer in BeckOGK AktG § 203 Rn. 97; Kruse in Mülbert/Habersack/Schlitt Unternehmensfinanzierung Rn.  6.52; Hofmann, Minderheitsschutz, S.  671; Köster, Rechtsschutz, S. 356 ff.; Liebert, Bezugsrechtsausschluss, S. 192 ff.; Niggemann/Wansleben AG 2013, 269, 271. S. auch Mülbert, FS Schwark, S. 553, 554 f., der sich aber von dem Grundsatz distanziert. 61 Auf das Angemessenheitsgebot des § 255 Abs. 2 AktG – das zwar nur für die reguläre Kapitalerhöhung gilt, aber auch auf den Vorstandsbeschluss abfärbt (statt vieler Stilz in BeckOGK AktG § 255 Rn. 7) – wird in § 21 III 3 b eingegangen. 62 Für die Geltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht bei der Ausübung genehmigten Kapitals Drygala, 50 Jahre AktG, S. 41, 54 f. Aus das Gesellschaftswohl abstellend auch K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 59 Rn. 61. S. ferner Groß-Langenhoff StudZR 2007, 43, 61: wohlverstandenes Interesse der Gesellschaft. 622

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Die Lockerung der gerichtlichen Inhaltskontrolle auf das Evidenzniveau erscheint aber problematisch, wenn es um die Freiheit von Sonderinteressen geht.63 § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG schützt den Verwaltungsbeschluss jedenfalls dann nicht, wenn die jungen Aktien den Mitgliedern der Verwaltungsorgane zugeteilt werden sollen.64 In einem solchen Fall liegt es auf der Hand, dass die Entscheidung über den Bezugsrechtsausschluss in einem Verfahren gefallen ist, das keine inhaltliche Richtigkeitsvermutung trägt, weil sich die Mitglieder der Verwaltungsorgane selbst begünstigen. Die Verfahrensdefizite sind durch eine intensivere richterliche Inhaltskontrolle zu kompensieren. Da die Befangenheit der Verwaltungsorgane besonders hohe Gefahren für das Gesellschaftsinteresse hervorruft, ist eine volle gerichtliche Kontrolle des Kapitalerhöhungsbeschlusses geboten. Selbst wenn der Bezugsrechtsausschluss nicht dazu dient, die jungen Aktien den Mitgliedern der Verwaltungsorgane zuzuteilen, spricht die Störung des Corporate-Governance-Gefüges gegen die Anwendung der Business Judgment Rule im Rahmen der Ausübung genehmigten Kapitals.65 Ist der Vorstand ermächtigt, mit Zustimmung des Aufsichtsrats (§  204 Abs.  1 Satz  2 AktG) eine bezugsrechtslose Kapitalerhöhung zu beschließen, haben es die Verwaltungsorgane in der Hand, die Aktionariatsstruktur zu beeinflussen. Überspitzt formuliert: Die Agenten dürfen sich ihre (künftigen) Prinzipale aussuchen. Dies schafft die Gefahr, dass die Verwaltungsorgane die Finanzierungsentscheidung nicht am Gesellschaftswohl ausrichten, sondern ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen.66 Anders als bei einer regulären Kapitalerhöhung sind die (bisherigen) Prinzi­ pale in die Entscheidungsfindung nicht einbezogen; sie können sich überdies  gegen opportunistisches Verhalten der Agenten nicht effektiv wehren.67 Nachdem der BGH die Holzmann-Rechtsprechung aufgegeben und die Pflicht 63 Die Freiheit von Sonerinteressen hebt hervor: Mülbert, FS Schwark, S. 553, 566. 64 Zu einem solchen Fall etwa BGH NJW 2018, 2796 Rn. 41 ff., der die Anwendung der BJR auf die Verwaltungsbeschlüsse gar nicht problematisiert. 65 Ausf. zu den Agency-Konflikten im Zusammenhang mit genehmigtem Kapital Buse, Agency-Konstellation, S.  105  ff. Speziell zur Verhinderung von Übernahmen Mülbert, FS Schwark, S. 553, 566 f. 66 Zu den Opportunismus-Strategien vgl. Buse, Agency-Konstellation, S.  121  ff. (Vorstand), 201 ff. (AR). Die Situation ist mit der Lage der AR-Mitglieder vergleichbar, die sich bei Personal-, Beratungs- und Überwachungsmaßnahmen in einem verbandsinternen Interessenkonflikt befinden. S. dazu § 14 IV 1 b. 67 Zu den Defiziten der internen Kontrolle durch die Aktionäre Buse, Agency-Konstellation, S. 175 ff., 201. 623

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zu einem Vorabbericht des Vorstands abgelehnt hat,68 werden die Aktionäre,  deren Bezugsrecht im Kapitalerhöhungsbeschluss der Verwaltung ausgeschlossen wurde, vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie haben zwar die Möglichkeit, gegen eine rechtswidrige Ausübung des genehmigten Kapitals eine Unterlassungsklage zu erheben,69 dieser Rechtsbehelf wird ihnen aber meist nicht helfen, wenn die Kapitalerhöhung vor Klageerhebung durchgeführt wird.70 Auch die Durchsetzung etwaiger Schadensersatzansprüche gegen die Mitglieder der Verwaltungsorgane bleibt ein eher theoretisches Szenario,71 dessen Steuerungswirkung nicht zusätzlich dadurch geschwächt werden sollte, dass man den Verwaltungsorganen den Schutz der Business Judgment Rule gewährt. Bei Lichte besehen verbleibt den Aktionären allein eine Feststellungsklage,72 deren Effektivität aber davon abhängt, ob sich die Organe auf §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen. Das latente Eigeninteresse der Verwaltungsorgane nach einer genehmen Ak­ tionariatsstruktur und die Rechtsschutzdefizite sprechen dafür, die Entscheidung über die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung nicht nur daraufhin zu überprüfen, ob sie völlig unverantwortlich ist,73 sondern den Gerichten eine Vertretbarkeitskontrolle zu gestatten.74 Dabei kann die Verwaltung dieselben Gründe für die Vereinbarkeit des Bezugsrechtsausschlusses mit dem Gesellschaftsinteresse aufführen wie in Fällen der regulären Kapitalerhöhung.75 68 BGHZ 136, 133, 140 = NJW 1997, 2815 (Bericht auf der nächsten ordentlichen HV); deutlicher BGHZ 164, 241, 244 ff. = NJW 2006, 371. Aus dem Schrifttum statt vieler Busch NZG 2006, 81, 82; Niggemann/Wansleben AG 2013, 269, 272. 69 Statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 203 Rn. 38. 70 Zur Bestandskraft einer durchgeführten Kapitalerhöhung und zu den damit verbundenen Rechtsschutzdefiziten s. nur Bayer in MüKoAktG § 203 Rn. 171 f.; Marsch-Barner in Bürgers/Körber AktG § 203 Rn. 33; Busch NZG 2006, 81, 86 f. Zur fehlenden Effektivität des Unterlassungsanspruchs auch Mülbert, FS Schwark, S. 553, 568. 71 Busch NZG 2006, 81, 87 f. Zur Durchsetzbarkeit des Schadensersatzanspruchs s. ferner Bayer in MüKoAktG § 203 Rn. 173. 72 Aus neuerer Zeit BGH NJW 2018, 2796 Rn. 16 ff. mwN. 73 Großzügiger wohl Kiefner ZHR 178 (2014), 547, 593, der die Möglichkeit, die Zusammensetzung des Aktionariats zu beeinflussen, als Teil der Leitungsautonomie begreift. 74 In eine ähnliche Richtung Bayer in MüKoAktG § 203 Rn. 117, der im Hinblick auf die eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten der Aktionäre gegen eine Absenkung der materiellen Anforderungen an die Verwaltungsorgane plädiert (aber dennoch in Rn. 170 unternehmerisches Ermessen des Vorstands befürwortet). 75 S. hierzu § 20 III 2 c mit Nachw. in Fn. 46, 47 und 52 bis 55. Für die Rechtswidrigkeit des Beschlusses bei der Verhinderung feindlicher Übernahmen mit Hilfe des genehmigten Kapitals aber Mülbert, FS Schwark, S. 553, 566 f. 624

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3. Festsetzung des Bezugspreises a) Faktischer Bezugsrechtsausschluss durch überhöhten Bezugspreis Ein ermessensausschließender Interessenkonflikt ist auch im Zusammenhang mit der Festsetzung des Bezugspreises denkbar. Im Ausgangspunkt kann sich die Hauptversammlung oder – im Fall einer Ermächtigung – der Vorstand bei der Festsetzung des Bezugspreises auf die Business Judgment Rule berufen,76 solange die Grenze des § 9 AktG nicht unterschritten ist.77 Problematisch ist die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn der Bezugspreis so hoch angesetzt ist, dass er zu einem sog. faktischen Bezugsrechtsausschluss führt.78 In einem solchen Fall sind die Grundsätze, die für den formellen Bezugsrechtsausschluss entwickelt wurden,79 auf die Festsetzung des Bezugspreises zu übertragen. Hat die Hauptversammlung den Bezugspreis bestimmt, ist sie durch die Treuepflicht gebunden. Ihre Entscheidung ist also final gesteuert, hat damit einen unternehmerischen Charakter und unterliegt der Evidenzkontrolle, wenn die Aktionäre ordnungsgemäß informiert und frei von Sonderinteressen waren. Die Anwendung der Business Judgment Rule kommt aber nicht in Betracht, wenn der Ausgabepreis so festgelegt ist, dass bestimmte Aktionäre ihren Bezugsrecht aus wirtschaftlichen Gründen nicht ausüben können und deshalb die Möglichkeit verlieren, Instrumente des Minderheitenschutzes zu ergreifen.80 Bei einem solchen Sondernachteil ist die richterliche Prüfungsdichte zu erhöhen.81 Auch die Festsetzung des Bezugspreises durch den Vorstand trägt unternehmerische Züge und liegt deshalb im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Allerdings kann sich der Vorstand nicht auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen, weil er – wie schon im Kontext des formellen Bezugs76 Ekkenga in KK-AktG § 182 Rn. 52; Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 182 Rn. 65, 71; Veil in K.Schmidt/Lutter AktG § 182 Rn. 23 und (implizit) § 186 Rn. 32. An manchen Stellen wird vom Ermessen gesprochen, s. Habersack, FS Marsch-Barner, S. 203, 210; Tielmann, FS E. Vetter, S. 819, 822, 829 (der auf S. 830 die BJR erwähnt). 77 Zu der Diskussion um die Ermessensgrenzen bei der Bestimmung des Ausgabebetrags s. statt vieler Hüffer/J. Koch AktG § 182 Rn. 22 ff.; Tielmann, FS E. Vetter, S. 819, 824 ff. 78 Zum Bezugspreis und faktischen Bezugsrechtsausschluss Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 142 ff. 79 S. § 20 III 2. 80 S. im Einzelnen in § 20 III 2 c. 81 Vgl. Maier, Bezugsrechtsausschluss, S. 119. 625

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rechtsausschlusses erläutert – befangen ist. Ist der Ausgabepreis so hoch, dass bestimmte Aktionäre das Bezugsrecht faktisch nicht ausüben können, besteht das Risiko, dass sich der Vorstand opportunistisch verhalten hat. Wie schon in § 20 III 2 d erläutert, rechtfertigt dieses Risiko die Intensivierung der richterlichen Kontrolle. b) Angemessenheitsgebot beim Bezugsrechtsausschluss Ist das Bezugsrecht formell ausgeschlossen, sind die Gestaltungsspielräume der Gesellschaftsorgane bei der Bestimmung des Ausgabebetrags durch § 255 Abs. 2 AktG begrenzt. Nach § 255 Abs. 2 AktG ist ein Hauptversammlungsbeschluss über die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung anfechtbar, wenn der Ausgabebetrag unangemessen ist. Aus diesem besonderen Anfechtungsgrund wird der Grundsatz hergeleitet, dass der Ausgabepreis bei einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung angemessen sein muss, und zwar unabhängig davon, ob die Hauptversammlung oder – was dem praktischen Regelfall entsprechen dürfte – der Vorstand den Ausgabebetrag festlegt.82 Inwieweit die Gerichte die Angemessenheit überprüfen dürfen, ist streitig. Während manche § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG anwenden wollen,83 befürworten andere eine bloße Vertretbarkeitskontrolle84 oder eine noch engere gerichtliche Überprüfung, die auf Ermittlung des objektiven inneren Werts ausgerichtet ist.85 Im Hinblick auf die aktionärsschützende Funktion des §  255 Abs.  2 AktG spricht mehr dafür, die Festsetzung des Ausgabebetrags nicht durch die Business Judgment Rule zu privilegieren. Es ist schon zweifelhaft, ob es sich bei der Bezugspreisfestsetzung um eine unternehmerische Entscheidung handelt. Zwar muss der Bezugspreis dem Gesellschaftsinteresse entsprechen, was § 255 Abs. 2 AktG finale Züge verleiht, der Adäquanzgedanke spricht aber dagegen, 82 Zur Übertragung der Wertung des § 255 Abs. 2 AktG auf Fälle, in denen der Ausgabepreis nicht im HV-Beschluss festgelegt ist, s. statt vieler Stilz in BeckOGK AktG § 255 Rn. 7. 83 Hüffer in MüKoAktG, 3. Aufl., § 255 Rn. 17 (der bei Bewertungsfragen generell die BJR anwenden will, s. Hüffer ZHR 172 [2008], 572, 574 ff.; dem folgend Fleischer, FS E. Vetter, S. 137, 150). Gegen die Anwendung der BJR, aber für einen vergleichbaren Ermessensspielraum A. Arnold in KK-AktG § 255 Rn. 21. 84 So Hüffer/J. Koch AktG §  255 Rn.  6; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S.  148  f. Vgl. ferner Hölters/Englisch AktG §  255 Rn.  20 (gewisser Spielraum in der Berechnung des Unternehmenswertes); Habersack, FS Marsch-Barner, S.  203, 210 (enge Ermessensgrenzen des § 255 Abs. 2 AktG). 85 Heidel AktG § 255 Rn. 14 (keine BJR), 17 (objektive Wertermittlung). Vgl. ferner Stilz in BeckOGK AktG § 255 Rn. 19: kein förmlicher Bewertungsspielraum. 626

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Sonderprobleme: Bezugsrechtsausschluss und Preisfestsetzung

die richterliche Prüfungsdichte zu lockern. Die Betriebswirtschaftslehre hat nämlich Methoden entwickelt, die eine Aussage darüber erlauben, innerhalb welcher Bandbreite sich der Unternehmenswert bewegt.86 Das Gericht kann diese Bandbreite mit Hilfe von Sachverständigen ermitteln und sie als Ausgangspunkt für die Bestimmung nutzen, ob der Bezugspreis unangemessen niedrig ist. Freilich bedeutet dies nicht, dass die Gesellschaftsorgane keinerlei diskretionäre Spielräume genießen. Vielmehr unterliegt ihre Entscheidung einer gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle, deren Intensität in Abhandlungen zur Unternehmensbewertung eingehend beleuchtet wird; auf die einschlägigen Stellungnahmen ist zu verweisen.87 c) Faktischer Bezugszwang Ist das Bezugsrecht nicht ausgeschlossen, greift § 255 Abs. 2 AktG nicht ein mit der Folge, dass weder die Hauptversammlung noch die Verwaltungsorgane das Angemessenheitsgebot beachten müssen. Gleichwohl ist es im Schrifttum grundsätzlich anerkannt, dass ein zu niedrig angesetzter Ausgabebetrag einen Treuepflichtverstoß nach sich ziehen kann, wenn der Aktionär das Bezugsrecht nicht veräußern kann und bei der Nichtausübung einen Vermögensverlust erleidet.88 In einem solchen Fall, der namentlich in geschlossenen Gesellschaften eintreten kann,89 ist von einem faktischen Bezugszwang die Rede.90 Das Schrifttum hebt hervor, dass ein faktischer Bezugszwang nur ausnahmsweise in Betracht kommt.91 Diese Annahme trifft zu. Sie lässt sich durch kon86 Zur Unternehmensbewertung aus betriebswirtschaftlicher Sicht vgl. statt vieler den Überblick bei Böcking/Rauschenberg in Fleischer/Hüttemann Rn. 2.37 ff. Bei börsennotierten Gesellschaften bildet der Börsenkurs einen stabilen Orientierungspunkt für die Bestimmung des Unternehmenswerts; zur Diskussion um die Bedeutung des Börsenkurses s. nur Hüffer/J. Koch AktG § 255 Rn. 8 ff. 87 S. hierzu statt vieler Hüttemann in Fleischer/Hüttemann Rn. 1.75 f. („Bandbreite vertretbarer Werte“). Für die Anwendung der BJR aber Hüffer ZHR 172 (2008), 572, 574 ff. 88 Zum Teil wird darauf abgestellt, dass eine solche Bezugspreisgestaltung zu einer faktischen Nachschusspflicht führen kann, s. OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 157 f. 89 S. Bayer ZHR 163 (1999), 505, 518. Gegen Anwendung der Figur des faktischen Bezugszwangs auf börsennotierte AG jenseits der Sanierungssituation und bei Übertragbarkeit der Bezugsrechte Tielmann, FS E. Vetter, S. 819, 827 f. Zur Bedeutung der Gesellschaftsstruktur für die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte § 18 V 6. 90 Zu dieser Figur s. etwa Hüffer/J. Koch AktG §  182 Rn.  23; Schürnbrand/Verse in ­MüKoAktG § 182 Rn. 66. 91 Für hohe Anforderungen OLG Düsseldorf AG 2019, 467, 472; Hüffer/J. Koch AktG § 182 Rn. 23; Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 182 Rn. 66; Tielmann, FS E. Vetter, 627

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sequente Anwendung der Business Judgment Rule untermauern. Sind die Voraussetzungen des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG erfüllt, wird die Festsetzung des Ausgabepreises nur daraufhin überprüft, ob sie völlig unverantwortlich ist. Die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte führt dazu, dass die Argumentationslast für den Treuepflichtverstoß bei den Aktionären liegt, die den Ausgabebetrag für unangemessen niedrig halten. Die Minderheit muss begründen, wieso der niedrige Bezugspreis nicht im Gesellschaftsinteresse liegt. Eine andere Beurteilung ist in Fällen angezeigt, in denen ein Interessenkonflikt das Beschlussverfahren stört. Denkbar ist etwa, dass die Mehrheit den nie­ drigen Ausgabepreis in Kenntnis einer angespannten finanziellen Situation der Minderheitsaktionäre beschließt, um eine Verschiebung der Anteilsquoten zu erreichen. Geht eine solche Strategie damit einher, dass manche Aktionäre die Sperrminorität verlieren oder keine Aktionärsrechte geltend machen können, die einer qualifizierten Aktionärsminderheit vorbehalten sind, liegt ein Sondernachteil vor, der eine engmaschigere Beschlusskontrolle gebietet.92 Freilich ist damit kein Verdikt über die Rechtmäßigkeit des Ausgabepreises gefallen. Es obliegt der Gesellschaft, darzulegen und zu beweisen, wieso der niedrige Bezugspreis im Unternehmensinteresse liegt und die Positionen der Minderheitsaktionäre nicht über Gebühr beeinträchtigt sind.93

IV. Gerichtliche Kontrolle der Sanierungsmaßnahmen 1. Problemfelder und Meinungsstand a) Kapitalgesellschaftsrecht Die Kapitalerhöhung ist ein attraktives Finanzierungsinstrument für Gesellschaften, deren Kapitalbasis nicht aufgezehrt ist. Befindet sich die Gesellschaft in einer wirtschaftlichen Schieflage, deren Endstadium mit der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung erreicht ist, genügt die isolierte Kapitalerhöhung nicht, um die Finanzierungssituation zu verbessern. Vielmehr ist es meist erS. 819, 827 ff. Großzügiger aber OLG Stuttgart NZG 2000, 156, 158; Hofmann, Minderheitsschutz, S.  659  ff. (Ausgabebetrag müsse dem inneren Anteilswert entsprechen). 92 Sehr zurückhaltend Verse, Gleichbehandlungsgrundsatz, S. 243 f. 93 In die Abwägung der Mehrheits- und Minderheitsinteressen kann etwa der Umstand einfließen, dass die (offene) Gesellschaft einen Bezugsrechtshandel eingerichtet hat. In einem solchen Fall können die Aktionäre zumindest den wirtschaftlichen Wert der Anteile realisieren, was die Beeinträchtigung ihrer Interessen mindert. Vgl. dazu Schürnbrand/Verse in MüKoAktG § 182 Rn. 66. 628

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forderlich, dass die Gesellschaft in einem ersten Schritt ihr Kapital herabsetzt, um die Unterbilanz zu beseitigen (sog. Buchsanierung).94 In einem zweiten Schritt wird der Gesellschaft frisches Kapital zur Verfügung gestellt.95 Ein solches Verfahren birgt insbesondere in Publikumsgesellschaften ein erhebliches Konfliktpotential, weil in der Regel nicht alle Gesellschafter das Sanierungskonzept mittragen und es zu verhindern versuchen – sei es, indem sie gegen die Maßnahmen abstimmen,96 sei es, indem sie Beschlussmängelklagen gegen die Sanierungsbeschlüsse erheben. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden beleuchtet, mit welcher Intensität die Gerichte die Kapitalherabsetzungsbeschlüsse als ein Teil der Sanierungsmaßnahmen überprüfen dürfen. Der Blick richtet sich zunächst auf Kapitalgesellschaften, wobei sich die Ausführungen auf das Aktienrecht konzentrieren, das in §§ 222 ff. AktG einen dichten Normenbestand vorsieht. Die Ergebnisse können aber im Wesentlichen auf das GmbH-Recht übertragen werden. In einer Aktiengesellschaft erfordert die Kapitalherabsetzung – wie die Kapital­ erhöhung  – ein Zusammenspiel zwischen Verwaltungsorganen und Gesellschaftern. Den Anstoß geben Vorstand und Aufsichtsrat, die die Kapitalherabsetzung auf die Tagesordnung der Hauptversammlung aufnehmen. Die Entscheidung als solche obliegt den Aktionären, die einen Beschluss fassen, dessen Inhalt § 222 AktG entsprechen muss. Sodann führen die Verwaltungsorgane den Beschluss nach §§ 223 ff. AktG durch.97 Wie bei der Kapitalerhöhung dreht sich die Diskussion darum, inwieweit ein Kapitalherabsetzungsbeschluss inhaltlich kontrolliert werden kann, um den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung. Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass der Beschluss nicht sachlich gerechtfertigt sein muss, wenn das Grundkapital durch Zurückführung des Nennbetrags herabgesetzt wird (§ 222 Abs. 4 Satz 1 AktG), weil in einem solchen Fall das Beteiligungsverhältnis gewahrt

94 Statt vieler K. Schmidt ZGR 1982, 519, 520 f. 95 Zu den wirtschaftlichen Hintergründen dieses zweistufigen Verfahrens, insb. zur Beteiligung neuer Investoren und Fremdkapitalgeber (etwa der kreditgebenden Banken), ausf. St. Schneider, Stimmpflichten, S. 38 ff.; K. Schmidt ZGR 1982, 519, 520 f. Zur rechtstechnischen Ausgestaltung dieses Verfahrens im Personengesellschaftsrecht, das nach dem gesetzlichen Leitbild weder die Kapitalerhöhung noch die Kapitalherabsetzung als Rechtsinstitute kennt, s. noch in § 20 IV 1 b. 96 Zu erinnern ist hier nur an den Girmes-Fall, s. § 17 II 3.  97 Zum Verfahren statt vieler Veil in K. Schmidt/Lutter AktG § 222 Rn. 5; St. Schneider, Stimmpflichten, S. 16 ff. Zur GmbH etwa J. Vetter in MüKoGmbHG § 58 Rn. 35. 629

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bleibt und kein Eingriff in die Aktionärsrechte vorliegt.98 Einige Autoren halten die sachliche Rechtfertigung aber bei einer Kapitalherabsetzung durch Zusammenlegung von Aktien (§ 222 Abs. 4 Satz 2 AktG)99 und bei einer isolierten vereinfachten Kapitalherabsetzung (§  229 AktG)100 für erforderlich. Die wohl herrschende Ansicht lehnt das Rechtfertigungserfordernis auch in diesen Fällen ab und bevorzugt eine Lösung über die Treuepflicht, um die Minderheitsaktionäre vor unverhältnismäßigen Eingriffen in die Mitgliedschaft zu schützen.101 Manche Autoren verweisen darauf, dass die Aktionäre bei der Kapitalherabsetzung eine unternehmerische Entscheidungsprärogative genießen.102 Die Frage, ob der Kapitalherabsetzungsbeschluss durch §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG geschützt ist, wird nur vereinzelt aufgeworfen.103 Die Treuepflicht wird bei einer Kapitalherabsetzung nicht nur als ein Instrument des Minderheitenschutzes aufgegriffen. Vielmehr wird sie auch herangezogen, um eine Zustimmungspflicht der Aktionäre in einem Sanierungsfall zu begründen, wenn die Kapitalmaßnahme die erforderliche (qualifizierte) 98 BGHZ 138, 71, 75  ff. = NJW 1998, 2054; Becker in Bürgers/Körber AktG §  222 Rn. 15; Hüffer/J. Koch AktG § 222 Rn. 14; Marsch-Barner in BeckOGK AktG § 222 Rn. 26; Oechsler in MüKoAktG § 222 Rn. 25; Grigoleit/Rieder AktG § 222 Rn. 21; Sethe in GK-AktG, 4.  Aufl., §  222 Rn.  29; Veil in K.  Schmidt/Lutter AktG  §  222 Rn.  19; Wachter/Früchtl AktG §  222 Rn.  9; K.-S.  Scholz in MHdB GesR IV §  61 Rn. 15; Krieger ZGR 2000, 885, 890. So auch im Ergebnis für die GmbH J. Vetter in MüKoGmbHG Vor § 58 Rn. 61 ff., § 58 Rn. 60; Michalski/Waldner Vor § 58 Rn. 10. 99 Grunewald, Ausschluß, S. 296 f.; Krieger ZGR 2000, 885, 891 ff.; Lutter ZGR 1981, 171, 180. So augenscheinlich auch Roth/Altmeppen GmbHG § 58 Rn. 14a. 100 Oechsler in MüKoAktG § 229 Rn. 28 f.; Sethe in GK-AktG, 4. Aufl., § 222 Rn. 29, § 229 Rn. 55. Für den Fall, dass die Überschuldung nicht beseitigt wird, auch Hüffer/J. Koch AktG § 222 Rn. 14. Vgl. ferner Marsch-Barner in BeckOGK AktG § 229 Rn. 21 und Grigoleit/Rieder AktG § 222 Rn. 22: vorsorgliche Begründung. Offen gelassen bei BGHZ 138, 71, 77 ff. = NJW 1998, 2054. 101 Becker in Bürgers/Körber AktG § 222 Rn. 15; Hölters/Haberstock/Greitemann AktG §  229 Rn.  18; Marsch-Barner in BeckOGK AktG §  222 Rn.  26  f.; Wachter/Früchtl AktG § 222 Rn. 9; K.-S. Scholz in MHdB GesR IV § 61 Rn. 15, § 62 Rn. 17. Für sanierenden Kapitalschnitt auch Oechsler in MüKoAktG § 228 Rn. 5. Gegen das Erfordernis sachlicher Rechtfertigung bei vereinfachter Kapitalherabsetzung im GmbH-­ Recht Scholz/Priester GmbHG § 58a Rn. 16; Roth/Altmeppen GmbHG § 58a Rn. 11; Rühland in BeckOK GmbHG § 58a Rn. 23; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 58a Rn. 25 ff.; J. Vetter in MüKoGmbHG Vor § 58 Rn. 61 ff., § 58a Rn. 65; Zöllner/Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG § 58a Rn. 23. 102 So Oechsler in MüKoAktG § 222 Rn. 25; Wachter/Früchtl AktG § 222 Rn. 9. S. auch J. Vetter in MüKoGmbHG Vor § 58 Rn. 63. Vgl. ferner Krieger ZGR 2000, 885, 893: unternehmerische Entscheidungen. 103 Bejahend J. Vetter in MüKoGmbHG Vor § 58 Rn. 62. 630

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Mehrheit verfehlt.104 Die Aktionäre seien zur Zustimmung verpflichtet, wenn der Zusammenbruch der Gesellschaft bei Scheitern der Sanierungsmaßnahme unvermeidlich und im Fall des Zusammenbruchs die Stellung des einzelnen Aktionärs ungünstiger als bei Veräußerung der Aktien sei, die Durchführung der Sanierungsmaßnahme die Verfolgung des Gesellschaftszwecks nach objektiver Einschätzung sicherstelle und keine schonendere Sanierung möglich sei.105 Ob die Entscheidung gegen die Sanierungsmaßnahme im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegen kann, problematisiert das Schrifttum nicht; vereinzelt wird die Figur des unternehmerischen Ermessens herangezogen.106 b) Personengesellschaftsrecht Einen anderen Schwerpunkt hat die Diskussion um die Anforderungen an Sanierungsmaßnahmen in einer (Publikums-)Personengesellschaft, deren ­ ­Anteile wegen einer wirtschaftlichen Schieflage (nahezu) wertlos geworden sind;107 gemeinhin wird von „Sanieren oder Ausscheiden“-Fällen gesprochen. In diesen Fällen – die in wirtschaftlichen Hinsicht mit dem sanierenden Ka­ pitalschnitt nach §  228 AktG, §  58a Abs.  4 GmbHG vergleichbar sind108  – ­beschließen die Gesellschafter erstens, dass die Festkapitalkonten der Ge­ sellschafter, die in ihrer Gesamtheit das „Nominalkapital“ der Gesellschaft ausmachen,109 vermindert werden. Zweitens fassen sie einen Kapitalerhöhungsbeschluss und räumen damit den sanierungswilligen Gesellschaftern die Möglichkeit ein, frisches Kapital nachzuschießen.110 Drittens hat ein „Sanie104 Hierzu bereits § 17 II 3. 105 BGHZ 129, 136, 153 = NJW 1995, 1739; OLG München AG 2014, 546, 547 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 222 Rn. 15a; Scholz/Priester GmbHG § 58a Rn. 18 f.; K. Schmidt ZGR 1982, 519, 524 f. 106 So weisen H.P. Westermann NZG 2010, 321, 324 und Nentwig GmbHR 2012, 664, 666 darauf hin, dass es sich bei den Sanierungsmaßnahmen um unternehmerische Entscheidungen handelt. 107 Zur Bedeutung des Umstands, dass die Anteile wirtschaftlich wertlos sind, für die rechtliche Beurteilung s. Ch. Weber DStR 2010, 702, 706. 108 Aufschlussreicher Vergleich zwischen Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht bei Ch. Weber DStR 2010, 702, 704 f. Vgl. ferner H.P. Westermann, FS Reuter, S. 1219, 1227. 109 Hierzu, insb. zum Unterschied zwischen festen und beweglichen Kapitalkonten, vgl. etwa St. Schneider, Stimmpflichten, S. 27 ff.; K. Schmidt ZGR 1982, 519, 537 f.; dens. JZ 2010, 125, 126 f. 110 Eine Nachschusspflicht der Gesellschafter scheitert an § 707 BGB. Neben den Altgesellschaftern beteiligen sich meist weitere Geldgeber an der Sanierungsmaßnahme, so etwa die kreditgebenden Banken im Fall BGHZ 183, 1 = NJW 2010, 65. 631

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ren oder Ausscheiden“-Beschluss zum Inhalt, dass diejenigen Gesellschafter, die sich nicht an der Sanierung beteiligen, aus der Gesellschaft ausscheiden und zur Zahlung des anteiligen Auseinandersetzungsfehlbetrags verpflichtet sind. Ein „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss kann im Wesentlichen in zwei Konstellationen Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sein: Kommt der Beschluss zustande, kann die Gesellschaft den nicht sanierungsbereiten Gesellschafter auf Zahlung des anteiligen Auseinandersetzungsfehlbetrags in Anspruch nehmen, wenn dieser aufgrund des Sanierungsbeschlusses tatsächlich aus der Gesellschaft ausgeschieden ist.111 Wurde die erforderliche (meist qualifizierte) Mehrheit verfehlt, kann dies die sanierungswilligen Gesellschafter dazu verleiten, die Zustimmung der nicht sanierungsbereiten Gesellschafter zum Sanierungsbeschluss112 mit gerichtlicher Hilfe durchzusetzen.113 In beiden Konstellationen dient die Treuepflicht als Instrument zur Durchsetzung der Sanierungsmaßnahmen. Im erstgenannten Fall bejaht die herrschende Ansicht die „Treuepflicht zur Zustimmung zum eigenen Rauswurf “114, wenn das Sanierungskonzept im Vergleich zur Liquidation wirtschaftlich sinnvoll ist, die Fortführung der Gesellschaft mit den nicht sanierungsbereiten Gesellschaftern für die sanierungswilligen Gesellschafter unzumutbar ist und die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter durch ihr Ausscheiden nicht schlechter gestellt werden als bei der Liquidation.115 Im letztgenannten Fall nimmt sie in Anlehnung an das Girmes-Urteil die Pflicht der nicht sa­ nierungsbereiten Gesellschafter an, dem Beschlussantrag zuzustimmen, wenn 111 Ein solcher Fall lag dem „Sanieren oder Ausscheiden“-Urteil des BGH aus dem Jahr 2009 zugrunde, s. BGHZ 183, 1 = NJW 2010, 65. Denkbar ist auch die spiegelbildliche Situation, in der ein nicht sanierungsbereite Gesellschafter im Wege der Feststellungsklage nach § 256 ZPO gegen den Sanierungsbeschluss vorgeht. 112 Bei Lichte besehen wird die Zustimmung des nicht sanierungsbereiten Gesellschafters fingiert, s. H.P. Westermann, FS Reuter, S. 1219, 1224. 113 Denkbar ist freilich auch, dass die sanierungswilligen Gesellschafter die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter  – wie im Girmes-Fall (§  17 II 3 und §  17 VII)  – auf Schadensersatz wegen treuwidriger Stimmausübung in Anspruch nehmen. Zu dieser Konstellation allg. Geibel in BeckOGK BGB § 706 Rn. 95. 114 So der treffende Titel des Beitrags von Escher-Weingart WM 2016, 1569. 115 Vgl. BGHZ 183, 1 Rn. 22 ff. = NJW 2010, 65; Geibel in BeckOGK BGB § 706 Rn. 84; Wertenbruch in EBJS HGB § 105 Rn. 105. Einen anderen Weg wählt etwa Christina Escher-Weingart, die in Sanierungsfällen einen Gesellschafterausschluss qua Mehrheitsbeschlusses für zulässig hält, wenn der Beschluss nicht treuwidrig ist, s. Escher-­ Weingart WM 2016, 1569, 1572 ff.; dafür augenscheinlich auch Servatius in Henssler/Strohn GesR § 707 BGB Rn. 10; hierzu noch in § 20 IV 2 b. 632

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diese eine sinnvolle und mehrheitlich angestrebte Sanierung der Gesellschaft aus eigennützigen Gründen verhindern.116 Mit welcher Intensität die Gerichte den Beschluss bzw. das Stimmverhalten der dissentierenden Gesellschafter am Maßstab der Treuepflicht überprüfen dürfen, wird weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum eingehend erläutert. Namentlich wird nicht erwogen, die Business Judgment Rule aufzugreifen, um die Konflikte zwischen den Gesellschaftergruppen zu lösen.117 2. Begrenzung der Mehrheitsmacht a) Business Judgment Rule bei Sanierung einer AG Die fehlende Diskussion über die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf Sanierungsbeschlüsse überrascht, wenn man bedenkt, dass der Ermessensgedanke im Kontext der Kapitalerhöhung verbreitet aufgegriffen wird, um die richterliche Beschlusskontrolle einzuschränken.118 Diese Lücke soll im Folgenden geschlossen werden. Es wird herausgearbeitet, wie die Business Judgment Rule benutzt werden kann, um die gerichtliche Überprüfung der Maßnahmen zu strukturieren und die entscheidenden Wertungskriterien für die Beurteilung der problematischen Fälle herauszuarbeiten. Dabei wird auf­ gezeigt, dass die Probleme im Kapital- und Personengesellschaftsrecht näher beieinanderliegen, als die unterschiedlichen Diskussionsschwerpunkte  – der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung einerseits, die Zustimmungspflichten der nicht sanierungsbereiten Gesellschafter andererseits – es vermuten lassen.119 Beginnt man die Untersuchung mit der Aktiengesellschaft, ist zunächst festzustellen, dass die Entscheidung der Verwaltungsorgane, die Sanierungsmaßnahmen auf die Tagesordnung der Hauptversammlung aufzunehmen, eine unternehmerische ist und deshalb unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vor einer engmaschigen gerichtlichen Kontrolle geschützt ist; insoweit ist auf die Ausführungen zur Kapitalerhöhung in § 20 II 1 zu verweisen. Einen unternehmerischen Charakter hat auch der Kapitalherabsetzungsbe-

116 Für eine Zustimmungspflicht der Gesellschafter etwa K. Schmidt ZGR 1982, 519, 524 f.; Ch. Weber DStR 2010, 702, 706. 117 S. aber St. Schneider, Stimmpflichten, S. 264 f., dessen Begrifflichkeiten an die BJR erinnern (Evidenz, unternehmerischer Charakter der Entscheidung). 118 Zum Meinungsstand speziell hinsichtlich des Bezugsrechtsausschlusses vgl. §  20 III 2 a. 119 Die Parallelen zwischen Kapital- und Personengesellschaftsrecht betont Schöne ZIP 2015, 501, 507. 633

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schluss der Hauptversammlung. Wie in anderen Fällen120 ist ein pauschales Gebot sachlicher Rechtfertigung abzulehnen. Vielmehr ist im Ausgangspunkt maßgeblich, ob die divergierenden Gesellschafterinteressen im Rahmen des Beschlussverfahrens in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht wurden. Dabei hängt die Intensität der richterlichen Abwägungskontrolle am Maßstab der Treuepflicht davon ab, ob die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind. Da die Gesellschafter final gesteuert sind und die Gerichte bei der Beurteilung der Kapitalherabsetzung keinen Kompetenzvorsprung genießen, handelt es sich bei der Kapitalherabsetzung um eine unternehmerische Entscheidung,121 die einer bloßen Evidenzkontrolle unterliegt, wenn die Gesellschafter hinreichend informiert waren und kein qualifizierter Interessenkonflikt das Fundament für eine Richtigkeitsvermutung erschüttert.122 Die im Schrifttum unter dem Etikett der sachlichen Rechtfertigung diskutierten Fälle zeigen bei Lichte besehen, dass dem Befangenheitskriterium eine gesteigerte Bedeutung zukommt. Dies wird bei einer bloßen Herabsetzung des Nennbetrags (§ 222 Abs. 4 Satz 1 AktG) deutlich, die nach einhelliger Auffassung nicht sachlich gerechtfertigt werden muss. Wendet man die Business Judgment Rule auf die Kapitalherabsetzung an und kommen die Verwaltungsorgane ihren Informationspflichten nach, ist die richterliche Kontrolle auf das Evidenzniveau beschränkt. Die Gesellschafter unterliegen nämlich keinem qualifizierten Interessenkonflikt, der aus einem Sondernachteil oder einem Sondervorteil resultiert, so dass der Kapitalherabsetzungsbeschluss nur dann an einem Inhaltsfehler leidet, wenn er völlig unverantwortlich ist; dies dürfte ein seltener Ausnahmefall sein. Was die Kapitalherabsetzung durch Zusammenlegung von Aktien angeht, bietet es sich an, bei der Konturierung des Befangenheitsbegriffs einen Vergleich zur bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung zu ziehen. In § 20 III 2 c wurde he­ rausgearbeitet, dass ein Beschluss über die Kapitalerhöhung mit Bezugsrechtsausschluss durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt ist, wenn alle Altaktionäre die jungen Aktien nicht zeichnen können, damit ein externer Investor sich an der Gesellschaft beteiligen kann. In einem solchen Fall ist ein qualifizierter Interessenkonflikt nicht gegeben. Die bezugsrechtslose Kapitalerhöhung liegt aber nicht im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, wenn ausgewählte 120 S. allg. § 17 IV 2. Speziell zur bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung § 20 III 2 b. 121 Zutr. Oechsler in MüKoAktG § 222 Rn. 25 und Wachter/Früchtl AktG § 222 Rn. 9, die aber nicht auf die BJR eingehen. 122 Geht es um die Umsetzung des Kapitalherabsetzungsbeschlusses, können sich die Verwaltungsorgane grds. nicht auf die BJR berufen; s. hierzu bereits im Kontext der Kapitalerhöhung § 20 II 3. 634

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Aktionäre zur Zeichnung der Aktien zugelassen wurden; der Sondervorteil dieser Aktionäre gebietet eine intensivere Inhaltskontrolle. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist überdies nicht einschlägig, wenn die Minderheitsaktionäre nach Durchführung der Kapitalerhöhung die Möglichkeit verlieren, aktienrechtliche Schutzinstrumente zu nutzen, etwa weil sie nicht mehr über die Sperrmi­ norität verfügen. In diesem Fall führt der Sondernachteil zu einem qualifizierten Interessenkonflikt. Überträgt man diese Grundsätze auf die Kapitalherabsetzung durch Zusammenlegung von Aktien, liegt der (Sanierungs-)Beschluss – vorbehaltlich einer angemessenen Information – im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, wenn die Kapitalherabsetzung mit einer Kapitalerhöhung verbunden ist und allen Aktionären ein Bezugsrecht zusteht. Die Gesellschafter haben es in der Hand, ihre Beteiligungsquote zu wahren, indem sie das Bezugsrecht ausüben; ein qualifizierter Interessenkonflikt steht der Richtigkeitsvermutung nicht entgegen.123 Umgekehrt unterliegt der Hauptversammlungsbeschluss einer vollen gerichtlichen Kontrolle, wenn die Kapitalherabsetzung mit einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung kombiniert ist und nur ausgewählte (Groß-)Aktionäre die Möglichkeit erhalten, die jungen Aktien zu zeichnen und neues Kapital bereitzustellen. In diesem Fall müssen diejenigen Aktionäre, deren Bezugsrecht ausgeschlossen wurde, eine Verwässerung der Beteiligungsquote oder – namentlich bei einer Kapitalherabsetzung auf Null – sogar ein Ausscheiden aus der Gesellschaft124 hinnehmen. Dieser Sondernachteil, der sich zugleich im Sondervorteil der bezugsberechtigten Aktionäre widerspiegelt, steht der Vermu123 Etwas anderes ist lediglich erwägenswert, wenn die Sanierungsmaßnahme in Kenntnis des Umstands beschlossen wird, dass manche Aktionäre wegen einer angespannten finanziellen Situation nicht in der Lage sein werden, die neuen Anteile zu übernehmen, und deshalb einen Verlust der Minderheitsschutzrechte erleiden oder aus der Gesellschaft ausscheiden. Zur parallelen Konstellation beim faktischen Bezugszwang §  20  III 3 c. Trotz der erhöhten Prüfungsdichte dürfte ein solcher Beschluss der gerichtlichen Kontrolle standhalten, wenn der sanierende Kapitalschnitt alternativlos ist, um die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft sicherzustellen. 124 Müssen die Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheiden, spricht ein Vergleich mit den Vorgaben für den Gesellschafterausschluss dafür, dass die Kapitalherabsetzung in einem solchen Fall keine unternehmerische Entscheidung ist. Ein Gesellschafterausschluss ist nämlich nur aus einem wichtigen Grund möglich, so dass die Mehrheit konditional gesteuert ist; s. noch in § 20 IV 2 b zum „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss im Personengesellschaftsrecht. Den Vergleich mit dem Gesellschafterausschluss zieht auch im Kontext der sachlichen Rechtfertigung Grunewald, Ausschluß, S. 296 f. 635

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Kapitalmaßnahmen

tung entgegen, dass die Kapitalherabsetzung mit dem Gesellschaftsinteresse übereinstimmt. Es besteht die Gefahr, dass die Belange der Minderheitsaktionäre im Rahmen der Interessenabwägung vernachlässigt wurden. Ein effektiver Minderheitenschutz erfordert eine volle richterliche Kontrolle. Eine solche Kontrollintensität ist überdies geboten, wenn die Hauptversammlung eine isolierte Kapitalherabsetzung beschließt, die dazu führt, dass die Minderheitsaktionäre die Möglichkeit verlieren, die Schutzinstrumente zu benutzen. Gleiches gilt für den Fall, dass manche Aktionäre infolge der isolierten Kapitalherabsetzung aus der Gesellschaft ausscheiden müssen.125 Solche Szenarien liegen nicht völlig fern, weil bei einer Zusammenlegung der Anteile naturgemäß nicht genug Spitzen zum Erwerb zur Verfügung stehen und deshalb nicht sichergestellt werden kann, dass jeder Aktionär die wesentliche Absenkung seiner Beteiligungsquote bzw. das Ausscheiden vermeiden kann.126 Damit die Mitgliedschaft nicht über Gebühr beeinträchtigt wird, ist eine Erhöhung der richterlichen Prüfungsdichte geboten.127 b) Business Judgment Rule bei „Sanieren oder Ausscheiden“Beschlüssen? Die vorstehenden Überlegungen zur richterlichen Kontrolldichte bei sanierendem Kapitalschnitt in der Aktiengesellschaft können auf die „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschlüsse in der Personengesellschaft übertragen werden. Entgegen der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum setzt das Ausscheiden nicht zwingend eine Zustimmung des nicht sanierungsbereiten Gesellschafters voraus, die mit Hilfe der Treuepflicht im Einzelfall überwunden werden kann. Vielmehr ist eine solche Konstruktion nur erforderlich, wenn der Gesellschaftsvertrag keine Mehrheitsklausel vorsieht und deshalb das Einstimmigkeitsprinzip herrscht.128 Enthält der Gesellschaftsvertrag eine Mehrheitsklausel, was namentlich in Publikumspersonengesellschaften dem praktischen Regelfall entsprechen dürfte, reicht nach dem in § 17 III 3 und VI 125 Unerheblich ist dabei, ob es sich um eine ordentliche oder vereinfachte Kapitalhe­ rabsetzung handelt; zutr. im Kontext der sachlichen Rechtfertigung Krieger ZGR 2000, 885, 895. 126 Zur Bedeutung der hohen Spitzen für die Beschlusskontrolle etwa BGHZ 142, 167, 170 f. = NJW 1999, 3197. 127 Freilich führt dies nicht dazu, dass der Beschluss fehlerhaft ist. Wie in anderen Fällen steigt der Aufwand, mit dem die Kompatibilität der Sanierungsmaßnahme mit dem Gesellschaftsinteresse begründet werden muss. 128 Zur Überwindung der fehlenden Stimmenanzahl mit Hilfe der Treuepflicht s. noch § 20 IV 3. 636

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Gerichtliche Kontrolle der Sanierungsmaßnahmen

2 Gesagten im Ausgangspunkt ein mehrheitlich gefasster Sanierungsbeschluss aus, damit der nicht sanierungsbereite Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheidet. Allerdings muss ein solcher Beschluss der treuepflichtgestützten ­Inhaltskontrolle standhalten.129 Die Treuepflicht dient also nicht dazu, die fehlende Zustimmung des nicht sanierungsbereiten Gesellschafters zu überwin­ den, sondern sie ist eine Grenze der Mehrheitsmacht.130 Das Zustimmungserfordernis scheint ein Überbleibsel der Kernbereichslehre zu sein,131 die aber – wie schon in § 17 VI 2 ausgeführt – im System der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht ihre Daseinsberech­ tigung verloren hat. Speziell in Sanierungsfällen zeigt ein Vergleich mit den Vorschriften über die Ausschließung eines Gesellschafters, dass die aus der Treuepflicht entwickelte Zustimmungspflicht zu einer unnötig komplizierten Konstruktion führt. Das Gesetz sieht nämlich in §§ 737, 723 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 140, 133 Abs. 1 HGB die Möglichkeit vor, einen Gesellschafter aus wichtigem Grund aus der Gesellschaft auszuschließen. Dabei kann der Gesellschaftsvertrag die Ausschließung qua Mehrheitsbeschlusses gestatten.132 Dies ist bei der Beurteilung der „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschlüsse zu berücksichtigen. Ein nicht sanierungsbereiter Gesellschafter kann zwar mit Hilfe eines Sanierungsbeschlusses zum Ausscheiden gezwungen werden, im Rahmen der treuepflichtgestützten Inhaltskontrolle ist aber der Umstand zu berücksichtigen, dass die Ausschließung nach gesetzlichem Leitbild nur aus wichtigem Grund zulässig ist.133 129 In materiell-rechtlicher Hinsicht dürfte dieser Ansatz zu denselben Ergebnissen führen wie die Konstruktion der hA. Ein Unterschied ergibt sich aber auf verfahrensrechtlicher Ebene, namentlich wenn der Gesellschaftsvertrag eine Klagefrist vorsieht. Während nach der hier vertretenen Auffassung die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter diese Frist beachten müssen, so dass ihre Untätigkeit zur Bestandskraft des Beschlusses führt, spielt die Klagefrist im BGH-Modell keine Rolle. S. dazu ausf. Holler ZIP 2010, 1678, 1683 f. 130 Insoweit zutr. Schöne ZIP 2015, 501, 506 f. 131 So auch die Deutung von Escher-Weingart WM 2016, 1569, 1571. Eine Verbindung zwischen der Kernbereichslehre und der Zustimmungslösung des BGH wird etwa bei St. Schneider, Stimmpflichten, S. 140 ff. deutlich. Anders aber Holler ZIP 2010, 1678, 1680 ff., der auf Grundlage der Kernbereichslehre die Konstruktion des BGH für entbehrlich hält. 132 Für die GbR C. Schäfer in MüKoBGB §  737 Rn.  13; für die OHG K. Schmidt in ­MüKoHGB § 140 Rn. 91. 133 In diese Richtung Escher-Weingart WM 2016, 1569, 1572 ff.; Schöne ZIP 2015, 501, 508  f. Auf der Grundlage der Kernbereichslehre ähnlich Holler ZIP 2010, 1678, 1680 ff. Vgl. ferner K. Schmidt in MüKoHGB § 140 Rn. 88, der den Sanierungsbeschluss als „Umgehung des Ausschließungsverfahrens“ bezeichnet. 637

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Kapitalmaßnahmen

Der Blick auf die Vorschriften über den Gesellschafterausschluss erleichtert die Antwort auf die Frage, ob der „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt ist. Bei vordergründiger Betrachtung liegt es nahe, die Sanierungsmaßnahme – wie bei der Kapitalherabsetzung in Kapitalgesellschaften134 – als eine unternehmerische Entscheidung zu qualifizieren,135 weil die Gesellschafter allein an die final strukturierte Treuepflicht gebunden sind. Zieht man aber einen Vergleich mit den Vorschriften über den Gesellschafterausschluss, spricht viel für ein gegenteiliges Ergebnis. §§  737, 723 Abs. 1 Satz 2 BGB, §§ 140, 133 Abs. 1 HGB sind nämlich konditional formuliert, was auf eine Erhöhung der richterlichen Prüfungsdichte hindeutet.136 Dies muss konsequent für den „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss gelten. Zudem machen die Regelungen über den Gesellschafterausschluss deutlich, dass die Gerichte gerade zum Schutz der Mitgliedschaft berufen sind. Auch der Adäquanzgedanke spricht also gegen die Anwendung der Business Judgment Rule. Selbst wenn man den „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss für eine unternehmerische Entscheidung hält, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht einschlägig. Der Verlust der Mitgliedschaft durch die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter ist ein Sondernachteil, der einen qualifizierten Interessenkonflikt begründet und den Rückgriff auf die Business Judgment Rule sperrt. Die hohe Eingriffsintensität der Sanierungsmaßnahme ist ein Umstand, der eine volle gerichtliche Kontrolle des Mehrheitsbeschlusses gebietet. Dies führt freilich nicht dazu, dass der Beschluss per se fehlerhaft ist. Vielmehr ist er anhand der Kriterien zu überprüfen, die der BGH in den „Sanieren oder Ausscheiden“-Urteilen herausgearbeitet hat.137 3. Begrenzung der Minderheitenmacht Die vorstehenden Ausführungen gelten für Fälle, in denen eine Sanierungsmaßnahme mehrheitlich beschlossen wurde und die nicht sanierungsbereite Minderheit den Beschlussinhalt beanstandet. Ein Konflikt zwischen den sanierungswilligen und den nicht sanierungsbereiten Gesellschaftern, der vor 134 S. § 20 IV 2 a. 135 So Nentwig GmbHR 2012, 664, 666; H.P. Westermann NZG 2010, 321, 324. 136 Zudem kann man eine Parallele zu den Personalmaßnahmen des AR ziehen. Auch § 84 Abs. 3 und § 103 Abs. 3 AktG sind konditional formuliert, so dass die Abberufung der Vorstands- und AR-Mitglieder keine unternehmerischen Entscheidungen sind; vgl. hierzu § 15 I 3 und 4. 137 S.  dazu §  20 IV 1 b mit Nachw. in Fn.  115.  Vgl. ferner den Konkretisierungsvorschlag bei St. Schneider, Stimmpflichten, S. 244 ff. 638

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Gerichtliche Kontrolle der Sanierungsmaßnahmen

Gericht ausgetragen wird, kann auch entflammen, wenn der Sanierungsversuch daran scheitern, dass die für den Sanierungsbeschluss erforderliche (qualifizierte) Mehrheit nicht erreicht wird. Die sanierungswilligen Gesellschafter können eine positive Beschlussfeststellungsklage erheben, um die Grundlage für die Sanierung zu schaffen. In einem solchen Fall überprüft das Gericht am Maßstab der Treuepflicht, ob der negative Beschluss138 im Einklang mit dem Gesellschaftsinteresse steht. Wie der positive Sanierungsbeschluss ist auch der negative Beschluss eine unternehmerische Entscheidung. Die Gesellschafter, die gegen den Sanierungsantrag stimmen, sind final gesteuert, so dass die kollektive Entscheidung, keinen Sanierungsversuch zu unternehmen, im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule liegt. Das Gericht kann sie nur beanstanden, wenn sie völlig unverantwortlich ist, es sei denn, die Ablehnung des Antrags beruht auf einer unzureichenden Informationsgrundlage oder die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter befinden sich in einem Interessenkonflikt.139 Die mit § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einhergehende Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte bietet eine dogmatische Erklärung dafür, warum die Gerichte die positiven Stimmpflichten der Gesellschafter nur in Ausnahmesituationen bejahen. Wenn die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter weder unzureichend informiert sind noch aus der Ablehnung des Sanierungsversuchs einen Sondervorteil ziehen, sind die Gerichte lediglich zu einer Evidenzkontrolle befugt; sie müssen die Entscheidungsautonomie der Gesellschafter respektieren.

138 Zu negativen Beschlüssen als Kategorie für Fälle, in denen der Antrag abgelehnt wird, s. § 2 V 2 a. 139 Für einen breiten Beurteilungsspielraum der Verwaltungsorgane bei der Einschätzung der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Sanierungskonzepts aber Seibt ZIP 2014, 1909, 1914.  Räumt man der Verwaltung einen solchen Spielraum ein, dürfte das Ermessen der nicht sanierungsbereiten Gesellschafter eingeschränkt sein. 639

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§ 21 Ermächtigungsbeschluss in der Übernahmesituation I. Problemaufriss und Meinungsstand Ein weiterer Bereich, in dem die Entscheidungen der Gesellschafter und der Verwaltungsorgane verzahnt sind, ist das Übernahmerecht. Es wurde bereits in § 11 II 5 erläutert, dass der Vorstand einer börsennotierten Aktiengesellschaft nach § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG keine Maßnahmen ergreifen darf, die den Erfolg des Übernahmeangebots verhindern könnten. Von diesem Verhinderungsverbot ist der Vorstand nach § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG suspendiert, wenn ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter einer Gesellschaft, die nicht von einem Übernahmeangebot betroffen ist, die verhinderungsgeeignete Maßnahme ebenfalls vorgenommen hätte (Var. 1) oder wenn der Vorstand nach einem „Weißen Ritter“ sucht (Var. 2). Schließlich kann die Zustimmung des Aufsichtsrats den Vorstand von dem Verhinderungsverbot befreien (Var. 3). In all diesen Fällen treffen die Verwaltungsorgane unternehmerische Entscheidungen,1 die aber wegen übernahmebedingter Interessenkonflikte2 häufig jenseits des sicheren Hafens der Business Judgment Rule liegen.3 Um den Wegfall der Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu vermeiden, können die Verwaltungsorgane die Hauptversammlung in die Vorbereitung der Abwehrmaßnahmen einbeziehen. Nach §  33 Abs.  2 WpÜG kann die Hauptversammlung nämlich in einem Vorratsbeschluss den Vorstand zur Durchführung von Abwehrmaßnahmen ermächtigen.4 Macht der Vorstand von einer solchen Ermächtigung Gebrauch, was nach § 33 Abs. 2 Satz 4 AktG einer Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf, stellen sich aus der Perspektive der richterlichen Prüfungsdichte zwei Fragen: Wie intensiv darf ein Gericht 1 Für den Vorstand § 11 II 6; für den AR § 15 V 3. 2 Hierzu § 11 II 8 a und § 15 V 3. 3 Bei § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG kommt es maßgeblich auf die Relevanz des Interessenkonflikts in zeitlicher Hinsicht an, s. § 11 II 8 c aa. Bei § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG sind die Sonderinteressen unschädlich, s.  §  11 II 8 c bb. In Fällen des §  33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG sind die AR-Mitglieder idR befangen, so dass sie sich nicht auf die BJR berufen dürfen, s. § 15 V 3. Die Zustimmung des befangenen AR kann den Interessenkonflikt des Vorstands nicht neutralisieren, s. § 15 V 4. 4 Aufzählung der abwehrgeeigneten Beschlussgegenstände etwa bei Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 147. Daneben können die Aktionäre eine Ermächtigung in einer nach § 16 Abs. 3 und 4 WpÜG einberufenen HV ad hoc beschließen, s. dazu statt vieler Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 188 ff. 640

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Kontrolle des Ermächtigungsbeschlusses

den Ermächtigungsbeschluss überprüfen?5 Wie weit reichen die Kontrollbefugnisse hinsichtlich der Verwaltungsentscheidungen?6 Was die Inhaltskontrolle des Ermächtigungsbeschlusses angeht, dreht sich die Diskussion namentlich um die Frage, ob der Beschluss über die Anforderungen des §  33 Abs.  2 Satz  1 bis  3 WpÜG hinaus sachlich gerechtfertigt sein muss.7 Die herrschende Auffassung lehnt das Erfordernis sachlicher Rechtfertigung im Anwendungsbereich des § 33 Abs. 2 WpÜG ab,8 ohne sich aber mit etwaigen diskretionären Spielräumen der Hauptversammlung auseinanderzusetzen. Der Gebrauch der Ermächtigung wird in das pflichtgemäße Ermessen des Vorstands gestellt.9 Ob es sich dabei um einen Fall des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handelt, wird dabei meist nicht erläutert. Auch wird nicht problematisiert, wie intensiv die Zustimmung des Aufsichtsrats nach §  33 Abs.  2 Satz 4 WpÜG kontrolliert werden darf.10

II. Kontrolle des Ermächtigungsbeschlusses Ist der Ermächtigungsbeschluss Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle, folgen das Prüfungsprogramm und die Prüfungsdichte aus den Ausführungen in § 17 IV bis VI und § 18. Der Beschluss bedarf zwar keiner sachlichen Recht­ fertigung,11 er muss aber dem Gesellschaftswohl entsprechen.12 Ob dies der Fall ist, unterliegt einer bloßen Evidenzkontrolle, wenn die Voraussetzungen 5 Hierzu § 21 II. 6 Vgl. § 21 III. 7 Dass der Beschluss den geschriebenen aktienrechtlichen Erfordernissen genügen muss, ist unbestritten, s.  Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG § 33 Rn. 220 f. 8 Hirte in KK-WpÜG §  33 Rn.  125; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/ Schneider WpÜG § 33 Rn. 222; Zheng, Verhaltenspflichten, S. 145. Vgl. auch Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 93: Bezugsrechtsausschluss sei in Fällen des § 33 Abs. 2 WpÜG idR rechtmäßig. 9 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 33 Rn. 91; Grunewald in Baums/Thoma/Verse WpÜG § 33 Rn. 99 (sehr weiter Handlungsspielraum); Hirte in KK-WpÜG §  33 Rn.  136; Krause/Pötzsch/Stephan in Assmann/Pötzsch/Schneider WpÜG §  33 Rn. 236; Röh in FK-WpÜG § 33 Rn. 116; Schlitt im MüKoAktG § 33 WpÜG Rn. 230; Steinmeyer WpÜG §  33 Rn.  48; Paschos in HdB ÜbernahmeR §  24 Rn.  259.  Enger wohl Ekkenga in Ehricke/Ekkenga/Oechsler WpÜG § 33 Rn. 86. 10 S. aber Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 50; Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 162: Sorgfaltsmaßstab der §§ 116, 93 AktG. 11 Hierzu bereits § 17 IV 2. 12 S. § 17 V und VI. 641

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Ermächtigungsbeschluss in der Übernahmesituation

des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind.13 Dabei ist insbesondere bei der Annahme eines ermessensausschließenden Interessenkonflikts Zurückhaltung geboten.14 Zwar betrifft der Beschluss die Aktionärsinteressen, die Reaktion auf ein (potentielles) Angebot gehört aber zu den eigennützigen Rechten, so dass die Relevanzschwelle in der Regel nicht überschritten wird.15 Die richterliche Prüfungsdichte wird demnach davon abhängen, ob die Verwaltungsorgane die Aktionäre über die tatsächlichen Beschlussgrundlagen informiert haben.16 Kommt die Verwaltung den Informationspflichten nach, darf das Gericht den Beschluss nur dann inhaltlich beanstanden, wenn dieser völlig unverantwortlich ist.

III. Kontrolle der Ermächtigungsausübung durch Verwaltungsorgane Die Ermächtigung der Hauptversammlung befreit den Vorstand, der eine Abwehrmaßnahme auf den Ermächtigungsbeschluss stützt, nicht von den allgemeinen Sorgfaltspflichten. Der Vorstand ist zwar nicht durch das übernahmerechtliche Verhinderungsverbot des § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG gebunden,17 er muss aber nach wie vor im Interesse der Gesellschaft handeln (s. § 3 Abs. 3 WpÜG und § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG).18 Die Bindung an das Gesellschaftsinteresse gilt auch für den Aufsichtsrat, der nach § 33 Abs. 2 Satz 4 WpÜG der Vorstandsmaßnahme zustimmt.19 Da die Abwehrmaßnahme und die Zustimmung nach § 33 Abs. 2 Satz 4 WpÜG unternehmerische Entscheidungen sind,20 kommt den Verwaltungsorganen die Privilegierung des §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG zugute, wenn sie zu der vertretbaren Einschätzung gelangt sind, dass sie auf angemessener Informationsgrundlage handeln.21

13 Zur Abstufung der Kontrollintensität § 18 II. 14 Zu den Sonderinteressen bei Gesellschafterbeschlüssen s. § 18 V. 15 Zum Zusammenhang zwischen eigennützigen Rechten und Relevanz § 18 V 3 c. 16 Zur Informationsbeschaffung in der Publikumsgesellschaft § 18 IV 3. 17 S. nur Noack/Zetzsche in KMRK § 33 WpÜG Rn. 39. 18 Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 33 Rn. 91. 19 Zutr. Steinmeyer WpÜG § 33 Rn. 50; Paschos in HdB ÜbernahmeR § 24 Rn. 162. 20 Zur Qualifizierung der Abwehrmaßnahmen als unternehmerische Entscheidungen § 11 II 6. Für die Zustimmung des AR nach § 33 Abs. 2 Satz 4 WpÜG gelten die Ausführungen zur Zustimmung nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG entsprechend, s. § 15 V 3. 21 Zur Informationsbeschaffung durch den Vorstand in der Übernahmesituation § 11 II 7. Zum AR § 14 III. 642

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Kontrolle der Ermächtigungsausübung durch Verwaltungsorgane

Die Anwendung der Business Judgment Rule ist aber bei unbefangener Betrachtung problematisch, wenn sich die Verwaltungsorgane  – wie in den Übernahmesituationen sonst  – in einem latenten Interessenkonflikt befinden,22 die nach den allgemeinen Grundsätzen eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle gebieten.23 Allerdings wurde in § 8 IV 6 c herausgearbeitet, dass die Sonderinteressen der Vorstandsmitglieder den Zugang zum sicheren Hafen nicht versperren, wenn die Hauptversammlung eine Vorstandsmaßnahme in Kenntnis des Interessenkonflikts gebilligt hat. Diese Überlegungen sind im Zusammenhang mit den Verhinderungsmaßnahmen aufzugreifen. Die Hauptversammlung, die den Vorstand zur Abwehr einer Unternehmensübernahme ermächtigt, bringt deutlich zum Ausdruck, dass sie die übernahmebedingten Befangenheit in Kauf nimmt. Die Aktionäre zeigen sich damit einverstanden, dass der Vorstand ihnen die Möglichkeit abschneiden kann, ein Übernahmeangebot anzunehmen; dies gilt auch für die Zustimmung des Aufsichtsrats nach § 33 Abs. 2 Satz 4 WpÜG.24 Der Ermächtigungsbeschluss reicht aus, um eine Neutralisierung des Interessenkonflikts auf Seiten der Verwaltungsorgane zu bejahen.25 Im Lichte der vorstehenden Ausführungen liegt der Sinn des §  33 Abs.  2 WpÜG in der Erweiterung der diskretionären Spielräume der Verwaltungsorgane.26 Stützt sich der Vorstand in einer Übernahmeschlacht auf die Ausnahmen in § 33 Abs. 1 Satz 2 WpÜG, ist ihm die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wegen Befangenheit häufig versagt. Dies gilt auch für den Aufsichtsrat, der einer Abwehrmaßnahme nach § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zustimmt. Handelt der Vorstand auf Grundlage eines Ermächtigungsbeschlusses der Hauptversammlung, kommt ihm die Business Judgment Rule zugute, weil die Aktionäre den übernahmebedingten Interessenkonflikt neutralisieren dürfen.

22 Vgl. § 11 II 8 a und § 15 V 3. 23 Hierzu ausf. § 9 IV 3. 24 Deutlich Heyers Der Konzern 2017, 231, 234: „Die Ausnutzung der Vorratsermächtigung durch den Vorstand mit Zustimmung des Aufsichtsrats soll nach dem Willen der Hauptversammlung zielgerichtet zur Übernahmeabwehr eingesetzt werden.“ 25 Dies gilt erst recht für einen ad hoc gefassten Ermächtigungsbeschluss. Liegt ein Übernahmeangebot vor und ermächtigt die HV den Vorstand dennoch zur Vornahme von Abwehrmaßnahmen, neutralisiert sie einen offenkundigen Interessenkonflikt. 26 Vgl. auch Brandi in Angerer/Geibel/Süßmann WpÜG § 33 Rn. 91: Der Vorstand habe einen größeren Ermessensspielraum als ohne Ermächtigungsbeschluss. AA etwa Hirte in KK-WpÜG § 33 Rn. 136. 643

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§ 22 Entscheidungen über die Gewinnverwendung I. Mitwirkung der Verwaltung und Gesellschafter Die Entscheidungen der Verwaltungsorgane und der Gesellschafter sind zudem bei der Gewinnverwendung miteinander verzahnt. Am deutlichsten tritt das Zusammenspiel in der Aktiengesellschaft zutage.1 Hier ermittelt der Vorstand bei der Aufstellung des Jahresabschlusses den Jahresüberschuss bzw. den Jahresfehlbetrag. Sodann stellen die Verwaltungsorgane den Jahresabschluss fest (§ 172 AktG).2 Verfügt die Gesellschaft über einen Jahresüberschuss, räumt § 58 Abs. 2 AktG der Verwaltung im Rahmen der Ergebnisverwendung3 die Befugnis ein, vorbehaltlich einer anderweitigen Satzungsbestimmung höchstens die Hälfte des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklagen einzustellen. Der nach etwaiger Thesaurierung verbleibende Betrag – der Bilanzgewinn4 – steht zur Disposition der Hauptversammlung, die nach § 174 AktG über die Gewinnverwendung beschließt, wobei sie dem Vorschlag der Verwaltungsorgane (§ 124 Abs. 3, § 170 Abs. 2 Satz 1 AktG) folgen oder sich für eine anderweitige Verwendung des Bilanzgewinns entscheiden kann (s. insb. § 58 Abs. 3 AktG). Die Gewinnverteilung richtet sich gem. § 60 Abs. 1 AktG – vorbehaltlich einer anderweitigen Satzungsregelung (§  60 Abs.  3 AktG) oder einer schuldvertraglichen Abrede5 – nach Kapitalanteilen.6

1 Aufschlussreicher Überblick über die einzelnen Schritte etwa bei Leuering/Rubner NJW-Spezial 2015, 655; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 449. 2 Die Feststellung des Jahresabschlusses durch die HV ist zwar nach § 173 AktG denkbar, kommt aber praktisch nicht vor (E. Vetter in GK-AktG § 173 Rn. 4), so dass die folgenden Ausführungen vom Regelfall der Feststellung durch die Verwaltungsorgane ausgehen. 3 Zum Begriff der Ergebnisverwendung etwa Berberich/Haaf in BeckHdB AG § 11 Rn. 2. 4 Zur Definition des Bilanzgewinns statt vieler Leuering/Rubner NJW-Spezial 2015, 655. 5 Dazu etwa J. Koch AG 2015, 213 ff. 6 Da sich die Gewinnverteilung in allen Gesellschaftsformen (zu GmbH und Personengesellschaften s. sogleich) meist nach dem gesellschaftsvertraglichen oder gesetzlichen Verteilungsschlüssen bestimmt, fehlt eine zusätzliche Maßnahme, die einer richterlichen Kontrolle unterzogen werden kann (s. zur GmbH Priester in MHdB GesR III § 57 Rn. 44: Beschluss sei nicht erforderlich). Deshalb wird die Gewinnverteilung im Folgenden vernachlässigt. 644

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Mitwirkung der Verwaltung und Gesellschafter

Auch in der GmbH sind die Aufgaben im Zusammenhang mit der Gewinnverwendung7 zwischen der Verwaltung und den Gesellschaftern aufgeteilt, wobei die Akzente anders gesetzt sind als im Aktienrecht.8 So obliegt dem Geschäftsführer die Aufstellung des Jahresabschlusses,9 den er nach § 42a Abs. 1 Satz 1 GmbHG den Gesellschaftern vorlegen muss. Diese sind gem. § 46 Nr. 1, § 42a Abs. 2 GmbHG dazu berufen, den Jahresabschluss festzustellen und die Ergebnisverwendung zu beschließen. Nach § 29 Abs. 2 GmbHG können sie – vorbehaltlich einer anderweitigen Satzungsregelung – den Gewinn ausschütten oder thesaurieren. Wie im Aktienrecht richtet sich die Gewinnverteilung nach der Satzungsregelung bzw. nach dem Verhältnis der Kapitalanteile (§  29 Abs.  3 GmbHG).10 Weniger klar strukturiert ist die Aufgabenverteilung im Personengesellschaftsrecht, was schon damit zusammenhängt, dass hier keine eindeutige Trennung zwischen den Verwaltungsorganen und Gesellschaftern möglich ist.11 Überdies unterscheiden sich die gewinnbezogenen Regelungen in den einzelnen Gesellschaftsformen voneinander.12 Nichtsdestotrotz ist rechtsformübergreifend ein gedanklicher Dreischritt erforderlich, der in seiner Grundstruktur an das Kapitalgesellschaftsrecht erinnert: Gewinnermittlung, Gewinnverteilung und Gewinnverwendung.13 Die Gewinnermittlung erfolgt bei der Aufstellung und Feststellung des Jahresabschlusses,14 wobei für die Aufstellung die geschäftsführenden Gesellschafter und für die Feststellung alle Gesellschafter zuständig sind.15 Mit der Feststellung des Jahresabschlusses fällt in der Praxis 7 Das GmbH-Recht unterscheidet  – anders als das Aktienrecht  – nicht zwischen der Ergebnis- und Gewinnverwendung. Zum Begriff der Gewinnverwendung in der GmbH etwa Priester in MHdB GesR III § 57 Rn. 1. 8 Vgl. Priester in MHdB GesR III § 57 Rn. 2. 9 S. nur Scholz/Verse GmbHG § 29 Rn. 12. 10 Hierzu statt vieler Priester in MHdB GesR III § 57 Rn. 42 ff. 11 Dazu § 2 II 1. 12 S. §§ 721, 722 BGB für die GbR, §§ 120-122 HGB für die OHG und §§ 167-169 HGB für die KG. Aufschlussreicher Überblick bei Blezinger, Gewinnverteilung, S.  21  ff. (GbR), S. 42 ff. OHG), S. 72 ff. (KG). 13 Zu diesem Dreischritt in den unterschiedlichen Rechtsformen Blezinger, Gewinnverteilung, S. 21 ff. Vgl. ferner Priester in MüKoHGB § 121 Rn. 4. 14 Da die GbR der handelsrechtlichen Buchführungspflicht nicht unterliegt, ist im Recht der BGB-Gesellschaft statt vom Jahresabschluss vom Rechnungsabschluss die Rede (s. Gummert in MHdB GesR I § 14 Rn. 31). Dennoch wird im Folgenden aus Gründen der sprachlichen Einfachheit der Begriff des Jahresabschlusses auch im Kontext der GbR verwendet. 15 Zur Zuständigkeit für die Aufstellung Staub/Casper HGB §  167 Rn.  5; Priester in ­MüKoHGB § 120 Rn. 46; Sangen-Emden in MHdB GesR I § 62 Rn. 54; Dettke, Ge645

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

häufig die Gewinnverwendung zusammen,16 also die Entscheidung darüber, ob die Gewinne an die Gesellschafter ausgeschüttet oder thesauriert werden.17 Sowohl die Feststellung des Jahresabschlusses als auch die Gewinnverwendung sind oft Gegenstand einer gesellschaftsvertraglichen Mehrheitsklausel,18 so dass die Entscheidungsfindung an das Verfahren im Kapitalgesellschaftsrecht angelehnt ist. Die Gewinnverteilung richtet sich nach § 722 BGB, §§ 121, 122, 168, 169 HGB, die aber meist durch einen Gewinnverteilungsschlüssel im Gesellschaftsvertrag überlagert werden.19

II. Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung 1. Problemaufriss und Meinungsstand Die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte erweist sich bei allen Einzelschritten, die zum Gewinnverwendungsbeschluss führen, als problematisch. So ist sich das Schrifttum nicht darüber einig, inwieweit die Gerichte die winnthesaurierung, S. 145. Zur Feststellung Staub/Casper HGB § 167 Rn. 6 ff.; Priester in MüKoHGB § 120 Rn. 55; Sangen-Emden in MHdB GesR I § 62 Rn. 74; Dettke aaO S. 160 ff. 16 Zur Vorgehensweise in der Praxis s. etwa Soergel/Hadding/Kießling BGB §  721 Rn.  13. Auch wenn die Feststellung des Jahresabschlusses und die Gewinnverwendung äußerlich in einem Akt beschlossen werden, ist rechtlich zwischen zwei Beschlüssen zu unterscheiden, s. Priester in MüKoHGB § 120 Rn. 72, 80 f. Vgl. ferner Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 931. 17 Diese Umschreibung verwendet etwa Priester in MüKoHGB § 121 Rn. 4. 18 Zur gesetzlichen default rule in § 122 Abs. 1, § 169 Abs. 1 HGB, die im Grundsatz eine vollständige Gewinnausschüttung an die persönlich haftenden Gesellschafter anordnet, vgl. Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 214 ff. Dass die Feststellung des Jahresabschlusses durch eine allgemein gefasste Mehrheitsklausel abgedeckt ist, hat der BGH im OTTO-Urteil entschieden (BGHZ 170, 283 Rn. 6, 12 ff. = NJW 2007, 1685) und danach bestätigt (BGH DStR 2009, 1544 Rn.  2; aus dem Schrifttum Staub/Casper HGB §  167 Rn.  8; Priester in MüKoHGB §  120 Rn.  64; Staake in BeckOGK HGB § 120 Rn. 90.1; Sangen-Emden in MHdB GesR I § 62 Rn. 76; Dettke aaO S. 202 f.). Für die Gewinnverwendung hat er diese Frage offengelassen, die Entwicklung der Rspr. zu Mehrheitsklauseln und Bestimmtheitsgrundsatz (§  17  III  3) deutet aber darauf hin, dass auch die Gewinnverwendungsbeschlüsse mit (einfacher) Mehrheit gefasst werden dürfen (dafür etwa Grunewald in MüKoHGB § 167 Rn. 11; Klimke in BeckOK HGB § 120 Rn. 20; Oetker/Lieder HGB § 120 Rn. 41; Staake in BeckOGK HGB § 120 Rn. 115; Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 935 ff.; Priester, FS U.H. Schneider, S. 985, 991 ff.; K. Schmidt ZGR 2008, 1, 22; so wohl auch Gummert in MHdB GesR I § 14 Rn.  37; Sangen-Emden in MHdB GesR I §  62 Rn.  77.  Strenger aber Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 224 ff.). 19 Informative Zusammenstellung bei Blezinger, Gewinnverteilung, S. 113 ff. 646

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Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung

Bilanzierungsentscheidungen, die die Geschäftsleiter im Rahmen der Aufstellung eines Jahresabschlusses treffen, einer Inhaltskontrolle unterziehen dürfen.20 Zahlreiche bilanzrechtliche Vorschriften räumen ihren Adressaten ausdrücklich Wahlrechte ein21 oder zwingen sie zu Schätzungen und Prognosen, etwa bei der Frage, ob und in welcher Höhe Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden sind (§ 249 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, § 253 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 HGB).22 Manche Regelungen stellen darauf ab, ob eine Bilanzierungsentscheidung nach „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ geboten ist (§ 286 Abs. 2 und 3 Satz 1 Nr. 2, § 289e Abs. 1 Nr. 1 HGB). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Schrifttum leidenschaftlich über die Anwendung der Business Judgment Rule streitet. Da etwaige Bilanzierungsentscheidungen gesetzlich determiniert sind, wollen einige Autoren § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG zwar nicht anwenden, räumen den Geschäftsleitern aber einen Beurteilungsspielraum ein.23 20 Der Streit bezieht sich freilich nicht auf die Frage, ob die Geschäftsleiter der Buchführungspflicht nachkommen muss. Diese strikte Pflicht folgt aus §  238 Abs.  1 Satz  1 HGB, § 91 Abs. 1 AktG, § 41 GmbHG, ohne dass den Geschäftsleitern etwaige Letzt­ entscheidungskompetenzen eingeräumt sind; s. Merkt Der Konzern 2017, 353, 355. Auch geht es nicht um Spielräume bei der Organisation der Buchführung, etwa wenn die Verteilung der Kompetenzen und Regelung der Entscheidungsabläufe überprüft werden; für diese organisatorischen Maßnahmen gilt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG; zur Anwendung der BJR auf Organisationsmaßnahmen ausf. Linnertz, Delegation, S. 232 ff.; speziell zur Buchführung Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 41 Rn. 18; Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 13; W. Müller, LA Happ, S.  179, 193. Schließlich fallen bilanzrelevante Sachverhaltsgestaltungen und Zuordnungen in den Anwendungsbereich der BJR, s.  Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 13; Merkt Der Konzern 2017, 353, 357; W. Müller, LA Happ, S. 179, 185 f., 194. 21 Aufschlussreicher Überblick bei Merkt Der Konzern 2017, 353, 356; W. Müller, LA Happ, S. 179, 184 f.; Pöschke ZGR 2018, 647, 656 ff. 22 Hierzu und zu weiteren Beispielen Hennrichs AG 2006, 698, 699 f.; Merkt Der Konzern 2017, 353, 357; Pöschke ZGR 2018, 647, 663 ff. 23 Fleischer in BeckOGK AktG § 93 Rn. 88 aE; Hopt/M. Roth in GK-AktG § 93 Rn. 77, 120 (eingeschränktes Ermessen); Hüffer/J. Koch AktG § 93 Rn. 19; Feldmüller in HdB Managerhaftung Rn. 34.62; Wiesner in MHdB GesR IV, 4. Aufl., § 25 Rn. 61 („gewisser Beurteilungsspielraum“); Breitenfeld, Binnenhaftung, S.  129  f.; Sauter, Lagebericht, S. 241 ff. Hierzu tendiert bei Lichte besehen auch Kuhner Der Konzern 2017, 360, 362  ff., der zwar vom „Auslegungsermessen“ spricht, dies jedoch wohl nicht technisch versteht. Einige Autoren sprechen vom „Ermessen“ in Fällen, in denen Angaben iSd §  285 HGB unterbleiben sollen, weil sie nach „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ mit einem erheblichen Nachteil für die Gesellschaft. Vom Ermessen ist auch im Kontext der Aufstellung des Jahresabschlusses die Rede, s. Ehricke in EBJS HGB § 120 Rn. 19; Oetker/Lieder HGB § 120 Rn. 12. Ob § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einschlägig ist, wird meist nicht erläutert, s. etwa Kessler in MüKoBilanzR § 286 HGB 647

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Ein Teil des Schrifttums steht der Anwendung der Business Judgment Rule auf Bilanzierungsentscheidungen aufgeschlossener gegenüber. Einen differenzierten Ansatz verfolgt etwa Welf Müller, der § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Ausübung von bilanziellen Wahlrechten anwenden will, nicht aber auf Bilanzierungsentscheidungen, die zum legalistisch gebundenen Bereich gehören; im letztgenannten Fall verfügten die Geschäftsleiter nur über ein gebundenes Beurteilungsermessen.24 Nach Hanno Merkt ist es maßgeblich, ob die bilanzrelevanten Entscheidungen dem Handlungsbereich zuzuordnen sind und ob die Auslegung und Anwendung der Bilanzierungsvorschriften mit Schwierigkeiten und Prognosen verbunden sind; in diesen beiden Fällen sei die Business Judgment Rule einschlägig.25 Moritz Pöschke stellt darauf ab, ob das Bilanzrecht einen Korridor rechtlich zulässiger Entscheidungen schafft, und verweist überdies auf den normativ-subjektiven Fehlerbegriff im Bilanzrecht: Nach herrschender Auffassung sei ein Jahresabschluss fehlerhaft, wenn die Bilanzierung den objektiv bestehenden Verhältnissen am Bilanzstichtag oder den anzuwendenden bilanzrechtlichen Normen widerspreche und ein pflichtgemäß und gewissenhaft handelnder Kaufmann im Zeitpunkt der Feststellung des Abschlusses die daraus folgende Rechtswidrigkeit habe erkennen können. Daraus folge, dass auch objektiv rechtswidrige Bilanzierungsentscheidungen unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG seien, wenn sie nach dem normativ-subjektiven Fehlerbegriff nicht zu einer fehlerhaften Bilanzierung führten.26 2. Kein unternehmerischer Charakter der Bilanzentscheidungen Die Stellungnahmen im Schrifttum fokussieren sich zu Recht auf das Merkmal der unternehmerischen Entscheidung und die Frage, ob gesetzlich determinierte Maßnahmen die Privilegierung der Business Judgment Rule genieRn. 8, 17; Poelzig in MüKoHGB § 286 Rn. 33 f. Für die Anwendung der BJR auf § 289e Abs. 1 Nr. 1 HGB aber Bachmann ZGR 2018, 231, 237; Mock ZIP 2017, 1195, 1200 – s. dazu schon die Ausführungen in § 11 III 4. 24 W. Müller, LA Happ, S. 179, 192 ff. Für Anwendung der BJR auf Bilanzierungswahlrechte ferner Lieder ZGR 2018, 523, 531; Lutter ZIP 2007, 841, 847; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 455 ff. So auch im Ausgangspunkt Baums, Innenfinanzierung, S. 26 ff., 31, der aber auf S. 32 fordert, dass der Bilanzersteller den relevanten Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und festgestellt habe, was nicht in das Konzept der BJR passt (vgl. dazu bereits § 8 III). 25 Merkt Der Konzern 2017, 353, 356 ff., der sich bei Rechtsunsicherheiten an die Figur der Legal Judgment Rule anlehnt. In diese Richtung wohl auch Hennrichs AG 2006, 698, 703 f.; Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 13 f. 26 Pöschke ZGR 2018, 647, 673 ff. 648

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Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung

ßen.27 Versucht man das Problem mit Hilfe der klassischen Definitionsansätze zu lösen, stößt man schnell auf argumentative Grenzen. Für die Anwendung der Business Judgment Rule spricht einerseits, dass die Bilanzierung nicht nur vergangenheitsbezogen ist, sondern Prognosen erfordert und deshalb zukunftsgerichtet ist.28 Andererseits kann man nicht leugnen, dass die Bilanzierung durch gesetzliche Vorgaben determiniert ist, was darauf hindeutet, dass §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG wegen Vorrangs des Legalitätsprinzips nicht erfüllt ist.29 Stellt man ergänzend auf die Normstruktur ab, sprechen die besseren Argumente für die letztgenannte Lösung. Namentlich im Aktienrecht dürfen sich die Vorstandsmitglieder, die Bilanzierungsentscheidungen treffen, nicht dergestalt am Gesellschaftswohl orientieren, dass sie die Interessen der Aktionäre und sonstiger stakeholder wie bei klassischen unternehmerischen Entscheidungen abwägen. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Geschäftsleiter deutlich engeren Bindungen unterworfen als im Bereich der allgemeinen Sorgfaltspflicht nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG,30 so dass den Bilanzierungsvorschriften kein finaler Charakter bescheinigt werden kann.31 Dies folgt aus dem Umstand, dass das Bilanzrecht eine starke gläubigerschützende Tendenz aufweist. Nach herrschender Ansicht dient die kaufmännische Pflicht zur Buchführung und Rechnungslegung nämlich in erster Linie dem Gläubigerschutz, der auf zwei Wegen verwirklicht wird: Zum einen werden die Gläubiger reflexartig dadurch geschützt, dass sich der Kaufmann im Rahmen der Bilanzierung mit der Vermögenslage seines Unternehmens auseinandersetzen muss.32 Zum anderen wird der Jahresabschluss – und damit auch die Bilanz33 – veröffentlicht, so dass sich der Rechtsverkehr über die Vermögenslage des Unter­ 27 Dazu im Allgemeinen § 8 II. 28 Zu den Prognosen im Bilanzrecht ausf. Hennrichs AG 2006, 698 ff. 29 Deutlich Kuhner Der Konzern 2017, 360, 363: Bilanzierungsentscheidungen seien regelbasierte bzw. rechtlich gebundene Entscheidungen iSd gesellschaftsrechtlichen Dogmatik. 30 Zutr. Kuhner Der Konzern 2017, 360, 362: Die Jahresabschlusserstellung sei kein Vorgang, der iSd Gesellschaftswohls stattfinde. Im Ergebnis auch W. Müller, LA Happ, S. 179, 195. 31 Ähnlich Kuhner Der Konzern 2017, 360, 363: regelbasierte Entscheidungen. AA augenscheinlich Kühnberger/Zaumseil Der Konzern 2018, 10, 12 f., die Bilanzierungsvorschriften wohl für prinzipienbasiertes Recht halten. 32 Pointiert Staub/Pöschke HGB Vor § 238 Rn. 1, § 238 Rn. 2 f., § 242 Rn. 2: Gläubigerschutz durch Selbstkontrolle des Kaufmanns. S. ferner statt vieler Schön, FG 50 Jahre BGH II, S. 153. 33 Zur Bilanz als Bestandteil des Jahresabschlusses Dicken/Henssler BilanzR Rn. 1 ff. 649

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nehmens informieren kann.34 Dieser Schutzzweck des Bilanzrechts macht deutlich, dass die Entscheidungsfindung der Geschäftsleiter zugunsten des Gläubigerschutzes vorgeprägt ist. Für eine Abwägung im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz bleibt kein Raum. Überdies lässt sich die gläubigerschützende Tendenz der Rechnungslegungsvorschriften nur schwer damit vereinbaren, dass die Gerichte im Anwendungsbereich der Business Judgment Rule nur zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt sind.35 Dass der Gläubigerschutz eine Intensivierung der gerichtlichen Inhaltskontrolle gebietet, wurde bereits im Zusammenhang mit der Eingehung bestandsgefährdender Risiken36 und der Einrichtung eines Bestandssicherungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG37 erläutert. Die dort angestellten Überlegungen kann man auch im Kontext der Bilanzierungsentscheidungen aufgreifen. Wollte man diese Entscheidungen nur daraufhin überprüfen, ob sie völlig unverantwortlich sind, wäre das Vertrauen des Rechtsverkehrs in die Informationsfunktion der Rechnungslegung beeinträchtigt. Die Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle kann vertrauensfördernd wirken. Deshalb ist die Business Judgment Rule nicht anzuwenden. 3. Wider die Hypertrophie bilanzrechtlicher Einschätzungsprärogativen Unabhängig davon, ob Bilanzierungsentscheidungen unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sind, stellt sich die Frage, ob die Anwendung der Business Judgment Rule im Bilanzrecht tatsächlich erforderlich ist, wenn man mit der herrschenden Ansicht vom normativ-subjektiven Fehlerbegriff ausgeht. Danach ist ein Jahresabschluss, der auf einer objektiv rechtswidrigen Bilanz beruht, nur dann fehlerhaft, wenn ein pflichtgemäß und gewissenhaft handelnder Kaufmann im Zeitpunkt der Feststellung des Abschlusses die Rechtswidrigkeit der Bilanz bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten hätte erkennen können.38

34 Statt vieler Schön, FG 50 Jahre BGH II, S. 153. 35 Ähnlich Kuhner Der Konzern 2017, 360, 365, der darauf hinweist, dass die Förderung der Risikoaffinität im Bilanzrecht nicht angezeigt ist. 36 § 8 I 3. 37 § 11 I 1. 38 Für den normativ-subjektiven Fehlerbegriff statt vieler J. Koch in MüKoAktG § 256 Rn. 56; Hennrichs NZG 2013, 681, 682; W. Müller, FS Quack, S. 359, 366 f.; Schön, FG 50 Jahre BGH II, S.  153, 155  f. Für einen objektiven Fehlerbegriff Schulze-Osterloh ZHR 179 (2015), 9, 18 ff. in Anlehnung an die BFH-Rspr. zum steuerrechtlichen Fehlerbegriff (BFH NZG 2013, 476). 650

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Bilanzierungsspielräume bei der Gewinnermittlung

Folgt man dem, bleibt für die Einschränkung der richterlichen Kontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei Lichte besehen kein Raum. Das Bilanzrecht verfügt nämlich mit dem normativ-subjektiven Fehlerbegriff über ein eigenständiges Instrument, mit dem die richterlichen Kontroll- und Eingriffsbefugnisse eingeschränkt werden.39 Zwar orientiert sich die gerichtliche Prüfung am Zweck der jeweils einschlägigen Vorschrift und nicht allein am Gesellschaftswohl,40 die Gerichte müssen jedoch die tatsächlichen und rechtlichen Einschätzungen des Kaufmanns respektieren, wenn sie vertretbar waren.41 Ist die Bilanzierungsentscheidung nicht vertretbar, führt dies zur Fehlerhaftigkeit des Jahresabschlusses, ohne dass es auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ankommt.42 Hält die Entscheidung der gerichtlichen Vertretbarkeitskontrolle stand, bedarf es keiner zusätzlichen Prüfung, ob die Entscheidung völlig unverantwortlich war.43 Ein Grund für eine Hypertrophie der Einschätzungsprärogativen bei Bilanzierungsentscheidungen leuchtet nicht ein.44

39 Zugleich ist der normativ-subjektiver Fehlerbegriff im Bilanzrecht ein Beleg dafür, dass Einschränkungen der richterlichen Prüfungsintensität nicht nur haftungsrecht­ liche Implikationen auslösen. So wie die BJR die Bestandskraft der Vorstandsentscheidung schützt (s. dazu bereits in § 6 I, § 7 IV), so gewährleistet der normativ-subjektive Fehlerbegriff die Bestandskraft des Jahresabschlusses (aufschlussreich zum Verhältnis zwischen bilanz- und gesellschaftsrechtlichen Bestandsschutz W. Müller, FS Quack, S. 359 ff.; Schön, FG 50 Jahre BGH II, S. 153, 158 ff.). 40 Zutr. W. Müller, LA Happ, S. 179, 198 f., der auf die Unterschiede zwischen dem gebundenen Beurteilungsermessen und unternehmerischen Ermessen hinweist. 41 Auf die Vertretbarkeit stellt etwa Hennrichs NZG 2013, 681, 682 ab. 42 So augenscheinlich Pöschke ZGR 2018, 647, 678. 43 Der normativ-subjektive Fehlerbegriff ließe sich nur dann mit der BJR sinnvoll vereinbaren, wenn man die richterliche Kontrolle des Jahresabschlusses auf die Frage beschränken würde, ob die Einschätzung des Kaufmanns hinsichtlich der Tatsachenund Rechtslage völlig unverantwortlich war. Diesen Schritt will namentlich Moritz Pöschke offenbar nicht gehen (Pöschke ZGR 2018, 647, 678). 44 Folgt man der entgegengesetzten Auffassung und wendet man die BJR auf Bilanzierungsentscheidungen an, ist im konkreten Fall zu untersuchen, ob die Vorstandsmitglieder befangen sind. Ein Interessenkonflikt kann sich namentlich aus dem Umstand ergeben, dass die Vorstandsvergütung von bilanziellen Größen abhängig ist (zutr. Kuhner Der Konzern 2017, 360, 361 f.; W. Müller, LA Happ, S. 179, 197; Pöschke ZGR 2018, 647, 684). Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einschlägig ist, wenn die Interessen der Gesellschaft und der Geschäftsleiter gleichgerichtet sind (dazu schon in § 8 IV 2 mit Nachw. in Fn. 126; im Kontext der Bilanzen W. Müller, LA Happ, S. 179, 197; Pöschke ZGR 2018, 647, 684). 651

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

III. Ergebnisverwendung und Gewinnverwendungsvorschlag in der AG 1. Ermessensspielräume bei der Ergebnisverwendung Wie in §  22 I erläutert wurde, folgt auf die Aufstellung die Feststellung des Jahresabschlusses, die in einer Aktiengesellschaft den Verwaltungsorganen obliegt. Verfügt die Gesellschaft über einen etwaigen Jahresüberschuss und beschließen Vorstand und Aufsichtsrat über die Ergebnisverwendung, können ihre Entscheidungen im Wesentlichen aus zwei Gründen inhaltlich angegriffen werden. Einerseits kann ihnen vorgeworfen werden, dass sie den Jahresüberschuss entgegen dem Gesellschaftsinteresse nicht thesauriert haben.45 Andererseits können sie die in § 58 Abs. 2 AktG oder in der Satzung festgelegten Thesaurierungsspielräume ausreizen und die Mittel der Gesellschaft den Aktionären vorenthalten. Unabhängig von der Richtung, die die Verwaltungsorgane einschlagen, haben sie nach herrschender Meinung im Schrifttum einen Ermessensspielraum.46 Dem ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, als es sich bei der Rückstellung in die Gewinnrücklagen um eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG handelt. § 58 Abs. 2 AktG formuliert keine inhaltlichen Vorgaben, an denen sich die Verwaltungsorgane bei der Thesaurierung orientieren müssen. Maßgeblich ist allein das Gesellschaftswohl,47 worin die finale Steuerung zum Ausdruck kommt. Weniger selbstverständlich ist die Einräumung unternehmerischen Ermessens, wenn man bedenkt, dass sich die Verwaltungsorgane im Rahmen der Ergebnisverwendung in einem latenten Interessenkonflikt befinden. Hat die Gesellschaft keinen starken Aktionär, ist es aus der Perspektive der Verwaltung opportun, einen großen Teil des Jahresüberschusses zu thesaurieren. Die Ver45 Das Ziel kann die Ausschüttung einer sog. „Superdividende“ sein; dazu Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523 ff.; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446 ff. 46 Für Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG Bayer in MüKoAktG § 58 Rn. 39 Fn. 96; Fleischer in K.  Schmidt/Lutter AktG §  58 Rn.  18  ff.; Grigoleit/Zellner AktG §  58 Rn. 12 f.; Hüffer/J. Koch AktG § 58 Rn. 10 (Verweis auf die BJR); H.P. Westermann in Bürgers/Körber AktG § 58 Rn. 9; Pfertner, Entscheidungen, S. 172 f.; Strothotte, Gewinnverwendung, S.  339  ff.; Baums, FS K. Schmidt, 2009, S.  57, 64  ff.; Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 535; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 453 ff. Für pflichtgemäßes Ermessen Cahn/von Spannenberg in BeckOGK AktG § 58 Rn. 34, 36; Hölters/Waclawik AktG §  58 Rn.  11.  Vor der Kodifizierung der BJR für Ermessen BGHZ 55, 359, 363 = NJW 1971, 802; OLG Stuttgart ZIP 2006, 27; für Anwendung des ARAG-Maßstabs Henze in GK-AktG, 4.  Aufl., §  58 Rn.  45.  Gegen Ermessensspielräume aber Wachter/Servatius AktG § 58 Rn. 5. 47 Vgl. Bayer in MüKoAktG § 58 Rn. 39; Baums, FS K. Schmidt, 2009, S. 57, 66 f. 652

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Ergebnisverwendung und Gewinnverwendungsvorschlag in der AG

waltung kann die den Aktionären vorenthaltenen Mittel einsetzen, um ihre Machtposition auszubauen, etwa indem sie eine Expansionsstrategie verfolgt. Dabei ist sie einerseits in einem geringeren Maße auf die (ggf. kostspielige) Außenfinanzierung angewiesen und kann sich andererseits bei der Verwirklichung ihres Vorhabens auf die Leitungsautonomie (§ 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) berufen.48 In einer Gesellschaft mit einem starken Anteilseigner treten die Sonderinteressen der Verwaltung nicht minder deutlich zutage. Hier besteht die Gefahr, dass Vorstand und Aufsichtsrat die Belange der Minderheitsaktionäre vernachlässigen und in erster Linie auf die Ausschüttungspräferenzen des Großaktionärs Rücksicht nehmen werden, um sich ihn gewogen zu halten. Gleichwohl können diese institutionalisierten Interessenkonflikte49 nicht dazu führen, dass die Ergebnisverwendung durch die Verwaltungsorgane jenseits des sicheren Hafens der Business Judgment Rule liegt. Was die übermäßige Thesaurierung in einer Gesellschaft in Streubesitz angeht, verweist das Schrifttum auf die Marktkontrolle, die eine intensivierte gerichtliche Überprüfung der Ergebnisverwendung entbehrlich mache. Da die Verwaltung bei einer opportunistischen Ergebnisverwendung mit sinkenden Kursen rechnen müsse, werde sie bei der Ausnutzung ihrer Spielräume auf die Aktionärsbelange Rücksicht nehmen.50 Diese überzeugenden rechtsökonomischen Überlegungen – die freilich nur für Publikumsgesellschaften gelten – können mit gesetzlichen Wertungen untermauert werden. Der Gesetzgeber hat nämlich der Verwaltung bewusst beträchtliche Thesaurierungsspielräume gewährt, obwohl er sich über die damit verbundenen Risiken im Klaren war.51 Diese rechtspolitische Entscheidung gilt es auch im Rahmen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu respektieren.52 Zudem sind die Aktionäre selbst in der Lage, die Bewegungsfreiheit der Verwaltungsorgane in der Satzung einzuschränken (§ 58 Abs. 2 Satz 2

48 Ausf. zu den Interessenkonflikten im Rahmen der Ergebnisverwendung Schütte, Dividendenentscheidung, S. 125 ff.; Strothotte, Gewinnverwendung, S. 140 ff. Vgl. ferner Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 262 (institutionalisierter Konflikt); Baums, FS K. Schmidt, 2009, S. 57, 64 f. 49 Begriff nach Parmentier in HdB AG-Finanzierung Kap. 2 Rn. 262. 50 Zur Reduzierung des Agency-Konflikts durch Marktkontrolle Strothotte, Gewinnverwendung, S. 154 ff., S. 161 ff. (der aber die Marktkontrolle in Deutschland für tendenziell schwach hält). Zu den Auswirkungen auf die BJR Strothotte, Gewinnverwendung, S. 340 f. 51 S. hierzu den Ausschussbericht bei Kropff AktG S. 76 f. 52 So auch bereits Baums, FS K. Schmidt, 2009, S. 57, 65 f. Im Ergebnis ferner Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 456 f. 653

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

AktG).53 Vor diesem Hintergrund bedarf es  – vorbehaltlich der angemessenen Informationsgrundlage54 – keiner verstärkten richterlichen Kontrolle der Thesaurierungsentscheidung in einer Aktiengesellschaft, die sich im Streubesitz befindet.55 Dies gilt auch für eine Gesellschaft, die durch einen Großaktionärs beherrscht ist.56 In einem solchen Fall hat der Gesetzgeber mit Hilfe der Regelungen über den faktischen Aktienkonzern in §§ 311 ff. AktG für einen Minderheitenschutz gesorgt und dabei den latenten Konzernkonflikt ein Stück weit entschärft. Im Hinblick darauf ist es systematisch vorzugswürdig, den Verwaltungsorganen trotz einer gewissen Nähe zum Großaktionär den Rückgriff auf die Business Judgment Rule nicht zu versperren.57 Die Ergebnisverwendung durch die Verwaltung ist demnach erst dann zu beanstanden, wenn sie völlig  unverantwortlich ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn Vorstand und ­Aufsichtsrat den Jahresüberschuss trotz der bestehenden Möglichkeit nicht thesaurieren, obwohl evident ist, dass die fehlenden Rücklagen zu einer Bestandsgefährdung der Gesellschaft führen.58 2. Ermessensspielräume beim Gewinnverwendungsvorschlag? Weist die Gesellschaft in ihrer Gewinn- und Verlustrechnung einen Bilanzgewinn aus, obliegt es den Verwaltungsorganen, der Hauptversammlung einen Vorschlag über die Gewinnverwendung zu unterbreiten (§ 123 Abs. 3, § 170 Abs. 2 AktG). Das Schrifttum räumt der Verwaltung auch hier – vorbehaltlich einschränkender statutarischer Vorgaben – ein unternehmerisches Ermessen ein,59 meist ohne auf §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG zurückzugreifen. Als Ermessensgrenzen dienen einerseits das Verbot der Existenzgefährdung,60 anderer53 Darauf weist etwa Baums, FS K. Schmidt, 2009, S. 57, 69 hin. 54 Hierzu etwa Strothotte, Gewinnverwendung, S. 341. 55 Die Verwaltung wird in der Regel die Ermessensgrenzen nicht überschreiten; s. dazu Strothotte, Gewinnverwendung, S. 344 ff. 56 Strothotte, Gewinnverwendung, S. 148 ff. arbeitet gar heraus, dass die Kontrolle durch den Großaktionär die Agency-Konflikte zwischen der Geschäftsleitung und den Gesellschaftern abmildern kann – freilich zum Preis eines Agency-Konflikts zwischen der Mehrheit und Minderheit (S. 163 ff.). 57 Zutr. Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 537. 58 Zur Existenzgefährdung als Ermessensgrenze Strothotte, Gewinnverwendung, S.  343  f.; Baums, FS  K.  Schmidt, 2009, S.  57, 68; Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 541 f.; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 459 ff. 59 Ekkenga in KK-AktG § 170 Rn. 26; E. Vetter in GK-AktG § 170 Rn. 111. 60 Vgl. schon im Kontext der Ergebnisverwendung in § 22 III 1. 654

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Ergebnisverwendung und Gewinnverwendungsvorschlag in der AG

seits § 254 Abs. 1 AktG,61 dem ein Gebot der Mindestausschüttung zugrunde liegt.62 Der herrschenden Auffassung ist darin beizupflichten, dass der Gewinnverwendungsvorschlag eine unternehmerische Entscheidung ist. Da die Verwaltungsorgane sich allein am Gesellschaftswohl orientieren müssen, ist die Einfahrt zum sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eröffnet. Gleichwohl wäre es vorschnell, ihnen die Privilegierung der Business Judgment Rule ohne weiteres zukommen zu lassen. Es ist nämlich zu beachten, dass der Vorschlag der Verwaltung die Grundlage für den Gewinnverwendungsbeschluss ist, der – wie noch in § 22 IV 1 zu zeigen sein wird – seinerseits eine unternehmerische Entscheidung ist. Der Hauptversammlungsbeschluss genießt nur dann den Schutz der Business Judgment Rule, wenn er auf angemessener Informationsgrundlage gefasst wurde. Namentlich in Publikumsgesellschaften – und als eine solche ist die Aktiengesellschaft konzipiert – gehört die Beschlussvorbereitung durch die Verwaltung samt des Beschlussvorschlags zu den Voraussetzungen, unter denen die richterliche Prüfungsdichte gelockert wird.63 Diese Grundsätze wurden im Zusammenhang mit Vergleichs- und Verzichtsverträgen mit Vorstandsmitgliedern durch Überlegungen zur Kompensation der gelockerten Inhaltskontrolle des Zustimmungsbeschlusses nach §  93 Abs.  4 Satz  3 AktG ergänzt. In §  19 IV 2 wurde herausgearbeitet, dass die ­Evidenzkontrolle des Hauptversammlungsbeschlusses dadurch kompensiert wird, dass die Beschlussvorbereitung durch den Aufsichtsrat einer intensi­ veren gerichtlichen Kontrolle unterzogen wird. Dieser Gedanke ist auch im Kontext des Gewinnverwendungsvorschlags aufzugreifen. Wie der Aufsichtsrat bei Vergleichs- und Verzichtsverträgen können die Verwaltungsorgane durch die Formulierung des Gewinnverwendungsvorschlags die Entscheidung der Aktionäre subtil steuern. Das Einflusspotenzial, das dem Vorschlag innewohnt, spricht dafür, dass der Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung nur dann im sicheren Hafen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt, wenn der Verwaltungsvorschlag einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle standhält.

61 Hierzu noch in § 22 IV 1. 62 Zu den Ermessensgrenzen etwa Ekkenga in KK-AktG § 170 Rn. 26 f.; E. Vetter in GKAktG § 170 Rn. 116. 63 Zur Informationsgrundlage in Publikumsgesellschaft s. bereits in § 18 IV 3. 655

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

IV. Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse 1. Aktienrecht Haben die Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft den Jahresüberschuss und den Bilanzgewinn ermittelt sowie einen Gewinnverwendungsvorschlag unterbreitet, sind die Aktionäre dazu berufen, die Gewinnverteilung zu beschließen. Im Zusammenhang mit der Ergebnisverwendung durch die Verwaltungsorgane wurde erläutert, dass deren Entscheidungen aus zwei Gründen beanstandet werden können: zum einen wegen fehlender, zum anderen wegen übermäßiger Thesaurierung. Dieselben Vorwürfe können gegen den Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung erhoben werden, der aber nach einhelliger Meinung keiner sachlichen Rechtfertigung bedarf.64 Wie bei den Verwaltungsentscheidungen räumt die herrschende Auffassung auch den Aktionären grundsätzlich einen Ermessensspielraum ein.65 Dem ist – vorbehaltlich etwaiger Ausschüttungssperren66 – insbesondere deshalb beizupflichten, weil die Aktionäre im Rahmen der Gewinnverwendung ein eigennütziges Recht ausüben und deshalb berechtigt sind, ihre Gewinninteressen zu verfolgen.67 Das Ermessen der Hauptversammlung, das wie sonst aus §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG folgt,68 findet erst dort eine Grenze, wo die übermäßige Gewinnausschüttung offensichtlich den Bestand der Gesellschaft gefährdet.

64 Gegen die allgemeine Inhaltskontrolle des HV-Beschlusses Hüffer/J. Koch AktG § 58 Rn.  23; Baums, FS  K.  Schmidt, 2009, S.  57, 6  ff.; Habersack, FS  K. Schmidt, 2009, S. 523, 528 ff.; Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 473 f. 65 LG Frankfurt AG 2008, 300, 301 (unternehmerische Entscheidung, die an sich nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliege); Bayer in MüKoAktG § 58 Rn. 82; Drygala in K. Schmidt/Lutter AktG § 174 Rn. 4; E. Vetter in GK-AktG § 174 Rn. 143. Vgl. auch Ekkenga in KK-AktG §  174 Rn.  9; Grigoleit/Zellner AktG §  174 Rn.  2; Hennrichs/ Pöschke in MüKoAktG § 174 Rn. 11; H.P. Westermann in Bürgers/Körber AktG § 58 Rn. 21: HV sei grds. frei. So auch im Ergebnis Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 528 ff., der den Beschluss als eine unternehmerische Entscheidung einordnet (S. 529); ähnlich Schnorbus/Plassmann ZGR 2015, 446, 473. 66 Hierzu statt vieler Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG § 174 Rn. 11. 67 Zum Zusammenhang zwischen der Kategorie der eigennützigen Rechte und dem qualifizierten Interessenkonflikt der Gesellschafter s. bereits § 18 IV 3 c. 68 Zurückhaltend Baums, FS K. Schmidt, 2009, S. 57, der auf S. 74 auf dem Standpunkt steht, dass § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG jedenfalls nicht unmittelbar herangezogen werden könne, die Entscheidung aber immerhin der Sache nach als eine unternehmerische qualifiziert und überdies auf S. 75 betont, dass den Aktionären ein ähnlicher kontrollfreier Spielraum eingeräumt werden müsse wie der Verwaltung. 656

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Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse

Eine solche Entscheidung ist völlig unverantwortlich und deshalb nicht von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt.69 In die umgekehrte Richtung ist das (Thesaurierungs-)Ermessen der Hauptversammlung durch § 254 Abs. 1 AktG begrenzt. Nach § 254 Abs. 1 AktG ist der Gewinnverwendungsbeschluss anfechtbar, wenn die Hauptversammlung Beträge in Gewinnrücklagen einstellt oder als Gewinn vorträgt, obwohl die Einstellung oder der Gewinnvortrag bei vernünftiger kaufmännischer Beur­teilung nicht notwendig ist, um die Lebens- und Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft für einen hinsichtlich der wirtschaftlichen und finanziellen Notwendigkeiten übersehbaren Zeitraum zu sichern, und dadurch unter die Aktionäre kein Gewinn in Höhe von mindestens 4% des Grundkapitals verteilt werden kann. Daraus wird einhellig eine Grenze für die Rücklagenbildung durch die Hauptversammlung hergeleitet.70 Umstritten ist allerdings, inwieweit ein Gericht kontrollieren darf, ob die Thesaurierung bei „vernünftiger kaufmännischer Beurteilung“ notwendig ist. Vereinzelt wird in dieser Formulierung ein Einfallstor für die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gesehen.71 Andere räumen der Hauptversammlung einen Beurteilungsspielraum ein, ohne aber die Business Judgment Rule heranzuziehen.72 Manche Stimmen plädieren gar für eine volle Überprüfung des Gerichts.73 Die besseren Argumente sprechen dafür, die Entscheidung über die vollständige Gewinnthesaurierung nicht nur der Evidenzkontrolle nach §  93 Abs.  1 Satz 2 AktG zu unterwerfen, sondern einen Beurteilungsspielraum der Hauptversammlung anzuerkennen, mit dem eine Vertretbarkeitskontrolle einhergeht. Gegen ein unternehmerisches Ermessen der Aktionärsmehrheit spricht zunächst die Struktur des § 254 Abs. 1 AktG. Das Merkmal der „vernünftigen kaufmännischen Beurteilung“ ist nämlich auf der Tatbestandsebene einer Konditionalnorm verankert. Die vollständige Gewinnthesaurierung ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 254 Abs. 1 AktG erfüllt sind. Diese 69 Im Ergebnis auch Hennrichs/Pöschke in MüKoAktG §  174 Rn.  13; Habersack, FS K. Schmidt, 2009, S. 523, 532. Zur Bestandsgefährdung als Ermessensgrenze bei der Ergebnisverwendung durch Verwaltungsorgane s. schon § 22 III 1. 70 S. nur Hoffmann-Becking in MHdB GesR IV § 47 Rn. 17. 71 In diese Richtung Stilz in BeckOGK AktG § 254 Rn. 10. Vgl. ferner Hamann ZGR 2012, 817, 832. 72 So J. Koch in MüKoAktG § 254 Rn. 14; Harnos, Geschäftsleiterhaftung, S. 148 f. In diese Richtung wohl auch LG Frankfurt, Urt. v. 15.12.2016  – 3-5 O 154/16, juris-­ Rn. 92 ff. (s. aber LG Frankfurt AG 2008, 300, 301, das zur unternehmerischen Entscheidung tendiert); Strothotte, Gewinnverwendung, S.  413.  S.  ferner A. Arnold in KK-AktG § 254 Rn. 17: plausible Begründung der Erforderlichkeit. 73 Austmann in MHdB GesR IV § 42 Rn. 184. 657

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

Normstruktur ist ein Argument gegen die Anwendung der Business Judgment Rule. Überdies deuten die systematische Einbettung und der Zweck des § 254 Abs. 1 AktG darauf hin, dass die Gerichte nicht darauf beschränkt sind zu ermitteln, ob die Einschätzung der Aktionäre völlig unverantwortlich ist. Es ist nämlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke, der Hauptversammlung in einem ersten Schritt bei der Gewinnverwendung einen unternehmerischen Ermessensspielraum im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einzuräumen, diesen Spielraum in einem zweiten Schritt durch § 254 Abs. 1 AktG zu begrenzen, um in einem letzten Schritt jenseits des sicheren Hafens der Business Judgment Rule abermals auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zurückzugreifen. Versteht man § 254 Abs. 1 AktG mit der herrschenden Ansicht als eine Ermessensgrenze, ist es systematisch stimmig, innerhalb des Anfechtungstatbestandes den § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht anzuwenden und eine Vertretbarkeitskontrolle zuzulassen. Die Erhöhung der richterlichen Prüfungsdichte kann überdies mit teleologischen Erwägungen untermauert werden. § 254 Abs. 1 AktG ist eine Norm, die einen Mindeststandard für den Schutz der Vermögensinteressen der Minderheitsaktionäre gewährleisten will.74 Dieser Zweck deutet darauf hin, dass die Hauptversammlung nicht wie bei klassischen unternehmerischen Entscheidungen die divergierenden Aktionärsinteressen abwägen soll, sondern den Belangen der Minderheitsaktionäre kommt im Rahmen der Interessenabwägung eine gesteigerte Bedeutung zu. Die Evidenzkontrolle verträgt sich nur schlecht mit der Betonung der Minderheitsbelange in § 245 Abs. 1 AktG. Wollte man die richterliche Prüfungsdichte auf das Niveau der Business Judgment Rule lockern, würde man die minderheitsschützende Stoßrichtung des § 254 Abs. 1 AktG konterkarieren.75 2. GmbH-Recht a) Treuepflicht als Grenze der Mehrheitsmacht Anders als in einer Aktiengesellschaft sind die Kompetenzen der Gesellschafter einer GmbH nicht darauf beschränkt, nach der Feststellung des Jahresabschlusses durch die Verwaltung über die Verwendung des Bilanzgewinns zu entscheiden. Vielmehr stellt die Gesellschafterversammlung gem. § 46 Nr. 1, § 42 Abs. 2 GmbHG den Jahresabschluss fest und beschließt dabei zugleich

74 Statt vieler J. Koch in MüKoAktG § 254 Rn. 2. 75 In diese Richtung auch LG Frankfurt, Urt. v. 15.12.2016 – 3-5 O 154/16, juris-Rn. 93. 658

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Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse

über die Ergebnisverwendung.76 Trotz der unterschiedlichen Kompetenzverteilung kann der Ergebnisverwendungsbeschluss, der grundsätzlich der einfachen Mehrheit bedarf,77 aus vergleichbaren Gründen angegriffen werden wie die Ergebnis- bzw. Gewinnverwendung in der Aktiengesellschaft. Zum einen kann die Minderheit beanstanden, dass zu viele Mittel ausgeschüttet werden, obwohl die Gewinnthesaurierung eher dem Gesellschaftsinteresse entspräche. Zum anderen – und hier liegt der Schwerpunkt der Diskussion – kann eine übermäßige Thesaurierung einen Streit zwischen der Mehrheit und Minderheit provozieren. Speziell im letztgenannten Fall wird im GmbH-rechtlichen Schrifttum erwogen, den Minderheitenschutz über die analoge Anwendung des § 254 Abs. 1 AktG78 oder über die Festlegung von flexiblen Thesaurierungs- und Ausschüttungsquoten79 zu verwirklichen. Diese Vorschläge haben sich zu Recht nicht durchgesetzt. Für eine Analogie zu § 254 Abs. 1 AktG fehlt bereits eine planwidrige Regelungslücke, weil sich der Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Bilanzrichtlinie gegen die Einführung einer dem § 254 Abs. 1 AktG entsprechenden Vorschrift ins GmbH-Gesetz entschieden hat.80 Die Richtwerte können für die Praxis eine erste Orientierungshilfe bieten, lassen sich aber nicht auf eine gesetzliche Grundlage zurückführen.81 Vor diesem Hintergrund ist der herrschenden Auffassung beizupflichten, die auf die mitgliedschaftliche Treuepflicht zurückgreift und im Einzelfall zwischen dem Thesaurierungs- und Ausschüttungsinteresse abwägt.82 Dabei weisen einige Autoren 76 Hierzu § 22 I. 77 S. nur Liebscher in MüKoGmbHG § 46 Rn. 43. 78 Dafür bei kapitalistischen GmbH Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG §  29 Rn.  31.  Vgl. auch Roth/Altmeppen GmbHG §  29 Rn.  33: Grundwertung des §  254 Abs. 1 AktG sei auf die GmbH zu übertragen, nicht aber die zu geringe Mindestgrenze von 4% des Stammkapitals; ähnlich Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 29 Rn. 86; Strohn in Henssler/Strohn GesR § 29 GmbHG Rn. 44. 79 So namentlich Hommelhoff ZGR 1986, 418, 427  ff., der die Quoten als Richtwerte versteht. Sympathisierend Roth/Altmeppen GmbHG § 29 Rn. 33; Hofmann, Minderheitsschutz, S. 682. Für eine Interessenabwägung aber nunmehr Hommelhoff GmbHR 2010, 1328, 1329. 80 S. AusschussB BiRiLiG BT-Drucks. 10/4268, S. 131, wo der Vorschlag in RegE BiRiLiG BT-Drucks. 9/1878, S.  39, 110 abgelehnt wurde. Der Bundestag folgte der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses. Aus dem Schrifttum s. nur Michalski/ Mock GmbHG § 29 Rn. 186; Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1181 f. 81 Ausf. Kritik bei Ekkenga in MüKoGmbHG §  29 Rn.  166; Michalski/Mock GmbHG § 29 Rn. 184. 82 S. nur Ekkenga in MüKoGmbHG § 29 Rn. 167 ff.; Pentz in Rowedder/Schmidt-Leithoff GmbHG § 29 Rn. 86; Scholz/Verse GmbHG § 29 Rn. 53 ff.; Priester in MHdB 659

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

darauf hin, dass die Mehrheit eine unternehmerische Entscheidung trifft83 und ihr ein Ermessensspielraum zusteht,84 der von einigen Autoren auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG gestützt wird.85 Der Schlüssel zur Lösung des Mehrheit-Minderheit-Konflikts liegt in der Tat in der sachgerechten Anwendung der Business Judgment Rule auf den Ergebnisverwendungsbeschluss, der wie im Aktienrecht eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist. Sind die Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt, darf das Gericht den Beschluss nur beanstanden, wenn er völlig unverantwortlich ist, was etwa bei einer zur Bestandsgefährdung führenden Ausschüttung der Fall ist.86 Im umgekehrten Fall der Gewinnthesaurierung hängt die richterliche Prüfungsdichte maßgeblich davon ab, ob ein qualifizierter Interessenkonflikt einer Richtigkeitsver­ mutung entgegensteht.87 Liegt kein Interessenkonflikt vor und wurde der Beschluss auf angemessener Informationsgrundlage gefasst,88 ist dem Gericht

GesR III § 57 Rn. 14, 34; Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1179 ff.; Fleischer/Trinks NZG 2015, 289, 291  f. Krit. aber Joost, FS GmbHG, S.  289, 299  ff.; Martens, FS ­GmbHG, S. 607, 620 f. Wie die hM im Ausgangspunkt Hofmann, Minderheitsschutz, S. 681 f., dessen Wortwahl aber bei Lichte besehen nah an § 254 Abs. 1 AktG rückt, ohne die 4 %-Grenze zu übernehmen. 83 So bereits Martens, FS GmbHG, S. 607, 620. 84 Vgl. Roth/Altmeppen GmbHG §  29 Rn.  30; Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG § 29 Rn. 34; Klingsch in Saenger/Inhester GmbHG § 29 Rn. 31; Wicke GmbHG § 29 Rn. 14; Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1182 f. Manche sprechen von der Einschätzungsprärogative oder vom Beurteilungsspielraum, vgl. Ekkenga in MüKoGmbHG §  29 Rn.  170; Strohn in Henssler/Strohn GesR §  29 GmbHG Rn.  44; Scholz/Verse ­GmbHG § 29 Rn. 58; Böhm in MHdB GesR III § 32 Rn. 32; Blath RNotZ 2017, 218, 223. Vor Kodifizierung der BJR bereits Joost, FS GmbHG, S. 289, 300. 85 So Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 29 Rn. 134 (Analogie zu BJR). In diese Richtung auch Priester in MHdB GesR III §  57 Rn.  37 (rechtsstrukturelle  Leitlinien der BJR); Fleischer/Trinks NZG 2015, 289, 292 (Parallelen zur BJR); Hommelhoff GmbHR 2010, 1328, 1329 (rechtsstrukturelle Leitlinien der BJR). Gegen die Anwendung der BJR aber Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1183; skeptisch auch Roth/Altmeppen GmbHG § 29 Rn. 30. 86 Zur Bestandsgefährdung als Treuepflichtverletzung Scholz/Verse GmbHG § 29 Rn. 61. Augenscheinlich großzügiger Priester in MHdB GesR III § 57 Rn. 37: Verstoß gegen die Verpflichtung zu angemessener Innenfinanzierung. Insoweit besteht eine Parallele zum Aktienrecht, s. § 22 III 1 mit Fn. 58 und § 22 IV 1 mit Fn. 69. 87 Freilich ist auch hier die angemessene Entscheidungsvorbereitung bedeutsam; s. dazu bereits auf Grundlage seines Vorschlags Hommelhoff ZGR 1986, 418, 431. 88 Hommelhoff GmbHR 2010, 1328, 1329. 660

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Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse

lediglich eine Evidenzkontrolle der Abwägung gestattet.89 Dies wird in der Regel dazu führen, dass die Thesaurierung nicht zu beanstanden ist. Sind die Gesellschafter hingegen befangen, ist die Prüfungsintensität zu erhöhen. In einer geschlossenen Gesellschaft mit stabilen Mehrheitsverhältnissen kommt eine volle Inhaltskontrolle des Beschlusses in Betracht.90 Die Schwierigkeit liegt darin, den Kreis der relevanten Interessenkonflikte einzugrenzen. Wie bereits in § 18 V 2 erläutert, sind die Gesellschafter im Rahmen der Beschlussfassung latent befangen, was bei der Ergebnisverwendung besonders deutlich ist, weil sie über die Ausübung eines eigennützigen Rechts entscheiden. Deshalb ist bei der Annahme eines Interessenkonflikts Vorsicht geboten.91 Nicht jede Ausübung der Mehrheitsmacht kann automatisch zur Intensivierung der richterlichen Kontrolle der Interessenabwägung führen. Eine höhere Prüfungsdichte ist aber zum Beispiel angezeigt, wenn der Mehrheitsgesellschafter zugleich der Geschäftsführer ist und als solcher die Vergütung bezieht, während sich der Minderheitsgesellschafter nicht über die Geschäftsführerbezüge finanzieren kann.92 Der Mehrheitsgesellschafter genießt einen Sondervorteil, der sich im Sondernachteil des Minderheitsgesellschafters widerspiegelt.93 In einem solchen Fall ist der Beschluss zwar nicht per se fehlerhaft, es erhöht sich aber der Begründungsaufwand, mit dem die Gewinnthesaurierung gerechtfertigt werden kann.94 Die Mehrheit kann etwa darauf verweisen, dass der Minderheitsgesellschafter beim Beitritt wissen

89 So auch Hommelhoff GmbHR 2010, 1328, 1329, 1331.  Für Plausibilitätskontrolle ­Leuschner in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG §  29 Rn.  132 aE; Scholz/Verse ­GmbHG § 29 Rn. 58. 90 Zum Einfluss der Gesellschaftsstruktur auf die Prüfungsdichte § 18 V 6. 91 Zur Unterscheidung zwischen eigennützigen und fremdnützigen Beschlussgegenständen § 18 V 3 c. Relativierend aber Hofmann, Minderheitsschutz, S. 682 f. 92 Im Schrifttum werden die Fälle unter dem Etikett „Aushungern der Minderheit“ bezeichnet, vgl. nur Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1180; Hommelhoff ZGR 1986, 418, 425  f. S.  ferner den von Wulf Goette, der damals dem II. Zivilsenat des BGH vorsaß, formulierten Leitsatz zum Beschluss des II. Zivilsenats in DStR 2010, 1899. 93 Ein ähnlicher Sondervorteil kann in einem Fall vorliegen, in dem ein Gesellschafter zwar keinen Geschäftsführerposten bekleidet, aber mit der GmbH einen Miet- oder Pachtvertrag abgeschlossen hat und sich über den Miet- oder Pachtzins unabhängig von der Gewinnausschüttung finanzieren kann. Vgl. hierzu im Kontext der Treuepflicht Scholz/Verse GmbHG §  29 Rn.  53; Priester in MHdB GesR III §  57 Rn.  33; Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1180. 94 Aufschlussreicher Überblick über die Abwägungskriterien bei Kersting in Baumbach/ Hueck GmbHG § 29 Rn. 32 f.; Fleischer/Trinks NZG 2015, 289, 292. 661

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

musste, dass die Gesellschaftsstrategie auf die Gewinnthesaurierung ausgerichtet ist und er deshalb keine Aussichten auf eine Dividende hat.95 b) Verteilung der Argumentationslast Folgt man der hier vertretenen Auffassung, wonach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG bei der Kontrolle des Ergebnisverwendungsbeschlusses aufzugreifen ist, wirkt sich dies auf die Verteilung der Argumentationslast aus. Nach herrschender Auffassung müssen die Minderheitsgesellschafter den Treuepflichtverstoß der Mehrheit grundsätzlich darlegen und beweisen.96 Zahlreiche Autoren wollen die damit verbundenen Beweisschwierigkeiten der Minderheit aber dadurch mildern, dass sie der Gesellschaft auferlegen, den Grund für die Thesau­rierung substantiiert vorzutragen. Erst wenn die Gesellschaft dieser Darlegungslast nachgekommen sei, müsse die Minderheit beweisen, dass die Thesaurierung nicht erforderlich sei.97 Andere halten die Entscheidung für die Thesaurierung für eine begründungsbedürftige Ausnahme.98 Wendet man die Business Judgment Rule auf den Gewinnverwendungsbeschluss an, liegt die Argumentationslast im Ausgangspunkt bei der Minderheit. Sie muss entweder beweisen, dass die Thesaurierungsentscheidung völlig unverantwortlich ist, oder Tatsachen vorbringen, aus denen ein qualifizierter Interessenkonflikt resultiert. Gelingt es der Minderheit, die Befangenheit der Mehrheit zu begründen, muss die Mehrheit das Gericht davon überzeugen, dass das Thesaurierungsinteresse der Gesellschaft und das Ausschüttungsinteresse der Minderheit in einen angemessenen Ausgleich gebracht wurden. Dies gilt auch für den Fall, dass die Gesellschafter für die Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen zuständig waren und nicht davon ausgehen durften, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln.99

95 Hierzu im Kontext der Treuepflicht etwa Michalski/Mock GmbHG § 29 Rn. 185, 189. 96 Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1184. So wohl auch Kersting in Baumbach/Hueck GmbHG § 29 Rn. 34: Beweislage für Minderheit meist schwierig. 97 Dafür Scholz/Verse GmbHG § 29 Rn. 60; Fleischer/Trinks NZG 2015, 289, 292. Sehr zurückhaltend Einhaus/Selter GmbHR 2016, 1177, 1185. 98 So Roth/Altmeppen GmbHG § 29 Rn. 33. 99 Oblag es den Geschäftsführern, die Entscheidungsgrundlagen vorzubereiten, führt die unzureichende Information zu einem Verfahrensfehler; s. hierzu schon in §  18 IV 3 und 4. 662

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Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse

3. Personengesellschaftsrecht Im Personengesellschaftsrecht war die Wirksamkeit der Mehrheitsbeschlüsse, die die Gewinnverwendung zum Gegenstand haben, lange Zeit von dem Bestimmtheitsgrundsatz und der Kernbereichslehre beherrscht.100 Nachdem der BGH diese Rechtsfiguren zugunsten der materiellen Beschlusskontrolle am Maßstab der Treuepflicht aufgegeben hat,101 sind die Parallelen zum Kapitalgesellschaftsrecht, namentlich zum GmbH-Recht, unverkennbar.102 Die Gesellschafter können – vorbehaltlich einer konkretisierenden Regelung im Gesellschaftsvertrag – zum einen den gesamten Gewinn ausschütten, zum anderen die Thesaurierung beschließen. In beiden Fällen treffen sie eine unternehmerische Entscheidung,103 die einer treuepflichtgestützten Inhaltskontrolle unterliegt104 und die im Wesentlichen nach denselben Kriterien überprüft werden kann wie der Ergebnisverwendungsbeschluss der GmbH-Gesellschafter.105 Die Gesellschafter müssen zwischen dem Ausschüttungsinteresse einzelner Gesellschafter einerseits und dem Thesaurierungsinteresse andererseits abwägen.106

100 S. hierzu bereits § 17 III. Speziell zur Gewinnverwendung Dettke, Gewinnthesaurierung, S.  226  ff. mwN zu Rspr. und Schrifttum und eigener Stellungnahme auf S. 231 ff. 101 Ausf. § 17 III 3. 102 Einen Vergleich zwischen zum GmbH-Recht ziehen auch Priester in MüKoHGB §  122 Rn.  55; Hofmann, Minderheitsschutz, S.  681; Paefgen, FS  U.H. Schneider, S.  929, 939  f.; K. Schmidt ZGR 2008, 1, 22.  AA Habersack/C. Schäfer OHG §  120 HGB Rn. 41 ff., der an der Kernbereichslehre festhält und eine antizipierte Zustimmung zur Verwendungsentscheidung fordert, deren Fehlen aber durch die Zustimmungspflicht überwunden werden kann. Für die Anwendung der Kernbereichslehre auch Dettke, Gewinnthesaurierung, S.  231  ff., die auf S.  290  ff. den Vergleich mit GmbH-Recht kritisiert. 103 Ganz hM, s. OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn.  161; Staub/Casper HGB §  167 Rn. 12; Oetker/Lieder HGB § 120 Rn. 42. 104 Zur Treuepflicht als inhaltlicher Schranke der Verbandsautonomie hinsichtlich der Gewinnverwendung BGH DStR 2009, 1544 Rn.  3; OLG Jena BeckRS 2016, 1622 Rn. 158; Staudinger/Habermeier BGB § 721 Rn. 10; Staake in BeckOGK HGB § 120 Rn. 115 f., § 167 Rn. 56; Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 948 f.; Priester, FS U.H. Schneider, S.  985, 994  ff.; K. Schmidt ZGR 2008, 1, 23.  AA U. Huber, GS Knobbe-Keuk, S.  203, 207 Fn.  16; Schön, FS  Beisse, S.  471, 473  ff. Zurückhaltend auch Staub/Casper HGB § 167 Rn. 12. 105 Deutlich Priester, FS U.H. Schneider, S.  985, 995: Rspr. und Schrifttum zu §  29 ­GmbHG würden wertvolle Anhaltspunkte bieten. 106 So bereits BGHZ 132, 263, 276 = NJW 1996, 1678. S. ferner Paefgen, FS U.H. Schneider, S.  929, 949.  Gegen das Abwägungsmodell aber U. Huber, GS Knobbe-Keuk, S. 203, 207 Fn. 16. 663

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Entscheidungen über die Gewinnverwendung

Die Intensität der Abwägungskontrolle hängt davon ab, ob § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt ist.107 Demnach ist eine engmaschige gerichtliche Kontrolle des Beschlusses geboten, wenn die Gesellschafter nicht davon ausgehen durften, die Entscheidung über die Gewinnverwendung auf angemessener Informationsgrundlage zu treffen.108 Dies gilt auch in Fällen, in denen der Beschluss unter Einfluss eines qualifizierten Interessenkonflikts gefasst wurde; insoweit ist auf die Ausführungen zur GmbH in § 22 IV 2 a zu verweisen. Liegen die Voraussetzungen der Business Judgment Rule vor, ist dem Gericht nur eine Evidenzkontrolle gestattet.109 Wie in den Kapitalgesellschaften darf das Gericht die Entscheidung beanstanden, wenn die Gesellschafter die Gewinnausschüttung in einem Umfang beschlossen haben, der zu einer Bestandsgefährdung führt; ein solcher Beschluss ist völlig unverantwortlich.110 Die richterliche Zurückhaltung ist im Ausgangspunkt auch bei der inhaltlichen Kontrolle eines Thesaurierungsbeschlusses angezeigt. Allerdings ist hier zugunsten der Minderheit ein markanter Unterschied zwischen Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften zu berücksichtigen, der im Steuerrecht wurzelt.111 Fassen die GmbH-Gesellschafter einen Thesaurierungsbeschluss, muss allein die Gesellschaft den Jahresüberschuss versteuern. Die Gesellschafter erhalten keine Dividende und sie trifft keine Ertragsteuerpflicht.112 Entscheiden sich die Gesellschafter einer Personengesellschaft für Gewinnthesaurierung, wird ihnen der Gewinn der Gesellschaft anteilig zugerechnet. Sie erhalten von der Gesellschaft keine liquiden Mittel, müssen aber trotzdem den Gewinn als Einkunft aus dem Gewerbebetrieb versteuern.113 Diese zusätzliche 107 Für Anwendung der BJR ausdrücklich OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn.  160; Staub/Casper HGB § 167 Rn. 12; Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 323 ff.; Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 950. Für breiten unternehmerischen Ermessensspielraum Priester, FS U.H. Schneider, S. 985, 995 f.; Schön, FS Beisse, S. 471, 484. 108 Hierzu, insb. zur Unterscheidung zwischen geschlossenen Gesellschaften und Publikumsgesellschaften, s. § 18 IV 3. 109 So auch augenscheinlich OLG Jena BeckRS 2016, 16922 Rn. 160, 165. Im Ergebnis vor Kodifizierung der BJR Schön, FS Beisse, S. 471, 483 f., der den breiten Ermessensspielraum der Mehrheit betont. 110 Im Zusammenhang mit der Abwägungskontrolle BGHZ 132, 263, 276 = NJW 1996, 1678. Zur Existenzgefährdung und Evidenzkontrolle s. schon § 22 III 1 und 2 sowie § 22 IV 1 und 2 a. 111 Hierzu ausf. im Kontext der gerichtlichen Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 293 ff. 112 Statt vieler Weitemeyer, FS Kreutz, S. 905, 907. 113 S. nur Priester in MüKoHGB § 122 Rn. 58; Weitemeyer, FS Kreutz, S. 905, 907. 664

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Kontrolle der Gewinnverwendungsbeschlüsse

Belastung ist im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle zugunsten der Gesellschafter zu berücksichtigen, die für eine Gewinnausschüttung abgestimmt haben. Sieht der Beschluss vor, dass an die Gesellschafter nicht einmal ein Betrag ausgeschüttet wird, den sie für die Begleichung der aus der Mitgliedschaft resultierenden Steuerschuld benötigen, spricht viel dafür, dass die Mehrheit die Ermessensgrenzen überschritten hat.114 Wie in der GmbH ist die Argumentationslast im Prozess verteilt. Im Ausgangspunkt müssen die gegen den Beschluss klagenden Gesellschafter begründen, wieso die beschlossene Gewinnverwendung auf einer evident fehlerhaften Interessenabwägung beruht.115 Sie können etwa darauf verweisen, dass sie die liquiden Mittel für die Begleichung der persönlichen Steuerpflicht benötigen und dass die Mehrheit sich über dieses Bedürfnis ohne triftigen Grund hinweggesetzt hat. Gelingt es aber den Klägern, die Befangenheit der beschlusstragenden Gesellschafter substantiiert darzulegen, senken die Anforderungen an die Begründung der inhaltlichen Fehlerhaftigkeit des Gewinnverwendungsbeschlusses. Dies gilt auch dann, wenn die Gesellschafter nicht von einer hinreichenden Informationsgrundlage ausgehen durften.

114 Zurückhaltend aber BGHZ 132, 263, 277 = NJW 1996, 1678: Entscheidung im Einzelfall. Für Lösung über § 110 HGB (Steuerentnahmerecht des Gesellschafters) aber Priester, FS U.H. Schneider, S. 985, 996; Schön, FS Beisse, S. 471, 487 f. Aus steuerrechtlichen Unterschieden zwischen GmbH und Personengesellschaften will Dettke, Gewinnthesaurierung, S. 297 auf die Kernbereichslehre zurückgreifen. 115 Dies dürfte auf einer Linie mit der BGH-Rspr. liegen, wonach der klagende Minderheitsgesellschafter die Treuwidrigkeit des Thesaurierungsbeschlusses beweisen muss, s. BGH DStR 2009, 1544 Rn. 3. Vgl. ferner Paefgen, FS U.H. Schneider, S. 929, 950. Anders für den Thesaurierungsbeschluss augenscheinlich Häublein in BeckOK HGB § 167 Rn. 7.1 und Klimke in BeckOK HGB § 120 Rn. 21, die vom Grundsatz der Vollausschüttung ausgehend der Mehrheit die Darlegungs- und Beweislast für die Erforderlichkeit der Thesaurierung aufbürden wollen. 665

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§ 23 Kontrolle des Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH I. Gesellschafter-Geschäftsführer zwischen unternehmerischer Ermessensfreiheit und mitgliedschaftlicher Loyalitätsbindung Im Hinblick auf die Thesaurierungsbeschlüsse der GmbH-Gesellschafterversammlung wurde ausgeführt, dass sich die Mehrheitsgesellschafter nicht auf die Business Judgment Rule berufen dürfen, wenn sie den Geschäftsführerposten bekleiden und deshalb finanziell nicht auf die Gewinnausschüttung angewiesen sind. In einem solchen Fall sperrt der Sondervorteil dieser Gesellschafter die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG.1 Die Doppelposition des Gesellschafter-Geschäftsführers kann sich auch im umgekehrten Fall auswirken, in dem ein Geschäftsführer den Schutz des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG in Anspruch nimmt, seine Stellung als Gesellschafter aber dazu führt, dass er mitgliedschaftlichen Treuebindungen unterliegt.2 Als Beispiel nennt Holger Fleischer den Fall, in dem der Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführer das unbefristete Arbeitsverhältnis des Minderheitsgesellschafters kündigt, der „nicht nur minimal an der GmbH beteiligt ist und die Gesellschafter übereinstimmend davon ausgegangen sind, dass die GmbH zugleich sein Arbeitsfeld bilden soll“.3 Das Schrifttum weist darauf hin, dass in solchen und vergleichbaren Fällen die mitgliedschaftlichen Treuepflichten des Gesellschafter-Geschäftsführers in die  Prüfung des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG einfließen müssen.4 Thilo Kuntz spricht treffend von einem „Konflikt zwischen materieller Überprüfbarkeit von Gesellschafterbeschlüssen einerseits und lediglich eingeschränkter Kon­ 1 S. § 22 IV 2 a. 2 Vgl. dazu bereits § 12 VI 2 mit der Feststellung, dass die Doppelposition als solche die Berufung auf die BJR nicht verhindert (Nachw. dort in Fn. 65 und 66). 3 Fleischer NZG 2015, 521, 526 f. Zur Anwendung der BJR im (umgekehrten) Fall der Abberufung des Gesellschafter-Geschäftsführers Paefgen in Habersack/Casper/Löbbe GmbHG § 38 Rn. 25. 4 Cordes, Compliance-Organisation, S.  103  f.; St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 129 ff.; Taube, Business Judgment Rule, S. 243 ff.; Fleischer NZG 2011, 521, 526 f.; Kuntz GmbHR 2008, 121, 124 ff.; ders. DB-Sonderbeil. 2/2017, S. 37, 40 f. AA Bunz, Geschäftsleiterermessen, S. 250, der die mitgliedschaftlichen Treuepflichten nicht berücksichtigt. 666

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Parallelität der Ermessensspielräume auf Gesellschafter- und Geschäftsführerebene

trolle von unternehmerischen Entscheidungen andererseits“.5 Er schlägt vor, diesen Konflikt in Fällen eines Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführers dadurch aufzulösen, dass die Geschäftsführungsmaßnahmen nicht der Business Judgment Rule aktienrechtlicher Prägung unterliegen, sondern auf ihre Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit inhaltlich zu kontrollieren sind. Dabei bürdet er den Minderheitsgesellschaftern grundsätzlich die Beweislast auf. Geht es um einen Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer, befürwortet Kuntz eine inhaltliche Kontrolle der Geschäftsführermaßnahme, wenn dieser auf der Gesellschafterebene eine Blockademöglichkeit hat und deshalb verstärkten Treuebindungen unterworfen ist.6 Denselben Weg wie Kuntz schlägt im Ausgangspunkt Stephan Fischer ein, der aber die Inhaltskontrolle des Gesellschafter-Geschäftsführers nur bei personalistisch strukturierten Gesellschaften befürwortet.7 Für eine inhaltliche Über­ prüfung der Abwägung kollidierender Gesellschafterinteressen plädiert auch Carl-Tessen Taube, der aber das Geschäftsleiterermessen nur dann einschränken will, wenn sich die Gesellschafter- und Geschäftsführerkompetenzen überschneiden und der Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund seiner Stimm­ rechtsmacht die Beschlussfassung auf der Gesellschafterebene steuern kann.8

II. Parallelität der Ermessensspielräume auf Gesellschafter- und Geschäftsführerebene Die im Schrifttum unterbreiteten Vorschläge, die diskretionären Entscheidungsspielräume des Geschäftsführers zu begrenzen, wenn dieser zugleich Gesellschafter ist und als solcher der mitgliedschaftlichen Treuepflicht unterliegt, gehen in die richtige Richtung. Ist ein Gesellschafter verpflichtet, im Rahmen der Beschlussfassung seine Interessen mit den Belangen der Mitgesell5 Kuntz GmbHR 2008, 121, 124.  Als Beispiel nennt Kuntz aaO einen Fall, in dem ein Mehrheitsgesellschafter-Geschäftsführer im Namen der GmbH einen Vertrag mit einem Unternehmen abschließt, an dem er beteiligt ist. Ob in einer solchen Situation die Besonderheiten der Doppelstellung eine Modifizierung des Geschäftsleiterermessens erfordern, ist aber zweifelhaft. Bei Lichte besehen kann sich der Geschäftsführer schon nach allgemeinen Grundsätzen nicht auf die BJR berufen, weil er in einem Interessenkonflikt verwickelt ist, der daraus resultiert, dass er auf beiden Seiten des Vertrags (mittelbar) involviert ist: als Vertreter der GmbH und als Anteilseigner des Vertragspartners. S. dazu bereits in § 8 IV 3 mit Nachw. in Fn. 147. 6 Kuntz GmbHR 2008, 121, 126 ff. 7 St. Fischer, Business Judgment Rule, S. 131 ff. 8 Taube, Business Judgment Rule, S. 243 ff., der sich dem Problem im Kontext der unternehmerischen Entscheidung widmet. 667

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Kontrolle des Gesellschafter-Geschäftsführers in der GmbH

schafter abzuwägen, darf er diese Pflicht nicht dadurch umgehen, dass er den Gesellschafter-Hut absetzt und den Geschäftsführer-Hut aufsetzt. Vielmehr bleibt er auch in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer in der Pflicht, die Interessen seiner Mitgesellschafter bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.9 Allerdings blenden die vorstehend dargestellten Lösungsvorschläge weitgehend aus, dass die Gesellschafter trotz mitgliedschaftlicher Loyalitätsbindungen unternehmerisches Ermessen genießen. Wie schon in §  18 I und II ausgeführt wurde, unterliegt die Interessenabwägung im Rahmen des Beschlussverfahrens einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind. Darf sich ein Gesellschafter-Geschäftsführer auf die Business Judgment Rule berufen, um seine Entscheidung auf der Gesellschafter­ ebene zu verteidigen, kommt ihm die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auch auf der Geschäftsführungsebene zugute. Wenn die Pflichtenbindung der Geschäftsführer mit der Pflichtenbindung der Gesellschafter korrespondiert, sind auch die Ermessensspielräume spiegelbildlich ausgestaltet. Um die Reichweite der diskretionären Spielräume eines Gesellschafter-Geschäftsführers zu bestimmen, ist von dem Umstand auszugehen, dass der Gesellschafter-Geschäftsführer tendenziell mehr Hebel in der Hand hat, um die Entscheidungsfindung innerhalb der GmbH zu beeinflussen und auf die Mittel der Gesellschaft zuzugreifen, als dies bei einem Fremdgeschäftsführer oder einem nicht geschäftsführungsbefugten Gesellschafter der Fall ist. Diese Situation ist für Interessenkonflikte besonders anfällig, weil ein Gesellschafter-­ Geschäftsführer wegen der Doppelstellung eher in der Lage ist, sich Sondervorteile zu verschaffen oder den Mitgesellschaftern einen Sondernachteil zuzufügen.10 Deshalb ist die Befangenheit das (negative) Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, das in Fällen des Gesellschafter-Geschäftsführers einer eingehenden Untersuchung bedarf. So kann sich der Gesellschafter-Geschäftsführer, der in Fleischers Beispiel das Anstellungsverhältnis zwischen der Gesellschaft und einem Mitgesellschafter 9 Bei Lichte besehen folgt diese Pflicht bereits aus dem Umstand, dass der Geschäftsführer an das Gesellschaftsinteresse gebunden ist und das Gesellschaftsinteresse ein Resultat der Abwägung unterschiedlicher Gesellschafterbelange ist. 10 Auf der Gesellschafterebene kommt dies etwa – wie schon in § 22 IV 2 a und § 23 I ausgeführt – darin zum Ausdruck, dass sich ein Gesellschafter-Geschäftsführer mit einer Gewinnthesaurierung zufrieden geben kann, wenn er eine Geschäftsführervergütung bezieht. Der daraus resultierende Sondervorteil rechtfertigt eine intensivere Kontrolle eines Thesaurierungsbeschlusses. 668

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Parallelität der Ermessensspielräume auf Gesellschafter- und Geschäftsführerebene

kündigt,11 wegen eines Sondernachteils des Mitgesellschafters nicht auf die Business Judgment Rule berufen. Vor der Kündigung konnten sich beide Gesellschafter gleichermaßen über das Anstellungsverhältnis mit der Gesellschaft finanzieren. Nach der Kündigung hat nur der Gesellschafter-Geschäftsführer diese Finanzierungsoption, dem Mitgesellschafter verbleibt allein die Aussicht auf eine Gewinnausschüttung.12 Diese Folge schafft ein erhöhtes Risiko, dass die Belange des gekündigten Mitgesellschafters im Rahmen der Interessenabwägung nicht hinreichend berücksichtigt wurden, was für eine Erhöhung der richterlichen Prüfungsdichte spricht.

11 S. schon § 23 I mit Fn. 3. 12 Aus diesem Grund spiegelt sich der Sondernachteil des Mitgesellschafters im Sondervorteil des Gesellschafter-Geschäftsführers wider. 669

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Teil 6: Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse Zum Teil 1: Grundlagen 1. Gerichte, die zur Konfliktlösung auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts angerufen werden, sind mit einer widersprüchlichen Erwartungshaltung konfrontiert. Einerseits wird für ein judicial self-restraint bei der inhaltlichen Bewertung von verbandsrechtlichen Maßnahmen plädiert, andererseits zeigen zahlreiche gesellschaftsrechtliche Regelungen, dass die Gerichte gerade für die materielle Kontrolle der Entscheidungen von Gesellschaftsorganen zuständig sind. Um den Gerichten eine Orientierung für die Bestimmung der Intensität der Inhaltskontrolle zu bieten, werden im Folgenden rechtsform- und organübergreifende Grundsätze der richterlichen Prüfungsdichte dargestellt. 2.  Die gerichtliche Kontrolle der verbandsrechtlichen Maßnahmen kann an unterschiedliche Konfliktlagen anknüpfen. Zunächst ist zwischen den Außenund Innenrechtsstreitigkeiten zu differenzieren (§ 2 I). Während die Außenrechtsstreitigkeiten keine besonderen Schwierigkeiten bereiten, weil sie zwischen rechtsfähigen Subjekten – die Gesellschaft einerseits, ein Gesellschafter oder ein Organmitglied andererseits – ausgefochten werden, ist die Zulässigkeit der Innenrechtsstreitigkeiten in Kapitalgesellschaften problematisch, weil sie eine Auseinandersetzung zwischen den Organen (Interorganstreit) oder zwischen einem Organ und einem Organmitglied (Intraorganstreit) betreffen. Dies führt nach traditioneller Auffassung dazu, dass eine etwaige Organklage unzulässig ist, weil die Organe nicht rechtsfähig und damit auch gem. §  50 Abs. 1 ZPO nicht parteifähig sind (§ 3 I und II). 3. Die herkömmliche Ansicht, die für zahlreiche Fälle Behelfslösungen entwickelt, stützt sich vor allem auf rechtspolitische Argumente, die aber für die dogmatische Diskussion unerheblich sind (§ 3 III). Es ist vorzugswürdig, der Lehre von Organrechten zu folgen und die Rechts- und Parteifähigkeit der Organe anzuerkennen. Die Organe sind zudem prozessfähig und werden vor Gericht entsprechend der Regelungen über die Vertretung im Außenverhältnis repräsentiert (§ 3 IV). Justiert man die weiteren Sachurteilungsvoraussetzungen (namentlich die Klagebefugnis und das Rechtsschutzbedürfnis) richtig, führt die Anerkennung der Organrechte nicht zu einem Dammbruch (§  3 IX 1) und es lassen sich konstruktive Schwierigkeiten vermeiden, die mit der traditionellen Auffassung einhergehen (§ 3 IX 2). 671

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

4. Eine Hürde für den Organstreit ist die Klagebefugnis, die – anders als bei Außenrechtsstreitigkeiten – besonders begründet werden muss (§ 3 V 1). Klagebefugt sind die Organe jedenfalls in Fällen, in denen das Aktienrecht ihnen einen Anspruch zuweist (§ 3 V 2) und in denen ihre Kompetenzen beeinträchtigt werden (§ 3 V 3). Die Klagebefugnis ist auch zu bejahen, wenn ein Organmitglied eine Entscheidung seines eigenen Organs und wenn der Vorstand eine Entscheidung des Aufsichtsrats beanstandet (§ 3 V 4 a und c). Die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle des Vorstands durch den Aufsichtsrat ist dagegen unzulässig (§ 3 V 4 b). 5. Einzelne Organmitglieder sind grundsätzlich nicht befugt, die Rechte des Gesamtorgans durchzusetzen. Gegen die Klagebefugnis spricht namentlich ein Vergleich mit § 245 Nr. 5 AktG (§ 3 V 5 c); die Befugnis lässt sich nicht mit dem Gedanken der actio pro societate begründen (§ 3 V 4 d). Eine Ausnahme ist in § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG für die Durchsetzung der Berichtsansprüche des Aufsichtsrats gegen den Vorstand vorgesehen. § 90 Abs. 3 Satz 2 AktG ist auf die Informationsansprüche aus § 170 Abs. 1, 2, § 314 Abs. 1 Satz 1 AktG, nicht aber auf das Einsichtnahme- und Prüfungsrecht aus § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG entsprechend anwendbar (§ 3 V 5 b). 6. Der Klagegegner ist mit Hilfe der Lehre von Organrechten zu bestimmen (§ 3 VI 1). Bei der Durchsetzung von Organansprüchen ergibt sich der Klagegegner aus der jeweiligen Anspruchsgrundlage (§  3 VI 2). Bei Kompetenzschutzklagen ist die Klage gegen den Störer, bei der allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle gegen das Organ zu richten, das die beanstandete Entscheidung getroffen hat (§ 3 VI 3). 7. Für die Durchsetzung der Organansprüche ist die Leistungsklage statthaft. Die Kompetenzschutzklage ist eine Spielart der Unterlassungsklage. Die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle erfolgt im Rahmen einer Feststellungsklage (§ 3 VII). 8. Neben der Klagebefugnis ist das Rechtsschutzbedürfnis eine weitere Hürde für den Organstreit. Es fehlt zunächst in Fällen des § 110 Abs. 2 AktG, weil Aufsichtsratsmitglieder und der Vorstand eine Aufsichtsratssitzung einbe­ rufen können und deshalb nicht auf gerichtliche Hilfe angewiesen sind (§ 3 VIII 3). Außerdem darf ein Vorstandsmitglied keinen Intraorganstreit beginnen, bevor er versucht hat, die Differenzen innerhalb des Vorstands durch Einschaltung des Aufsichtsrats zu beheben (§ 3 VIII 4). Die Hauptversammlung kommt als Streitschlichter nur in Betracht, wenn der Aufsichtsrat die Zustimmung zu einer zustimmungspflichtigen Maßnahme des Vorstands verweigert (§ 3 VIII 5). Das Rechtsschutzbedürfnis kann nicht mit einem Verweis auf das 672

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Zum Teil 1: Grundlagen

Zwangsgeld nach § 407 Abs. 1 AktG (§ 3 VIII 1) und auf den Vorrang der Personalkompetenz und der Haftungsinstrumente verneint werden (§ 3 VIII 2). 9. Der Organstreit in der GmbH ist im Ausgangspunkt nach denselben Grundsätzen zu behandeln wie in der Aktiengesellschaft (§ 3 X 1 bis 3). Allerdings ist zu beachten, dass die Gesellschafterversammlung – anders als die Hauptversammlung – aufgrund des Weisungsrechts aus § 37 Abs. 1 GmbHG die Rolle eines Streitschlichters spielen kann. Deshalb kann die Zulässigkeit einer Klage am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis scheitern, wenn die Organe und ihre Mitglieder die Gesellschafter nicht mit dem Streit befassen (§ 3 X 4). 10. Lässt man die Unterscheidung zwischen den Außen- und Innenrechtsstreitigkeiten sowie die Probleme um den Organstreit beiseite, kann zwischen zwei Kontrollobjekten differenziert werden. Zum einen kann man danach unterscheiden, welche Akteure der gerichtlichen Überprüfung unterzogen werden, zum anderen kann man sich auf die Kontrollgegenstände fokussieren. Als kontrollierte Akteure kommen Gesellschafter und Verwaltungsorgane in Frage (§  2 II 1). Innerhalb der Verwaltung kann zwischen den Geschäftsleitungsund Aufsichtsorganen unterschieden werden (§ 2 II 2). 11.  Als Kontrollgegenstände kommen einerseits das Verhalten der Organ­ mitglieder, andererseits das Ergebnis der organschaftlichen Willensbildung in Betracht (§ 2 III). Das Verhalten der Organmitglieder wird insbesondere im Rahmen der Schadensersatzansprüche überprüft (§  2 IV 1). Entgegen der herrschenden Auffassung sind auch Unterlassungsansprüche der Gesellschaft gegen Organmitglieder denkbar, wenn eine Pflichtverletzung des Organmitglieds droht (§ 2 IV 2). Schließlich können Personalmaßnahmen ein Anknüpfungspunkt für die Verhaltenskontrolle dienen (§ 2 IV 3). 12. Im Rahmen der Willensbildungskontrolle ist zwischen der kollektiven und individuellen Willensbildung zu unterscheiden (§ 2 V 1). In die erstgenannte Kategorie gehört die Beschlusskontrolle, die bei der Hauptversammlung und der GmbH-Gesellschafterversammlung insbesondere als Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage nach §§ 241 ff. AktG möglich ist. Bei den Gesellschafterbeschlüssen in Personengesellschaften und bei Organbeschlüssen nimmt sie die Form einer Feststellungsklage nach § 256 ZPO an (§ 2 V 2). 13. Die individuelle Willensbildungskontrolle kommt namentlich im Zusammenhang mit einem Widerspruch gegen die Geschäftsführungsmaßnahme eines Gesellschafters oder eines Organmitglieds in Betracht. Im Personengesellschaftsrecht ist der Widerspruch in § 711 BGB, § 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB geregelt; er kann eine Feststellungs- oder Unterlassungsklage provozieren (§ 2 V 3 a). Für Mitglieder der Organe von Kapitalgesellschaften ist zwar ein Wi673

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

derspruchsrecht nicht vorgesehen, diese Lücke ist aber in analoger Anwendung der § 711, 115 Abs. 1 Hs. 2 HGB zu schließen (§ 2 V 3 b). 14.  Die Verhaltens- und Willensbildungskontrolle stehen nicht nebeneinander, sondern sie sind miteinander verzahnt (§ 2 VI 1). Diese Verzahnung führt dazu, dass die richterliche Kontrolle die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsorganen beeinflusst. Darf ein Gericht eine verbandsrechtliche Maßnahme nur eingeschränkt kontrollieren, unterliegt diese Maßnahme auch einem nur eingeschränkten Zugriff der Gesellschaftsorgane (§ 2 VI 2).

Zum Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung 1.  Die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte im Gesellschaftsrecht kann mit Hilfe einer intradisziplinären Analyse erleichtert werden. Ein Blick auf die Entwicklungen im Verwaltungsrecht kann Anhaltspunkte dafür liefern, wie das Spannungsverhältnis zwischen der Bewegungsfreiheit der Gesellschaftsorgane und dem Kontrollauftrag der Zivilgerichte aufzulösen ist. Dass ein Wertungstransfer zwischen dem Verwaltungs- und Gesellschaftsrecht nicht völlig fernliegend ist, zeigen zahlreiche Stellungnahmen im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum. So greifen einige Autoren im Zusammenhang mit der Gesellschafterkontrolle seit jeher den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf und beziehen sich dabei ausdrücklich auf das öffentliche Recht (§ 4 I 1 a). Auch im Hinblick auf die Kontrolle der Verwaltungsorgane und ihrer Mitglieder sprachen sich vor der Kodifizierung der Business Judgment Rule zahlreiche Stimmen dafür aus, die diskretionären Spielräume der Gesellschaftsorgane in Anlehnung an die öffentlich-rechtliche Dogmatik zu bestimmen (§  4 I 1 b). Freilich wurde dieser intradisziplinäre Ansatz kritisiert (§ 4 I 2) und nach der Einführung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Zuge des UMAG weitgehend verworfen (§ 4 I 3). 2.  Die Zurückhaltung des verbandsrechtlichen Schrifttums gegenüber dem Wertungstransfer ist verständlich, weil die Verwaltungsgerichte und die Zivilgerichte unterschiedliche Funktionen wahrnehmen. Die Rolle der Verwaltungsgerichte liegt darin, den Individualrechtsschutz der Bürger zu ermöglichen (Art. 19 Abs. 4 GG) und das Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne des Institutionenschutzes zu wahren (§ 4 III 2). Die Zivilgerichte verfolgen zwar auch einen Rechtsschutzauftrag, der aus dem Justizgewährungsanspruch des Bürgers resultiert (§ 4 IV 1), der Grundsatz der Privatautonomie setzt ihnen aber eine Schranke. Die Zivilgerichte sind grundsätzlich nicht befugt, ihre ei674

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Zum Teil 2: Gerichtliche Kontrolldichte in intradisziplinärer Betrachtung

genen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle der privatautonom abgeschlossenen Vereinbarungen zu setzen (§ 4 IV 2). Gleichwohl kennt das Zivilrecht einige Instrumente, die eine Inhaltskontrolle der Verträge ermöglichen und die zu einer fortschreitenden Materialisierung des Zivilrechts führen. Zu nennen sind etwa die Generalklauseln in §§ 138, 242 BGB sowie das AGB-Recht (§ 4 IV 3). 3. Das Gebot der richterlichen Zurückhaltung gilt im Ausgangspunkt auch im Gesellschaftsrecht, das auf privatautonomen Vereinbarungen beruht. Allerdings ist im Gesellschaftsrecht zu berücksichtigen, dass die Gesellschafter einen lebenden Organismus schaffen (§ 4 V 1). Dieser Organismus ist für Abhängigkeitslagen und Machtungleichgewichte anfällig, die zum einen aus der Verselbständigung der Leitungsorgane resultieren (§ 4 V 2), zum anderen mit dem Beschluss als Instrument der kollektiven Willensbildung zusammenhängen (§ 4 V 3). In der Sprache der Rechtsökonomen handelt es sich um Agency-­ Konflikte (§ 4 V 4), die wegen der Rationalitätsdefizite der Gesellschafter und der Transaktionskosten nicht im Gesellschaftsvertrag aufgelöst werden können (§ 4 V 5). 4. Die verbandstypischen Machtungleichgewichte führen dazu, dass sich die Aufgabe der Zivilgerichte im Gesellschaftsrecht von ihrer Rolle im klassischen Privatrecht unterscheidet. Die gerichtliche Kontrolle der verbandsrechtlichen Maßnahmen dient der Machtbegrenzung und damit dem Individualrechtsschutz, wodurch Parallelen zu der Aufgabe der Verwaltungsgerichte sichtbar werden (§ 4 VI 1). Überdies trägt die richterliche Kontrolle im Gesellschaftsund Verwaltungsrecht zur Stärkung der Entscheidungsrationalität bei (§  4 VI 2) und gewährleistet einen Institutionenschutz (§ 4 VI 3). Ein Seitenblick auf die öffentlich-rechtliche Dogmatik kann dabei helfen, die Rolle des Richters zu reflektieren (§ 4 VI 4). Die intradisziplinäre Analyse macht deutlich, dass G ­ esellschaftsrecht und Verwaltungsrecht gleichermaßen in einem Spagat ­zwischen Gesetzesvollzug und Gestaltung stehen (§  4 VI 5). Die Parallelen zwischen den Aufgaben der Verwaltungsgerichte und der Zivilgerichte im Gesellschaftsrecht sind Anlass genug, die verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik näher zu beleuchten und auf dieser Grundlage auszuloten, inwieweit ein Wertungstransfer aus dem öffentlichen Recht ins Gesellschaftsrecht sinnvoll ist. 5. Das Verwaltungsrecht differenziert zwischen unterschiedlichen Instrumenten zur Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte. Handelt es sich um eine Konditionalnorm, kann die Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite gem. §  40 VwVfG ein Entschließungs- und Auswahlermessen zugute kommen, das nach § 114 Satz 1 VwGO die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle beschränkt 675

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

(§ 5 I). Auf der Tatbestandsebene kann sich die Exekutive auf Beurteilungsspielräume berufen (§ 5 II 1), die namentlich in drei Fallgruppen anerkannt sind: Prüfungs- und Bewertungsentscheidungen (§  5 II 2), Entscheidungen weisungsunabhängiger pluralistischer Gremien (§ 5 II 3) und dynamische Erkenntnisprozesse (§  5 II 4). Die richterliche Prüfungsdichte ist überdies ge­ lockert, wenn die Verwaltung finale Normen anwendet, was insbesondere im Planungsrecht der Fall ist; die Planungsbehörde kann sich auf das sog. Planungsermessen berufen (§ 5 III). Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Letztentscheidungskompetenzen tritt im Regulierungsrecht deutlich zutage. Neben dem Rechtsfolgenermessen und den Beurteilungsspielräumen greift die Rechtsprechung dort auf die Figur des Regulierungsermessens zurück, das an das Planungsermessen angelehnt ist (§ 5 IV). 6. Trotz der starken Ausdifferenzierung der verwaltungsrechtlichen Kontrolldogmatik lässt sich die Bestimmung der richterlichen Prüfungsdichte kategorienübergreifend in zwei Schritten bewältigen (§ 5 V 1 und 2). In einem ersten Schritt ist anhand von zwei Kriterien – der Normstruktur und der funktionellen Adäquanz  – zu untersuchen, ob der Exekutive eine Letztentscheidungskompetenz zukommt. Maßgeblich ist zum einen, ob die Verwaltung eine finale oder konditionale Norm anwendet (§ 5 V 3 a). Zum anderen kommt es auf folgende Gesichtspunkte an: den politisch-gestalterischen Einschlag der Entscheidung, die Komplexität des Sachverhalts, das Bedürfnis nach Flexibilität, die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung, die Zusammensetzung des Entscheidungsgremiums und die fehlende Reproduzierbarkeit der Entscheidung im Gerichtssaal (§ 5 V 3 b). 7. Genießt die Verwaltung einen diskretionären Spielraum, ist in einem zweiten Schritt das Prüfungsprogramm des Gerichts zu bestimmen. Kategorienübergreifend verlagert sich der Schwerpunkt der gerichtlichen Kontrolle weg vom Entscheidungsinhalt hin zum Entscheidungsprozess. Maßgeblich ist, ob die Behörde ihren Spielraum erkannt hat, ob sie vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist und ob sie sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen. Ist die behördliche Entscheidung in einem ordnungsgemäßen Verfahren ergangen, unterliegt der Entscheidungsinhalt einer bloßen Vertretbarkeitskontrolle (§ 5 V 4). 8.  Die aus der Analyse der verwaltungsrechtlichen Diskussion gewonnenen Erkenntnisse können behutsam auf das Gesellschaftsrecht übertragen werden. Zunächst ist hervorzuheben, dass sich die Rücknahme der richterlichen Prüfungsdichte auch im Gesellschaftsrecht auf die Bestandskraft einer verbandsrechtlichen Maßnahme auswirkt. Die Letztentscheidungskompetenzen der 676

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

Verbandsrechtsakteure dürfen nicht nur durch die haftungsrechtliche Brille betrachtet werden (§ 6 I). 9. Die verwaltungsrechtliche Kontrolldogmatik zeigt überdies, dass das Pro­ blem der richterlichen Prüfungsdichte nicht mit einfachen Instrumenten zu bewältigen ist, sondern eine Ausdifferenzierung unerlässlich ist. So wie sich die Lehre vom allgemeinen Verwaltungsermessen nicht durchgesetzt hat, so darf die Diskussion im Gesellschaftsrecht nicht mit einem Verweis auf die ­Business Judgment Rule beendet werden (§ 6 II). 10. Um die Frage zu beantworten, ob ein Verbandsrechtsakteur eine Letztentscheidungskompetenz genießt, kann die normative Ermächtigungslehre als Inspirationsquelle dienen, die im Gesellschaftsrecht mit umgekehrten Vorzeichen zu versehen ist. Maßgeblich ist, inwieweit der Gesellschaftsvertrag oder der Gesetzgeber die Gerichte mit der Befugnis ausgestattet hat, die verbandsrechtlichen Maßnahmen zu überprüfen (§ 6 III 1). Bei der Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte ist zum einen die Normstruktur (§ 6 III 2), zum anderen der Adäquanzgedanke heranzuziehen (§ 6 III 3). 11. Geht es um die Ausgestaltung der Letztentscheidungskompetenz, dürfen die verwaltungsrechtlichen Kriterien nicht unbesehen auf das Gesellschaftsrecht übertragen werden, weil sie mit dem privatautonomen Ursprung der verbandsrechtlichen Beziehungen nicht zu vereinbaren sind (§ 6 IV 1). Allerdings kann die aus dem Verwaltungsrecht bekannte Differenzierung zwischen der Entscheidungsprozedur und dem Entscheidungsinhalt auch im Gesellschaftsrecht aufgegriffen werden, um die richterliche Prüfungsdichte zu bestimmen (§ 6 IV 2).

Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen Zu den §§ 7 bis 11: Kontrolle des AG-Vorstands und seiner Mitglieder 1. Der Vorstand und seine Mitglieder stehen in einem ewigen Spagat zwischen der Leitungsautonomie einerseits und Pflichtenbindung andererseits. Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Bindung kommt in §  76 Abs.  1 AktG zum Ausdruck, der ein „Pflichtrecht“ statuiert; der Vorstand als Gesamt­ organ darf und muss die Gesellschaft leiten (§ 7 I). Dasselbe gilt für die einzelnen Vorstandsmitglieder nach § 93 Abs. 1 AktG, der im Satz 1 eine Sorgfaltspflicht festschreibt und im Satz  2 einen Ermessensspielraum gewährt (§  7 IV  2). Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung lässt sich nicht ausmachen (§ 7 IV 1). 677

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

2. Das Aktiengesetz formuliert eine Vielzahl von Pflichten, deren Adressat der Gesamtvorstand ist. Diese Pflichten gelten mittelbar auch für die einzelnen Vorstandsmitglieder, die dafür sorgen müssen, dass das Gesamtorgan die ak­ tienrechtlichen Vorgaben einhält (§  7  II). Ein Vorstandsbeschluss, der mit den  Pflichten des Gesamtvorstands nicht im Einklang steht, ist wegen eines Inhaltsfehlers nichtig (§  7 III 2). Die Pflichten der einzelnen Vorstandsmit­ glieder – namentlich die Sorgfaltspflicht aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG und die organschaftliche Treuepflicht  – sind im Rahmen der Inhaltskontrolle eines Vorstandsbeschlusses ebenfalls zu berücksichtigen. Der Beschluss ist fehlerhaft, wenn ein Vorstandsmitglied, das einzelgeschäftsführungsbefugt wäre und die Entscheidung allein getroffen hätte, sich damit sorgfalts- oder treuepflichtwidrig verhalten hätte. In einem solchen Fall widerspricht der Beschluss dem Gesellschaftswohl (§ 7 III 3). 3. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, in dem seit dem UMAG die Business Judgment Rule deutscher Prägung kodifiziert ist, erleichtert die Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen der Leitungsautonomie und Pflichtenbindung, weil er  – anders als § 76 Abs. 1 AktG – aus subsumtionsfähigen Tatbestandsmerkmalen zusammengesetzt ist. Da § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG im Anschluss an die organschaftlichen Sorgfaltspflichten geregelt ist, wirkt er sich in erster Linie auf die Verhaltenskontrolle aus, indem er die Entscheidung eines einzelnen Vorstandsmitglieds schützt (§ 7 IV 2). Trotz seiner systematischen Anknüpfung beeinflusst er auch die Willensbildungskontrolle. Ein Vorstandsbeschluss, der im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegt, leidet nicht an einem Inhaltsfehler (§ 7 IV 3). 4. Obwohl § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nach herrschender Ansicht eine nur klarstellende Funktion hat, führt das Schrifttum seit jeher eine Debatte über die dogmatische Einordnung der Business Judgment Rule (§ 7 V 1). Zahlreiche Stimmen sehen in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG eine Norm, die einer Erfolgshaftung der Vorstandsmitglieder vorbeugen soll, was aber ihrer Bedeutung für den Schutz der organschaftlichen Willensbildung nicht gerecht wird (§ 7 V 2). Die Einstufung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als eine Regelung der einfachen Fahrlässigkeit widerspricht der gesetzgeberischen Intention und kann deshalb nicht überzeugen (§ 7 V 3). Wer in der Business Judgment Rule eine Haftungsmilderung auf grobe Fahrlässigkeit sieht, beschreibt zwar ihre haftungsrechtlichen Implikationen, vernachlässigt aber ihre Auswirkungen auf die Beschlusskontrolle (§ 7 V 4). Das Verständnis der Business Judgment Rule als eine Konkretisierung des objektiven Pflichtenmaßstabs führt zu einer Umformulierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Diese Umformulierung ist ein Akt der Rechtsfortbildung, die aber mangels planwidriger Regelungslücke unzulässig ist (§ 7 V 5). 678

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5. Die Auswirkungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf das Haftungsrecht und die Beschlusskontrolle lassen sich am besten erfassen, wenn man ihn als eine Regelung der gerichtlichen Kontrolldichte einordnet, die den Pflichtenmaßstab von dem Überprüfungsmaßstab abkoppelt. Trifft ein unbefangenes Vorstandsmitglied eine unternehmerische Entscheidung auf angemessener Informationsgrundlage, liegt die Rechtsfolge der Business Judgment Rule darin, dass das Gericht lediglich überprüfen darf, ob das Mitglied „vernünftigerweise annehmen durfte, (…) zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ (§ 7 V 6 a). Eine solche Konzeption geht nicht mit der Anerkennung einer „haftungsfreien Pflichtverletzung“ einher (§ 7 V 6 b). Sie setzt überdies keine verfahrensrechtliche Regelung nach dem Vorbild des § 114 Satz 1 VwGO voraus (§ 7 V 6 c). Schließlich sprechen praktische Einwände nicht gegen das hier vertretene Verständnis des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (§ 7 V 6 d). 6. Überprüft das Gericht eine Vorstandsentscheidung, ist das „Wohl der Gesellschaft“ der Referenzpunkt der richterlichen Kontrolle, während „vernünftigerweise annehmen durfte“ die Kontrolldichte umschreibt. Der Begriff des Gesellschaftswohls im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist deckungsgleich mit dem Begriff des Gesellschaftsinteresses, der im Kontext des § 76 Abs. 1 AktG aufgegriffen wird. Vorzugswürdig erscheint es, das Gesellschaftswohl im Sinne des stakeholder-value-Ansatzes bzw. des moderaten shareholder-value-Ansatzes dahingehend zu konkretisieren, dass der Vorstand die Interessen der share­ holder und stakeholder im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz abwägt und in einen angemessenen Ausgleich bringt (§ 8 I 1). 7. Die Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte“ bringt zum Ausdruck, dass die Abwägungsentscheidung des Vorstands einer eingeschränkten gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegt. Damit die Leitungsautonomie des Vorstands nicht über Gebühr beeinträchtigt wird, sind die Gerichte lediglich zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt. Sie dürfen die Entscheidung erst dann beanstanden, wenn diese völlig unverantwortlich ist, das heißt wenn sie ohne nähere Überlegungen erkennen, dass die Interessenabwägung misslungen ist (§ 8 I 2). 8. Die richterliche Prüfungsdichte nimmt zu, wenn der Vorstand eine existenzbedrohende Entscheidung trifft. Solche Entscheidungen widersprechen zwar nicht von vornherein dem Gesellschaftsinteresse, die Verdichtung der gerichtlichen Kontrolle ist aber im Hinblick auf die Gläubigerbelange angezeigt. Dass die Existenzgefährdung und die Gläubigerinteressen eine Sonderbehandlung verdienen, folgt namentlich aus § 91 Abs. 2 AktG, der dem Vorstand die Pflicht zur Schaffung eines Risikofrüherkennungssystems auferlegt, und aus §  93 679

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Abs. 5 AktG, der die Rechtsstellung der Gläubiger in Innenhaftungsfällen verbessert (§ 8 I 3). 9. Dem Tatbestandsmerkmal der „unternehmerischen Entscheidung“, der den sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG markiert, fehlt die nötige Selektionskraft; die bisherigen Definitionsversuche sind gescheitert (§ 8 II 1 und 2). Deshalb ist der klassische Umgang mit dem Begriff der unternehmerischen Entscheidung – also die Definition und die anschließende Subsumtion – mit Hilfe einer normstrukturellen und funktionellen Analyse zu verfeinern. Eine Vorstandsentscheidung ist unternehmerisch im Sinne des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn der Gesetzgeber die Geschäftsleiter final steuert, das heißt ihnen die Aufgabe überträgt, das Gesellschaftswohl im Rahmen der Abwägung der shareholder- und stakeholder-Belange zu ermitteln. Zwingt das Gesetz die Vorstandsmitglieder in ein Konditionalprogramm, nimmt es die Interessenabwägung zum Teil vorweg und die Anwendung der Business Judgment Rule kommt grundsätzlich nicht in Betracht (§ 8 II 3). Ergänzend ist auf den Gedanken der funktionellen Adäquanz abzustellen. Es ist zu untersuchen, ob die Rechtsprechung bei der Bewertung der Vorstandsentscheidung an ihre Funktionsgrenzen stößt (§ 8 II 4). 10.  Die normstrukturelle Analyse und der Adäquanzgedanke machen deutlich, dass die (analoge) Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auf die Auslegung und Anwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen nicht überzeugt. Unbestimmte Rechtsbegriffe stehen meist auf der Tatbestandsebene einer konditional strukturierten Regelung, was darauf hindeutet, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Norm eine Interessenabwägung teilweise vorweggenommen hat. Setzt sich ein Gericht mit einem unbestimmten Rechtsbegriff auseinander, stößt es nicht an seine Funktionsgrenzen, sondern es erledigt die ihm zugewiesene Aufgabe: Es wendet das Gesetz an (§ 8 II 5). 11. Die Fälle des Treuepflichtverstoßes sind entgegen der missverständlichen Äußerungen in den UMAG-Gesetzesmaterialien nicht deshalb aus dem Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ausgeklammert, weil es sich nicht um unternehmerische Entscheidungen handelt. Die Treuepflicht ist ein Paradebeispiel für eine finale Vorgabe, was gerade für die Heranziehung der Business Judgment Rule spricht. Die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kann aber an einem anderen Tatbestandsmerkmal scheitern: dem Interessenkonflikt (§ 8 II 6). 12. In der Formulierung „vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information (…) zu handeln“ ist die erste prozedurale ­Vorgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG umschrieben. Die angemessene Informa680

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tionsgrundlage setzt nicht voraus, dass der Vorstand alle denkbaren Informationsquellen ausschöpft. Vielmehr hängen die Anforderungen an die Informationsbeschaffung von der konkreten Entscheidungssituation ab, was eine flexible Beurteilung ermöglicht (§ 8 III 1). Anders als beim Wohl der Gesellschaft ist das Gericht nicht nur zu einer Evidenzkontrolle der Informationsbeschaffung befugt, sondern es darf eine Vertretbarkeitskontrolle durchführen; anderenfalls fehlte die Grundlage für die inhaltliche Richtigkeitsvermutung (§ 8 III 2). 13. Die zweite prozedurale Voraussetzung der Business Judgment Rule ist die Freiheit von Sonderinteressen. Entgegen der herrschenden Auffassung ist diese Vorgabe nicht in der Formulierung „zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ verankert. Vielmehr handelt es sich um ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, das seine teleologische Grundlage im Gedanken der Richtigkeitsvermutung findet. Eine Lockerung der richterlichen Inhaltskontrolle ist nur dann angezeigt, wenn kein Risiko besteht, dass der Geschäftsleiter aus opportunistischen Gründen unsorgfältig handelt (§ 8 IV 1). 14.  Ein Interessenkonflikt liegt vor, wenn sich ein Vorstandsmitglied in einer  Situation befindet, die in eine Treuepflichtverletzung umschlagen kann (§  8 IV 2). Personen, die dem Vorstandsmitglied nahe stehen, kommen als Konfliktquellen in Betracht (§ 8 IV 3). Um eine Ausuferung des Konfliktbegriffs zu vermeiden, ist eine Relevanzschwelle erforderlich. Ein Interessenkonflikt muss zum einen im Hinblick auf sein Gewicht relevant sein (§ 8 IV 4 a). Zum anderen muss ein Zusammenhang zwischen der Befangenheit und der Vorstandsentscheidung bestehen (§ 8 IV 4 b). Ein Interessenkonflikt führt nur dann zum Ausschluss der Business Judgment Rule, wenn der Geschäftsleiter die konfliktbegründenden Umstände kennen musste. Ob er die Situation rechtlich richtig bewertet hat, ist unerheblich (§ 8 IV 5). 15. Die Offenlegung des Interessenkonflikts gegenüber dem Gesamtvorstand führt nicht dazu, dass der befangene Geschäftsleiter durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt ist (§ 8 IV 6 b). Die Konfliktneutralisierung durch Transparenz ist aber möglich, wenn die Hauptversammlung (§ 8 IV 6 c) oder der Aufsichtsrat (§ 8 IV 6 d) die Vorstandsentscheidung in Kenntnis des Interessenkonflikts billigt. Ist der Vorstand wegen Befangenheit seiner Mitglieder faktisch nicht beschlussfähig, darf er dem Aufsichtsrat die Entscheidung zur Billigung vorlegen, um die Privilegierung der Business Judgment Rule aufrechtzuerhalten (§ 8 IV 6 e).

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

16. Steht der Geschäftsleiter vor mehreren Handlungsvarianten und ist er nur in Bezug auf eine dieser Varianten befangen, greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – entgegen vereinzelter Vorschläge im Schrifttum – nicht ein (§ 8 IV 7). 17.  Fasst der Vorstand einen Beschluss, ist danach zu differenzieren, ob die Business Judgment Rule die einzelnen Vorstandsmitglieder oder den Beschluss als Kollektiventscheidung des Gesamtvorstands schützen soll. Das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Mitglieds und der Beschluss sind unterschiedliche unternehmerische Entscheidungen, die nicht nach denselben Kriterien beurteilt werden dürfen, weil der Wortlaut des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nur auf die Individualentscheidung der Vorstandsmitglieder zugeschnitten ist (§ 8 V 2). 18. Steht das Abstimmungsverhalten der Vorstandsmitglieder auf dem Prüfstand, führt ein Interessenkonflikt eines Mitglieds objektiv zur Befangenheit seiner Kollegen, weil die Vorstandsmitglieder im Verhältnis zueinander nahe stehende Personen sind. Das „primär“ befangene Mitglied ist eine Konfliktquelle; es infiziert seine Kollegen. Da §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG aber ein subjektiver Konfliktbegriff zugrunde liegt, ist die Business Judgment Rule nur ausgeschlossen, wenn die „infizierten“ Vorstandsmitglieder die Sonderinteressen des „primär“ befangenen Mitglieds hätten kennen müssen. Legt das „primär“ befangene Vorstandsmitglied seine Sonderinteressen offen, bleibt die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zugunsten seiner Kollegen erhalten, wenn es der Beratung und Abstimmung fernbleibt (§ 8 V 3 b). 19.  Bei der Beurteilung der Informationsgrundlage im Rahmen der Verhaltenskontrolle kommt es darauf an, ob jedes einzelne Vorstandsmitglied die erforderlichen Informationen beschaffen sollte oder ob ein Mitglied – der „Berichterstatter“  – für die Informationsbeschaffung zuständig war. Im erstgenannten Fall können sich die angemessen informierten Vorstandsmitglieder auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen. Etwaige Nachlässigkeiten ihrer Kollegen versperren ihnen nicht den Zugang zum sicheren Hafen. Im letztgenannten Fall ist maßgeblich, ob die Geschäftsleiter zu einer vertretbaren Einschätzung gelangt sind, dass der „Berichterstatter“ eine angemessene Informationsgrundlage aufgebaut hat (§ 8 V 3 c). 20.  Überprüft das Gericht den Vorstandsbeschluss, setzt §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG wie bei einer Individualentscheidung zunächst voraus, dass der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat (§ 8 V 4 a). Nimmt ein befangenes Vorstandsmitglied an der Beratung oder Abstimmung teil, fehlt die Grundlage für die Richtigkeitsvermutung. Der Beschluss wird

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durch die Sonderinteressen des Geschäftsleiters infiziert und liegt deshalb nicht im sicheren Hafen der Business Judgment Rule (§ 8 V 4 b). 21. Im Hinblick auf die Informationsbeschaffung ist bei der Beschlusskontrolle zwischen Einstimmigkeits- und Mehrheitsbeschlüssen zu differenzieren. Wird der Beschluss nach dem Einstimmigkeitsprinzip gefasst, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht einschlägig, wenn nur ein Organmitglied nicht vernünftigerweise annehmen darf, auf Grundlage angemessener Information abzustimmen. Bei einem Mehrheitsbeschluss kommt es auf die Art und Weise der Beschlussvorbereitung an. Bereitet ein „Berichterstatter“ die Entscheidung vor, ist sein Informationsstand maßgeblich. Sind alle Vorstandsmitglieder zur Beschlussvorbereitung berufen, hängt die Anwendung der Business Judgment Rule davon ab, ob die informierten Mitglieder, die das Beschlussergebnis tragen, die erforderliche Mehrheit stellen (§ 8 V 4 c). 22. Die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt im Rahmen eines Schadensersatzprozesses gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG bei den Vorstandsmitgliedern. Die teleologische Reduktion des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG kommt nicht in Betracht, weil die dort geregelte Beweislastumkehr die Geschäftsleiter nicht in eine unangemessene Beweisnot bringt. Die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Business Judgment Rule ist nicht mit Beweisschwierigkeiten verbunden, weil die Qualifizierung einer Entscheidung als unternehmerisch von Rechtsfragen abhängt. Im Hinblick auf die Freiheit von Sonderinteressen kommen den Vorstandsmitgliedern die Grundsätze der sekundären Darlegungslast zugute. Überdies ist es dem Wesen der inhaltlichen Evidenzkontrolle immanent, dass die Anforderungen an die Beweisführung nicht überspitzt werden dürfen. Bei Lichte besehen wirkt sich die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG nur auf die Angemessenheit der Informationsgrundlage aus, was gerechtfertigt ist, weil die Vorstandsmitglieder die Dokumentation der Informationsbeschaffung in der Hand haben (§ 8 VI 1). 23.  §  93 Abs.  2 Satz  2 AktG ist weder auf Unterlassungsansprüche noch im Rahmen der Beschlusskontrolle anwendbar, weil die Beweislastumkehr auf Haftungsfälle zugeschnitten ist, in denen der Schaden in einer ex-post-Situation die Vermutung einer pflichtwidrigen Entscheidung trägt. Die Unterlassungs- und Beschlussmängelklagen werden aber meistens ex ante erhoben, um einen Schaden zu verhindern, so dass eine Vermutungsgrundlage fehlt (§ 8 VI 2). In einem Unterlassungsprozess obliegt es der Gesellschaft zu beweisen, dass die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht vorliegen; anderenfalls wäre die aktienrechtliche Organisationsverfassung beeinträchtigt (§ 8 VI 3). Dieser Gedanke ist auf Beschlussmängelprozesse zu übertragen. Greift ein 683

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Vorstandsmitglied einen Mehrheitsbeschluss an, trifft es die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Business Judgment Rule nicht eingreift. Da das dissentierende Mitglied dieselbe Sachnähe zum Beschluss aufweist wie die Vorstandsmehrheit, ist diese Beweislastverteilung nicht unzumutbar (§ 8 VI 4). 24. Greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein, ist die richterliche Prüfungsdichte zwar nicht auf das Evidenzniveau gelockert, die Gerichte sind aber nicht automatisch zu einer vollen Inhaltskontrolle der Vorstandsentscheidung befugt. Vielmehr kann die gerichtliche Kontrolldichte auch jenseits des sicheren Hafens der Business Judgment Rule eingeschränkt sein. Allerdings verschiebt sich die Argumentationslast. Während die Rechtfertigung einer Vorstandsentscheidung im Anwendungsbereich des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG tendenziell leicht fällt, müssen Geschäftsleiter, die sich nicht auf die Business Judgment Rule berufen dürfen, mehr Argumentationsaufwand betreiben, um das Gericht von der inhaltlichen Richtigkeit ihrer Maßnahme zu überzeugen. Die Prüfungsdichte hängt davon ab, an welchem Merkmal die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG scheitert (§ 9 I). 25.  Darf ein Geschäftsleiter nicht vernünftigerweise annehmen, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln, erübrigt sich die Bestimmung der richterlichen Kontrolldichte. Eine Entscheidung, die völlig unverantwortlich ist und deshalb die Ermessensgrenzen überschreitet, ist per se pflichtwidrig; der Vorstandsbeschluss ist nichtig (§ 9 II). 26. Ist eine Entscheidung nicht unternehmerisch, weil der Vorstand durch eine Konditionalnorm gebunden ist, muss zunächst geklärt werden, ob die Norm dem Vorstand dennoch eine Letztentscheidungskompetenz einräumt. Ist dies der Fall, muss untersucht werden, wie intensiv das Gericht die Vorstandsentscheidung kontrollieren darf. Dabei ist jeweils zwischen der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite der Konditionalnorm zu unterscheiden (§ 9 III 1). 27. Auf der Tatbestandsebene genießt der Vorstand eine Letztentscheidungskompetenz, wenn die ihn bindende Vorschrift einen finalen Einschlag aufweist und der Adäquanzgedanke für die Reduktion der richterlichen Prüfungsdichte spricht, weil das Gericht bei der Anwendung der Vorschrift an seine Funktionsgrenzen stößt (§ 9 III 2 a). Ist dies der Fall, darf das Gericht die Norm abstrakt auslegen, aber die Subsumtion durch den Vorstand lediglich einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle unterziehen (§ 9 III 2 b). 28.  Auf der Rechtsfolgenseite kommt es auf die konkrete Formulierung der Konditionalnorm an. Bei „Kann“- und „Darf “-Vorschriften genießt der Vorstand ein Rechtsfolgenermessen, das in vorsichtiger Anlehnung an § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu konkretisieren ist. Dies gilt auch für Regelungen, wonach der 684

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

Vorstand eine „angemessene“ oder „geeignete“ Maßnahme treffen muss. ­Handelt es sich um eine „Soll“-Vorschrift, genießt der Vorstand ein gebundenes Rechtsfolgenermessen, das mit einer erhöhten Kontrolldichte einhergeht (§ 9 III 3). 29. Greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG wegen eines Fehlers im Entscheidungsverfahren nicht ein, erweist sich die Bestimmung der gerichtlichen Prüfungsdichte als schwierig. Einerseits sprechen die unzureichende Informationsbeschaffung und die Sonderinteressen für eine Intensivierung der richterlichen Inhaltskontrolle, damit ein wirksamer Schutz des Gesellschaftswohls gewährleistet ist. Andererseits ist der Vorstand nach wie vor gem. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG final gesteuert ist, was eine gelockerte Überprüfung nahelegt (§ 9 IV 2). 30.  Sperren die Sonderinteressen den Rückgriff auf die Business Judgment Rule, unterliegt die Vorstandsentscheidung nicht im Sinne einer „Alles oder nichts“-Lösung ausnahmslos einer vollen gerichtlichen Kontrolle. Vielmehr hängt die Prüfungsdichte zum einen von der Schwere des Interessenkonflikts ab. Zum anderen kommt es darauf an, inwieweit die rechtliche Einordnung des Sachverhalts als Interessenkonflikt erkennbar war. Insbesondere wenn ein Geschäftsleiter unter Einfluss von gewichtigen, auf der Hand liegenden Sonder­ interessen steht, ist eine volle gerichtliche Kontrolle seiner Entscheidungen geboten (§ 9 IV 3). Darf das Vorstandsmitglied nicht davon ausgehen, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln, ist das Gericht zu einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle befugt (§ 9 IV 4). 31. Aufbauend auf den vorstehenden Ausführungen kann man zwischen drei Intensitätsstufen der gerichtlichen Inhaltskontrolle differenzieren. Am geringsten ist die richterliche Prüfungsdichte, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind; die Gerichte sind zu einer inhaltlichen Evidenzkontrolle befugt. Außerhalb des sicheren Hafens der Business Judgment Rule steigt die Kontrollintensität (§ 10 I). 32.  Ist das Gericht zu einer Evidenzkontrolle nach §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG ­befugt, steht dem Vorstandsmitglied spiegelbildlich ein unternehmerisches ­Ermessen zu. Greift die Business Judgment Rule nicht ein, weil das Vorstandsmitglied keine unternehmerische Entscheidung trifft, hat es aber eine Letztentscheidungskompetenz auf der Tatbestandsebene einer Konditionalnorm, ist in Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Dogmatik von einem Beurteilungsspielraum auszugehen. Etwaige Spielräume auf der Rechtsfolgenseite sind mit dem Begriff des Rechtsfolgenermessens zu umschreiben (§ 10 II). 33. Die Kategorisierung der Intensitätsstufen der richterlichen Kontrolle und den korrespondierenden Letztentscheidungskompetenzen der Vorstandsmit685

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

glieder erleichtert es, die eine gerichtliche Überprüfung der Vorstandsmaßnahmen zu strukturieren. Bevor sich ein Gericht mit einer Vorstandsentscheidung im Einzelnen auseinandersetzt, sollte es klären, wie intensiv es die Entscheidung inhaltlich kontrollieren darf. In einem ersten Schritt sollte es der Frage nachgehen, ob die Entscheidung im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegt und deshalb eine bloße Evidenzkontrolle angezeigt ist. Greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein, ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen, ob die Vorstandsentscheidung einer Vertretbarkeitskontrolle unterliegt oder ob eine volle Inhaltskontrolle statthaft ist (§ 10 III). 34. Die Ausgestaltung des Bestandssicherungssystems nach § 91 Abs. 2 AktG ist wegen der finalen Steuerung des Vorstands eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Allerdings spricht ein Vergleich mit der Prüfungsdichte bei existenzgefährdenden Maßnahmen (§ 8 I 3) dafür, die Einrichtung des Bestandssicherungssystems einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle zu unterwerfen (§ 11 I 1). 35. Die Business Judgment Rule ist auf die Einrichtung eines Organisationsund Risikomanagementsystems in Unternehmen aus regulierten Branchen nicht anwendbar, weil der Gesetzgeber in § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG eine Vorgewichtung zugunsten der Gläubigerund Gemeinwohlbelange vorgenommen hat. Anders als bei klassischen unternehmerischen Entscheidung darf der Vorstand also die Interessen der share­ holder und stakeholder nicht im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz abwägen (§ 11 I 2 a). 36. Gleichwohl weisen § 25a, § 25c Abs. 3-4b KWG, §§ 80, 81 WpHG, §§ 23, 26 ff. VAG eine starke finale Prägung auf und gewähren dem Normanwender einen Beurteilungsspielraum. Obwohl es sich um aufsichtsrechtliche Regelungen handelt, steht dieser diskretionäre Spielraum nicht der BaFin als der zuständigen Behörde zu. Vielmehr dürfen sich die Geschäftsleiter der regulierten Unternehmen gegenüber der BaFin und den Gerichten auf Letztentscheidungskompetenzen hinsichtlich der Ausgestaltung des Organisations- und Risikomanagementsystems berufen (§ 11 I 2 b). 37.  Die Vorstandsmitglieder von nicht-regulierten Aktiengesellschaften ge­ nießen hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ eines Compliance-Systems im Ausgangspunkt ein unternehmerisches Ermessen im Sinne des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG. Allerdings wird die Entscheidung gegen die Einrichtung einer Compliance-­Organisation nur in Ausnahmefällen einer gerichtlichen Evidenzkontrolle standhalten. Dagegen müssen die Gerichte die Spielräume der Geschäftsleiter respektieren, wenn sie die Ausgestaltung eines Compliance-­ Systems überprüfen (§ 11 I 3). 686

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38. Die Entscheidung des Vorstands über den Erwerb eines Unternehmens ist unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Die Durchführung der Due Diligence ist ein Teil der Informationsbeschaffung und unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle. Hält die Due Diligence der Vertretbarkeitskontrolle stand und handeln die Geschäftsleiter frei von Sonderinteressen, darf ein Gericht die Erwerbsentscheidung nur daraufhin überprüfen, ob sie völlig unverantwortlich ist (§ 11 II 2). Auch die Veräußerung eines Unternehmens ist eine unternehmerische Entscheidung, die nach Maßgabe des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG kontrolliert wird. Eine Pflicht zur Durchführung einer Vendor Due ­Diligence besteht nicht (§ 11 II 3). 39.  Die Entscheidung der Geschäftsleiter eines Zielunternehmens, eine Due Diligence zuzulassen, steht in einem Spannungsverhältnis mit der Verschwiegenheitspflicht nach § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG. Obwohl die Verschwiegenheitspflicht eine besondere Ausprägung der organschaftlichen Treuepflicht darstellt, ist die Gewährung einer Due Diligence eine unternehmerische Entscheidung, die unter den Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einer gerichtlichen Evidenzkontrolle unterliegt (§ 11 II 4). 40. Die Entscheidung über die Zulassung der Due Diligence und andere Maßnahmen der Geschäftsleiter der Zielgesellschaft können die Transaktion beeinflussen und werden deshalb seit jeher unter den Stichworten „Neutralitätspflicht“ und „Verhinderungsverbot“ diskutiert. Im Anwendungsbereich des Wertpapierübernahmerechts fällt insbesondere die Bestimmung der Kontrolldichte im Zusammenhang mit der Stellungnahme nach § 27 WpÜG und den Abwehrmaßnahmen nach § 33 WpÜG schwer, weil sich die Geschäftsleiter in einem übernahmebedingten Interessenkonflikt befinden. Jenseits des Übernahmerechts wirft die Behandlung von Investorenvereinbarungen und Business Combination Agreements zahlreiche Fragen im Hinblick auf die Leitungsautonomie des Vorstands auf (§ 11 II 5). 41.  Die Maßnahmen des Vorstands der Zielgesellschaft im Vorfeld einer Transaktion sind als unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu qualifizieren, weil der Vorstand allein dem Gesellschaftswohl verpflichtet ist. Im allgemeinen Aktienrecht folgt dies aus § 76 Abs. 1, § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG, im Wertpapierübernahmerecht zusätzlich aus § 3 Abs. 3 WpÜG. Die Maßnahmen liegen unabhängig davon, ob sie die Transaktion fördern oder zu verhindern versuchen, im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Etwaige Bindungen, die der Vorstand im Vorfeld einer Transaktion eingeht, verstoßen nicht gegen den Grundsatz der Leitungsautonomie. Im Gegenteil: Der Vorstand übt beim Abschluss einer Investorenvereinbarung die Leitungsautonomie aus (§ 11 II 6). 687

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42. Wie in anderen Fällen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG hängt die Intensität der gerichtlichen Kontrolle davon ab, ob die Vorstandsmitglieder vertretbar zu der Einschätzung gelangt sind, dass sie auf Grundlage angemessener Information handeln. Speziell im Hinblick auf die Stellungnahme nach § 27 Abs. 1 WpÜG ist es nicht zwingend, dass der Vorstand eine fairness opinion einholt. Der Vorstand kommt der Informationsbeschaffungsobliegenheit nicht nach, wenn er sich im Vorfeld des Angebots gegenüber dem Investor zu einer positiven Stellungnahme verpflichtet und sodann die Angebotsunterlage nicht mehr auswertet (§ 11 II 7). 43.  Vorstandsmitglieder sind während einer Transaktion für Interessenkonflikte besonders anfällig. Bei feindlichen Übernahmen resultieren die Sonder­ interessen aus dem Umstand, dass die Geschäftsleiter ihren Posten verlieren können. Bei freundlichen Übernahmen können etwaige Incentives des In­ vestors die Befangenheit auslösen. Ob die Vorstandsmitglieder einem übernahmebedingten Interessenkonflikt unterliegen, hängt maßgeblich von dem Transaktionsvolumen und der Akquisitionsphase ab (§ 11 II 8 a). 44.  Die übernahmebedingten Interessenkonflikte des Vorstands sind für die Stellungnahme nach § 27 WpÜG nicht relevant, wenn sie offengelegt werden. Diese Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen (§ 8 IV 6 b) ist gerechtfertigt, weil die Stellungnahme des Vorstands weder die Gesellschaft noch die Aktionäre bindet. Vielmehr führt die Offenlegung der Sonderinteressen dazu, dass die Aktionäre der Zielgesellschaft eine informierte und eigenverant­ wortliche Entscheidung über die Veräußerung der Aktien treffen können (§ 11 II 8 b). 45. Beruft sich der Vorstand auf § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG, um eine Abwehrmaßnahme zu rechtfertigen, dürfen die übernahmebedingten Interessenkonflikte nicht pauschal ausgeblendet werden; anderenfalls wäre das Regel-­ Ausnahme-Verhältnis in § 33 Abs. 1 WpÜG in sein Gegenteil verkehrt. Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass eine engmaschige Inhaltskontrolle von Maßnahmen, die unter § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 1 WpÜG fallen, den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck konterkarieren könnte, die Führung des Tagesgeschäfts und die Weiterverfolgung der bisherigen Unternehmensstrategie zu ermöglichen. Die Lösung ist auf der Darlegungs- und Beweislastebene zu suchen: Die Gesellschaft trifft in der Übernahmesituation – abweichend von den allgemeinen Grundsätzen (§  8 VI 1)  – keine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich des Interessenkonflikts, sondern die Übernahme erzeugt ein starkes Indiz für die Befangenheit, das die Geschäftsleiter entkräften müssen. Gelingt es ihnen, das Indiz zu entkräften, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ausgeschlossen (§ 11 II 8 c aa). 688

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

46. Der Vorstand ist zwar bei der Suche nach dem „Weißen Ritter“ (§ 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 2 WpÜG) durch übernahmebedingte Sonderinteressen beeinflusst, sie können sich aber dennoch auf die Business Judgment Rule berufen, wenn sie den Interessenkonflikt offenlegen. Wie bei der Stellungnahme nach § 27 WpÜG führt die Offenlegung dazu, dass die Aktionäre eine informierte Entscheidung zwischen dem ursprünglichen Bieter, dem „Weißen Ritter“ und dem Verbleib in der Gesellschaft treffen können (§ 11 II 8 c bb). 47. Liegt ein Übernahmeangebot nicht vor, trifft den Vorstand zwar kein Verhinderungsverbot aus § 33 Abs. 1 Satz 1 WpÜG, die Maßnahmen der Übernahmeprophylaxe müssen aber dem Gesellschaftswohl entsprechen (§ 76 Abs. 1, §  93 Abs.  1 Satz  1 AktG, §  3 Abs.  3 WpÜG). Ob sie im sicheren Hafen der ­Business Judgment Rule liegen, hängt maßgeblich davon ab, wie konkret die Übernahmemöglichkeit ist (§ 11 II 8 d). 48.  Die vorstehenden Grundsätze zur Behandlung von Interessenkonflikten können auf Erwerbsangebote übertragen werden, die nicht im Anwendungsbereich des Wertpapierübernahmerechts liegen (§ 11 II 8 e). 49.  Die Sonderinteressen können auch bei freundlichen Übernahmen zum Ausschluss der Business Judgment Rule führen. Schließt der Vorstand eine ­Investorenvereinbarung in der Erwartung ab, dass seine Position nach der Durchführung der Transaktion gestärkt wird, kann ein Interessenkonflikt die Entscheidungsprozedur so stören, dass keine Richtigkeitsvermutung aufgestellt werden kann. In einem solchen Fall ist das Gericht zu einer intensivierten Kontrolle der Investorenvereinbarung befugt (§ 11 II 8 f). 50. Soziale Aktivitäten des Vorstands, die unter dem Etikett „Corporate Social Responsibility“ diskutiert werden, stehen in einem Spannungsverhältnis mit dem Gesellschaftszweck, der im Zweifel auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist, und dem Unternehmensgegenstand, soweit die Satzung keine Gemeinwohlklausel enthält (§ 11 III 1). Dennoch handelt es sich bei solchen Aktivitäten um unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Sind die prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt, unterliegen die sozialen Maßnahmen einer inhaltlichen Evidenzkontrolle (§  11 III 2). 51. Die CSR-Reporting-Pflichten aus §§ 289b ff., 315 f. HGB beeinflussen die Organisationsverfassung der Aktiengesellschaft nicht. Ist das Unternehmen zur Berichterstattung verpflichtet, darf sich der Vorstand gegen die Verfolgung von sozialen Zielen entscheiden, muss dies aber nach § 289c Abs. 4 HGB begründen. Ergreift der Vorstand soziale Maßnahmen, darf er sich auf die Business Judgment Rule berufen. Sind die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 689

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

AktG erfüllt, werden die Entscheidungen im Regelfall der Evidenzkontrolle standhalten, weil der Gesetzgeber in § 289c Abs. 2 HGB zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Verfolgung von sozialen Zielen grundsätzlich billigt (§ 11 III 3). 52. Will der Vorstand etwaige nachteilige Angaben in der CSR-Erklärung nach § 289e Abs. 1 HGB weglassen, kann er die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht in Anspruch nehmen. Eine Evidenzkontrolle dieser Entscheidung verträgt sich nicht mit der konditionalen Struktur und dem Ausnahmecharakter des § 289e Abs. 1 HGB. Dennoch genießt der Vorstand auf einen tatbestandlichen Beurteilungsspielraum und ein Rechtsfolgenermessen (§ 11 III 4). Zu den §§ 12, 13: Kontrolle der Geschäftsleiter in GmbH und Personengesellschaft 1. Die Maßnahmen des Geschäftsführers, der als Verwaltungsorgan der GmbH agiert, können nach ähnlichen Grundsätzen gerichtlich kontrolliert werden wie die Entscheidungen des AG-Vorstands. Das GmbH-Gesetz kennt zum einen eine Vielzahl von konkret gefassten Vorgaben und bedient sich zum anderen der final formulierten Sorgfalts- und Treuepflichten, um das Verhalten der Geschäftsführer zu steuern (§ 12 I). Vor diesem Hintergrund ist die richterliche Prüfungsdichte in Anlehnung an die aktienrechtlichen Überlegungen zu bestimmen; das methodische Instrument ist die Analogie zu § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (§ 12 II). 2.  Beruft sich der Geschäftsführer auf die Business Judgment Rule, sind die GmbH-spezifischen Besonderheiten zu beachten. So können die Gesellschafter das Geschäftsführerverhalten qua Weisung steuern. Ist die Weisung konkret gefasst, wirkt sie wie eine Konditionalnorm; die Entscheidung des Geschäftsführers ist keine unternehmerische. Überlassen die Gesellschafter dem Geschäftsführer diskretionäre Spielräume, ist das Gericht lediglich zu einer Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle befugt. Die Kontrollintensität hängt von der privatautonomen Entscheidung der Gesellschafter ab. Trifft der Geschäftsführer eine außergewöhnliche Maßnahme, verliert er entgegen der herrschenden Auffassung nicht automatisch seine Letztentscheidungskompetenzen (§ 12 III). Vielmehr können die Gesellschafterbelange dadurch gewahrt werden, dass die Gerichte die Geschäftsführermaßnahme auf Vertretbarkeit – und nicht nur auf evidente Unverantwortlichkeit – überprüfen (§ 12 IV). 3. Wie im Aktienrecht setzt die Business Judgment Rule voraus, dass der Geschäftsführer zu der vertretbaren Einschätzung gelangt, auf angemessener ­Informationsgrundlage zu handeln (§ 12 V), und dass er nicht von Sonderin690

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

teressen beeinflusst ist (§ 12 VI 1). Ein GmbH-spezifischer Interessenkonflikt liegt vor, wenn der Geschäftsführer vom Selbstkontrahierungsverbot befreit ist und ein In-sich-Geschäft tätigt. Die Business Judgment Rule ist aber nicht pauschal ausgeschlossen, wenn der Geschäftsführer anderweitigen unternehmerischen Aktivitäten außerhalb der GmbH nachgeht oder ein Doppelmandat bekleidet (§ 12 VI 2). 4. Ist der Geschäftsführer befangen, kann er die Privilegierung des § 93 Abs. 1 Satz  2 AktG jedenfalls dann aufrechterhalten, wenn die Gesellschafter die Maßnahme in Kenntnis des Interessenkonflikts gestatten (§ 12 VI 3 a). Dies gilt nach richtiger, wenn auch umstrittener Auffassung auch dann, wenn der Geschäftsführer den Gesellschaftern seine Sonderinteressen offenlegt und keine Gestattung vorliegt (§ 12 VI 3 b). 5.  Die Pflichtenbindung der geschäftsführenden Gesellschafter einer Personengesellschaft ist im Gesetz nur fragmentarisch geregelt. Dennoch sind die Geschäftsleiter der Gesellschaft gegenüber zur Sorgfalt und Treue verpflichtet (§ 13 I 1). Wie im GmbH-Recht ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog anwendbar; §  708 BGB steht der Analogie nicht entgegen (§  13 I 2). Wie im Kapitalge­ sellschaftsrecht steuert die Business Judgment Rule die richterliche Prüfungsdichte. Sie greift ein, wenn der geschäftsführende Gesellschafter frei von Sonderinteressen zu einer vertretbaren Einschätzung gelangt, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Sind die Gesellschafter gegenüber dem Geschäftsleiter weisungsbefugt, schließt eine konditional formulierte Weisung das Ermessen aus. Die Business Judgment Rule ist auch ausgeschlossen, wenn der Geschäftsleiter eine außergewöhnliche Maßnahme im Sinne des §  116 Abs. 2 HGB trifft (§ 13 I 3). 6. Erhebt ein Gesellschafter einen Widerspruch, liegt dieser im sachlichen Anwendungsbereich des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, wenn die ursprüngliche Maßnahme eine unternehmerische Entscheidung war (§ 13 II 1). Der Widerspruch unterliegt einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn die prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt sind. Ist der Widerspruch nicht völlig unverantwortlich, setzt sich die unternehmerische Entscheidung des „passiven“ Gesellschafters durch (§ 13 II 2). Ist der Widerspruch nicht begründet, fällt es dem „aktiven“ Gesellschafter leichter, die evidente Verfehlung des Gesellschaftswohls durch den widersprechenden Gesellschafter darzulegen und zu beweisen (§ 13 II 3).

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Zu den §§ 14 bis 16: Kontrolle der Aufsichtsorgane 1. Der obligatorische Aufsichtsrat und seine Mitglieder werden durch subsumtionsfähige Vorschriften und Generalklauseln gesteuert, die als Einfallstore für die gerichtliche Kontrolle dienen können. Die Aufsichtsratsmitglieder sind der Gesellschaft gegenüber zur Sorgfalt und Treue verpflichtet. Außerdem müssen sie darauf hinwirken, dass der Aufsichtsrat als Kollegialorgan die ihm auferlegten Aufgaben erfüllt. Beschlüsse des Aufsichtsrats sind nichtig, wenn sie gegen Vorgaben verstoßen, die an das Gesamtorgan gerichtet sind. Insbesondere sind sie nichtig, wenn sie dem Gesellschaftswohl zuwiderlaufen (§ 14 I). 2. Wie im Vorstandsrecht ist auch im Recht des Aufsichtsrats zwischen drei Intensitätsstufen der richterlichen Inhaltskontrolle (Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, volle gerichtliche Kontrolle) zu unterscheiden. Dabei unterliegt eine unternehmerische Entscheidung des Aufsichtsrats einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn die Aufsichtsratsmitglieder frei von Sonderinteressen zu einer vertretbaren Einschätzung gelangen, auf angemessener Informationsgrundlage zu handeln. Für die Frage, ob eine Aufsichtsratsentscheidung unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ist, ist zum einen die normstrukturelle Analyse maßgeblich. Zum anderen kommt dem Adäquanzgedanke eine gesteigerte Bedeutung zu, weil die gerichtliche Überprüfung der Aufsichtsratsmaßnahmen auch dazu dient, die Leitungsautonomie des Vorstands zu sichern; es handelt sich um ein Instrument des Institutionenschutzes (§ 14 II). 3.  Die Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage durch den Aufsichtsrat sind im Vergleich zum Vorstandsrecht zu reduzieren, soweit der Aufsichtsrat auf die Informationsversorgung durch den Vorstand angewiesen ist. Dies gilt in zwei Situationen nicht: Zum einen, wenn der Aufsichtsrat greifbare Anhaltspunkte dafür hat, dass der Vorstand ihn nicht ausreichend mit Informationen versorgt, zum anderen, wenn der Aufsichtsrat Entscheidungen trifft, bei denen er zur selbständigen Informationsbeschaffung berufen ist (§ 14 III 1). 4. Die Informationsbeschaffung unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle (§ 14 III 2). Geht es um die Kontrolle eines einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, ist die individualistische Perspektive des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG maßgeblich. Im Rahmen der Beschlusskontrolle ist zwischen der Vorbereitung der Entscheidung durch einen Ausschuss und durch den Gesamtaufsichtsrat zu differenzieren. Im erstgenannten Fall kommt es darauf an, ob sich die Aufsichtsratsmehrheit vernünftigerweise auf den Ausschuss verlassen durfte. Im letztgenannten Fall liegt der Beschluss im sicheren Hafen, wenn so viele informierte Aufsichtsratsmitglieder für den Antrag abgestimmt haben, dass sie den Beschluss unabhän692

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

gig von den Stimmen der uninformierten Mitglieder tragen können (§  14 III 3). 5. Bei der Bestimmung der ermessensausschließenden Sonderinteressen ist zu beachten, dass die aktienrechtliche Konflikttoleranz eine Einschränkung des Konfliktbegriffs gebieten kann. Dabei ist zwischen verbandsinternen und verbandsexternen Konfliktquellen zu unterscheiden (§ 14 IV 1 a). Bei verbands­ internen Konfliktquellen spricht die Bedeutung der richterlichen Kontrolle als Instrument des Institutionenschutzes dafür, die Prüfungsdichte zu intensivieren (§ 14 IV 1 b). Bei verbandsexternen Konfliktquellen, die auf die gesetzlich vorgegebene Struktur des Aufsichtsrats zurückzuführen sind, ist der Begriff des Interessenkonflikts einzuschränken, um der aktienrechtlichen Konflikttoleranz gerecht zu werden (§ 14 IV 1 c). 6. Bei einer Kollegialentscheidung ist zwischen den Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder und auf den Aufsichtsratsbeschluss zu differenzieren. Die individualistische Perspektive des §  93 Abs. 1 Satz 2 AktG spricht dafür, dass verborgene Sonderinteressen eines Aufsichtsratsmitglieds seine Kollegen nicht infizieren. Legt das Mitglied den Interessenkonflikt offen und nimmt es an der Beratung oder Abstimmung teil, dürfen sich die übrigen Mitglieder auf die Business Judgment Rule nicht berufen. Die Teilnahme eines befangenen Aufsichtsratsmitglieds an der Beratung oder Abstimmung infiziert den Aufsichtsratsbeschluss unabhängig davon, ob der Konflikt offen oder verborgen ist (§ 14 IV 2). 7.  Die Auswahl der Vorstandsmitglieder und die Ausgestaltung des Anstellungsvertrags sind unternehmerische Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (§ 15 I 1 und 2 a). Die Festsetzung der Vorstandsvergütung nach § 87 Abs. 1 AktG unterliegt hingegen einer Vertretbarkeitskontrolle, weil der Gesetzgeber die Kriterien für die angemessene Vorstandsvergütung konkretisiert hat und ein verbandsinterner Interessenkonflikt für die Intensivierung der richterlichen Prüfung spricht (§ 15 I 2 b). Auch die Herabsetzung der Vergütung ist kein Fall der Business Judgment Rule, weil sich die inhaltliche Evidenzkontrolle nicht mit dem Schutz der Vorstandsinteressen verträgt (§ 15 I 2 c). 8. Die Abberufung der Vorstandsmitglieder ist keine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, weil § 84 Abs. 3 AktG eine konditionale Struktur aufweist. Auf der Tatbestandsebene hat der Aufsichtsrat keinen Beurteilungsspielraum, damit die Leitungsautonomie des Vorstands effektiv geschützt ist. Der Aufsichtsrat genießt aber ein Rechtsfolgenermessen (§ 15 I 3). Die vorstehenden Grundsätze gelten für die Abberufung der Aufsichtsratsmitglieder nach § 103 Abs. 3 AktG entsprechend (§ 15 I 4). 693

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

9. Die Frage, ob der Aufsichtsrat gem. § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG einen Katalog mit Zustimmungsvorbehalten aufstellt, liegt nicht im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule. Auch die Auswahl der zustimmungspflichtigen Maßnahmen ist keine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG; sie unterliegt der Vertretbarkeitskontrolle. Ein Ermessen genießt der Aufsichtsrat aber bei der Entscheidung, ob er einer unternehmerischen Maßnahme des Vorstands zustimmt (§ 15 II 1). 10.  Die Entscheidungen des Aufsichtsrats nach §§  88, 89, 112 AktG weisen eine funktionale Nähe zur Festsetzung der Vorstandsvergütung auf und unterliegen deshalb einer Vertretbarkeitskontrolle (§ 15 II 2). Dies gilt auch für die besonderen Zustimmungsvorbehalte nach §§  114, 115 AktG. Hier sprechen die verbandsinternen Interessenkonflikte der Aufsichtsratsmitglieder gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (§ 15 II 3). 11.  Die Zustimmung des Aufsichtsrats zu einer related party transaction (§§ 111a, 111b Abs. 1 AktG) ist eine unternehmerische Entscheidung, die einer inhaltlichen Evidenzkontrolle unterliegt, wenn die Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt sind (§ 15 II 4 a). Eine Intensivierung der richterlichen Prüfungsdichte kommt namentlich wegen Sonderinteressen der Aufsichtsratsmitglieder in Betracht, die aus einer Verbindung zu der nahe stehenden Person resultieren. Entscheidet der Gesamtaufsichtsrat unter Einhaltung des § 111b Abs. 2 AktG, der die Mitwirkung befangener Aufsichtsratsmitglieder verbietet, liegt die Zustimmung im sicheren Hafen der Business Judgment Rule; bei einem Verstoß gegen § 111b Abs. 2 AktG greift § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht ein (§ 15 II 4 b). Entscheidet ein Aufsichtsratsausschuss und nehmen befangene Aufsichtsratsmitglieder nach § 107 Abs. 3 Satz 6 AktG an der Beschlussfassung teil, ist die gerichtliche Inhaltskontrolle zu intensivieren (§ 15 II 4 c). 12.  Die vergangenheitsbezogene Kontrolle der Unternehmensleitung liegt nicht per se jenseits des sicheren Hafens der Business Judgment Rule (§ 15 III 1 und 2). So genießt der Aufsichtsrat unternehmerisches Ermessen, wenn er die Informationsrechte aus §§  90, 111 Abs.  2 AktG geltend macht. Das Er­ messen ist aber ausgeschlossen, wenn ein Aufsichtsratsmitglied befangen ist, weil er für einen (potentiellen) Wettbewerber tätig ist (§ 15 III 3). Auch die Entscheidung über die Verfolgung der Vorstandsinnenhaftung liegt nicht im sicheren Hafen. Zum einen hat der BGH in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung den final strukturierten § 111 Abs. 1 AktG konditionalisiert, zum anderen sprechen die verbandsinternen Sonderinteressen der Aufsichtsratsmitglieder gegen die Anwendung der Business Judgment Rule (§ 15 III 4). 694

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Zum Teil 3: Richterliche Kontrolldichte bei Verwaltungsorganen

13. Will der Aufsichtsrat vertrauliche Informationen weitergeben, die er vom Vorstand erhalten hat, spricht der Adäquanzgedanke gegen die Anwendung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Die Evidenzkontrolle verträgt sich nicht mit der Stellung des Vorstands als „Herr der Geschäftsgeheimnisse“; die engmaschige gerichtliche Kontrolle dient dem Institutionenschutz. Etwas anderes kommt aber in Betracht, wenn der Aufsichtsrat über die Weitergabe von Informationen entscheidet, die in seiner Sphäre liegen (§ 15 IV). 14. Die Stellungnahme des Aufsichtsrats nach § 27 WpÜG ist eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, die vorbehaltlich einer angemessenen Informationsgrundlage im sicheren Hafen liegt. Übernahmebedingte Interessenkonflikte der Aufsichtsratsmitglieder sind nicht relevant, wenn sie in der Stellungnahme offengelegt sind (§ 15 V 2). 15. Stimmt der Aufsichtsrat einer Abwehrmaßnahme des Vorstands gem. § 33 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 WpÜG zu, ist die bloße Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht angezeigt, weil die Aufsichtsratsmitglieder durch übernahmebedingte Sonderinteressen beeinflusst sind (§ 15 IV 3). Die Zustimmung des Aufsichtsrats ist nicht geeignet, die Interessenkonflikte des Vorstands zu neutralisieren, der die Abwehrmaßnahmen unter Berufung auf §  33 Abs.  1 Satz 2 Var. 3 WpÜG rechtfertigt (§ 15 IV 4). 16. Die gerichtliche Kontrolle der fakultativen Aufsichtsgremien hängt von der Ausgestaltung des Gesellschaftsvertrags bzw. der Satzung ab. Haben die Gesellschafter die Vorgaben der Überwachungsorgane nicht im Einzelnen festgelegt, richten sich die Aufgaben und Pflichten des fakultativen GmbH-Aufsichtsrats nach § 52 Abs. 1 GmbHG in Verbindung mit den aktienrechtlichen Vorschriften. Bei sonstigen Aufsichtsgremien spricht sich die herrschende Auffassung für eine Gesamtanalogie zu §§  116, 93 AktG, §§  43, 52 Abs.  1 ­GmbHG und §§ 34, 41 GenG, was für die GmbH und die Publikumspersonengesellschaften überzeugt. Bei gesetzestypischen Personengesellschaften liegt der Rückgriff auf § 280 Abs. 1 BGB näher (§ 16 I). 17. Die Gesellschafter können die richterliche Prüfungsdichte hinsichtlich der fakultativen Aufsichtsgremien im Gesellschaftsvertrag steuern. Hat ein Überwachungsorgan die Befugnis, das Gesellschaftswohl selbständig zu definieren, ist § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog heranzuziehen, um die Intensität der gerichtlichen Inhaltskontrolle zu bestimmen. Dies kommt etwa bei Personalmaßnahmen oder Zustimmungsvorbehalten in Betracht (§ 16 II 1). Greift die Business Judgment Rule nicht ein, können sich ein Beurteilungsspielraum und ein Rechtsfolgenermessen aus der gesellschaftsvertraglichen Regelung ergeben (§ 16 II 2). 695

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

18. Trifft das Aufsichtsgremium eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, unterliegt sie einer inhaltlichen Evidenzkon­ trolle, wenn sie auf Grundlage angemessener Information und frei von Sonder­ interessen getroffen wurde. Die Anforderungen an die Angemessenheit der Informationsgrundlage hängen von den Informationsquellen des Aufsichtsgremiums ab (§ 16 III). Im Zusammenhang mit den Interessenkonflikten ist eine etwaige Konflikttoleranz des Gesellschaftsvertrags zu beachten (§ 16 IV).

Zum Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern 1. Das Gesellschaftsrecht formuliert nur vereinzelt inhaltliche Vorgaben an die Gesellschafter, die im Rahmen der Beschlussfassung zu berücksichtigen sind. Die materielle Beschlusskontrolle stützt sich auf Generalklauseln wie das Gleichbehandlungsgebot oder die mitgliedschaftliche Treuepflicht. Rechtsprechung und Wissenschaft haben namentlich die Treuepflicht zum rechtsform­ übergreifenden Kontrollinstrument entwickelt (§ 17 I). 2.  Im Kapitalgesellschaftsrecht griffen die Gerichte zunächst nicht auf die Treuepflicht zurück, um Konflikte zwischen den Gesellschaftern zu schlichten, sondern sie bevorzugten die allgemeinen zivilrechtlichen Schranken aus §§ 128, 226, 826 BGB und das (formell verstandene) Gleichbehandlungsgebot (§ 17 II 1). Erst in den 1970er Jahren bejahte der BGH im ITT-Urteil die mitgliedschaftliche Treuepflicht zwischen den GmbH-Gesellschaftern und schuf im Kali und Salz-Urteil den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung, um den Aktionärsschutz bei einer bezugsrechtslosen Kapitalerhöhung zu gewährleisten. Der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung entwickelte sich in der Folgezeit nicht zu einem flächendeckenden Kontrollinstrument. Vielmehr erkannte der BGH im Linotype-Urteil an, dass der Mehrheitsaktionär der Minderheit gegenüber zur Loyalität verpflichtet ist (§ 17 II 2). Im Girmes-Urteil bejahte er schließlich die Treuepflicht der Minderheit zugunsten der Mehrheit (§ 17 II 3). 3.  Im Personengesellschaftsrecht ist es seit jeher anerkannt, dass die Treuepflicht ein Instrument zur Lösung der Konflikte zwischen den Gesellschaftern ist. Dennoch stand nicht die Treuepflicht im Zentrum der Debatte um die Kontrolle der Mehrheitsbeschlüsse in einer Personengesellschaft. Vielmehr versuchten Rechtsprechung und Schrifttum, die Minderheit mit Hilfe des Bestimmtheitsgrundsatzes (§ 17 III 1) und der Kernbereichslehre (§ 17 III 2) vor der Mehrheitsmacht zu schützen. In den 2000er Jahren distanzierte sich der BGH schrittweise von diesen Instrumenten zugunsten der treuepflichtgestützten Beschlusskontrolle (§ 17 III 3). 696

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Zum Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern

4. Das Schrifttum steht der Rechtsprechung zur materiellen Beschlusskontrolle zum Teil kritisch gegenüber. Im Kapitalgesellschaftsrecht wird die normative Verankerung des Grundsatzes sachlicher Rechtfertigung und der mitgliedschaftlichen Treuepflicht vermisst. Im Personengesellschaftsrecht wird wegen der Abkehr von der Kernbereichslehre der Verlust an Rechtssicherheit und die Verschlechterung des Minderheitenschutzes befürchtet (§ 17 IV 1). Während die Vorbehalte gegen die treuepflichtgestützte Beschlusskontrolle nicht gerechtfertigt sind, ist der Kritik am Grundsatz sachlicher Rechtfertigung beizupflichten. Der Grundsatz sachlicher Rechtfertigung ist aufzugeben (§ 17 IV 2). 5. Da die Konflikte zwischen den Gesellschaftern bei der Gründung der Gesellschaft nicht im Einzelnen vorhersehbar sind, bedarf es einer Generalklausel, die ein opportunistisches Verhalten der Gesellschafter verbietet. Diese Funktion erfüllt die mitgliedschaftliche Treuepflicht, die nach herkömmlicher Dogmatik im Vertikalverhältnis, also zwischen der Gesellschaft und den Gesellschaftern, und im Horizontalverhältnis, also unter den Gesellschaftern, besteht. Im Vertikalverhältnis müssen die Gesellschafter auf den Gesellschaftszweck und das Gesellschaftsinteresse, im Horizontalverhältnis auf die Belange der Mitgesellschafter Rücksicht nehmen (§ 17 V 1). 6. Die Unterscheidung zwischen der vertikalen und horizontalen Treuepflicht ist unnötig kompliziert und zugunsten eines einheitlichen Treuepflichttatbestandes zwischen der Gesellschaft und Gesellschaftern aufzugeben. Die Pflicht der Gesellschafter, das Gesellschaftsinteresse zu wahren, umfasst die Pflicht, auf die Belange der Mitgesellschafter Rücksicht zu nehmen. Anders als der statische Gesellschaftszweck ist das Gesellschaftsinteresse in jeder Beschluss­ situation durch Abwägung der widerstreitenden Gesellschafterbelange zu bestimmen (§ 17 V 2). 7. Nach der herkömmlichen Auffassung ist die materielle Beschlusskontrolle keine echte Beschlusskontrolle, sondern eine Stimmausübungskontrolle. Eine treupflichtwidrige Stimme ist nichtig und wird bei der Stimmauswertung nicht berücksichtigt. Richtet man die Beschlusskontrolle mit der hier vertretenen Ansicht an der Treuepflicht des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft aus, unterliegt der Beschluss als Verkörperung des Gesellschaftswillens der richterlichen Überprüfung. Damit fügt sich zum einen die Konstruktion der positiven Beschlussfeststellungsklage in die Dogmatik ein. Zum anderen lässt sich erklären, wieso die Treuepflicht auch bei Zufallsmehrheiten und Zufallssperrminoritäten eingreift. Schließlich vermeidet man die unnötige sozialethische Aufladung der Treuepflicht (§ 17 V 3).

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

8. Ob ein Beschluss der treuepflichtgestützten Kontrolle standhält, ist im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu untersuchen. Das Gericht prüft, ob die Gesellschafterinteressen in die Abwägung einbezogen und im Sinne des Gebots praktischer Konkordanz in einen Ausgleich gebracht wurden. Maßgeblich ist dabei, ob der Beschlussgegenstand auf einen legitimen Zweck gerichtet sein. Zudem muss die beschlossene Maßnahme für die Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sein. An der Erforderlichkeit fehlt es, wenn dasselbe Ziel mit weniger einschneidenden Instrumenten erreicht werden kann. Schließlich muss die Maßnahme angemessen sein (§ 17 VI 1). 9.  Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auch im Personengesellschaftsrecht durchzuführen. Die Kernbereichslehre und die unverzichtbaren Mitgliedschaftsrechte sind als dogmatische Kategorien überflüssig. Gibt man sie auf, ist weder ein Verlust der Rechtssicherheit noch eine Verschlechterung des Minderheitenschützes zu befürchten. Vielmehr ist die offene Abwägungskontrolle am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips das methodisch ehrlichere Konzept, das den Richter zur Offenlegung der Beurteilungsparameter zwingt (§ 17 VI 2). 10. Die Aufgabe der horizontalen Treuepflicht zugunsten eines einheitlichen Treuepflichttatbestandes ist auch jenseits der Willensbildungskontrolle nicht mit einer Verschlechterung des Minderheitenschutzes verbunden. Führt ein Treuepflichtverstoß zu Vermögenseinbußen der Gesellschafter, können diese die Gesellschaft nach § 280 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Ansprüche gegen die Gesellschafter können sie auf § 826 BGB stützen. Soweit das frühere Schrifttum etwaige „Marktkonflikte“ mit Hilfe der Treuepflicht zu lösen versuchte, stellt nunmehr das geschriebene Recht ausreichende Schutzinstrumente zur Verfügung; zu nennen ist etwa das Wertpapierübernahmerecht (§ 17 VII). 11. Nach herrschender Auffassung steht die Letztentscheidungskompetenz im Rahmen der Interessenabwägung den Gesellschaftern zu. Dabei greifen einige Autoren auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zurück, um die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der diskretionären Spielräume zu konkretisieren (§ 18 I 1). Dem ist zuzustimmen. Wenn sich die Verwaltungsorgane auf die Verbandsautonomie berufen dürfen, um die Intensität der richterlichen Inhaltskontrolle zu reduzieren, muss dies auch den Gesellschaftern möglich sein (§ 18 I 2). Dabei kann der prozedurale Ansatz der Business Judgment Rule auch im Rahmen der Kontrolle der Gesellschafterbeschlüsse die richterliche Prüfungsdichte steuern (§ 18 I 3).

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Zum Teil 4: Intensität der Willensbildungskontrolle bei Gesellschaftern

12. Wie im Recht der Verwaltungsorgane bietet es sich auch bei Gesellschafterbeschlüssen an, zwischen drei Stufen der Kontrollintensität zu differenzieren. Sind alle Voraussetzungen des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG erfüllt, unterliegt der Beschluss einer inhaltlichen Evidenzkontrolle. Überschreiten die Gesellschafter die Ermessensgrenzen, leidet der Beschluss an einem Inhaltsfehler. Fehlt eine prozedurale Voraussetzung, schwankt die Prüfungsdichte zwischen der Vertretbarkeitskontrolle und der vollen gerichtlichen Kontrolle (§ 18 II). 13.  Die mitgliedschaftliche Loyalitätsbindung führt nicht dazu, dass Gesellschafterbeschlüsse keine unternehmerischen Entscheidungen im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sind. Da die Treuepflicht eine final strukturierte Vorgabe ist, liegen Gesellschafterbeschlüsse in der Regel im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule (§ 18 III). 14. Die Informationsbeschaffung ist eine zentrale prozedurale Voraussetzung bei der materiellen Beschlusskontrolle, weil die Gesellschafter schon bei der Aufarbeitung der Entscheidungsgrundlagen die abwägungsrelevanten Belange berücksichtigen müssen. Die Anforderungen an die Angemessenheit hängen vom Gewicht des Beschlussgegenstandes und von der Frage ab, wie schnell die Gesellschafter handeln müssen (§ 18 IV 2). 15.  War die Informationsgrundlage unzureichend, hängen die Rechtsfolgen von der Art und Weise der Informationsbeschaffung ab. Waren die Verwaltungsorgane für die Entscheidungsvorbereitung zuständig, ist der Beschluss wegen eines Verfahrensfehlers mangelhaft. Oblag die Entscheidungsvorbereitung den Gesellschaftern, ist eine Vertretbarkeitskontrolle angezeigt. Dabei kommt es bei einem Mehrheitsbeschluss darauf an, ob alle oder nur ausgewählte Gesellschafter („Berichterstatter“) die Informationen beschaffen sollten. Im erstgenannten Fall ist die Entscheidungsprozedur eingehalten, wenn so viele informierte Gesellschafter für den Antrag abgestimmt haben, dass sie den Beschluss alleine tragen können. Im letztgenannten Fall kommt es auf den Informationsstand der „Berichterstatter“ an; die übrigen Gesellschafter dürfen sich auf die „Berichterstatter“ verlassen (§ 18 IV 3 und 4). 16. Die im Recht der Verwaltungsorgane gewonnen Erkenntnisse zu den Auswirkungen der Interessenkonflikte auf die richterliche Prüfungsdichte können nicht ohne weiteres auf die Gesellschafterbeschlüsse übertragen werden, weil die Gesellschafter immer über eigene Angelegenheiten entscheiden und dadurch latent befangen sind. Deshalb kommt die Anwendung der Business Judgment Rule erst bei einem qualifizierten Interessenkonflikt nicht in Betracht (§ 18 V 2).

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

17.  Ein qualifizierter Interessenkonflikt liegt zum einen vor, wenn der Beschluss einen Sondervorteil – der in Anlehnung an § 243 Abs. 2 Satz 1 AktG bestimmt werden kann – für einen oder mehrere Gesellschafter nach sich zieht (§  18 V 3 a). Zum anderen ist eine bloße Evidenzkontrolle nicht angezeigt, wenn der Beschluss zu einem Sondernachteil auf Seiten mancher Gesellschafter führt (§  18 V 3 b). Zudem ist das Relevanzkriterium zu beachten (§  18 V 3 c). Subjektive Kriterien spielen hingegen keine Rolle (§ 18 V 4). 18. Entgegen der herrschenden Auffassung ist es irrelevant, ob die Stimmen der befangenen Gesellschafter das Beschlussergebnis tragen. Eine starre Mehrheitsbetrachtung wird der Komplexität der Lage in der Beschlusssituation nicht gerecht (§ 18 V 5). Deshalb ist eine differenzierte Lösung vorzugswürdig, die sich an der Realstruktur der Gesellschaft orientiert (§ 18 V 6 a). Liegt ein qualifizierter Interessenkonflikt vor, ist eine volle gerichtliche Inhaltskontrolle angezeigt, wenn ein starker Gesellschafter die Beschlussfassung steuern kann und die Gesellschafter ihre Anteile nicht am liquiden Markt veräußern können. Befinden sich die Gesellschaftsanteile im Streubesitz und können sie am Markt gehandelt werden, wirkt sich der Interessenkonflikt nicht gleichermaßen auf den Beschluss aus, so dass eine inhaltliche Vertretbarkeitskontrolle geboten ist (§ 18 V 6 b und c). 19. Die Beweislastlastumkehr, die in § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG für Haftungsfälle angeordnet ist, ist im Rahmen der materiellen Beschlusskontrolle nicht angezeigt, weil sie den Grundsatz der Verbandsautonomie beeinträchtigen könnte. Deshalb tragen die klagenden Gesellschafter grundsätzlich die Darlegungsund Beweislast für das Fehlen der prozeduralen Voraussetzungen der Business Judgment Rule. Wenn sie eine Intensivierung der materiellen Beschlusskon­ trolle erreichen möchten, können sie zum einen beweisen, dass der Beschluss auf unzureichender Informationsgrundlage gefasst wurde. Zum anderen können sie Tatsachen darlegen, aus denen ein qualifizierter Interessenkonflikt ­resultiert. Diese Beweislastverteilung wahrt den Grundsatz der Verbands­ autonomie, weil sie die Argumentationslast im Hinblick auf die Beachtung des Gesellschaftsinteresses angemessen verteilt (§ 18 VI 2).

Zum Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle 1.  Beschließt die Hauptversammlung über die Zustimmung zu einem Verzichts- oder Vergleichsvertrag zwischen einem Vorstandsmitglied und der vom Aufsichtsrat vertretenen Gesellschaft, trifft sie eine unternehmerische 700

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Zum Teil 5: Schnittstellen zwischen Verwaltungs- und Gesellschafterkontrolle

Entscheidung, die nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu kontrollieren ist. Der Beschluss unterliegt einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn die Aktionäre frei von qualifizierten Interessenkonflikten entschieden haben und davon ausgehen durften, vom Aufsichtsrat über den Verzichts- oder Vergleichsvorschlag angemessen informiert zu sein (§ 19 III). 2. Der Verzichts- und Vergleichsvorschlag des Aufsichtsrats sind unternehmerische Entscheidungen. Der Aufsichtsrat unterliegt weder den ARAG/Garmenbeck-Bindungen noch genießt er ein freies Ermessen (§ 19 IV 1). Da der Aufsichtsratsvorschlag eine prozedurale Voraussetzung für das unternehme­ rische Ermessen der Hauptversammlung ist, unterliegt er nicht nur einer inhaltlichen Evidenzkontrolle nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Vielmehr ist eine Vertretbarkeitskontrolle angezeigt, um die Lockerung der richterlichen Prüfungsdichte hinsichtlich des Hauptversammlungsbeschlusses zu rechtfertigen (§ 19 IV 2). 3. Will man entgegen der hier vertretenen Auffassung die Business Judgment Rule auf den Aufsichtsratsvorschlag anwenden, ist der latente verbandsinterne Interessenkonflikt der Aufsichtsratsmitglieder zu berücksichtigen, der aus dem Umstand resultiert, dass dem Aufsichtsrat ein Überwachungsversagen vorgeworfen werden kann. Die Möglichkeit, dass der Aufsichtsrat den Vorstand unzureichend überwacht hat, führt dazu, dass die Grundsätze der sekundären Darlegungslast  – die im Regelfall im Hinblick auf den Interessenkonflikt zu beachten sind (§ 8 VI 1) – nicht eingreifen. Die Aufsichtsratsmitglieder müssen darlegen und beweisen, dass sie kein Überwachungsverschulden trifft (§  19 IV 3). 4. Die Initiative des Vorstands, frisches Eigenkapital zu beschaffen, ist eine unternehmerische Entscheidung, die nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kontrolliert wird (§ 20 II 1). Dies gilt auch für den Beschluss der Hauptversammlung, das Grundkapital zu erhöhen oder den Vorstand zu ermächtigen, genehmigtes Kapital zu nutzen (§ 20 II 2). Die Durchführung der Kapitalerhöhung liegt nicht im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule, es sei denn, die Hauptversammlung hat den Verwaltungsorganen die Festlegung der Durchführungsmodalitäten überlassen (§ 20 II 3). 5. Die Anwendung der Business Judgment Rule ist problematisch, wenn die Hauptversammlung das Bezugsrecht der Aktionäre ausschließt. Zwar ist der Bezugsrechtsausschluss eine unternehmerische Entscheidung (§  20 III 2 b), § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG greift aber wegen eines qualifizierten Interessenkonflikts nicht ein, wenn die jungen Aktien einem Aktionär zugeteilt werden. Dies gilt auch für den Fall, in dem mit dem Bezugsrechtsausschluss eine Anteilsver701

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

wässerung einhergeht, die dazu führt, dass die Minderheitsaktionäre nach der Durchführung der Kapitalerhöhung die Möglichkeit verlieren, die aktienrechtlichen Schutzinstrumente zu nutzen. Ein qualifizierter Interessenkonflikt liegt in der Regel nicht vor, wenn die jungen Aktien einem externen Investor zugeteilt oder auf einem ausländischen Kapitalmarkt platziert werden; in diesen Fällen sind alle Aktionäre gleichermaßen betroffen (§ 20 III 2 c). 6.  Schließt der Vorstand das Bezugsrecht aufgrund eines Ermächtigungsbeschlusses der Hauptversammlung mit Zustimmung des Aufsichtsrats aus, trifft er zwar eine unternehmerische Entscheidung, die aber nicht durch die Business Judgment Rule geschützt ist. Der Umstand, dass die Verwaltungsorgane die Aktionariatsstruktur beeinflussen, führt zu einer Störung des Corporate-­ Governance-Gefüges. Die Verwaltungsorgane sind einem verbandsinternen Interessenkonflikt ausgesetzt, der einer inhaltlichen Richtigkeitsvermutung entgegensteht und für eine Intensivierung der richterlichen Kontrolle spricht (§ 20 III 2 d). 7. Die vorstehenden Grundsätze sind auf den Fall zu übertragen, in dem die Hauptversammlung oder die Verwaltungsorgane den Bezugspreis so festgelegt haben, dass das Bezugsrecht faktisch ausgeschlossen ist (§ 20 III 3 a). Ist das Bezugsrecht förmlich ausgeschlossen, greift die Business Judgment Rule im Rahmen der Angemessenheitskontrolle nach § 255 Abs. 2 AktG nicht ein (§ 20 III 3 b). In Fällen des faktischen Bezugszwangs hängt die Intensität der richterlichen Kontrolle maßgeblich davon ab, ob die Festsetzung des Bezugspreises durch Sonderinteressen der Aktionäre oder Verwaltungsorgane beeinflusst war (§ 20 III 3 c). 8.  Unternehmen die Gesellschafter einen Sanierungsversuch, beschließen sie zunächst eine Kapitalherabsetzung, um die Unterbilanz zu beseitigen (sog. Buchsanierung); dem folgt eine Kapitalerhöhung. Im Kapitalgesellschaftsrecht ist dieses Verfahren gesetzlich geregelt (§§ 222 ff. AktG, §§ 58 ff. GmbHG). Im Personengesellschaftsrecht wird es auf kautelarjuristischer Grundlage nachgebildet, wobei der Sanierungsbeschluss meist vorsieht, dass die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter aus der Gesellschaft ausscheiden (sog. „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss). Die Sanierungsbeschlüsse können im Kapitalgesellschafts- wie im Personengesellschaftsrecht aus zwei Gründen Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung sein. Zum einen können die Sanierungsbeschlüsse die Interessen der (ggf. nicht sanierungsbereiten) Gesellschafter beeinträchtigen. Zum anderen können sanierungswillige Gesellschafter gerichtliche Hilfe ersuchen, wenn die für den Beschluss erforderliche Mehrheit nicht erreicht wurde (§ 20 IV 1). 702

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9. Im Aktienrecht dreht sich die bisherige Diskussion um die Frage, ob Sanierungsbeschlüsse sachlich gerechtfertigt sein müssen (§ 20 IV 1 a). Hält man den Grundsatz sachlicher Rechtfertigung mit der hier vertretenen Auffassung für überholt, sind Sanierungsbeschlüsse am Maßstab der mitgliedschaftlichen Treuepflicht unter Heranziehung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG zu überprüfen. Sie haben unternehmerische Entscheidungen zum Gegenstand, die aber nicht im sicheren Hafen der Business Judgment Rule liegen, wenn die Aktionäre bei der Beschlussfassung durch Sonderinteressen beeinflusst waren. Der Befangenheitsbegriff ist in Anlehnung an die Grundsätze zu konkretisieren, die für den Bezugsrechtsausschluss herausgearbeitet wurden. Verlieren etwa manche Aktionäre im Zuge der Sanierungsmaßnahme die Mitgliedschaft oder die Möglichkeit, aktienrechtliche Schutzinstrumente zu benutzen, liegt darin ein Sondernachteil, der zu einer Intensivierung der richterlichen Kontrolle führt (§ 20 IV 2 a). 10.  Im Personengesellschaftsrecht dreht sich die Diskussion um die „Treuepflicht zur Zustimmung zu eigenem Rauswurf “. Die herrschende Meinung hält die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter für verpflichtet, dem „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss zuzustimmen, wenn das Sanierungskonzept im Vergleich zur Liquidation wirtschaftlich sinnvoll ist, die Fortführung der Gesellschaft mit den nicht sanierungsbereiten Gesellschaftern für die sanierungswilligen Gesellschafter unzumutbar ist und die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter durch ihr Ausscheiden nicht schlechter gestellt werden als bei der Liquidation (§  20 IV 1 b). Diese Konstruktion ist ein Überbleibsel der Kernbereichslehre, die nach der hier vertretenen Auffassung überflüssig ist und deshalb aufgegeben werden sollte (§ 17 VI 2). Es ist vorzugswürdig, den „Sanieren oder Ausscheiden“-Beschluss einer treuepflichtgestützten Kontrolle zu unterwerfen. Der Beschluss liegt nicht im sicheren Hafen der Business Judgment Rule, weil die nicht sanierungsbereiten Gesellschafter einen Sondernachteil erleiden, der einen qualifizierten Interessenkonflikt begründet und eine volle Inhaltskontrolle gebietet (§ 20 IV 2 b). 11. Scheitert ein Sanierungsbeschluss an der erforderlichen Mehrheit, können die sanierungswilligen Gesellschafter eine positive Beschlussfeststellungsklage erheben. Das Gericht überprüft, ob der negative Beschluss im Einklang mit dem Gesellschaftsinteresse steht. Da der Beschluss eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand hat, unterliegt er einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, es sei denn, die Ablehnung des Antrags beruht auf einer nicht an­ gemessenen Informationsgrundlage oder die nicht sanierungsbereiten Ge­ sellschafter standen unter Einfluss von qualifizierten Sonderinteressen (§ 20 IV 3). 703

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

12. Ermächtigt die Hauptversammlung nach § 33 Abs. 2 WpÜG den Vorstand, Abwehrmaßnahmen gegen (potentielle) Übernahmeangebote zu ergreifen, trifft sie eine unternehmerische Entscheidung, die im sachlichen Anwendungsbereich der Business Judgment Rule liegt. Der Ermächtigungsbeschluss unterliegt einer inhaltlichen Evidenzkontrolle, wenn er auf angemessener Informationsgrundlage und unbeeinflusst von qualifizierten Interessenkonflikten gefasst wurde (§ 21 II). 13.  Abwehrmaßnahmen, die auf den Ermächtigungsbeschluss gestützt sind, müssen dem Gesellschaftsinteresse entsprechen. Als unternehmerische Entscheidungen sind sie durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG geschützt, wenn die Verwaltungsorgane zu einer vertretbaren Einschätzung gelangen, dass sie auf angemessener Informationsgrundlage handeln. Übernahmebedingte Interessenkonflikte werden durch den Ermächtigungsbeschluss neutralisiert (§ 21 III). 14. Maßnahmen auf dem Weg zur Gewinnverwendung erfordern ein Zusammenspiel zwischen Verwaltungsorganen und Gesellschaftern. Im Kapitalgesellschaftsrecht sind die einzelnen Schritte – Gewinnermittlung, Gewinnverwendung, Gewinnverteilung – und die Zuständigkeiten gesetzlich geregelt. Im Personengesellschaftsrecht sind die Regelungen weniger eindeutig, es ist aber ein vergleichbarer Dreischritt erforderlich (§ 22 I). 15. Das Bilanzrecht räumt den Gesellschaftern einige Spielräume im Rahmen der Gewinnermittlung ein, die im Schrifttum zum Teil als ein Einfallstor für die Anwendung der Business Judgment Rule angesehen werden (§  22 II 1). Richtigerweise sind Bilanzierungsentscheidungen der Geschäftsleiter nicht unternehmerisch im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, weil bilanzrechtliche Normen konditional strukturiert sind und in erster Linie dem Gläubigerschutz dienen (§ 22 II 2). Da das Bilanzrecht vom normativ-subjektiven Fehlerbegriff ausgeht, ist die Anwendung der Business Judgment Rule nicht erforderlich (§ 22 II 3). 16. Die Ergebnisverwendung durch die Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft (§ 58 Abs. 2 AktG) ist eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. Der inhaltlichen Evidenzkontrolle steht der institutionalisierte Interessenkonflikt nicht entgegen, der aus dem Umstand re­ sultiert, dass die Verwaltungsorgane zur Gewinnthesaurierung tendieren, um ihren eigenen Einflussbereich zu erweitern. Dies gilt auch für den Fall, dass die Organe den Gewinn nicht thesaurieren, um eine Ausschüttung an einen Großaktionär zu ermöglichen; die Regelungen über den faktischen Konzern sorgen für ausreichende Schutzmechanismen. Die Verwaltungsorgane überschreiten aber die Ermessensgrenzen, wenn ihre Entscheidung zu einer Bestandsgefährdung führt (§ 22 III 1). 704

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17. Der Gewinnverwendungsvorschlag der Verwaltungsorgane einer Aktiengesellschaft (§ 123 Abs. 3, 170 Abs. 2 AktG) ist zwar eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, er unterliegt aber dennoch einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle, weil er die Grundlage für das unternehmerische Ermessen der Hauptversammlung schafft. Eine intensivere Überprüfung des Gewinnverwendungsvorschlags kompensiert die gelockerte Inhaltskontrolle des Gewinnverwendungsbeschlusses (§ 22 III 2). 18. Der Gewinnverwendungsbeschluss der Hauptversammlung ist eine unternehmerische Entscheidung, die nach Maßgabe des §  93 Abs.  1 Satz  2 AktG kontrolliert wird. Da die Aktionäre ihr eigennütziges Recht ausüben und die Relevanzschwelle deshalb anzuheben ist, liegt ein qualifizierter Interessenkonflikt in der Regel nicht vor. Das unternehmerische Ermessen ist zum einen „nach oben“ dadurch begrenzt, dass die Hauptversammlung keine bestandsgefährdende Ausschüttung beschließen darf. Zum anderen markiert § 254 Abs. 1 AktG eine Ermessensgrenze „nach unten“, die überschritten ist, wenn die Aktionäre keine Dividende in Höhe von 4% des Grundkapitals erhalten. Ob die (vollständige) Gewinnthesaurierung bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung notwendig ist, unterliegt einer inhaltlichen Vertretbarkeitskontrolle. Die bloße Evidenzkontrolle steht im Widerspruch mit der Systematik und der minderheitsschützenden Ausrichtung des § 254 Abs. 1 AktG (§ 22 IV 1). 19.  Der Gewinnverwendungsbeschluss der GmbH-Gesellschafter unterliegt der treuepflichtgestützten Inhaltskontrolle. Er ist eine unternehmerische Entscheidung im Sinne des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, die auf völlige Unverantwortlichkeit zu überprüfen ist, wenn die Voraussetzungen der Business Judgment Rule erfüllt sind. Die Ermessensgrenzen sind dann überschritten, wenn die Gewinnausschüttung zu einer Bestandsgefährdung führt. Die Kontrollintensität ist zu erhöhen, wenn sich die Gesellschafter in einem qualifizierten Interessenkonflikt befinden. Ein solcher Interessenkonflikt liegt insbesondere dann vor, wenn die Gesellschafterversammlung die vollständige Gewinnthesaurierung beschließt und einzelne Gesellschafter nicht auf die Dividende angewiesen sind, weil sie sich über anderweitige Einkünfte aus einer Vertragsbeziehung mit der Gesellschaft finanzieren können (§ 22 IV 2). 20. Die für die GmbH geltenden Grundsätze sind im Ausgangspunkt auf den Gewinnverwendungsbeschluss einer Personengesellschaft zu übertragen. Der Beschluss hat eine unternehmerische Entscheidung zum Gegenstand, die nach Maßgabe des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG überprüft wird. Wie im Kapitalgesellschaftsrecht ist das Verbot der Bestandsgefährdung eine Ermessensgrenze „nach oben“. Enger als im Kapitalgesellschaftsrecht sind die Ermessensgrenzen „nach unten“. Der Gewinn der Gesellschaft, der mit dem Thesaurierungsbe705

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Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

schluss einhergeht, wird steuerrechtlich den Gesellschaftern zugerechnet. Im Hinblick darauf spricht viel dafür, dass der Beschluss völlig unverantwortlich ist, wenn die Gesellschafter nicht mal den Betrag erhalten, den sie für die Begleichung der Steuerschuld benötigen, die aus der Mitgliedschaft resultiert (§ 22 IV 3). 21. Trifft ein Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH eine unternehmerische Entscheidung, ist mit der herrschenden Ansicht im Schrifttum (§ 23 I) bei der Anwendung der Business Judgment Rule zu beachten, dass der Gesellschafter nicht nur organschaftliche Sorgfalts- und Treuepflichten beachten muss, sondern auch mitgliedschaftlichen Loyalitätsbindungen unterliegt. Die mitgliedschaftlichen Bindungen führen aber nicht per se zum Ausschluss des unternehmerischen Ermessens, weil sich die Gesellschafter ebenfalls auf § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG berufen dürfen. Maßgeblich ist deshalb, ob der Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund seiner Doppelrolle einem ermessensausschließenden Interessenkonflikt unterliegt (§ 23 II).

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