George-Jahrbuch: Band 14 2022/2023 9783110774320, 9783110771275

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Aufsätze
Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt im George-Kreis. Eine Analyse des Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz (1905–1933)
Zwischen Salon und „Mysteriengrotte“: Stefan Georges Lesungen im Haus Lepsius
Mehr als schales Leiern? Hofmannsthals Lesung des Gedichts ‚Manche freilich …‘
Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte
Architektonische Tiefe und weiße Flächen. Stefan Georges und Melchior Lechters bibliophile Übertragung von Mallarmés ‚Herodias‘
Poetik der Freundschaft. Eine Fallstudie zur Praxis wechselseitiger Übersetzungen und Widmungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder
„Ja, Stephan, alles lacht“ … Ein weiterer Überlieferungsträger der George-Parodien von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, oder: Von den kleinen Freuden der Katalogisierungsarbeit
Futuristische Brandstiftung Theodor Däublers Nachdichtungen aus Aldo Palazzeschis ‚L’Incendiario‘
„ein dröhnen“. Stefan Georges ‚ENTRÜCKUNG‘ und Paul Celans ‚EIN DRÖHNEN‘
Stefan George und der Nobelpreis
Fachmann oder Humanist? Zu Friedrich Gundolfs ‚Paracelsus‘
Cornelia Heinsch: „sappho gibt es nicht“. Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts
Gabriele Guerra / Maurizio Pirro (Hg.): Stefan George
Aus der Stefan-George-Gesellschaft
Nachrichten
Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
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George-Jahrbuch: Band 14 2022/2023
 9783110774320, 9783110771275

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George-Jahrbuch 14 (2022/2023)

George-Jahrbuch Band   14 (2022/2023)

Im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft

herausgegeben von Kai Kauffmann und Cornelia Ortlieb

De Gruyter

Redaktionelle Mitarbeit: Florian Stühlmeyer     Das George-Jahrbuch erscheint im Abstand von jeweils zwei Jahren. Es veröffentlicht Originalbeiträge in deutscher, in Ausnahmefällen auch in englischer und französischer Sprache. Ein Merkblatt zur Manuskriptgestaltung kann bei den Herausgebern angefordert werden. Die Beiträger werden gebeten, ihre Manuskripte inklusive Datenträger satzfertig an die Herausgeber einzusenden und Änderungen in den Korrekturfahnen nach Möglichkeit zu vermeiden, da der Verlag die durch die Autorkorrekturen verursachten Mehrkosten nur im beschränkten Maß trägt. Honorare können nicht gezahlt werden. Beiträger erhalten einen elektronische Sonderruck ihres Beitrags und ein Exemplar des Jahrbuchs.   Für unverlangt eingesandte Manuskripte wird keine Haftung übernommen. Für die hier veröffentlichten Aufsätze hat § 4 UrhRG Gültigkeit. Rezensionsexemplare werden an die Herausgeber erbeten.    

      ISBN 978-3-11-077127-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077432-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077449-8 ISSN 1430-2519   Library of Congress Control Number: 2022938192   Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek   Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.   © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza   www.degruyter.com

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII A u fsätz e Carola Groppe / Ute Oelmann Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt im George-Kreis. Eine Analyse des Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz (1905–1933). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Annette Dorgerloh Zwischen Salon und „Mysteriengrotte“: Stefan Georges Lesungen im Haus Lepsius. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Friederike Felicitas Günther Mehr als schales Leiern? Hofmannsthals Lesung des Gedichts ‚Manche freilich…‘. . . . . . 71 Reinhart Meyer-Kalkus Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Christin Krüger Architektonische Tiefe und weiße Flächen. Stefan Georges und Melchior Lechters bibliophile Übertragung von Mallarmés ‚Herodias‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kai Kauffmann Poetik der Freundschaft. Eine Fallstudie zur Praxis wechselseitiger Übersetzungen und Widmungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

VI

Inhalt

Maik Bozza „Ja, Stephan, alles lacht“… Ein weiterer Überlieferungsträger der George-Parodien von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, oder: Von den kleinen Freuden der Katalogisierungsarbeit . . . . 193 Mario Zanucchi Futuristische Brandstiftung. Theodor Däublers Nachdichtungen aus Aldo Palazzeschis ‚L’Incendiario‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Wilfried Ihrig „ein dröhnen“. Stefan Georges ‚ENTRÜCKUNG‘ und Paul Celans ‚EIN DRÖHNEN‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Paulus Tiozzo Stefan George und der Nobelpreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Joe Paul Kroll Fachmann oder Humanist? Zu Friedrich Gundolfs ‚Paracelsus‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 R e z e n s ion e n Cornelia Heinsch: „sappho gibt es nicht“. Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts (Markus Pahmeier). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Gabriele Guerra / Maurizio Pirro (Hg.): Stefan George (Marco Rispoli). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 A us

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S te fan -G e org e -G e s e lls c haft

Gabriele von Bassermann-Jordan Nachrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger. . . . . . . . . . . . . . 292

Vorwort

Obwohl die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg uns alle nicht unberührt lassen, erscheint der vierzehnte Band des George-Jahrbuchs pünktlich in gewohnter Form. Die Redaktion ist zuallererst den Autorinnen und Autoren dafür dankbar, dass niemand die Zusage eines Beitrags zurückgezogen oder dessen Lieferung länger herausgeschoben hat. So kann das George-Jahrbuch wieder mit einer Reihe von interessanten Aufsätzen aufwarten. Wir lassen sie mit Carola Groppes und Ute Oelmanns Studie zu dem von den beiden vor kurzem herausgegebenen Briefwechsel zwischen Stefan George und Ernst Morwitz beginnen,1 die auch eine wichtige Ergänzung zu der im letzten Band des George-Jahrbuchs dokumentierten Debatte um mögliche Fälle des sexualisierten Machtmissbrauchs im George-Kreis ist. Die Mehrzahl der anderen Beiträge gruppiert sich um zwei thematische Schwerpunkte. Auf die Berliner Jahrestagung zur ‚Poetik der Lesung‘, die von der George-Gesellschaft im November 2019 veranstaltet worden war, gehen die Beiträge von Annette Dorgerloh und Friederike Felicitas Günther zurück. Während Dorgerloh die wiederholten Dichterlesungen Stefan Georges im Berliner Salon von Sabine und Reinhold Lepsius beschreibt, analysiert Günther die einzige Tonaufzeichnung, die Hugo von Hofmannsthal von einem seiner Gedichte – nämlich ‚Manche freilich …‘ – gemacht hat. Ergänzt werden diese beiden Beiträge durch einen großen, auf weitgehend unbekannten Archivmaterialien basierenden Aufsatz von Reinhart Meyer-Kalkus zu den auf Schallplatte gebannten Hölderlin- und George-Rezitationen Robert Boehringers. Hier geht es um die vom ‚Meister‘ selbst gebilligte Art des richtigen ‚Hersagens‘ von Gedichten. Den zweiten Schwerpunkt bildet das Thema ‚Um- und Nachdichten in den europäischen Avantgarden um 1900‘. Da die zu diesem Thema geplante Binger Jahrestagung, die im September 2020 stattfinden sollte, leider der Corona-Pandemie zum Opfer fiel, haben wir über den  1 Stefan

George / Ernst Morwitz: Briefwechsel (1905–1933). Hg. von Ute Oelmann / Carola Groppe im Auftrag der Stefan George Stiftung, Berlin – Boston 2020.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-201

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Vorwort

E-Mail-Verteiler der George-Gesellschaft um Beiträge für unser Jahrbuch gebeten – und eine reiche Ernte erzielt. Christin Krüger geht in ihrem Aufsatz auf Stefan Georges und Melchior Lechters bibliophile Übertragung von Stéphane Mallarmés ‚Herodias‘ ein. Kai Kauffmann untersucht die über Jahre fortgesetzte Werkpraxis der wechselseitigen Übersetzungen und Widmungen bei George und seinem polnischen Dichter-Freund Wacław Rolicz-Lieder. Maik Bozza zeigt, einen Fund aus dem Stuttgarter Archiv präsentierend, wie George von dem berühmten Altphilologen Ulrich von Wilamowitz parodiert wurde. Mario Za­ nucchi beschäftigt sich mit Theodor Däublers Nachdichtungen aus dem ‚L’Incendiario‘ (1910) des italienischen Futuristen Aldo Palazzeschi. Und Wilfried Ihrig spürt intertextuellen Bezügen zu George bei Paul Celan nach. Dass die mehrfache Nominierung von Stefan George für den Nobelpreis für Literatur letztlich an den ästhetischen Präferenzen und welt­ anschaulichen Voreinstellungen der Gutachter scheiterte, legt Paulus Tiozzo, die inzwischen zugänglichen Akten des Nobelpreis-Komitees auswertend, überzeugend dar. Die Reihe der Aufsätze endet mit Joe Paul Krolls Lektüre von Friedrich Gundolfs Buch ‚Paracelsus‘, die nicht nur erörtert, wie dort das medizinische Denken dieses Humanisten geistesgeschichtlich verortet und gedeutet wird, sondern auch danach fragt, ob Gundolf in diesem nach seiner Krebserkrankung geschriebenen Buch die eigene Situation lebensgeschichtlich mitverhandelt. Als Redaktion des George-Jahrbuchs bedauern wir, dass der vorliegende Band nur zwei Rezensionen bringt. Um der Vielzahl von Neuerscheinungen zur Ästhetik, der Dichtung und den anderen Künsten um 1900 zukünftig besser gerecht zu werden, bitten wir ausdrücklich darum, uns Rezensionen zu einschlägigen Titeln anzubieten. Auch in diesem Band möchten wir nicht versäumen, Frau Dr. Gabriele Bassermann-Jordan zu danken, nicht nur, aber auch für die von ihr als Geschäftsführerin zusammengestellten Berichte aus der Stefan-George-Gesellschaft. Und erneuten Dank schulden wir auch Florian Stühl­ meyer, der wiederum alle Manuskripte sorgfältig redigiert und die Herstellung des Jahrbuchs unterstützt hat. Im Sommer 2020 

Kai Kauffmann, Bielefeld, und Cornelia Ortlieb, Berlin

Aufsätze

Carola Groppe / Ute Oelmann

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt im George-Kreis. Eine Analyse des Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz (1905–1933)

I. Einleitung Die folgenden Ausführungen entstammen der Einleitung zum Briefwechsel zwischen Stefan George und Ernst Morwitz, den wir 2020 im Auftrag der Stefan George Stiftung herausgegeben haben.1 Er enthält sämtliche Briefe, Karten und Sendungen jeglicher Art von Stefan George und Ernst Morwitz zwischen 1905 und 1933, die uns im Stefan George Archiv Stuttgart und in der New York Public Library zugänglich waren. Sie sind in dem Band zum ersten Mal und als zusammenhängender Briefwechsel ediert worden. In der Einleitung haben wir neben Themen wie der Kreisentwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und der Geschichte der Beziehung zwischen Stefan George und Ernst Morwitz auch das Thema Pädophilie und möglicherweise sexualisierte Gewalt gegenüber männlichen Kindern und Jugendlichen behandelt. Anhand des neuen Quellenmaterials, der Briefe von George und Morwitz, haben wir das Thema in den Zusammenhang der Bildungs- und Erziehungskonzepte und der pädagogischen Praxis im George-Kreis gestellt. Die entsprechenden Kapitel der Einleitung werden hier unverändert abgedruckt. Diejenigen Kapitel, die die Beziehung zwischen George und Morwitz und die Geschichte des George-Kreises im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und am Beginn der nationalsozialistischen Diktatur behandeln, sind hinzugenommen worden, um kreisinterne und -externe Kontexte und Bedingungsgefüge analytisch einbinden zu können. Lediglich die Absatzreihenfolge ist in den folgenden Kapiteln an einigen

 1 Stefan

George / Ernst Morwitz: Briefwechsel (1905–1933). Hg. von Ute Oelmann / Carola Groppe im Auftrag der Stefan George Stiftung, Berlin – Boston 2020 (628 S., Einleitung S.   1–58). Künftig zitiert mit der Sigle GMB. Der Wiederabdruck der Einleitungskapitel erfolgt mit Genehmigung des Verlags.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-001

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Carola Groppe / Ute Oelmann

Stellen geändert worden. Kapitel und Absätze ohne Bezug zum Thema sind gestrichen worden. Dem Beitrag ist überdies ein kurzer Schlussabsatz hinzugefügt worden.

II. Stefan George und Ernst Morwitz: Eine Beziehung im GeorgeKreis Für Ernst Morwitz blieben Person und Werk Stefan Georges zeit seines Lebens Sinn stiftend. Dies endete erst mit seinem eigenen Tod im Jahr 1971 im schweizerischen Muralto, in derselben Klinik, in der George 38 Jahre zuvor, am 4. Dezember 1933, gestorben war. Für George andererseits hatte sich mit der Beziehung zu Ernst Morwitz zunächst eine Freundschaft, später eine Liebesbeziehung zu einem jungen Mann eröffnet, der als Gymnasiast, danach als junger Jurist und Richter, für ihn anfänglich eine dichterische Hoffnung dargestellt hatte und der schließlich vor dem Ersten Weltkrieg selbstständig eine neue Rolle und eine neue Struktur im entstehenden George-Kreis entwickelte, welche über dessen bisheriges Selbstverständnis als Dichterkreis und Wissenschaftlergemeinschaft hinausführten. Es war Ernst Morwitz, welcher die Bildung und Erziehung von männlichen Jugendlichen, vereinzelt auch Kindern, als dritte Ebene der ‚Sendung‘ Georges und des Kreises definierte und dies als Erster im Kreis in der Rolle eines Erziehers für die zur Nachfolge ausersehene ‚Enkel-Generation‘ praktisch umsetzte. Ernst Morwitz trug dadurch ganz wesentlich, wenn auch als Person in der Öffentlichkeit sowohl zu seinen Lebzeiten als auch danach kaum bekannt, zu einer erweiterten Selbstbeschreibung und einer veränderten öffentlichen Wahrnehmung des George-Kreises als einer Gemeinschaft bei, in welcher es neben einer Erneuerung der Dichtung und der Geisteswissenschaften insbesondere um eine Veränderung der Bildungsidee und -praxis und um eine neue Erziehung ging. Mit den programmatisch eng verflochtenen Reformkonzepten für Dichtung, Wissenschaft, Erziehung und Bildung konstituierte sich der George-Kreis vor dem Ersten Weltkrieg als eine Gemeinschaft, die gezielt um die bürgerliche und adlige Jugend an den höheren Schulen und insbesondere an den Universitäten des Deutschen Reiches zu werben begann. Aus einer nach gemeinsamen ästhetischen Prinzipien dichtenden und arbeitenden Künstlergemeinschaft, gruppiert um die von Stefan George

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt5

begründete Zeitschrift ‚Blätter für die Kunst‘, hatte sich – beginnend mit der Bekanntschaft zwischen George und dem Germanistik-Studenten Friedrich Gundolf 1899 – schon kurz nach der Jahrhundertwende ein Kreis junger Studenten und Dozenten um George versammelt, deren Leben – und dies wurde entscheidend für die weitere Entwicklung des Kreises – nicht mehr allein durch die Dichtung bestimmt wurde, sondern auch durch Wissenschaft und Universität. Nach 1933 zerbrach der Kreis nicht nur an Georges Tod. Vielmehr waren auch die vielschichtigen Interpretationsmöglichkeiten der Kreisüberzeugungen ursächlich sowie die Eigendynamik der verschiedenen Filiationskreise um jeweils ein älteres Kreismitglied und dessen Auslegung der Kreisziele und ‚Sendung‘ Georges. George hatte diese Filiationskreise in den späten 1920er Jahren nur noch mühsam zusammenhalten können. Hinzu traten im Kreis zunehmend männerbündische Tendenzen, die einer ins Politische ausgreifenden Interpretation der Aufgaben und Ziele des Kreises zuarbeiteten, und ein wachsender Antisemitismus, der die Kreismitglieder jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens ins Abseits zu stellen begann. Der Tod Georges im Dezember 1933 nahm dem Kreis schließlich seine die Konflikte überdeckende charismatische Mitte. Der Kreis zerfiel in Gruppen und Einzelpersonen und verstreute sich in die ganze Welt, bis in die Vereinigten Staaten und nach Neuseeland. Aus dem Kreis wurde eine Erinnerung, in die sich die früheren Kreismitglieder jeweils auf ihre eigene Weise einschrieben, Gewesenes subjektiv rekonstruierten und sich selbst einen symbolischen Ort schufen, der die meisten von ihnen bis an ihr Lebensende beschäftigen sollte. III. Der George-Kreis im deutschen Kaiserreich. Kreisentwicklung und Kreispolitik in der industriellen Moderne Die Geschichte von Georges Werk und Wirkung und die Geschichte seines Kreises sind Teil der deutschen Historie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts; sie gehören nicht nur mit den Lebensdaten Georges und der Kreismitglieder, sondern auch mit ihren Konzepten und Projekten, bis hin zum Kreis als Sozialgestalt, nicht mehr in das 19. Jahrhundert. Den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg kommt in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer der großen europäischen und transkontinentalen Achsenzeiten der Neuzeit zu. So existierte im

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Carola Groppe / Ute Oelmann

deutschen Kaiserreich ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen den ersten beiden Jahrzehnten nach der Reichsgründung (1871–1890) und den darauffolgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg (1890–1914). Reichten die ersten beiden Jahrzehnte in Ökonomie, Sozialstruktur und Kultur sowie in den Lebensformen weit in das 19. Jahrhundert zurück, so wiesen die beiden Jahrzehnte ab 1890 mit ihrer Veränderung der Gesellschaft durch Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung voraus auf ein beginnendes neues Zeitalter der politischen und sozialen Großorganisationen und der Massenmedien. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Gesellschaft gegenüber der Reichsgründungszeit schließlich grundlegend verändert. Verstädterung und Technisierung der Lebenswelt, Verwissenschaftlichung und Bedeutungszunahme von Experten, rasanter Bevölkerungszuwachs und demographische Frage bei gleichzeitiger Politisierung der Massen, beginnender Wohlfahrtsstaat, Konsumgesellschaft und Massenkultur, steigende soziale und räumliche Mobilität bei gleichzeitiger Pluralisierung und Liberalisierung der Lebensformen und der Lebensideale: Alle diese Tendenzen entstanden in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, prägten sie und unterschieden sie für die Bürgerinnen und Bürger des Kaiserreichs merklich von früheren Jahrzehnten. Diese ‚neue Zeit‘ wurde deshalb auch vehement diskutiert. Ihre Entwicklungen prägten bereits vor der Jahrhundertwende 1900 die Debatten in der deutschen Politik ebenso wie jene in der Wissenschaft oder Kunst.2 Auch die Buchgestaltung bereits der frühen Gedichtbände Georges vor der Jahrhundertwende verwies in ihrer Klarheit und in ihrem Verzicht auf jede historische Reminiszenz auf eine neue Funktionalität in der industriellen Moderne. Nach einer symbolistischen Zwischenphase mit dem Maler und Buchkünstler Melchior Lechter kehrte George zu der extrem reduzierten Buchgestaltung der Anfangszeit zurück und entwickelte eine klare, an seine eigene Handschrift angelehnte Drucktype.3  2 Zu

den Rahmenbedingungen des Kaiserreichs vgl. im Überblick und mit weiterer Literatur Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918, Wien u. a. 2018, S.   37  ff.  3 Vgl. zur Druckgeschichte, Buchgestaltung und zu den Drucktypen Christine Haug mit Wulf D. von Lucius: Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   1, Berlin – Boston 2012, S.   408–491, hier S.   418  ff. sowie S.   467  ff. In der Weimarer Republik

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt7

Die Selbstorganisation und -präsentation als literarische Gegenöffentlichkeit, wie sie die ‚Blätter für die Kunst‘ hatten darstellen wollen, unterstützt durch ein wiedererkennbares Erscheinungsbild, wurden schließlich in der wissenschaftlichen Publikationspraxis des Kreises, beginnend mit dem Druck von Friedrich Gundolfs Habilitationsschrift ‚Shakespeare und der deutsche Geist‘ (1911), fortgesetzt. Die wiedererkennbare Drucktype, das „Blätter“-Signet im Bondi-Verlag, d. h. die Swastika mit der Umschrift „Blätter für die Kunst“ (die Reihe hieß „Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“), sowie die seit 1921 im Verlag Ferdinand Hirt erscheinenden Bücher mit dem Swastika-Signet und der Umschrift „Werke der Schau und Forschung aus dem Kreise der Blätter für die Kunst“ verwiesen nicht nur auf eine schreibende Gemeinschaft, d. h. auf ein wissenschaftliches wie weltanschauliches Kollektiv, sondern auch auf Serialität.4 Damit hatten George und der Kreis Anteil an zentralen Entwicklungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Eine industrielle Moderne mit ihren neuen sachlich-funktionalen Zweckbauten traf auf eine sich von historistischen Stilen verabschiedende moderne Ästhetik. Diese Ästhetik war nur teilweise eine kritische und abgrenzende Reaktion auf die rasante lebensweltliche Modernisierung. Vielmehr handelte es sich zuvorderst um eine Entwicklung, welche auf die empfundene Diskrepanz zwischen den ‚symbolischen Handlungen‘ und den technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen innovativ reagierte, als Suche nach neuen symbolischen Ausdrucks- und Lebensformen für eine neue Zeit. Als Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters 1912 im dritten und letzten ‚Jahrbuch für die geistige Bewegung‘ (einem Projekt, an dem sich Ernst Morwitz nicht hatte beteiligen wollen) in ihrer programmatischen Einleitung stellvertretend für den George-Kreis festhielten, dass nach „weiteren fünfzig jahren fortgesezten fortschritts“ die „lezten reste wurden für manche Gedichtbände wie ‚Der Stern des Bundes‘ auch 5.000 Exemplare in den Auflagen erreicht. Im Vergleich zu Bestsellern wie Erich Maria Remarques ‚Im Westen nichts Neues‘ (1929) waren dies jedoch kleine Auflagen. Hier wurden 1930 bereits über eine Million Exemplare aufgelegt. Vgl. ebd., S.   437  f.  4 Die Mitglieder des George-Kreises und George selbst hätten den Begriff des Kollektivs für sich wohl vehement zurückgewiesen, ebenso jede Idee von Serialität. Solche begrifflichen Zuschreibungen können gleichwohl analytisch hilfreich sein.

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Carola Groppe / Ute Oelmann

alter substanzen verschwunden sein“ würden, wenn „durch verkehr, zeitung, schule, fabrik und kaserne die städtisch fortschrittliche verseuchung bis in die fernste weltecke gedrungen und die satanisch verkehrte, die Amerika-welt, die ameisenwelt sich endgültig eingerichtet hat“,5 ignorierten sie ihre eigene Teilnahme an diesem Prozess, indem sie ihn ausschließlich kulturkritisch fokussierten. In Literatur und Wissenschaft, Pädagogik und Lebensreform hatte der George-Kreis mit seinem Willen zur bewussten Neugestaltung Anteil an den in allen gesellschaftlichen Feldern einsetzenden Innovationsprozessen des frühen 20. Jahrhunderts.6 Die Strategie der wissenschaftlichen Werke aus dem George-Kreis, nämlich weitgehend ohne Verweise und Fußnoten zu arbeiten und sich damit vom etablierten Wissenschaftsbetrieb abzuheben, verwiesen die Schriften publikationsstrategisch zudem über die Felder der Wissenschaft und der Kunst hinaus in den Bereich der Erziehung und Bildung und den der Jugendliteratur. Sie konnten von bürgerlichen und adligen Jugendlichen, der wichtigsten Zielgruppe Georges und des Kreises, als Fortsetzung früherer Lektüren populärhistorischer Abenteuerromane und ebensolcher Biographien berühmter Persönlichkeiten gelesen werden; die Weltanschauung des George-Kreises wurde den Leserinnen und Lesern dabei en passant vermittelt. Auch Georges eigene Lebensführung, welche durch fortwährende Reisen und beständig versendete Briefe, Karten und Telegramme an Freunde und Bekannte geprägt war, war Ausdruck des neuen Zeitalters der Technik und des Verkehrs. Im Kaiserreich wurden die Verkehrsnetze rasch und umfassend ausgebaut, also Eisenbahnstrecken, Straßenbahnverbindungen, U-Bahnen und Straßen. 1866 gab es rund 15.000 Eisenbahnkilometer, kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereits knapp 64.000. Ohne diesen rasanten Ausbau wäre Georges rastloses Leben, das sich aufteilte zwischen den im Deutschen Reich verstreuten Wohnorten seiner Freunde, bei denen er abwechselnd lebte, und den bis zum Tod seiner Mutter 1913 regelmäßigen Aufenthalten im Elternhaus in Bingen am  5 Einleitung

der Herausgeber. In: Friedrich Gundolf / Friedrich Wolters (Hg.): Jahrbuch für die geistige Bewegung. Bd.   3, Berlin 1912, S. III–VIII, hier S. VIII.  6 Zu den verschiedenen Facetten des Verhältnisses von George-Kreis und ästhetisch-sozialer Moderne vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933, Köln u. a. 1997.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt9

Rhein, nicht möglich gewesen. George, das zeigen auch die Poststempel der Briefe und Karten, die er an Ernst Morwitz richtete, reiste ständig durch Deutschland und Europa. Nicht wenige seiner Briefe enthalten Hinweise, wohin ihn die nächsten Wochen führen würden, welche Reisestationen gerade hinter ihm lagen und wohin die nächsten Brief- und Paketsendungen an ihn zu richten wären. Zeitlebens kannte er sich mit Eisenbahnfahrplänen ausgezeichnet aus. Da der George-Kreis in nicht geringem Maß ein Netzwerk darstellte, das nicht nur durch persönliche Begegnungen und Freundschaften, sondern zum großen Teil durch Briefverkehr existierte,7 war der Kreis in seiner Struktur, die sich um George aufspannte, auch auf eine technisch und organisatorisch effiziente Post angewiesen bzw. hätte ohne die ausgebaute Infrastruktur des deutschen Kaiserreichs gar nicht entstehen können. Die Veränderung und Verdichtung des Nachrichtenwesens zeigte sich nicht nur in der neuen telegraphischen Kommunikation, sondern insbesondere im Briefverkehr, der den George-Kreis so entscheidend bedingte. Er nahm von rund 270 Millionen Briefen kurz vor der Reichsgründung auf über 7 Milliarden 1913 zu. Gleichsam kontrapunktisch zu Georges durch den gesamten Briefwechsel mit Ernst Morwitz nachzuverfolgender Reiseexistenz verlief Ernst Morwitz’ eigenes Leben, das er von 1902 bis 1938 fast ausschließlich in Berlin verbrachte. Durch die Veränderung Berlins war sein Leben aber ebenso wie dasjenige Georges ein Teil der neuen industriellen und großstädtischen Moderne: Berlin, das 1870 knapp unter 800.000 Einwohner zu verzeichnen gehabt hatte, besaß 1914 über zwei Millionen. Berlins ‚Vorstädte‘ wie Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln und viele andere, welche erst 1920 im Groß-Berlin-Gesetz eingemeindet wurden, waren schon im Kaiserreich so eng mit Berlin verbunden, dass sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg einen städtischen Ballungsraum von fast vier Millionen Einwohnern bildeten, und dies nicht nur strukturell, sondern auch im Bewusstsein. Die neue Millionenstadt hatte sich zudem fundamental verändert: Wie alle Städte im Kaiserreich war Berlin elek­ tri­fi­ziert worden, so dass es ab 1900 elektrisches Licht in den meisten Wohnungen gab; Varietés, Kabaretts, Theater wurden eröffnet, riesige,  7 Ute

Oelmann hat das Briefnetzwerk des Kreises in seinen vielen Funktionen zusammengestellt und auf seine Bedeutung für die Kreisgestaltung hingewiesen. Vgl. Ute Oelmann: Briefnetzwerke des George-Kreises (Typoskript).

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Carola Groppe / Ute Oelmann

luxuriöse Hotels entstanden, die ersten großen Kaufhäuser wurden gebaut, es entstanden Infrastrukturen für Freizeitkultur und Nachtleben. IV. Zu Ernst Morwitz’ Biographie Berlin war Ernst Morwitz’ gewählter Lebensort und seine Lebensform, und das sollte bis zu seiner Emigration 1938 so bleiben. Er war am 13. September 1887 als einziges Kind des Kaufmanns Wilhelm Morwitz (1850–1902) und seiner Ehefrau Rosalie, geb. Aaronsohn (1850–1927), in Danzig geboren worden. Aus der ersten Ehe der Mutter besaß er drei Stiefschwestern. In Danzig hatte Morwitz zunächst eine private Vorschule und anschließend das städtische Gymnasium bis zur Versetzung in die Untersekunda (Klasse 10) besucht, eine der zwei dortigen altsprachlichen höheren Lehranstalten. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1902 wurde Ernst Morwitz für vier Jahre (1902–1906) bis zur Ablegung des Abiturs Schüler des Kaiserin-Augusta-Gymnasiums in Charlottenburg bei Berlin, ebenfalls einer altsprachlichen Anstalt, und lebte zunächst bei einem Lehrer, vermutlich in einer der damals für auswärtige Schüler häufig eingerichteten Schülerpensionen.8 Nach einiger Zeit zog auch seine Mutter nach Berlin und lebte bis zu ihrem Tod 1927 mit ihrem Sohn zusammen.9

 8 Eine

Schülerpension ist eine von einer Privatperson betriebene familienähnliche Einrichtung zur Unterbringung von einem oder mehreren auswärtigen Schülern ohne strukturelle Verbindung zu einer Lehranstalt. Alumnate und Internate dagegen sind Einrichtungen zur Unterbringung größerer Schülerzahlen in enger Verbindung mit einer Schule. Vgl. zu den Schülerpensionen Carola Groppe: Schülerpensionen. Ein unerforschter Gegenstand der deutschen Schulund Jugendgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Pädagogik 67, 2021, Nr.   3, S.   431–454.  9 Daten der Angehörigen und familienbiographische Angaben nach autobiographischen Notizen aus Ernst Morwitz’ Briefbuch („annotated letter book“, ca. 350 S., New York Public Library, vgl. GMB, S.   60); Personal-Akten des Reichsjustizministeriums, betreffend: Dr. Ernst Morwitz, Bundesarchiv Berlin, Sign. R 3001 / 68802 (künftig zitiert als BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz) sowie Wolfgang Braungart: Ernst Morwitz. In: Neue Deutsche Biographie 18, 1997, S.   162  f. Online unter: http://www.deutsche-biographie.de/ pnd118584316.html (Abruf 6. 12. 2018); Harald Kohtz: Ernst Morwitz (1887– 1971). Ergänzungen und Berichtigungen. In: Der Westpreuße 19, 1987, S.   10.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt11

Nach dem Abitur begann Morwitz 1906 ein juristisches Studium, welches er hauptsächlich an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin absolvierte. Nach der juristischen Staatsprüfung wurde er im Dezember 1909 in Berlin als Justiz-Referendar vereidigt, absolvierte anschließend den vierjährigen Justizvorbereitungsdienst, promovierte begleitend 1910 an der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg und wurde im Juli 1914 in Berlin zum Gerichtsassessor ernannt. Da Ernst Morwitz keinen einjährig-freiwilligen, d. h. einen auf ein Jahr verkürzten Militärdienst abgeleistet hatte, zu dem er als Abiturient berechtigt gewesen wäre, aber auch nicht zum Wehrdienst eingezogen worden war,10 meldete er sich im Dezember 1914 als freiwilliger Krankenpfleger zum Roten Kreuz, ging mit Beginn des Jahres 1915 ins Feld und kehrte erst im November 1918 nach Berlin zurück. Für die Zeit des Kriegsdiensts war er aus dem Staatsdienst beurlaubt worden. Am 1. April 1921 wurde Morwitz – inzwischen Landrichter am Landgericht III in Berlin – zum Landgerichtsrat ernannt. Der Kammergerichtspräsident hatte ihm anlässlich seiner Bewerbung um die Landgerichtsratsstelle im Januar 1921 ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt: Ernst Morwitz sei „über den Durchschnitt befähigt, im Besitze guter Rechtskenntnisse, fleißig, praktisch und gewissenhaft“; „Gesundheitszustand bedenkenfrei. Führung tadellos“.11

10 Im

Kaiserreich wurde jeweils nur etwa die Hälfte jedes wehrpflichtigen Jahrgangs zum Wehrdienst einberufen, die andere Hälfte war infolgedessen nicht militärisch ausgebildet. Den wissenschaftlichen Befähigungsnachweis für das einjährig-freiwillige Militärjahr durften nach der Wehrordnung von 1875 alle gymnasialen Vollanstalten ausstellen. Es genügte die erfolgreiche Versetzung in die Klasse 11 (Obersekunda). Vgl. dazu Groppe, Im deutschen Kaiserreich (Anm.   2), S.   385  ff. In seiner Personalakte beim Reichsjustizministerium wird Ernst Morwitz als Teil des „Landsturms ersten Aufgebots zum Dienst ohne Waffe“, d. h. als wehrfähige Person ohne militärische Ausbildung geführt. Vgl. BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   1R, Bl.   18. 11 Vgl. „Personal- und Befähigungs-Nachweisung betreffend den Landrichter Dr. Ernst Morwitz in Berlin“ vom 7. Januar 1921, BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   18, 18R. Befähigungsnachweise und Führungszeugnisse für die jeweils unterstellten Beamten, sogenannte ‚Konduitenlisten‘, wurden regelmäßig für preußische Beamte angefertigt und im Falle von Ernst Morwitz vom Kammergerichtspräsidenten dem Justizministerium zugeleitet.

12

Carola Groppe / Ute Oelmann

Ab 1927 war Morwitz als Hilfsrichter am preußischen Kammergericht beschäftigt,12 dem Oberlandesgericht Berlin und zugleich dem obersten Gericht des preußischen Staates; im September 1930 wurde er dort zum Kammergerichtsrat ernannt. Als solcher und als Mitglied eines Zivilsenats des Kammergerichts nahm Morwitz eines der höchsten Richterämter im preußischen Staat wahr.13 Ungeachtet des ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ vom 7. April 1933, das von den neuen nationalsozialistischen Machthabern entgegen seinem Titel explizit erlassen wurde, um jüdische und politisch oppositionelle Beamte aus dem Staatsdienst entfernen zu können, erhielt Morwitz 1934 vom Senatspräsidenten des Kammergerichts weiterhin glänzende Beurteilungen über seine juristischen Kenntnisse und Begabungen und über die Erfüllung seiner Amtspflichten: „Hervorragende richterliche Begabung, ausgezeichnete Rechtskenntnisse; den schwierigsten Sachen gewachsen, schneller und sehr gewissenhafter Arbeiter, angenehmes Zusammenarbeiten.“14 Der Kammergerichtspräsident ergänzte in seiner parallelen Beurteilung allerdings in distanzierender Klarstellung die neue, rassistisch begründete Rechtsstellung des ehemals gleichrangigen deutschen Richters und Staatsbürgers: „Dr. Morwitz ist Nichtarier und durch Erlass vom 12. Juli 1933 – II c. 2834 – in seiner bisherigen Dienststellung zu belassen. Die ihm gegen Reich und Volk obliegenden Pflichten erfüllt er mit Ernst und ohne Abneigung.“15 Ein weiteres Blatt in Morwitz’ Personalakte vom 12 Vgl.

„Personal- und Befähigungs-Nachweisung“ vom 17. April 1930 bezüglich der Bewerbung von Morwitz um die Stelle eines Kammergerichtsrats: „Seit 1. April 1921 Landgerichtsrat beim Landgericht I Berlin. Hilfsrichter beim Kammergericht vom 12. Mai – 14. Juli 1927, vom 16. September 1927 – 14. Juli 1928, vom 16. September 1928 – 14. Juli 1929 und vom 16. September 1929 ab.“ BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   24. 13 Vgl. BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   24  ff. 14 Ebd. ohne Zählung, im Dezember 1934. 15 Vgl. ebd. Beamte jüdischen Glaubens oder jüdischer Familienherkunft, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten oder bereits vor 1914 verbeamtet worden waren, wurden zunächst von der Versetzung in den Ruhestand ausgenommen. Sebastian Haffner, 1933 Referendar am Kammergericht, erinnert sich an den bereits im Vorfeld des Gesetzes erfolgten Auftritt der SA dort am 31. März 1933 und deren unmissverständliche, von Gewaltanwendung begleitete Aufforderung an die jüdischen Juristen, das Gebäude sofort zu verlassen. Vgl. Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. 6. Aufl., Stuttgart  – München 2001, S.   144  ff.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt13

17. Dezember 1935 kündigte auf Grund des „§ 3 des Reichsbürgergesetzes in Verbindung mit § 4 der 1. Verordnung dazu“ seine mit Ablauf des 31. Dezembers 1935 eintretende Versetzung in den Ruhestand an: „Der Entlassungsbescheid liegt bei.“16 Die Abschriften der Versetzung in den Ruhestand und des Entlassungsbescheids, so vermerkte der Eintrag ungerührt weiter, seien dem zuständigen Gauleiter der NSDAP zuzuleiten sowie innerhalb der Behörde der Kalkulatur und der Personalstatistik, damit die Akten ordnungsgemäß weitergeführt werden konnten. Noch vor den Massenpogromen gegen die jüdische Bevölkerung (8.–13. November 1938) verließ Ernst Morwitz im Oktober 1938 Deutschland. Mithilfe einer Vortragseinladung der Duke University in North Carolina hatte er ein Besuchervisum für die USA erhalten.17 Gemäß einem Schreiben des Berliner Kammergerichtspräsidenten bat der „in den Ruhestand getretene Kammergerichtsrat Dr. Israel Ernst Morwitz“18 am 19. Januar 1939 „um die Genehmigung zur Verlegung seines Wohnsitzes nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika“.19 Mit der durch die NS-Behörden erteilten Genehmigung, nicht ohne eine vorauslaufende Überprüfung von Ernst Morwitz durch die Gestapo, ob politische Bedenken gegen eine Auswanderung vorlagen, wurden Morwitz’ Versorgungsbezüge auf ein „Sonderkonto Versorgungsbezüge“ einer inländischen Devisenbank überwiesen,20 auf das Morwitz aber aus

16 Entlassungsbescheid

vom 17. Dezember 1935, BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   28. 17 Vgl. Ernst Morwitz an Wilhelm Stein am 27. November 1938 (Poststempeldatierung), Stefan George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (künftig StGA). Die Einladung war durch den früheren Hausarzt Stefan Georges, Walter Kempner, der bereits in den USA lebte, eingefädelt worden, vgl. Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S.   280. 18 Die zusätzlichen Vornamen „Israel“ bzw. „Sara“ hatten Bürger und Bürgerinnen mit jüdischer Religionszugehörigkeit oder jüdischer Herkunft seit 1. Januar 1939 zu führen, um für sämtliche Institutionen und Behörden im nationalsozialistischen Staat unmittelbar als Teil der jüdischen Bevölkerung nach den rassistischen Kriterien des NS-Staats identifizierbar zu sein. 19 Schreiben des Kammergerichtspräsidenten an den Reichsminister der Justiz vom 15. März 1939, BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   33. 20 Der Reichsminister der Justiz an den Kammergerichtspräsidenten am 24. März 1939, BAB, Sign. R 3001 / 68802, Personalakte Morwitz (Anm.   9), Bl.   33R, Bl.   34.

14

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dem Ausland vermutlich keinen Zugriff hatte. Mit dem 1. September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, im Dezember 1941 hatten die USA Japan den Krieg erklärt, das mit Japan verbündete Deutsche Reich erklärte am 11. Dezember 1941 seinerseits den USA den Krieg. Ernst Morwitz hatte damit endgültig jede Aussicht auf Erhalt seiner Versorgungsbezüge verloren. In den USA lernte er rasch und konzentriert Englisch und konnte ab April 1939 an der School of Religion der Duke University in Durham (North Carolina) unentgeltlich Deutsch, Griechisch und antike Religion unterrichten. Bis 1944 besaß er kein regelmäßiges berufliches Einkommen (wohl aber eine finanzielle Unterstützung durch Freunde) und keine feste Anstellung und verfügte zudem nur über ein dreimonatlich verlängertes Visitor-Visum. Ab 1942 begann er an der University of North Carolina in Chapel Hill zu arbeiten, zunächst als Sprachlehrer, ab 1949 als Special Lecturer im German Department. 1947 wurde er US-amerikanischer Staatsbürger. 1952 ernannte die Bundesrepublik Deutschland Ernst Morwitz rückwirkend ab 1940 zum Senatspräsidenten des Kammergerichts. Nachdem er 1956 die Lehrtätigkeit aufgegeben hatte, zog er 1957 nach New York; seit den 1950er Jahren begann er auch wieder, in den Sommermonaten Europa zu besuchen. Er starb 1971 im schweizerischen Muralto.21 Ernst Morwitz’ Biographie hatte als die eines Mitglieds der deutschen bürgerlichen Klassen begonnen: Er war der Sohn eines Kaufmanns und dessen Frau, hatte Rechtswissenschaft studiert und war ein hochangesehener deutscher Richter geworden. Seine jüdische Religionszugehörigkeit22 bewirkte dann in der rassistischen Diktatur des NS-Staats, dass

21 Zu

Ernst Morwitz’ Leben und Wirken in den USA zwischen 1939 und 1971 vgl. Carola Groppe: Deutscher Beamter, jüdischer Emigrant. Der Kammergerichtsrat Dr. Ernst Morwitz. In: Gert Mattenklott / Michael Philipp / Julius H. Schoeps (Hg.): „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration, Hildesheim u. a. 2001, S.   85–100, hier S.   93  ff.; Raulff, Kreis ohne Meister (Anm.   17), S.   275–295, sowie Ernst Morwitz, Briefe an Wilhelm Stein, 17. Mai 1939, 23. August 1939, 26. Dezember 1939, StGA, und Ernst Morwitz an Karl Wolfskehl am 12. Januar 1941. In: „Du bist allein, entrückt, gemieden  …“ Karl Wolfskehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948. 2 Bde. Hg. von Cornelia Blasberg. Bd.   1, Darmstadt 1988, S.   389. 22 Sein Personalbogen beim Kammergericht weist Ernst Morwitz 1920 mit dem Religionsbekenntnis „jüdisch“ aus (BAB, Sign. R 3001 / 68802, Perso-

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt15

dieser ihn im Alter von 48 Jahren aus dem Staatsdienst entfernte und vollständig entrechtete. Mit Glück und der Hilfe von Freunden wurde aus dem früheren deutschen Staatsbürger ein Emigrant mit Wohnsitz in den Vereinigten Staaten, der dem nationalsozialistischen Terrorregime und seiner Ermordung entkommen war, und 1947 schließlich ein Staatsbürger der USA. Ernst Morwitz’ Leben zerfiel dadurch in zwei große Abschnitte: Nach mehr als dreißig in Berlin verbrachten Lebensjahren verschlug es ihn nach Amerika, wo er weitere dreißig Jahre seines Lebens verbrachte. Anders als frühere Mitglieder des George-Kreises und ihm Nahestehende wie Ernst Kantorowicz, Erich von Kahler oder Arthur Salz, die im US-amerikanischen Exil als Professoren an Universitäten lehrten, konnte Morwitz aber seine Lebensform und seinen sozialen Status als hoher deutscher Richter nicht aufrechterhalten. An Wilhelm Stein hatte Ernst Morwitz 1938 nach seiner Ankunft in New York geschrieben: „Was mit mir wird, ist ganz dunkel, aber ich freue mich, der Quälerei entgangen zu sein, die mich sicherlich auch erfasst hätte (schon wegen der hohen Pension) und alles wird mir leichter werden, weil ich mich aussen und innen völlig frei fühle.“23 Frei fühlte sich Morwitz von dem Druck und der existentiellen Not und Angst, welche das NS-Regime erzeugt hatte, frei wohl auch von den Intrigen und Machtstrategien, die im George-Kreis bereits in den 1920er Jahren eingesetzt hatten und von den Diadochenkämpfen, die nach Georges nalakte Morwitz (Anm.   9), Bl. ohne Zählung). Noch 1931 wird Morwitz im ‚Jüdischen Adressbuch für Groß-Berlin‘ geführt, ist also nicht aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten. Vgl. Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin. Ausgabe 1931/32, Berlin 1931, S.   286 (Digitalisat der Digitalen Landesbibliothek Berlin); abrufbar als Permalink unter URN: https://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:kobv:109-1-2414417 (Abruf 6. 12. 2018). Er selbst nennt dies in einer Selbstbeschreibung in seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen sein „Verharren im Judentum“ (Morwitz, Briefbuch, Anm.   9). Weitere Rückschlüsse lässt dies allerdings nicht zu. Im Unterschied zu vielen anderen Kreismitgliedern blieb die Verehrung Georges für Ernst Morwitz (hierin am ehesten mit Personen im Kreis wie dem ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammenden Nationalökonom Julius Landmann (1877–1931) vergleichbar) ein abgeschlossener, von anderen Bereichen getrennter Teil seines privaten Lebens. So thematisiert auch kein einziger Brief an George oder befreundete Kreismitglieder jüdische Fragen oder seine jüdische Herkunft. 23 Ernst Morwitz an Wilhelm Stein am 27. November 1938 (Poststempeldatierung), StGA.

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Tod 1933 begonnen hatten. Aber so wenig Ernst Morwitz sich zu Lebzeiten Georges in die Deutungspolitik der Kreisfiliationen eingemischt hatte, so deutlich formulierte er am Lebensende des Dichters und dann noch einmal zu Beginn der 1960er Jahre seine Sicht der Dinge. Diese war, wie im Folgenden gezeigt wird, radikal individualistisch.

V. Stellungnahmen: Georges Werk in Morwitz’ Deutung Motiviert durch die Spannungen im Kreis, hatte Morwitz offenbar bereits 1922 den Plan gefasst,24 seine Interpretation der Lyrik Georges vorzulegen. Zur Ausführung kam diese aber erst kurz vor Georges Tod. Sein Buch mit dem programmatischen Titel ‚Die Dichtung Stefan Georges‘ (1934) war eine Stellungnahme: Während Friedrich Wolters in seiner 1930 erschienenen Hagiografie, ‚Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890‘, Leben und Werk Georges eng verknüpfte und seinem Werk mit dem gewählten Titel zuschrieb, eine umfassende deutsche Geistesgeschichte zu bieten, reduzierte Morwitz seine Darstellung auf eine knappe, chronologisch kommentierende Interpretation der Gedichtbände und die Person Georges auf den großen Lyriker. So wie für Morwitz stets die individuelle Beziehung zu George im Vordergrund seines Selbstverständnisses im George-Kreis gestanden hatte, sollte sein Buch vor allem eine Hilfestellung zur individuellen Erschließung der Lyrik durch die Rezipientinnen und Rezipienten darstellen. 1923 hatte er Vergleichbares über einen Zögling geschrieben: „Ich habe ihm den Umkreis gezeigt, jetzt muss er selbst für den füllenden Inhalt sorgen.“25 Dichtung, so lautete Morwitz’ Botschaft, ist ein autonomes Feld. Sie erzeugt wirklichen Sinn und Bedeutung nur für diejenigen, die sich ganz auf sie einlassen und sie nicht funktionalisieren. So verzichtete Morwitz auch im Kapitel über den ‚Stern des Bundes‘ (1914), dessen Gedichte so augenfällig den Kreis als eine ihrer

24 Vgl.

Morwitz an George am 13. April 1922. GMB, S.   360. Die Briefdatierung folgt derjenigen der Briefschreiber. Fehlt sie, sind die Briefe nach dem Poststempel datiert und entsprechend gekennzeichnet. ┌Text┐ bezeichnet Einfügungen der Briefschreiber in Brieftexte oder Textbeilagen während oder kurz nach dem Schreibprozess. 25 Morwitz an George am 29. Juni 1923. GMB, S.   376.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt17

Bezugs- und Adressatenebenen anklingen lassen,26 auf jeden Kreis-Verweis und stellte lediglich eine Verbindung zum ‚Siebenten Ring‘ (1907) her. Auf diese Weise betonte Morwitz die Geschlossenheit der Dichtung Georges. Ihre Entwicklung erschien als innere Notwendigkeit, nicht als Initiation kultureller oder sozialer Bewegungen oder als Reaktion auf zeitgenössische Entwicklungen. Nur der Maximin-Mythos blieb als Gründungsmythos des Kreises in Morwitz’ Interpretation des ‚Siebenten Rings‘ eigentümlich mehrdeutig. Der mit sechzehn Jahren verstorbene Maximilian Kronberger (1888–1904), Vorbild der Maximin-Figur, und der literarische Maximin als ‚Herr der Wende‘ werden in Morwitz’ Darstellung wiederholt zu einer Figur verbunden.27 Auf diese Weise schrieb sich Morwitz ein in den kreisinternen Zusammenhang von Jugend, Erziehung und Bildung einerseits und der Inspiration des Dichters durch den schönen Jüngeren andererseits. Angesichts der politischen Entwicklungen in Deutschland in der Spätphase der Weimarer Republik und der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Morwitz’ Darstellung auch eine Möglichkeit, sich gegen Georges politische Vereinnahmung und gegen in die Politik übergreifende Deutungen Georges, wie sie andere Kreismitglieder vornahmen, zu verwahren. Sein Buch war gedacht zur literarisch-ästhetischen Bildung und zur Erziehung von Kreis-Zöglingen, es war kein programmatisches ‚Kreis-Buch‘. Gleichzeitig zeigt der Text im Rückzug auf Gedicht-Paraphrase und knappe Kommentierung Morwitz’ Hilflosigkeit angesichts der politischen Entwicklung und des sichtbaren Zerfalls des Kreises in antagonistische Gruppen und Einzelpersonen. Diesem

26 Die

„Vorrede“ zum ‚Stern des Bundes‘ (hinzugefügt erst in der Gesamtausgabe der Werke 1928) formulierte, dass das Werk zunächst nur für die „freunde des engern bezirks“ gedacht gewesen sei, angesichts der „sich überstürzenden welt-ereignisse“ aber der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Stefan George: Der Stern des Bundes. Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann. Bd.   8, Stuttgart 1982  ff., o. S. (künftig zitiert mit der Sigle SW, Bandnummer und Seitenzahl). Die Vorrede ließ den Kreis, allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre, deutlich anklingen. Zuvor, zwischen 1914 und 1928, hatten die Leserinnen und Leser den Gedichtband ohne diese Hinweise rezipiert. Vgl. dazu den Kommentar von Ute Oelmann in SW VIII, S.   117–124 sowie die von ihr erarbeiteten Varianten und Erläuterungen, S.   127  ff. 27 Vgl. Ernst Morwitz: Die Dichtung Stefan Georges, Berlin 1934, S.   87  ff.

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Geschehen konnte oder wollte Morwitz nichts entgegenstellen als die Beschwörung eines autonomen Reiches der Kunst, welches Konflikte in gelingenden Bildungsprozessen der Rezipientinnen und Rezipienten aufheben und lösen sollte. Auch Morwitz’ späterer Kommentar (‚Kommentar zu dem Werk Stefan Georges‘, 1960) war keine erinnernde Kreisgeschichte wie die Darstellungen von Edgar Salin (‚Um Stefan George‘, 1948), Robert Boehringer (‚Mein Bild von Stefan George‘, 1951) oder Kurt Hildebrandt (‚Erinnerungen an Stefan George‘, 1965), sondern war wie die Deutung von 1934 eine Anleitung zur Rezeption der Gedichte, die Morwitz erneut in chronologischer Erscheinungsfolge der Gedichtbände kommentierte. Allerdings wurden in dem Kommentar nun Personenbezüge hergestellt und Anlässe benannt und die biographischen Kontexte erklärend herangezogen. Die Gedichte erhielten nun ein Bedingungsgefüge: Stefan George und seine Biographie. Morwitz’ frühe Deutung und seinen späten Werk-Kommentar verbindet aber, dass beide Male die ‚Staats‘Idee in Bezug auf den Kreis konsequent verweigert wurde. George war nirgends ein Staatsmann und Führer, er war einfach ein großer Dichter, und er wurde im Kommentar-Band von 1960 eine erkennbar individuelle Person. Ebenso wie in Morwitz’ Interpretation von 1934 bleibt aber die Dichtung weiterhin ein autonomes Feld, nicht unberührt von den Ereignissen der Geschichte, aber sie umformend zu dichterischen Erlebnissen. Den Maximin-Zyklus im ‚Siebenten Ring‘ deutete Morwitz nun nicht mehr polyvalent. ‚Maximin‘ wird zum subjektiven Erlebnis eines Dichters, der aus dem Erlebnis eine neue Kunstwelt erschafft: „Den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem schaffenden Dichter und dem organisierenden Religionsstifter hat er [George] niemals verkannt.“28 Morwitz zog dadurch eine deutliche Grenze zwischen der Dichtung und der Inanspruchnahme des Maximin-Erlebnisses als Gründungsmythos für ein neues geistiges oder politisches Reich, wie ihn Friedrich Wolters formuliert hatte. Noch deutlicher als 1934 wird im Kommentar von 1960 die Autonomie der Kunst herausgestellt und diese Haltung gleichzeitig – durch Einbezug von Äußerungen Georges und persönlichen Erlebnissen – als diejenige Georges nahegelegt. Die

28 Ernst

Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. 2. Aufl., Düsseldorf – München 1969 (Erstaufl. 1960), S.   270.

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Verbindlichkeit einer ‚staatlichen Verkündigung‘, wie andere Kreismitglieder insbesondere Georges Spätwerk interpretierten, wird aufgelöst zugunsten eines vielschichtigen dichterischen Deutungsangebots für individuelle Rezipientinnen und Rezipienten. VI. Ernst Morwitz’ Beziehung zu Stefan George Die radikale Individualisierung, die Morwitz’ George-Deutungen prägte, war auch das Ergebnis ihrer Beziehung. Ernst Morwitz und Stefan George kommunizierten auf eine Weise miteinander, die von keiner anderen Freundschaft Georges überliefert ist. Das lässt sich bereits an kleinen äußeren Zeichen ablesen: Während Morwitz’ Briefe (wie auch die Friedrich Gundolfs an Stefan George) in Kurrentschrift mit annähernd regulärer Groß- und Kleinschreibung verfasst sind, und beide zudem recht bald die vertrauliche Du-Anrede gegenüber George benutzten, schrieb beispielsweise Friedrich Wolters seine Briefe stets in ‚staatlicher‘ Stefan George-Schrift und benutzte zeitlebens das formelle ‚Sie‘ als Anrede des ‚Meisters‘, wobei angesichts von Wolters’ Eifer in der Arbeit für Meister und Kreis wohl davon auszugehen ist, dass es George war, der eine vertrauliche Du-Anrede nicht zugelassen hatte.29 Aus dem Kreis um die ‚Blätter für die Kunst‘ waren nach der Jahrhundertwende nur Karl Wolfskehl und Carl August Klein in Georges engerer Umgebung verblieben und Friedrich Gundolf als altersmäßig jüngster Freund. Um 1905 kamen dann Robert Boehringer und Ernst Morwitz dazu, beide entwickelten wie Gundolf eine jeweils enge freundschaftliche, aber individuelle Bindung an George. Es war Friedrich Wolters, der den bis dahin locker verbundenen Kreis aus 29 Die

enge Beziehung Stefan Georges zu Friedrich Gundolf und deren Geschichte ist der interessierten Öffentlichkeit nicht zuletzt durch ihren publizierten Briefwechsel bekannt, von der engen Vertrautheit der Vorkriegszeit über die Krisen der 1920er Jahre bis zur endgültigen Trennung 1926. Auch die staatlich-steile Beziehung zu Friedrich Wolters ist durch dessen 1998 publizierten Briefwechsel mit George detailreich belegt. Vgl. Stefan George / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer und Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1962; Stefan George / Friedrich Wolters: Briefwechsel 1904–1930. Mit einer Einleitung hg. von Michael Philipp, Amsterdam 1998. Zur Geschichte und Bedeutung von Friedrich Wolters und Friedrich Gundolf im George-Kreis vgl. Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   213  ff., S.   290  ff.

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jüngeren Freunden – aufbauend auf der Kernzelle des Niederschönhausener Akademikerzirkels mit Kurt Hildebrandt, Berthold Vallentin u. a. – durch seine Schriften und deren Akzeptanz durch George zu einem ideellen Jüngerkreis verband; eine Konzeption, die unter den Freunden Georges nicht unwidersprochen blieb und sich erst in der jüngeren Generation, mit Max Kommerell, den Brüdern Walter und Johann Anton, Walter Elze, Rudolf Fahrner, den Brüdern von Stauffenberg u. a. wirklich durchsetzte. Eine Idealisierung soldatischer Härte und Askese und aktionistische Vorstellungen von Mission, Kampf und Tat begannen ab der Mitte der 1920er Jahre auch die Idee des ‚schönen Lebens‘ im Zeichen der Kunst und der Bildung beiseite zu schieben. Morwitz, Gundolf, Boehringer, Edgar Salin, Kurt Singer, die Ehepaare Julius und Edith Landmann und Karl und Hanna Wolfskehl, die für ein individualisiertes Ideal einstanden, also für ein Bildungsangebot an Einzelne, welches Georges Lyrik für sie darstellte und durch die Kreisschriften vermittelt werden sollte, verloren an Einfluss und Bedeutung gegenüber einer Enkelgeneration, die von neuen Ideen geprägt wurde. Aus gleichberechtigten Einzelpersonen mit Bezug auf George wurde unter dem Einfluss von Wolters und durch die neue, allerdings durch Morwitz implementierte Instanz des Erziehers in den 1920er Jahren schließlich eine Jugendgemeinschaft mit einer relativ einheitlichen Deutung der Georgeschen Sendung geformt. Anders als Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters sah es Morwitz bis zum Beginn der 1930er Jahre nicht als seine Aufgabe an, eine eigene Auslegung der Georgeschen ‚Lehre‘ zu publizieren oder sich um die Missionierung größerer Gruppen von Jugendlichen zu bemühen, sondern sah seine Bestimmung im Kreis darin, einzelne Jugendliche auf den Dichter hin zu erziehen, ihnen eine Anleitung zum ‚schönen Leben‘ zu geben. Seine erste Deutung der Gedichte hatte er 1934 in diesem Sinne „Den jüngeren Freunden Silvio ∙ Bernhard und Sven“ gewidmet. Zu Ernst Morwitz’ Zöglingen, die er im Sinne des George-Kreises erzog, gehörten in der Folgezeit die Brüder Bernhard und Woldemar von Uxkull-Gyllenband (1899–1918 und 1898–1939), Adalbert Cohrs (1897–1918), Sven Erik Bergh (1912–2008), Silvio Markees (1908–1991), Ottmar Hollmann (1915–2005) und die Brüder Bernhard und Dietrich von Bothmer (1912–1993 und 1918–2009).

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt21

In Ernst Morwitz’ letztem Brief an den Dichter, einem Geburtstagsbrief vom 11. Juli 1933, wird schließlich eine Entfremdung thematisiert, die mit Beginn der 1920er Jahre zwischen ihnen eingetreten und nicht wieder beseitigt worden war: Zu diesem Tag wünsche ich eine Reihe von heiteren Jahren! In jeder Alterstufe sieht wohl jeder die Dinge des Lebens immer von neuem verändert. Wenn ich versichere, dass ich vieles anders, mehr unter dem Zwang des Lebendigen stehend – sehe, so weiss ich wohl, dass das Vergangene vorüber ist, und es widerstrebt mir sinnlose Betrachtungen darüber anzustellen, ob es noch schöner und reicher hätte sein können als es war.30

Der schmerzliche Verlust, den dies für Ernst Morwitz bedeutete, wird in dem Brief ebenso deutlich wie sein Sich-Fügen in eine Konstellation, die offenbar Georges Wunsch und Wille gewesen war. So wurde aus einer tiefen Freundschaft und Liebesbeziehung, parallel zur Veränderung des George-Kreises von einem Freundschaftsbund aus Schülern, Studenten und Künstlern zum ‚Staat‘ mit dem ‚Meister‘ George als dessen charismatischem Zentrum, in den 1920er Jahren ein ‚staatliches‘ Verhältnis. Andere, jüngere Kreismitglieder traten in die unmittelbare Nähe Georges und in die Mitte des Kreises, und es ist dabei aus keiner Quelle mehr auszumachen, wie stark dies ein durch George initiierter und gesteuerter Prozess war oder wie sehr hier Gruppen von Jugendlichen und älteren Kreismentoren selbstständig die Initiative ergriffen und sich – gestützt durch die Jugendmythen in Georges Lyrik – des Dichters bemächtigten. Um seine Position als charismatische Mitte des Kreises aufrechtzuerhalten, war es für George eigentlich von entscheidender Bedeutung, dass er nicht jederzeit für die Kreismitglieder verfügbar war, sondern jeweils autonom entschied, wann diese ihm begegnen durften. Je kränker er jedoch ab der Mitte der 1920er Jahre wurde, umso weniger gelang ihm diese Aufrechterhaltung seiner Autonomie. Er war mehr und mehr angewiesen auf die Hilfe und Unterstützung von Freunden, und die jüngeren im Kreis wie Max Kommerell, die Brüder Johann und Walter Anton, Frank Mehnert und die drei Brüder von Stauffenberg nutzten die Gelegenheit. Politische und ästhetische Oppositionen brachen deshalb ab der Mitte der 1920er Jahre in aller Schärfe auf. Dass es sich hierbei auch

30 Morwitz

an George am 10. Juli 1933. GMB, S.   556  f.

22

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um weltanschauliche Konflikte handelte, die an Generationszusammenhänge gebunden waren und bei den Jüngeren vielfach mit anti-bürgerlichen und anti-demokratischen Gesellschafts- und Staatsutopien sowie zum Teil völkisch-rassistischen Überzeugungen einher gingen, hatte nicht nur Edith Landmann (1877–1951) im Raum des Kreises sensibel bemerkt und 1926 nach ihrer Erinnerung George vorgetragen.31 Insbesondere waren es die voluminösen Monografien der jüngeren Generation, beispielsweise Ernst Kantorowicz’ ‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ (1927) und Max Kommerells ‚Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik‘ (1928), in denen solche Übergänge sichtbar wurden. Texte wie diese, begleitet durch Friedrich Wolters’ konservativ-revolutionäre Vorträge32 in den 1920er Jahren und schließlich seine monumental überhöhte Geschichtsschreibung in ‚Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890‘ (1930), griffen in Sujet und Argumentation in das Feld der Politik aus und operierten mit einer diffusen Verbindung von Politik und Literatur, Ästhetik und Handeln. Durch die konzeptionelle Amalgamierung ästhetisch-intellektueller und politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen verschwammen die Grenzen zwischen einem neuen ‚Reich der Bildung‘ und einem neuen politischen Reich in den 1920er Jahren im George-Kreis, besonders unter den Jüngeren, immer stärker. Die eigene Bildungsgemeinschaft wurde dadurch potentiell zur Herrscherelite, die neue Platonische Akademie, als die sich der George-Kreis selbst beschrieb, zur Schule möglicher künftiger kultureller und politischer Führer. Für Ernst Morwitz war der durch die jüngeren Akteure im Kreis bewirkte Verlust seiner Nähe zu George eine zutiefst schmerzende Erfahrung. Er ertrug sie und fand neue Aufgaben im Namen Georges, der ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre immer stärker hinter der meisterlichen Pose verschwand und von einem ‚Staat‘ aus jungen Männern abgeschirmt wurde, die gegenüber Ernst Morwitz und anderen älteren Kreismitgliedern wie eine Phalanx auftraten. Die Briefe, die Stefan George von 1905 bis zum Beginn der 1920er Jahre überwiegend eigenhändig an Ernst Morwitz richtete, waren hingegen von ganz anderer Natur gewesen. Hier zeigte sich in den ersten Briefen zunächst der Dichter. 31 Vgl.

Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S.   158. 32 Vgl. Friedrich Wolters: Vier Reden über das Vaterland, Berlin 1927.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt23

Die Jugendgedichte des Berliner Gymnasiasten, den wie viele bürgerliche Jugendliche auf den Gymnasien und Universitäten des Kaiserreichs eine euphorische Literaturrezeption insbesondere jüngerer, avantgardistischer Dichter wie George oder Hofmannsthal und eigene Versuche als Lyriker ausgezeichnet hatten,33 beantwortete George mit Ernst und beratender Wertschätzung.34 Ernst Morwitz seinerseits trug in seinem ersten Brief alle konstituierenden Elemente zusammen, die ihn als bürgerlichen Jugendlichen des Kaiserreichs zu George trieben: Dichterverehrung, Schönheitskult, elitäre Abgrenzung von der Masse, Jugendeuphorie und Suche nach neuer Gemeinschaft. Bereits in seinem zweiten Brief an George gebrauchte Morwitz die Anrede „Mein Meister“, obwohl aus Georges erstem Brief weder eine solche Aufforderung noch eine Haltung des Dichters hervorgeht, die diese Anrede nahegelegt hätte und eine Begegnung noch nicht stattgefunden hatte. Vielmehr platzierte sich Morwitz offenbar selbstständig als „Schüler zum Meister“.35 George redete ihn zunehmend mit „Lieber/liebster Ernst“ an und ab Dezember 1910 kontinuierlich mit Du. Morwitz gebrauchte die Du-Anrede ebenfalls ab Dezember 1910.36 Für Ernst Morwitz wurde der ältere Dichter – wie etwa zur gleichen Zeit auch für die Mitglieder des Kreises um Friedrich Wolters und Bert­ hold Vallentin – nach und nach zu einer Leitfigur, die nicht nur seine Dichtungen beurteilte, sondern auch seine Lebensplanung beeinflusste und die von ihm in schwierigen Phasen als Entscheidungsinstanz angerufen wurde, z. B. bei der Wahl des Studienorts: „Sie rieten mir im vorigen Herbste sehr – nach Muenchen zu gehen. Dann jetzt im Winter hielten Sie Heidelberg fuer geeigneter. Ich wollte Sie noch einmal um Ihren Rat bitten.“37 So entstand aus eigener dichterischer Tätigkeit und einer emphatischen Rezeption der Dichtung Georges unter dessen Anleitung allmählich ein Identitätskonzept, das ein Leben für die Dich-

33 Vgl.

zu bürgerlicher Jugend und Literatur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   334  ff. 34 Vgl. George an Morwitz und Morwitz an George. Briefe zwischen 23. August 1905 und 19. Juni 1906. GMB, S.   67–79. 35 Morwitz an George am 12. September 1905. GMB, S.   69. 36 George an Morwitz am 10. Oktober 1910 (Poststempel). Morwitz an George am 7. Dezember 1910 (Poststempel). GMB, S.   108, S.   112. 37 Morwitz an George am 10. März 1907. GMB, S.   89.

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tung – eigene Gedichte, Begegnungen mit George, später auch Dichtungen mit seinen Schülern – zur sinnstiftenden Mitte des Daseins erhob.38 Ab 1907 begann George, mit Hilfe von Ernst Morwitz einen Kreis von Jugendlichen außerhalb des Kreises um Friedrich Wolters und Berthold Vallentin um sich zu bilden, eventuell durch diesen Kreis motiviert, den er 1906 kennengelernt hatte. Bereits zu Beginn des Jahres 1907 ist die Rede davon, dass Ernst Morwitz einen Jugendlichen zu George einbestellt.39 In diesen Jahren, zwischen 1905 und 1907, entstand die Grundfiguration des eigentlichen George-Kreises, die emotionale Nahbeziehung eines Älteren zu jüngeren Männern, eingebettet in eine Gemeinschaft stiftende und Weltanschauung vermittelnde Rezeption der Lyrik Georges. Gestützt wurde die Kreiskonstitution durch Georges Privat-Publikation ‚Maximin. Ein Gedenkbuch‘ (1906) und durch den Maximin-Mythos im ‚Siebenten Ring‘ (1907). Die Beziehung zwischen Morwitz und George wurde in ihrer Entstehungszeit damit unmittelbar eingebunden in ein wachsendes Brief- und Beziehungsnetz, das sich um George herum organisierte, schließlich eine eigene Dynamik und Sozialgestalt als George-Kreis gewann und innerhalb dessen es vielen Mitgliedern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelang, sich als Professoren an den deutschen Universitäten zu platzieren. Ein Großteil der geistigen und lebenspraktischen Bedeutung des George-Kreises in der Kultur-, Wissenschafts- und Bildungslandschaft des Kaiserreichs und der Weimarer Republik verdankt sich der Tatsache, dass es die Georgeaner verstanden hatten, die Universitäten als Transmitter ihrer Vorstellungen und Ideen einzusetzen und als Rekrutierungsmilieu potentieller Kreisaspiranten zu nutzen. Bereits im Dezember 1907 formulierte Ernst Morwitz sein Bedürfnis nach einem Zusammensein mit George mithilfe von Bildern körperlicher Nähe: „Jetzt kann mir nicht so die Kraft mangeln wie frueher. Sie sind in meiner Naehe – koerperhaft, so vollgesogen fuehle ich mich. 38 Am

ehesten vergleichbar ist die enge Beziehung zwischen Morwitz und George mit derjenigen zwischen George und Friedrich Gundolf. Wie im Falle von Gundolf im ‚Siebenten Ring‘ gestaltete George die Beziehung zu Morwitz in einer Folge von Gedichten im ‚Stern des Bundes‘. George unterstrich in diesen Gedichten an Morwitz zugleich dessen Bedeutung für den entstehenden Kreis: „Die uns nur eignet: dein und meine runde / Sie sollst du füllen und wir sind erfüllt .  .“ George, Der Stern des Bundes (SW VIII), S.   57. 39 Vgl. Morwitz an George am 2. Februar 1907. GMB, S.   88.

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Ich bin bei Ihnen!“40 Auch wenn Ernst Morwitz hier in passivischen Formulierungen eine sehnsuchtsbehaftete Körperlichkeit beschwor, so ist daraus nicht auf ein asymmetrisches Verhältnis zu schließen, denn gleichzeitig hieß es im Brief: „Ich verfolge Sie und glaube Ihre Schritte zu hoeren.“ Dass hier ein erotisches Begehren anklingt, lässt sich kaum bestreiten. Allerdings stand einer klaren Formulierung dieses Begehrens der Paragraph 175 des zum 1. Januar 1872 für das gesamte Kaiserreich in Kraft getretenen ‚Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich‘ entgegen, der „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“, mit Gefängnis bestrafte; „auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden“.41 Dass Stefan George selbst Männer begehrte und liebte und dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch sexuell auslebte, ist in der Forschungsliteratur inzwischen nicht mehr umstritten.42 Auch nicht, dass die Mehrzahl seiner Liebesgedichte eine mann-männliche Liebe und Erotik und später, insbesondere im ‚Stern des Bundes‘, eine pädagogisch gewendete Homoerotik zum Thema hat. Bislang ist jedoch die aktiv-gestaltende, in manchen Beziehungen auch psychisch gewaltförmige Kraft durchweg auf Seiten Stefan Georges verortet worden. Der Briefwechsel zwischen Ernst Morwitz und Stefan George spricht eine andere Sprache, nämlich die einer erotischen, höchstwahrscheinlich auch sexuellen Beziehung, in der Machtverhältnisse und Abhängigkeiten der beiden beteiligten Personen deutlich ambivalenter strukturiert waren als in der Forschung zum George-Kreis und seinen Strukturen oft angenommen. Dazu tritt im Briefwechsel zwischen Morwitz und George allerdings bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein höchst problematischer Aspekt, der in Verständnis und Begrifflichkeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik nur unscharf von praktizierter Homosexualität zwischen erwachsenen Männern unterschieden wurde: das homosexuelle 40 Morwitz

an George am 5. Dezember 1907 (Poststempel). GMB, S.   93. für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, in Kraft getreten am 1. Januar 1872, § 175, S.   142. Handausgabe mit Erläuterungen von Friedrich Oskar von Schwarze. 2. verb. und verm. Aufl., Leipzig 1876 (Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek); abrufbar als Permalink unter URN: http://mdznbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11332548-2 (Abruf 3. 4. 2019). 42 Vgl. dazu die Biographien von Thomas Karlauf und Kai Kauffmann. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014. 41 Strafgesetzbuch

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Begehren und möglicherweise die sexualisierte Gewalt43 gegenüber männlichen Jugendlichen.44 Im Briefwechsel werden pädagogische Beziehungen sichtbar, welche unlösbar mit dem Prinzip des Eros, also mit einer auch körperlich motivierten Attraktion und Liebe zum Zögling, verknüpft waren. VII. Denkräume: Eros als Kulturphilosophie Dass das Schöne zugleich Ausdruck des eigentlich Humanen sei, war im George-Kreis eine zentrale Überzeugung und blieb es bis zu Georges Tod. Damit einher ging die Zurückweisung bürgerlicher, im Kreis als ‚gewöhnlich‘ und ‚uneingeweiht‘ abgewerteter Moralvorstellungen, wie sie in den genannten Paragraphen des Strafgesetzbuchs des Kaiserreichs, 43 Die

Herausgeberinnen haben sich in diesem Zusammenhang für den Begriff der ‚sexualisierten Gewalt‘ entschieden, weil er, ohne der Sexualität ein generelles Strukturmoment von Gewalt zuzuschreiben (wie dies Begrifflichkeiten wie sexuelle Gewalt oder Sexualgewalt nahelegen könnten), Macht- und Gewalt­ ausübung gegenüber Minderjährigen in ihrer sexualisierten Form beschreibt. Mit Gewalt wird dabei nicht nur die Anwendung körperlicher Gewalt bezeichnet, sondern Eingriffe in die sexuelle Unversehrtheit Minderjähriger jeglicher Art.   Vgl. zur Begrifflichkeit Alexandra Retkowski / Angelika Treibel / Elisabeth Tuider: Einleitung: Pädagogische Kontexte und Sexualisierte Gewalt. In: Dies. (Hg.): Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis, Weinheim 2018, S.   15–30, hier S.   22  f. 44 § 175 richtete sich dezidiert gegen einen Sexualverkehr „zwischen Personen männlichen Geschlechts“; homosexueller Verkehr zwischen Frauen wurde im § 175 nicht erwähnt. Ein zeitgenössischer Rechtskommentar aus den 1870er Jahren vermerkte, dass es unklar bleibe, ob im § 175 der gleichgeschlechtliche Sexualverkehr unter Männern generell gemeint sei oder ob der Paragraph auf „Päderastie“ ziele. Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (Anm.   41), Kommentar zu § 175, S.   142, Zitate ebd. In der Rechtsprechung des Kaiserreichs wurde männliche Homosexualität zwischen Erwachsenen jedoch strafrechtlich verurteilt. § 174 des Strafgesetzbuchs stellte darüber hinaus „unzüchtige Handlungen“ von Erziehern und Fürsorgepersonen mit ihren „minderjährigen Schülern oder Zöglingen“ beiderlei Geschlechts (d. h. unterhalb des bis 1876 bestehenden gesetzlichen Mündigkeitsalters von 25 Jahren, danach von 21 Jahren) mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus unter Strafe. Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (Anm.   41), S.   140. Für den sexuellen Verkehr sowie unzüchtige Handlungen jeder Art mit männlichen oder weiblichen Minderjährigen unter 14 Jahren sah der § 176 des Strafgesetzbuchs darüber hinaus eine Zuchthausstrafe von bis zu zehn Jahren vor. Vgl. ebd., § 176, S.   142  f.

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die auch in der Weimarer Republik weitergalten, niedergelegt waren. Eine Abwehr wurde im George-Kreis aber auch gegenüber der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen entwickelt. Sowohl dem staatlichen Strafgesetzbuch als auch der Homosexuellenbewegung hielten Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters als Autoren der ‚Einleitung‘ des dritten ‚Jahrbuchs für die geistige Bewegung‘ vor, die Kulturbedeutung mann-männlicher Beziehungen nicht zu erfassen: Wir fragen nicht danach ob des Schillerschen Don Carlos hingabe an Posa, des Goetheschen Ferdinand an Egmont […] irgend etwas zu tun hat mit einem hexenhammerischen gesetzesabschnitt oder einer läppischen medizinischen einreihung: vielmehr haben wir immer geglaubt in diesen beziehungen ein wesentlich bildendes der ganzen deutschen kultur zu finden. Ohne diesen Eros halten wir jede erziehung für blosses geschäft oder geschwätz und damit jeden weg zu höherer kultur für versperrt. […] Es ist auch nicht ein moralisches vorurteil was heute noch die menschen gegen diese freundschaft empört, ihnen ist gleich unverständlich, im tiefsten grund widerlich die liebe des Dante zu Beatrice wie des Shakespeare zu seinem freund: es ist die abneigung des amerikanischen, pathoslos gewordenen menschen gegen jede form der heroisierten liebe. Dass wir nichts zu tun haben mit jenen keineswegs erfreulichen leuten die um die aufhebung gewisser strafbestimmungen wimmern, geht schon da­ raus hervor dass gerade aus solchen kreisen die widerlichsten angriffe gegen uns erfolgt sind.45

Die Einordnung der Homosexualität als rein körperlich-triebhaftes Geschehen durch die medizinische Forschung wurde im Text mit der Bedeutung mann-männlicher Liebe für Erziehung, Bildung und Kultur konfrontiert. Diese bedürften alle eines nicht näher definierten Eros. Als „heroisierte liebe“ bezeichnet wurden in dem Text aber sowohl die mann-männliche Freundschaft als auch die Liebe zwischen zwei Männern sowie die zwischen Männern und Frauen, sofern sie nach Maßgabe des Kreises bestimmten Kriterien genügten. Das Zitat enthält bei genauer Hinsicht keine dezidierte Stellungnahme gegen Homosexualität, sondern wehrt die unmittelbare Gleichsetzung einer als kulturstiftend interpretierten und heroisierten mann-männlichen Liebe mit Homosexualität ab. Gleichwohl wird in dem Zitat deutlich, dass sich die Kreismitglieder des prekären Verhältnisses von bürgerlicher Sexualmoral, der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen, den Straftatbeständen des Reichsstrafgesetzbuchs und einer rein homosozialen und 45 Gundolf / Wolters,

Einleitung der Herausgeber (Anm.   5), S. VI  f.

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geistig wie erotisch begründeten Dichter- und Erziehungsgemeinschaft bewusst waren. Das Theorem vom Schönen als dem Humanen eröffnete den Mitgliedern des George-Kreises und George selbst die Auswahl als schön klassifizierter männlicher Jugendlicher, vereinzelt auch Kinder, für die Erziehung im Kreis unter der Maßgabe, dass die Schönheit der Gestalt zugleich auf eine innere ‚Substanz‘ verwies. ‚Substanz‘ war in den Texten der Georgeaner grundsätzlich keine metaphysische Größe, sondern das Ergebnis historischer Entwicklung und der in ihr erfolgten Entfaltung der Kultur, deren Qualität sich an der Existenz großer Menschen, den Trägern der Substanz, erwies. Diese schöpferische, die Epochen prägende Substanz war nach Auffassung Georges und der Kreismitglieder in der modernen Gesellschaft zwar bedroht, sollte aber durch die eigene Kulturbewegung und die Kreisorganisation um den Dichter gerettet werden können: „Wir glauben wohl dass jezt noch reste von alten substanzen erhalten sind die man noch nicht abwirtschaften konnte.“46 Wiedererweckung und Erhaltung der Substanz wurde für den George-Kreis zu einer wegweisenden Aufgabe für die Zukunft. Die ‚Substanz‘ war somit historisch gebunden, wurde in der Kategorie des ‚schönen Leibes‘ letzten Endes aber doch metaphysisch aufgeladen. Denn der schöne Leib war gleichsam ewiger und einem griechisch-antiken Ideal nachgebildeter Ausdruck vollkommener und sichtbarer Harmonie zwischen Körper und Geist. An dieser Harmonie sollten die schöpferische Kraft und die Entwicklungsfähigkeit der Kreisaspiranten erkennbar sein, welcher durch Erziehung und Bildung nur noch zu ihrem vollendeten Ausdruck verholfen werden musste. Der schöne Leib wurde dadurch auch zum schöpferischen Impuls und zugleich zum Inhalt des dichterischen Werks. Im ‚Stern des Bundes‘ heißt es: „Ein leib der schön ist wirkt in meinem blut / Geist der ich bin umfängt ihn mit entzücken: / So wird er neu im werk von geist und blut / So wird er mein und dauernd ein entzücken.“47 Der schöne Leib wurde zur Zielsetzung der Erziehung der Jugend im Sinne einer Anleitung zur anmutigen Bewegung und Gebärde und zur eigenen dichterischen Tätigkeit, sowohl der Jugendlichen als auch Georges. Dichtung und Erziehung erweisen sich in den Publikationen des George-Kreises als aus den gleichen Voraus46 Ebd., 47

S. VIII. SW VIII, S.   78.

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setzungen und Erlebnissen hervorgegangen und werden miteinander auch in engste Beziehung gesetzt. Erziehung bedeutete Erziehung zur dichterisch-kultischen Mitte, wie sie im Dichter und in seinem Werk realisiert war. Die Gestaltung eines neuen Reichs der Kunst und der Bildung wurde nach Maßgabe Georges und der Kreismitglieder ermöglicht durch den Eros als Erziehungsprinzip; die Erziehung wiederum wurde bedingt durch die liebende Anschauung des schönen Leibes. Der pädagogische Eros war im George-Kreis zudem mehrfach konnotiert: Er beschreibt nicht nur das erzieherische Ethos des Dichters, der das geschaute Wissen an die liebenden und verehrenden Jünglinge weitervermitteln will, sondern auch die Zuneigung der Jünglinge zueinander als „liebesring“48 um eine kultische Mitte und die Liebe zu den Ideen und zu ihrem Verkünder, dem Dichter.49 Friedrich Gundolf hat die im Kreis entwickelte Idee der Jugend 1920 suggestiv-pathetisch verkündet: Deutsche Jugend […] ist eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist. Nur der Grieche und der Deutsche haben das Menschtum als Jünglinge erfüllt, auf der Stufe des vollendeten Blühens, des erwachenden Geistes und des schönen Leibes. Nur bei diesen Völkern ist Jugend nicht bloß Naturzustand, sondern Geist=lage. […] Griechische Jugend hat den Leib vergottet. Deutsche Jugend kann den Gott verleiben: denn nur ihr Geist kennt noch dies kosmische Heimweh, das sich in Zwecken und in Stoffen nicht beruhigt.50

Weil das deutsche Wesen an sich gestaltlos sei, so beschrieb es 1918 der dem Kreis damals nahestehende Germanist Ernst Bertram, benötige es Bildung. Sie bedeutete ihm „Begrenzung“, im Sinne einer dauerhaften Übereinstimmung von äußerer Haltung und Gestik mit inneren Einstellungen und Denkformen. Der ‚schöne Leib‘ war in dieser Hinsicht Teil und Ausdruck eines gelingenden Bildungsprozesses. Bildung, so fasste

48 Vgl.

„Aus diesem liebesring dem nichts entfalle / Holt kraft sich jeder neue Tempeleis / Und seine eigne – grössre – schiesst in alle / Und flutet wieder rückwärts in den kreis.“ SW VIII, S.   101. 49 Vgl. zum Zusammenhang von Substanz und Eros als gedanklichen Kategorien im George-Kreis Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   412  ff. 50 Friedrich Gundolf: George, Berlin 1920, S.   205  f.

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es Bertram, ist Ordnung, die gegen das Chaos steht: „Deswegen ist Bildung, Erziehung eine ‚Idee der Mitte‘ bei allen deutschen Führern“.51 Die Bildung der Jugend zu ihrer Vollendung wird zum Auftrag an die Gemeinschaft und zu einer zumindest die Kultur verändernden Sendung. Problematisch wurde diese Theorie in ihrer Übertragung auf die Erziehung im Kreis, in der einerseits die in Frage kommenden Jugendlichen den kaum rationalisierbaren Auswahlkriterien entsprechen sollten und andererseits die ideellen Ziele erzieherisch umgesetzt werden sollten. In der Praxis reduzierte sich der hohe Anspruch an den schönen Leib in der Regel auf eine körperliche Schönheit nach antikem Vorbild, und die Schönheit des Geistes wurde überwiegend mit der Kenntnis der Lyrik Georges und der Fähigkeit zur Gedichtrezitation, mit Bildungswissen und bildungsbürgerlicher oder adliger Herkunft gleichgesetzt. So verwies Ernst Morwitz in seinen Briefen an George wiederholt auf die soziale Herkunft möglicher Kreisaspiranten.52 Da der George-Kreis für die Außenwelt eine rein männliche Generations- und Bildungsgemeinschaft darstellen wollte, obwohl Frauen in der konkreten Kreispraxis nicht nur an dessen Peripherie eine wichtige Rolle spielten,53 war die Definition der mann-männlichen Beziehungen für die innere Praxis von ebenso großer Bedeutung wie die äußere Abgrenzung von Homosexualität und der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen. Dass viele Kreismitglieder der älteren Kreisgeneration vor oder während ihrer Kreiszugehörigkeit Ehen eingingen, stellte für den Kreis daher kein grundsätzliches Problem dar. Für Friedrich Wolters, 51 Ernst

Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918). 4. Aufl., Berlin 1920, S.   73, S.   78. 52 Vgl. z. B. Morwitz an George am 20. Juni 1913 (Poststempel) und am 25. Januar 1914. GMB, S.   195, S.   208. 53 Vgl. dokumentarisch und analytisch eindrücklich den Band ‚Frauen um Stefan George‘. Hg. von Ute Oelmann / Ulrich Raulff, Göttingen 2010. Frauen wie Hanna Wolfskehl, Edith Landmann, Erika Wolters, Clotilde Schlayer und andere waren für George mehr als nur Randfiguren seines Kreises. Mit ihnen diskutierte er und bezog sie in seine Lebensführung ein: Er wohnte bei und mit ihnen, ließ sie gemeinsam mit den Männern Gedichte rezitieren und Teil kreisinterner Veranstaltungen sein. Nicht zuletzt übernahmen sie auch Organisationsaufgaben für George hinsichtlich des Kreises, wie beispielsweise Erika Wolters in Marburg für den Schülerkreis um ihren Mann Friedrich Wolters, den sie aktiv mitgestaltete und zu welchem sie parallel einen eigenen Kreis junger Frauen um sich versammelte.

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Berthold Vallentin, Kurt Hildebrandt und viele andere im Kreis war die Eheschließung, auch aus Sicht Georges, durchaus keine ‚Staatssache‘, während sie im Falle Friedrich Gundolfs 1926 zwar auslösendes Moment der Trennung von George und Kreis gewesen war, die eigentlichen Ursachen jedoch weit tiefer gelegen und sich bereits über Jahre angebahnt hatten.54 Für die homosoziale Struktur des George-Kreises waren die heterosexuellen Beziehungen der Kreismitglieder letztlich unmaßgeblich. Sie gehörten aus Sicht des Kreises einer anderen Sphäre an. Grundsätzlich galt für alle Kreismitglieder eine Trennung von Privatsphäre und ‚Staatssphäre‘. Die sexuelle Realisierung blieb Privatsache, gleichgültig mit welcher sexuellen Orientierung sie verbunden war. Gleichzeitig boten die Idealisierung und Pädagogisierung der mann-männlichen Erotik in Georges Gedichten und in vielen Kreistexten die Möglichkeit, sowohl homosexuelle Orientierungen, aber auch pädosexuelle Neigungen zu männlichen Kindern und Jugendlichen in einen ideellen Zusammenhang zu stellen und dadurch bürgerliche Moralvorstellungen der Zeit, im zweiten Fall auch ethische Grenzen, leichter überschreiten, d. h. ein mögliches sexuelles Begehren unter Umständen auch ausleben zu können. Hier konnten die Kreisideen zu Erziehung und Bildung als Kontext der Rechtfertigung eingesetzt werden. VIII. Literatur und Sexualität Doch die Kunst ist ein autonomes Feld. Theodor W. Adorno hatte in seiner Abhandlung über George im Grundsatz festgehalten: „Die pompöse Frage: Wie geht das weiter, wohin führt es, […] gereicht der Kunst nur zum Unheil.“55 George entwarf in seinen Gedichten, begin54 George

hatte um 1910 auf eine Ehe Gundolfs mit Fine Sobotka (1889–1959) gehofft, die er schätzte. 1912 heiratete sie stattdessen Erich von Kahler (1885–1970), der dem George-Kreis ebenfalls nahestand. Zudem hatten sich weltanschauliche Differenzen und persönliche Entfremdungen zwischen Gundolf und George eingestellt. 55 Theodor W. Adorno: George. In: Ders.: Gesammelte Schriften. 20 Bde. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd.   11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M.   1974, S.   523–535, hier S.   523. Schärfer argumentiert Karlauf, der den ‚Stern des Bundes‘ als „ungeheuerlichen Versuch, die Päderastie mit pädagogischem Eifer zur höchsten geistigen Daseinsform zu erklären“, liest. Karlauf interpretiert den ‚Stern des Bundes‘ nicht primär als Kunstwerk, sondern als in Verse gegossenen Lehrtext

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nend mit dem Zyklus ‚Algabal‘ (1892), immer wieder aufs Neue radikal amoralische Szenarien und Handlungsabfolgen. Im ‚Siebenten Ring‘ (1907) gestaltete er in dem Gedicht ‚Empfängnis‘ eine Überwältigungs­ szene, die auch als sado-masochistischer Sexualakt gelesen werden kann: Da du erst verhundertfältigt / Meinen blick in jener stunde: / Hat dein sturm mich überwältigt. // Hilflos griff er den beschwornen · / Wälzte ihn in finstre schrunde · / Den zu andrem licht gebornen // Riss er dann auf hohe schroffen .  . / […] // Dass kein laut mehr in mir poche / Anders wie der dir gemässe: / Presse mich in deinem joche · // Schliess mich ein in wolkigem bausche · / Nimm und weih mich zum gefässe! / Fülle mich: ich lieg und lausche!56

Das Gedicht lässt sich als gewalttätiger körperlicher Akt lesen wie es ebenso auch als Entrückung des Dichters in eine andere Welt und als Empfängnis eines esoterischen Wissens interpretiert werden kann. Es kann darüber hinaus als die Beziehung eines Wissenden zu einem Schüler und als dessen liebende Unterwerfung unter eine überwältigende Belehrung aufgefasst werden.57

für eine elitäre Gemeinschaft: „Dichten war für George in den Jahren nach Veröffentlichung des ‚Siebenten Rings‘ zunehmend zu einer pädagogischen Aufgabe geworden.“ Karlauf, Stefan George (Anm.   42), S.   394, S.   389. Dennoch bleibt der ‚Stern des Bundes‘ ein Gedichtband, und die Jugendbewegung rezitierte Gedichte daraus zu Lebzeiten Georges an ihren Lagerfeuern mit eigener weltanschaulicher Deutung ebenso wie viele andere Weltanschauungsgemeinschaften. Selbst die lyrische Fassung bündischer Rituale und Praktiken wie in den folgenden Gedichtzeilen aus dem ‚Stern des Bundes‘: „Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!“, konnten Leserinnen und Leser alternativ auch als romantisch-unbedingten Liebesschwur interpretieren. Kein Rezipient und keine Rezipientin konnte gezwungen werden, das Gesamtkonzept des ‚Sterns des Bundes‘ nachzuvollziehen, sondern Gedichte konnten individuell gedeutet, in einer Bricolage verse- oder gedichtweise in neue Zusammenhänge jenseits der Ursprungsidee des Autors gesetzt und mit Gedichten anderer Autoren verbunden werden. Die große semantische Offenheit der Lyrik Georges förderte vermutlich unterschiedliche Praktiken. Gleichermaßen konnte der ‚Stern des Bundes‘ vor diesem Hintergrund als Verführungsliteratur dienen wie dies im Castrum Peregrini Wolfgang Frommels in Amsterdam der Fall war, ebenso wie dies aber auch durch andere Literatur möglich war. 56 SW VI/VII, S.   128. 57 Verben wie „überwältigen“, „reißen“, „erglühen“, „zermalmen“, „zucken“, „verschwenden“, „nehmen“ und „füllen“ eröffnen, da sie im Gedicht an keinen bestimmten Kontext gebunden werden, unterschiedliche Bezugnahmen. Kontextualisierung und konkrete Deutung hingen vom jeweiligen Leser- und

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Doch die Literatur, wie die Malerei, kann prinzipiell so verstörend sexuell und in Bildern der Gewalt darstellen wie sie will; problematisch wird dies erst, wenn der Kunst eine bestimmte Funktion in einem Handlungszusammenhang zugeschrieben wird, wenn sie beispielsweise zum Teil einer pädagogischen Praxis wird, in der ihre Aussagen vereindeutigt und zum Vorbild von Beziehungen gemacht werden. Aber die Schuld trifft nicht die Kunst, also nicht die Gedichte des ‚Siebenten Rings‘ und des ‚Sterns des Bundes‘, auch nicht deren Schöpfer in seiner Rolle als Dichter,58 sondern diejenigen, die mit ihnen jenseits des künstlerischen Feldes operieren. Denn eine Autonomie wie die Kunst kann die Pädagogik für sich eben nicht reklamieren und damit auch nicht der Erzieher George und seine Mit-Erzieher im Kreis. Pädagogik ist grundlegend eingebettet in eine verantwortliche Beziehung eines oder einer Älteren zu einer jüngeren, meist minderjährigen Person. Das Theorem des Schönen als des Humanen konnte fatalerweise im George-Kreis auch so gedeutet werden, dass das als schön Definierte (der schöne Leib, die schöne Geste, die schöne Handlung) sich als das Humane selbst rechtfertigen ließ, also über eine ethisch begründete Verantwortung hinweggehen durfte. IX. Beziehungsentwicklung im Kontext von Jugendverklärung und Pädagogik Ab 1907 begann Ernst Morwitz an George Liebesbriefe zu schreiben. Am 18. Januar 1908 schrieb er: „Ich bin maechtig und gluecklich in meinem Gefuehl fuer Sie.“59 Bereits 1906 hatte Ernst Morwitz die Brüder Woldemar und Bernhard von Uxkull-Gyllenband (geboren 1898 und 1899) Leserinnenkreis ab. Marita Keilson-Lauritz verweist in diesem Zusammenhang auf die Rezeptionsseite, d. h. auf die „Frage des Erwartungs- und Assoziationshorizonts“. Marita Keilson-Lauritz: Von der Liebe die Freundschaft heißt. Zur Homoerotik im Werk Stefan Georges, Berlin 1987, S.   43. 58 Daran ändert nichts, dass George mit dem ‚Siebenten Ring‘ (1907) konkrete Ansprüche an Leserinnen und Leser in Gedichtform zu stellen begann, in ihnen Leitbilder des „schönen lebens“ im Zeichen der Kunst, Wissenschaft und Bildung formulierte und seine Forderungen durch lyrische „Du“– und „Wir“-Ansprachen verstärkte. Auch dies verblieb im Feld der Kunst und konnte auf unterschiedlichste Weise interpretiert und adaptiert werden. 59 Morwitz an George am 18. Januar 1908. GMB, S.   98.

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kennengelernt, sie waren ihm aufgrund ihres schönen Äußeren auf der Straße und im Berliner Tiergarten aufgefallen,60 und George und er hatten 1907 Fotografien der erst neun- und achtjährigen Jungen im Berliner Tiergarten gemacht. In Ernst Morwitz’ Briefen wurde ab 1907 die Auswahl und Erziehung von Jugendlichen ein zunehmend wichtiges Thema, welches für seine Tätigkeit und Identität im Kreis um George schließlich bestimmend werden sollte. Georges Briefe sprechen dagegen zunächst überwiegend von der Beziehung der beiden Briefschreiber zueinander; und wenn sich Morwitz’ Briefe vor dem Ersten Weltkrieg durch offene Liebesbezeugungen auszeichneten, so waren Georges Briefe, als die des deutlich Älteren, durch eine Bemühung um Balance bestimmt, die beratend, tröstend und bestärkend die Stimmungsschwankungen und die Unsicherheit in der Selbstinterpretation des Jüngeren auffangen und ausgleichen sollte.61 In deutlicher Abgrenzung zur Entstehung der Dichter-Figur als eines Sehers und Gestalters neuer Reiche im ‚Siebenten Ring‘ (1907) ist in Georges Briefen an Morwitz ein beinahe bürgerliches Lebensmodell der Balance erkennbar, in dem der Einzelne für eine möglichst widerspruchsfreie Koexistenz und Integration der Felder der Lebensführung in einem individuellen Lebensentwurf verantwortlich war: Beruf, Familie, Freundschaften u. v. m. sollten miteinander ausbalanciert werden. Dieser bürgerliche Lebensentwurf mit seinem Postulat eines selbstbestimmten, durch Bildung ermöglichten Vollzugs, sollte, so lassen sich viele Briefe Georges an Morwitz lesen, unter den Bedingungen der Moderne ein neues sinnstiftendes Zentrum finden können. Dies waren die Dichtung und in der Kreispraxis die Person Georges als ‚Gestalt‘; nicht als Zwang, sondern als selbstgewählte Bindung, durch welche die Felder der Lebensführung neu geordnet und gedeutet werden konnten. Ohne dass dies bereits in Kreistexten ausformuliert worden wäre, agierte George in seinen Briefen an Morwitz im Sinne einer Ausbalancierung der Lebenspraxis des Jüngeren. 60 Da

sich Morwitz’ damalige Wohnung in der Kulmbacherstr. 6 nur wenige hundert Meter von der Uxkullschen Wohnung in der Fürther Straße befand, ist es möglich, dass die Beziehung zwischen Ernst Morwitz und den Uxkulls zunächst als Zufallsbekanntschaft auf der Straße begann. 61 Vgl. George an Morwitz nach dem 30. März 1908 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), George an Morwitz am 13. Dezember 1910, George an Morwitz vor dem 25. Dezember 1910 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   100, S.   113  f., S.   117.

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Im Dezember 1910 ging Ernst Morwitz’ Anrede gegenüber Stefan George in ein vertrauliches Du über: „Mein geliebter Meister: Ich kann es nicht fassen, dass Du nicht mehr in dieser Stadt bist. Ich suchte mich den ganzen Tag durch Arbeit zu betaeuben, aber der Schmerz der Trennung ist groesser.“62 Inwieweit mit dieser Veränderung neben einer Liebesbeziehung auch eine sexuelle Beziehung zwischen dem inzwischen dreiundzwanzigjährigen Morwitz und dem zweiundvierzigjährigen George einherging, sagen die Briefe nicht eindeutig aus. Es ist sehr wahrscheinlich, bleibt aber spekulativ. Dass die Briefsprache beider Schreiber emotionaler und intimer wurde und die Briefe körperliches Verlangen zum Thema hatten, zeigt sich allerdings am Ende des Jahres 1910 deutlich: O wuesstest Du, wie mein Leben jetzt so ganz anders ┌ist als┐ frueher. Ich fuehle mich fest auf meinen Beinen stehen und es ist mir eine groessere Freude die Dinge klar und bestehend zu sehen als traumhaft verwoben. Dein Gedicht, dessen Sendung mich sehr, sehr froh macht, verstehe ich und liebe ich wahrhaft wie es niemand sonst tun wird, denn es ist jetzt so zwischen uns, dass Du dies dichten ┌darfst┐ und ich es mit Freude anschaun darf.63 […] Mein Meister, wenn ich all dies Geschriebene ansehe, kann ich mir nicht denken, dass es etwas anderes enthaelt als eine einzige grosse Beteuerung, wie ich Dich liebe! So will es Dein Ernst.64

Und George schrieb zur selben Zeit: „Lieber! höre! Wir sind kaum erst getrennt und schon hab ich Dir ein neues zu sagen für Dich von äusserstem werte .  . Ich muss es ┌mit┐ dir teilen drum komm bald in

62 Morwitz

an George am 7. Dezember 1910 (Poststempel). GMB, S.   112. könnte sich um eines von zwei Gedichten handeln, die später von George in den ‚Stern des Bundes‘ aufgenommen wurden und die sich als Beilage der Korrespondenz bei Morwitz erhalten haben: „Wenn meine lippen sich an deine drängen“ und „Da ich mit allen fibern an dir hänge“ (SW VIII, S.   56 u. S.   63). Die betonte Körperlichkeit in den Gedichten lässt die Annahme zu, dass Morwitz sich mit seinen Zeilen zu einer begonnenen sexuellen Beziehung zu George äußerte. Vgl. den gesamten Brief vom 18. Dezember 1910. GMB, S.   116  f., mit den dortigen Anmerkungen der Herausgeberinnen im Briefwechsel sowie den Nachsatz zum Brief vom 25. Dezember 1910. GMB, S.   118, in dem Morwitz bemerkt, dass „eigentlich“ er eines der Gedichte „haette machen muessen“, womit er sich, bezogen auf den Inhalt der Gedichte, möglicherweise den aktiven Part in der Beziehung zuschreiben wollte. 64 Morwitz an George am 18. Dezember 1910. GMB, S.   116  f. 63 Es

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die arme Deines St. Wann?“65 Ab 1910 sind auch Stefan Georges Briefe deutlich durch Liebesbekundungen und den Wunsch nach körperlicher Nähe bestimmt: „Immer mehr bist Du an mich gebunden und ich an Dich und ich freue mich schon der stunde wo ich Dich wieder in meinen armen halte.“66 Die Anrede „Seele“ wird ab 1912 in Georges Briefen zu einer vertrauten Nah-Bezeichnung von Ernst Morwitz. Bemerkenswert ist, dass die Beziehung der beiden auch durch die Anwesenheit von Morwitz’ Mutter, die diesen auf Urlaubsreisen begleitete und mit ihm in derselben Wohnung in Berlin lebte,67 nicht gestört wurde, vielmehr versorgten sie und Morwitz’ Halbschwestern George mit Päckchensendungen. Stefan George hatte in diesem wie auch in vielen anderen Fällen, zum Beispiel bei den Familien Landmann und Gundelfinger (der seit 1910 verwitweten Mutter der Brüder Friedrich und Ernst Gundolf), nichts gegen einen Familienanschluss einzuwenden; vielmehr lebte er häufig im Familienkreis seiner Schüler und Freunde. Die Briefe zwischen Ernst Morwitz und Stefan George vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben eine Liebesbeziehung zunehmend gleichrangiger Briefschreiber; das körperliche Verlangen wird in ihnen wiederholt angedeutet, ohne allerdings unmissverständlich zu werden. Die Briefe Stefan Georges nehmen in Zahl und Länge in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber der Zeit vor 1910 ganz erheblich zu. Gleichzeitig begann George mit Morwitz ein briefliches Gespräch über die Schönheit junger Männer und männlicher Jugendlicher und knüpfte Beziehungsnetze im Kreis, wohingegen dieses Thema vorher, bezogen auf die Brüder von Uxkull, mehr von Morwitz als von George aktiv angesprochen worden war. „Knaben-auslese“68 wurde zwischen den beiden nun zu einem zunehmend wichtigen Thema.69 Bis zum Ersten 65 George

an Morwitz vor dem 25. Dezember 1910 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   117. Vgl. George an Morwitz am 19. November 1912 (Poststempel). GMB, S.   178  f. 66 George an Morwitz am 12. Februar 1911 (Poststempel). GMB, S.   126. Vgl. George an Morwitz Ende März 1911 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   128. 67 Vgl. Morwitz an George am 21. Juni 1911 und George an Morwitz am 3. Juli 1911 (Poststempel). GMB, S.   134  f. 68 George an Morwitz am 26. Dezember 1911 (Poststempel). GMB, S.   143. 69 Vgl. George an Morwitz am 19. November 1912 (Poststempel) und am 7. April 1913 (Poststempel). GMB, S.   178  f., S.   188.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt37

Weltkrieg konzentrierte sich die Erziehungstätigkeit für Ernst Morwitz zunächst auf die Brüder von Uxkull, danach erstreckte sie sich auch auf weitere mögliche Kreiskandidaten. Prüfaufgaben bezüglich jugendlicher Kreisaspiranten hatte Morwitz aber seit Beginn seiner Beziehung zu George wahrgenommen. Jugend und Pädagogik wurden im weiteren Verlauf die großen Themen ihrer Beziehung. Stefan George selbst begann nach 1910 Fragen der Auswahl möglicher Kreisaspiranten und die Stadien ihrer Persönlichkeitsentwicklung in Briefen an Morwitz zwar zu diskutieren, befasste sich aber in der Regel erst mit den Jugendlichen und jungen Männern, wenn diese Oberstufenschüler oder Studenten waren.70 Große Teile des Briefwechsels der letzten vier Jahre vor dem Ersten Weltkrieg drehen sich um die Auswahl und die Einbindung „‚neuer‘ menschen“ in den Kreis.71 Hierbei wurde den Kreismitgliedern abverlangt, dass sie Georges Begeisterung für die ‚Neuen‘ teilten und gemeinsam mit ihm an deren Integration in den Kreis arbeiteten.72 Angesichts der Liebe von Ernst Morwitz zu Stefan George waren Sätze Georges wie dieser über den Kunsthistoriker und Bildhauer Ludwig Thormaehlen (1889– 1956) eine harte Lektion: „Ach Ernst dass es solche menschen giebt wo nichts fehlt und dass man sie in den armen hält!!“73 Von Beginn an wurde Ernst Morwitz verdeutlicht, dass er nicht ‚der Einzige‘ war, dem Stefan Georges Zuneigung, Liebe und körperliche Nähe gehörten. Eines der ersten Schreiben an Ernst Morwitz stammt dann auch im Auftrag Georges von Friedrich Gundolf.74 Konnte der Aspirant seine Einordnung in einen Kreis von Gleichaltrigen und Gleichrangigen und das ständige Hinzutreten und die Prüfung weiterer ‚Neuer‘ akzeptieren, so war ein langfristiges Verbleiben im Kreis möglich. Damit wurde aber von Beginn an auch eine Autorität Georges und eine Beziehungshierarchie implementiert, welche die Entscheidungen über Charakter, Intensität und Aufgaben der Beziehung in seine, Georges, Hände legte. Gleichzeitig aber, das zeigt die Beziehung zwischen Morwitz und George deutlich,

70 Vgl.

George an Morwitz nach dem 11. Mai 1913 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   191  ff. 71 George an Morwitz am 12. Juni 1912 (Poststempel). GMB, S.   164. 72 Vgl. George an Morwitz am 7. April 1913 (Poststempel). GMB, S.   188. 73 George an Morwitz am 12. Juni 1912 (Poststempel). GMB, S.   164. 74 Vgl. Gundolf an Morwitz im Juni 1906 (Karte ohne Umschlag). GMB, S.   79.

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besaßen die Kreismitglieder große Entscheidungsspielräume, dem Kreis eine ihnen gemäße Interpretations- und Handlungsebene hinzuzufügen: Gundolf und viele andere mit der Wissenschaft, Wolters mit der Politik, Morwitz mit der Erziehung. Die Entstehung und die Geschichte des George-Kreises waren ein Interaktionsgeschehen, er entwickelte sich nicht aus einer zielgerichteten Programmatik des ‚Meisters‘ George, sondern entfaltete sich aus dem Zusammenwirken vieler Personen, ihrer Biographien und Wirkungsabsichten. So war es Ernst Morwitz, der, beginnend mit den Brüdern von Uxkull-Gyllenband, die Erziehung auch von Kindern im Kreis initiierte, während George erst ab dem Jugendalter, überwiegend aber erst im jungen Erwachsenenalter wirkliches Interesse an möglichen Kreisaspiranten entwickelte.75 Die Briefe vor dem Ersten Weltkrieg beschreiben in diesem Zusammenhang eine Erziehungstätigkeit von Seiten Ernst Morwitz’ und eine beobachtende, abwartende Haltung Georges. Morwitz schrieb: „Die Kinder sind hier. Da ihre Versetzung in der Schule zweifelhaft ist und ihnen mit dem Kadettenhaus gedroht wird, muss ich mit ihnen viel Griechisch arbeiten. Sie entwickeln sich gut sodass ich noch immer Hoffnungen habe. Sie sind den ganzen Tag bei mir.“76 Morwitz suchte wegen der schlechten schulischen Leistungen der Brüder – vermutlich gemeinsam mit den Eltern – schließlich die

75 Maximilian

Kronberger war 14 Jahre alt, als ihn Stefan George 1902 in München kennenlernte, Percy Gothein war ebenfalls 14 Jahre alt, als George ihn 1910 in Heidelberg auf der Straße sah, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine älteren Zwillingsbrüder Alexander und Berthold waren 16 bzw. 18 Jahre alt, als sie George 1923 kennenlernten. Auch hier ging die Einschätzung früher jugendlicher Schönheit dem Interesse an der Substanz voraus beziehungsweise bedingte in Georges Vorstellung deren Möglichkeit. Ein einziger Brief Georges an Morwitz, aus dem Dezember 1915, spricht von Kindern und ihren geistigen Möglichkeiten (vgl. George an Morwitz, nach dem 19. Dezember 1915, Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag. GMB, S.   271). Intellektuelle Gesprächspartner und interessante Persönlichkeiten wurden die jungen Männer für George letztlich erst, wenn sie mindestens Oberstufenschüler waren, besser noch einige Semester studiert hatten (vgl. George an Morwitz am 16. März 1915 und vor dem 16./17. April 1927 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   244  f., S.   456  ff.). Im Falle von Maximilian Kronberger blieb George in seinen Briefen bis zu dessen frühem Tod 1904 bei einem distanzierten Sie. 76 Morwitz an George am 27. Dezember 1911. GMB, S.   144.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt39

Königliche Klosterschule in Ilfeld aus, ein Internat,77 und nahm damit entscheidenden Einfluss auf die schulische Laufbahn.78 Die Bezeichnung „Kinder“, die sowohl Morwitz als auch George für die Brüder Uxkull-Gyllenband wählten, beschreibt Morwitz’ Selbstverständnis als ein den Eltern an die Seite gestellter Erzieher und Mentor sowie die enge Beziehung, die sich zwischen Zöglingen und Mentor anbahnte; eine Entwicklung, welche bei der Mutter, Gräfin Lucy von Uxkull, trotz ihres Einverständnisses Befremden auslöste. Um zu erfahren, auf welche Inhalte sich ihre Söhne mehr und mehr einließen, bat sie Morwitz 1910 um die Gedichtbände Georges.79 In der Folgezeit wurden die Vorbehalte der Mutter jedoch offenbar ausgeräumt; Morwitz wurde zu einem Berater und engen Vertrauten der Eltern.80 Durch die von den Erziehern vermittelte Selbsteinschätzung als Aspiranten eines im Entstehen begriffenen ‚Geheimen Deutschlands‘,81 die enge Beziehung zum Erzieher und zu weiteren Zöglingen sowie die ehrfurchtsvoll erwartete und erlebte Begegnung mit George entstand in der Lebenswelt der Jugendlichen eine vom Alltag abgegrenzte Sphäre. Innerhalb dieser Sphäre vollzog sich die eigentliche Kreiserziehung und erhielt aus den skizzierten Elementen ihre Bedeutung für die einzelnen Jugendlichen. Noch unterstrichen wurde die Außeralltäglichkeit durch 77 Ilfeld

war eine Königliche Klosterschule mit langer Tradition (gegründet 1567). Das evangelisch-landesherrliche Internat besaß nur eine gymnasiale Oberstufe von Untertertia bis Oberprima und hatte 1910 eine Schülerzahl von rund 100 Alumnen. Vgl. Ulrich Herrmann / Detlef K. Müller: Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd.   2: Höhere und mittlere Schulen. 2. Teil: Regionale Differenzierung und gesamtstaatliche Systembildung. Preußen und seine Provinzen – Deutsches Reich und seine Staaten, 1800–1945, Göttingen 2003, S.   52  f. 78 Vgl. „Wichtig ist die Wirkung auf Ilfeld. Uebermorgen wird mich ein Primaner von dort besuchen.“ Ernst Morwitz an Stefan George am 27. Dezember 1911. GMB, S.   144. 79 Vgl. Morwitz an George am 18. Dezember 1910. GMB, S.   116. 80 Vgl. Morwitz an George am 20. Juni 1912. GMB, S.   166. 81 Die Begrifflichkeit ‚Geheimes Deutschland‘ besaß im George-Kreis drei Bedeutungsebenen: Erstens die ‚heimliche Herrschaft‘ der Dichter und Denker über die Bildung und die Identität der deutschen Nation, zweitens die Selbstbeschreibung des George-Kreises als gegenwärtige geistige Akademie im erstgenannten Sinne und drittens die Herrschaft der Dichter und Denker durch alle historischen Epochen hindurch mit der Aufnahme und Fortsetzung ihrer ‚Sendung‘ im Kreis.

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die Tendenz, den jüngeren Kreismitgliedern, teils auch den Älteren, durch Namensgebung eine eigene Kreisidentität zu verleihen. So hieß Ernst Morwitz im Kreis der ‚grosse Ernst‘, im Unterschied zum mittleren Ernst (Ernst Glöckner) und zum kleinen Ernst (Ernst Gundolf), Ernst Kantorowicz wurde nach seinen Initialen ‚Eka‘ genannt, Johann Anton ‚der Prinz‘, Walter Anton ‚der Löwe‘, Silvio Markees ‚Simba‘, Max Kommerell ‚Maxim‘, ‚Puck‘ oder ‚das Kleinste‘ und die Stauffenberg-Zwillinge Berthold und Alexander ‚Adjib‘ und ‚Offa‘. Mitglied des Kreises zu werden sollte eine Initiation sein, eine Aufnahme in die Gemeinschaft der verehrend Erkennenden, die vorausgehende Identitäten (als Sohn, Freund, Schüler, Student, Wissenschaftler usw.) in einer höheren Identität als Georgeaner im dreifachen Sinne ‚aufhob‘ (als je eigenständige Identitäten auflöste, als Elemente bewahrte und zugleich in eine höherwertige Identität überführte) und der ein kreisinterner Erziehungsprozess durch ältere Kreismitglieder und George folgte. Dies war, wie es Edith Landmann 1933 in ihrem Aufruf ‚An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten‘, rückblickend fasste, das sich an jedem Kreismitglied vollziehende „Wunder der Verwandlung“.82 Für Ernst Morwitz und für viele weitere Kreismitglieder entstand durch die Kreismitgliedschaft ein sinnerzeugender Sozialisationskontext, durch welchen sie ihr Leben und ihre Rollen als Berufstätige, Freunde, Familienväter u. v. a. langfristig strukturieren und interpretieren konnten. Die Intensität, mit der dies geschah, war unterschiedlich: Sie reichte von einer Organisation des gesamten Lebens im Kontext Georges und des Kreises über eine Integration der Begegnungen und Freundschaften mit George und weiteren Kreismitgliedern als einen eigenen Teilbereich in eine ansonsten davon unabhängige Lebensführung bis zu nur gelegentlichen Bezugnahmen und Begegnungen. Einen Eskapismus in der Lebensführung, wie ihn viele Weltanschauungsgemeinschaften im Kaiserreich und der Weimarer Republik mit Siedlungs- und Kommuneprojekten oder wie ihn die Reformpädagogik mit Internatsschulen in ländlicher Abgeschiedenheit praktizierten, gab es im George-Kreis nicht. Statt eines geschlossenen sozialen Raums existierten kleinere und größere Zeitfenster der Begegnung und des 82 Edith

Landmann: An die deutschen Juden, die zum geheimen Deutschland hielten (1933). Zit. nach Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   671. Zur Argumentation des Aufrufs vgl. ebd., S.   670–672.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt41

kurzzeitigen Zusammenlebens mit George, der sowohl in seinem Elternhaus in Bingen als auch wochenweise bei Hanna und Karl Wolfskehl in München, bei Friedrich Gundolf in Heidelberg, bei Erika und Friedrich Wolters in Marburg und später in Kiel oder bei der Familie Landmann in der Schweiz und später ebenfalls in Kiel lebte und für die Ferien mit Freunden (z. T. zusammen mit deren Familien) gemeinsam verreiste. Weitere Treffpunkte waren die Ateliers Melchior Lechters und Ludwig Thormaehlens und später Alexander Zschokkes. Vielfach trafen die Kreismitglieder George nur zu kurzen Begegnungen am Tag oder zu einer Abendgesellschaft. Der George-Kreis war dementsprechend weniger ein Lebenszusammenhang als ein Briefnetzwerk sowie eine Denkform und Lebenshaltung, die sich jedes Kreismitglied auf seine Weise und in unterschiedlicher Intensität zu eigen machte. Aus einer Künstlergemeinschaft um die ‚Blätter für die Kunst‘ war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Kreis aus angehenden Universitätsprofessoren, höheren Beamten und akademischen Freiberuflern geworden, deren Leben nicht allein durch die Dichtung und die Begegnungen mit George bestimmt wurde, sondern ebenso sehr durch Forschung, Lehre und Universitätsangelegenheiten aller Art, durch die Tätigkeit als Richter oder durch das Führen einer Anwaltskanzlei oder einer Arztpraxis, d. h. durch bürgerliche Berufsarbeit und die mit ihr verbundene Alltagsorganisation. Da die Treffen mit George selten waren und oft Wochen oder Monate vergingen, bis man sich wiedersah, war die Integration Georges bzw. dessen Lyrik eine Aufgabe jeder einzelnen Person und damit auch ihrer Deutungshoheit. George lehnte jede Interpretation seiner Gedichte im Sinne einer Konkretisierung ihrer Aussagen ohnehin ab. Auf diese Weise kamen die unterschiedlichen Auslegungen zustande, für die Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters und Ernst Morwitz exemplarisch stehen,83 und von denen George keiner den Vorzug gab. Auch die ‚tathafte‘, männerbündisch-politische Auslegung Georges durch die jüngeren Kreismitglieder, welche erst nach der Jahrhundertwende geboren worden waren, war eine von diesen ausgehende Interpretationsleistung. Diese Jüngeren gehörten zu demjenigen Teil der jungen Alterskohorten der Weimarer Republik, welcher auf den neuen Staat mit deutlicher Ableh-

83 Vgl.

Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   213  ff., S.   290  ff., S.   412  ff.

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nung reagierte und unklare, gleichwohl radikale bündische bis völkische Konzepte einer Neugestaltung von Staat und Gesellschaft entwickelte. In der Theorie sollte dagegen die Orientierung an George und seinen Gedichten und an einem durch ihn und die Kreismitglieder entwickelten Bildungskanon die Persönlichkeitsentwicklung ständig begleiten und dadurch eine Lebensführung der Balance zwischen allen Lebensbereichen sichern. Es ging George und den Kreismitgliedern letztlich nicht um die Aufhebung bürgerlicher Lebenspraktiken, sondern, aller verbalen Anti-Bürgerlichkeit zum Trotz, um deren reflexive Restitution. Das Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses sowie später eines erfolgreichen Berufseintritts und einer entsprechenden bürgerlichen Karriere waren Teilziele der Kreiserziehung und der Kreisexistenz, durch die zwar zwischen einem Leben im Kreis und der bürgerlichen Existenz unterschieden wurde, beides aber aufeinander bezogen wurde. So hatte George Morwitz frühzeitig zu einer juristischen Karriere geraten, und der Erfolg der Kreiserziehung wurde von Ernst Morwitz im Fall seiner eigenen Zöglinge auch am Erreichen bürgerlicher Qualifikationsziele (Abitur, Studienabschluss, Berufseintritt) gemessen. X. Ermöglichungsstrukturen: Pädophilie, Pädagogik und sexualisierte Gewalt Wie Ernst Morwitz aber seine Zöglinge auswählte und wie George diese und weitere für den Kreis einschätzte, erfüllte den Tatbestand der Pädophilie. Es war der schöne Knabenkörper, der die Auswahl anleitete oder bei Nicht-Gefallen zur Ablehnung führte.84 Sehr deutlich wird die

84 Die

Herausgeberinnen haben sich für den Begriff der Pädophilie entschieden, weil er als Differenzbegriff zu sexualisierter Gewalt und zu pädosexuellem Begehren hilfreich ist. Es existieren in der Forschung Überlegungen, den Begriff der Pädophilie ganz durch den der Pädosexualität zu ersetzen, um deutlich zu machen, dass in Pädophilie ein sexuelles Verlangen grundsätzlich eingelassen ist. Eine solche Verbindung galt aber nicht für den George-Kreis insgesamt, sondern für einzelne Personen in ihm. Daher scheint es im Falle des George-Kreises angemessener, die Begriffe differenziert zu verwenden. Zur Begriffsdiskussion bezüglich Pädosexualität vgl. Meike Sophia Baader: Der Diskurs um Pädosexualität und die Erziehungs-, Sozial- und Sexualwissenschaften der 1970er bis 1990er Jahre. In: Retkowski u. a., Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte (Anm.   43), S.   70–80.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt43

kindliche und jugendliche körperliche Schönheit als Auswahlkriterium in einem Brief von Morwitz vom 20. Juni 1913 ex negativo benannt und nochmals im Jahr 1925: „Hier beim Schwimmen gibt es viele gute Körper, doch sind sie alle roh – die durchgeistigende Ehrfurcht fehlt. Selbst die so im Schwange befindlichen Leibesübungen werden nicht mit Innerlichkeit betrieben, sondern ‚auf Akkord‘.“85 So hatte Morwitz nicht nur die Brüder von Uxkull im Alter von erst sieben bzw. sechs Jahren auf der Straße aufgrund ihrer kindlichen Schönheit angesprochen, sondern auch seinen späteren Zögling Silvio Markees (1908–1991) 1920 als Zwölfjährigen beim Schlittschuhlaufen auf einer Eisbahn in Berlin erst beobachtet und daraufhin angeredet. Wichtig war es in der Folgezeit in jedem Fall, die „licentia familiae“ zu erhalten, wie Morwitz es nannte. Im April 1922 schrieb er über Silvio Markees und dessen Vater: „[…] wir sind sehr viel zusammen und er beginnt sich ohne diesen Verkehr zu langweiligen. Neulich suchte mich sein Vater nach Anmeldung auf, die Sache verlief sehr angenehm, ich habe licentiam familiae. Also jetzt – abwarten .  . was herauskommt, ist noch nicht abzusehen.“86 Mit welch willkürlichen und esoterischen Kriterien bei der körperlichen Beurteilung von Jugendlichen verfahren wurde, zeigt ein Brief von Ernst Morwitz aus dem Ersten Weltkrieg von der belgischen Front: Die S. S. hier kenne ich jetzt ziemlich genau, in einer Vorstadt bei den Aalhäusern hatte ich zwei entdeckt, die ein Bild Flanderns komprimiert gegeben hätten: der eine wallonisch dunkel in Haar und Haut aber mit dem sonderbar spitzen langen Schädel, der andere flämisch rund und rosig und hellhaarig – aber beide mit dem belgischen Übel: den zu wachen, traumlosen, wenn auch formal sehr schönen Augen. Das scheint mir der Kern zu sein: diese zukunftslos offenen Augen. Stets bin ich von neuem über die Formen und Farben entzückt, aber die Seele fehlt in diesem Nord-Südgemisch.87

Ernst Morwitz und vor allem die durch ihn und andere Ältere wie den klassischen Philologen Albrecht von Blumenthal (1889–1945) erzogene

85 Morwitz

an George am 21. Juli 1925. GMB, S.   424. Vgl. Morwitz an George am 20. Juni 1913 (Poststempel). GMB, S.   195  f. 86 Morwitz an George am 13. April 1922. GMB, S.   360. 87 Vgl. Morwitz an George am 22. März 1915 (Poststempel). GMB, S.   246. Vgl. auch George an Morwitz etwa 9. November 1914 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   228.

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jüngere Kreisgeneration der um 1900 Geborenen: Max Kommerell, die Brüder von Stauffenberg, Ernst Kantorowicz, die Brüder von Uxkull u. a., aber auch George selbst (nicht jedoch Wolters oder Gundolf) bedienten sich zudem der Abkürzung S. oder S. S. in der Bedeutung von „Süßer“, „Süße“ oder auch „sehr süß“, um die Erscheinung eines in Frage kommenden Jugendlichen oder aber um aus Sicht der Jugendlichen deren gleichaltrigen Freunde im Kreis („sein S.“) mit deutlich homoerotischer Aufladung zu beschreiben. Gemeint war damit sowohl die äußerliche Erscheinung als auch die Gesamtpräsentation des Bezeichneten: vertretene Meinungen, dichterische Sensibilität, Präsentation in Gesprächen, körperliche Haltung und Gestik. Mit der Bezeichnung ‚Süßer‘ wurde jedoch nicht zwingend auch eine sexuelle Orientierung des Bezeichneten beschrieben. Alexander von Stauffenberg benutzte den Begriff 1927 beispielsweise, um die Verbindung von wissenschaftlicher Arbeit, Gemeinschaft und ‚geistigem Staat‘ zu beschreiben: „Andere Süsse · nebenbei bücher schreibend · examina machend · kreiren dauernd Süsse oder raten u. taten für den Staat. Meine taten · wobei vom Staate kaum die rede sein kann · erstrecken sich neben wenigen leidlichen versen auf ein paar periodische arbeitsanfälle.“88 Die Abkürzung S. oder S. S. konnte in den Briefen auch die Bedeutung von ‚Staatsstützen‘ besitzen. Die mögliche Doppelbedeutung ist in Bezug auf die männerbündisch-homoerotische Grundstruktur des Kreises aufschlussreich genug. So sah sich Friedrich Gundolf bereits 1910 gegenüber der Berliner Malerin und Freundin Georges Sabine Lepsius veranlasst, zur Problematik von Pädophilie und Sexualität Stellung zu nehmen und tat das in einer ironischen, das Problem minimierenden Weise:

88 Alexander

von Stauffenberg an Stefan George am 28. Januar 1927, StGA. Albrecht von Blumenthal schrieb über einen möglichen Aspiranten, nachdem er dessen körperliche Erscheinung beschrieben und ihn für den Kreis für untauglich befunden hatte: „[…] aus seiner art über die Shakespearesonette zu sprechen ging hervor dass er lieber mit männlichen als mit weiblichen wesen unzucht treibt: jedoch tat ich als ob ich seine zarten anspielungen nicht verstünde .  .“ Albrecht Blumenthal an Stefan George am 1. Mai 1928, StGA. Die sexuelle Orientierung der Kreisaspiranten und -mitglieder war für eine mögliche Kreismitgliedschaft nicht entscheidend, wohl aber eine Sensibilität für die im Kreis betonte Kulturbedeutung mann-männlicher Gemeinschaft.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt45 Abermals und abermals: weder unsre ‚Frauenfrage‘ noch unsre ‚Jünglingsliebe‘ hat mit Sexuellem, Emancipation, Mutterschutz, Eulenburg, § 175 usw. irgendwas zu schaffen, sondern ist ein Bemühen um die Erhaltung und Weckung weltschaffender, kosmischer Kräfte […]. Alles was heute darüber verteidigend oder beschuldigend geschwatzt wird, ist […] ungefähr so nah an den Gegenstand herankommend, wie wenn eine Wäscherin, ein Seifenfabrikant oder ein Stiefelputzer sich über Kants Kritik der reinen Vernunft äusserten, weil sie darin Fragen der Reinlichkeit angeschnitten fühlten […]. Genau soviel hat die ‚Liebe‘ von der wir reden mit Sexualität zu tun.89

War die Auswahl von Kindern und Jugendlichen homoerotisch und pädophil motiviert, so enthalten die Briefe dennoch keine konkreten Hinweise auf eine entsprechende sexuelle Praxis. Es muss ungeklärt bleiben, ob die Zuneigung zu als schön klassifizierten männlichen Heranwachsenden im Kreis und durch George zur sexualisierten Gewalt gegenüber diesen wurde oder nicht. Wenn George im Mai 1913 an Morwitz schrieb, dieser sei ihm „am ähnlichsten nicht durch die art sondern durch dass [sic] maass der Gefahr!“,90 so mag damit auch angedeutet werden, dass beide zwar ein starkes, gleichgeschlechtliches erotisches Begehren verband, sich dieses bei George aber auf in der Regel bereits erwachsene junge Männer richtete, bei Morwitz hingegen auch auf Kinder und Jugendliche. Dass hier ein Problem bestand, wird an vielen Briefstellen deutlich. Ob dieses Problem in Gründen des Strafrechts oder in ethischen Erwägungen von George und Morwitz gesehen wurde, lässt sich nicht sagen. Ernst Morwitz berichtete George im Februar 1918 über seine Gespräche mit einem Zögling: „Über die Gefahren der ‚Süsslichkeit‘ und des ‚trockenen Wahnsinns‘ ward viel gesprochen – er denkt sehr richtig und naturmässig einfach hierüber.“91 Wird mit dem Begriff der „Süsslichkeit“ die Gefahr homoerotischer Überhöhung von Freundschaften bis hin zur homosexuellen Praxis benannt, so bezeichnet ein „trockener Wahnsinn“ die Überschätzung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten ohne schöpferische Inspiration durch Freundschaft und Liebe. In 89 Friedrich

Gundolf an Sabine Lepsius, 3. August 1910. In: Gundolf: Briefe. Neue Folge. Hg. von Lothar Helbing / Claus Victor Bock, Amsterdam 1965 (= Castrum Peregrini Heft  66–68), S.   66  f. 90 George an Morwitz nach dem 11. Mai 1913 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   193. 91 Morwitz an George am 5. Februar 1918. GMB, S.   312.

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diesem Zusammenhang heißt es bei Morwitz in einem Brief aus dem Februar 1918 über einen in Augenschein genommenen Jugendlichen: „Er ist anständig, aber zweifelsohne protestantisch trocken wahnsinnig, und kommt für uns nicht anders als ein Mitläufer in Frage.“92 Kompliziert wurde dieses Konzept dadurch, dass der schöne Leib – zumindest der Idee nach – grundlegende Voraussetzung und zugleich anzustrebendes Ziel der Bildung war. Deshalb sollte den Zöglingen, wie aus dem Briefwechsel zwischen Morwitz und George mehrfach hervorgeht, die Differenz zwischen Schönheit, Erotik und Pädagogik auf der einen Seite und der eigenen, davon zu trennenden sexuellen Praxis auf der anderen Seite vermittelt werden. So machte Morwitz George 1912 auf Thomas Manns ‚Der Tod in Venedig‘ aufmerksam und hielt die Novelle nicht nur für „besonders unverschaemt, da ganz ernst gemeint“, sondern wollte den Verfasser und seine Novelle gleich „totgeschlagen“ sehen,93 offenbar weil das pädosexuelle Begehren in der Novelle eben nicht mehr sublimiert und aufgehoben wurde in Pädagogik. Gleichwohl waren die pädagogischen Bestrebungen im Kreis auch ansonsten nicht harmlos. Die Auszeichnung von Jugendlichen aufgrund ihrer körperlichen Vorzüge und ihrer ‚Haltung‘ (zumeist auflösbar in bürgerliche oder adlige Herkunft und entsprechendes Bildungswissen), ihre Fotografie und das Zirkulieren dieser Fotografien im Kreis schuf ein mit der Kreiserziehung oft konfligierendes, ambivalentes Selbstverständnis der Jugendlichen zwischen kreisintern verlangter Ein- und Unterordnung und einem Bewusstsein der Auserwähltheit.94 Die Beschreibungen in den Briefen spiegeln eine groteske Idealisierung der Jugendlichen („Göttersöhne“)95 und eine seltsame Überschätzung ihrer dichterischen Leistungen im Kreis, welche zugleich die Bedeutung der eigenen ‚Sendung‘ indizierten.96 So schrieb George 1927 an Morwitz über einen Kreisaspiranten:

92 Morwitz

an George am 1. Februar 1918. GMB, S.   310. an George am 5. Dezember 1912 (Poststempel). GMB, S.   182. 94 Vgl. George an Morwitz vor dem 28. Dezember 1916 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   289  f. 95 Morwitz an George am 1. Februar 1915 und George an Morwitz am 19. Februar 1918. GMB, S.   242, S.   314. 96 Vgl. Morwitz an George am 30. Dezember 1918. GMB, S.   333  f. 93 Morwitz

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt47 L. E. [Lieber/liebster Ernst] ich muss Dir berichten: H [Johann Anton] ist nun endlich so weit dass ER mit spazieren zu gehn geruht. Da hab ich ihn flüchtig gesehn .  . hübsch fast zu hübsch .  . etwas das ideal der L. v. Hofmann=Jünglinge ∙ ganz dunkelbraun und dabei milch= und blut=haut ∙ militärisch halb und halb volksig ∙ vollständig ungeistig ∙ eher technisch angeregt – und dabei vollgymnaser … sein leitspruch: ‚Ich geh keinen menschen was an‘ …! Du würdest ihn unter hunderten herausfinden .  .97

Und Erwachsene wie Morwitz, immerhin hoher preußischer Staatsbeamter, waren sich nicht zu schade, schönen Jugendlichen durch die Straßen Berlins und auf Schlittschuhbahnen zu folgen.98 Die schwärmerische Bewunderung ihrer körperlichen Vorzüge und die daran geknüpfte hohe Erwartung an ihre geistige ‚Substanz‘ konnten zudem bei manchem Jugendlichen zu Überwältigung und Überforderung führen. Wo gelingende Pädagogik, hier aus Sicht der Erzieher die Hinführung und Eingliederung in den Kreis, zu einer existentiellen Frage für die Erzieher wurde, konnte zudem auch deren Selbstwertgefühl fragil werden. Das betraf auch George selbst. Trennungen vom Kreis wie die Gundolfs 1926 und diejenige Kommerells 1930 waren Lebenskrisen nicht nur für diese selbst, sondern auch für George. Sie waren das Ergebnis gescheiterter Beziehungen und Erziehungsbemühungen. Im Ersten Weltkrieg schrieb Morwitz an George einen langen Brief über seinen Besuch eines katholischen Alumnats in Belgien. Neben den ‚leiblichen‘ Fragen wird hier am Ende des Briefs noch einmal pointiert deutlich, wie stark der Eros für Morwitz pädagogisch konstitutiv war: „Zu erwähnen bleibt noch, dass ich dem Prior zum Abschied einen fürchterlichen Hieb versetzte, indem ich sagte, dass die Griechen die einzigen Erzieher gewesen seien. Er verstand mich.“99 Die katholische Internatserziehung und die pädagogische Expertise des Internatsleiters werden abgewertet. Das Zitat zieht zudem im Unterschied zu anderen Briefen keine klare Grenze zwischen sexueller Praxis mit Kindern und 97 George

an Morwitz vor dem 16./17. April 1927 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   456  f. 98 Vgl. Morwitz an George am 25. Januar 1914 und nach dem 12. November 1914 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), Max Kommerell an Morwitz vor dem 16. Januar 1924 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), Max Kommerell an Morwitz im März 1924 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   207, S.   229  f., S.   388, S.   392  f. 99 Morwitz an George am 27. Juni 1915. GMB, S.   260.

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Jugendlichen und Erziehung.100 Und auch Georges Aussagen bleiben an manchen Stellen in der Schwebe. So urteilte er 1924 über den offen homosexuell lebenden Percy Gothein, einen zu diesem Zeitpunkt achtundzwanzigjährigen Mann mit einer sich für George nicht erfüllenden Kreisaspiranz: Die art wie P. [Percy Gothein] in seinen briefen gewisse παιδ-dinge behandelt101 ∙ halte ich für ganz und gar gefährlich. […] Ich will das wort nicht abnutzen ∙ aber auch hier müsst’ ich sagen: es fehlt der sinn fürs Schickliche. Nimm dies nicht zu leicht. Hier liegt eine P’sche lebensgefahr. Ihm fehlt noch ┌zum erziehen┐ das nötigste: die zucht.102

100 In

seinen späteren Aufzeichnungen schrieb Morwitz zu den Themen Homosexualität und Pädosexualität: „Wie sinnlos der Vorwurf der Homosexualität, der dem ‚Kreis‘ gemacht wird, ist, zeigt die Tatsache, dass Lechter an Folgen einer Syphilis gestorben ist, die er sich – wie StG sagte – durch die wie ein Rosetti ┌Bild┐ aussehende Engländerin Dorothy geholt hätte, und dass Wolfskehl, wie er mir selbst sagte, an Strikturen ┌nach┐ einer in der Jugend geholten Gonor­ rhoe litt, und dass Frauen wie die Gräfin Reventlow und Elli Gundolf-Salomon innerhalb des ‚Kreises‘ als eine Art moderner Hetären ihre sexuelle Befriedigung fanden. – Eine ganz verschiedene Frage ist, ob die Geschlechtsorgane des Mannes nicht noch die andere Bedeutung, wie es bei den Griechen des archaischen Zeitalters ┌und bei Sokrates der Fall war┐ haben, nämlich die der Übertragung einer bestimmten Geistesart, die aber nur auf Wesen eines jugendlichen Alters möglich ist, in dem jene ┌Wesen┐ noch keine ┌sexuellen┐ Verbindungen oder Bindungen zu Frauen, also vor Betätigung solcher persönlicher Sinnlichkeit, gehabt haben. Tatsächlich haben sich fast alle der St. G. Nahestehenden später verheiratet, wenn sie nicht vor dem Heiratsalter gestorben sind.“ (Morwitz, Briefbuch, Anm.   9). In diesen rückblickenden Aufzeichnungen werden Erziehung und Enkulturation allerdings auf eine Weise ‚hellenisiert‘, dass sie einen Geschlechtsakt mit Kindern und Jugendlichen einschließen können. Auch hier fehlt ein Beweis für dessen historischen Vollzug, eine Rechtfertigungsstrategie und Legitimation enthält diese Äußerung aber zweifelsfrei. 101 Laut Morwitz geht es um Dinge, die ‚das Leben von Jüngeren‘ betreffen, also um ‚paidaia‘ (Morwitz, Briefbuch, Anm.   9). 102 George an Morwitz Ende März 1924 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   390  f. Ernst Morwitz nimmt in seinen Erinnerungen eine negative Beurteilung Percy Gotheins vor. So hält er in seinem Briefbuch später fest: „Ich glaube, dass Percys seltsames Verhalten auf den Kopfschuss im ersten Weltkrieg zurückzuführen ist, von dem er niemals völlig genas. Von der Natur mit ungeheurer Kraft ausgestattet, beschlief er alles, was ihm in den Weg kam, und das mag zu seinem Ruin beigetragen haben.“ (Morwitz, Briefbuch, Anm.   9). In diesem Zitat zeigt sich auch eine bestimmte Haltung zur Sexualität, die deren freies und häufiges Ausleben problematisierte. Zudem zeigt sich im

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt49

Kann man hier interpretieren, dass zur Erziehung die Selbstversagung des Sexualakts gehört, so wird in anderen Briefen angedeutet, dass Begehren auch in Form einer ‚Zeugung‘ zum Ausdruck kommen kann, allerdings bezieht sich die Briefstelle auf einen jungen Erwachsenen und bleibt mehrdeutig. George schrieb im Mai 1914 über den zweiundzwanzigjährigen Hans Brasch (1892–1950) an Ernst Morwitz, mit dem Brasch in Berlin befreundet gewesen war: Ich war am meer bei Genua drei bis vier tage mit ihm zusammen: mir wurde dabei klar dass er anständig + sauber ist + dass man auch an den ‚Leichten‘ seine freude haben kann aber dies war die wichtigste erkenntnis: die nächste zeugung ist nur gestattet bei irgend einer gleichheit des schwere=verhältnisses! Ich durfte nicht.103

Was diese Zeugung bei dem jungen Mann hätte bewirken sollen und was sie umfasst hätte, ob eine geistige ‚Einweihung‘ oder auch eine körperliche Beziehung, bleibt offen. Einen Beleg für eine sexuelle Praxis bietet der Brief nicht; vielmehr verweist er auf eine antikisierende Denkform, welche die Dimensionen Körper und Geist ideell verband. So kann aus dem Briefwechsel zwischen George und Morwitz auch keine sexualisierte Gewalt gegenüber Jugendlichen belegt werden. Gleichwohl gibt es in den Briefen wiederholt Zwischentöne und Andeutungen,104 welche die Körperlichkeit im Umgang mit Jugendlichen unverkennbar betonen, ohne dass Klarheit über die Reichweite solcher Aussagen gewonnen werden könnte.

Briefbuch bei Morwitz eine Ehefeindlichkeit, die er mit erinnerten George-Aussprüchen wie diesem zu unterstreichen und zu rechtfertigen sucht: „St. G’s Bild für verheiratete Männer: ‚Sie laufen auf Befehl ihrer Frau wie Hundelchen auf zwei Beinen bettelnd um den Tisch herum.‘ (Gundolf, Robert Boehringer).“ (Morwitz, Briefbuch, Anm.   9). Dass sich Ernst Morwitz’ eigene Erotik und Körperästhetik auf männliche Kinder und Jugendliche und auf erwachsene Männer bezog, belegen viele Stellen in seinem Briefbuch. 103 George an Morwitz, Anfang Mai 1914 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   215. 104 Vgl. George an Morwitz am 31. Mai 1914 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), George an Morwitz am 16. März 1915 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), Morwitz an George am 1. Februar 1918 und am 5. Februar 1918, Max Kommerell an Morwitz im März 1924 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   216  f., S.   245, S.   310, S.   312  f., S.   392  ff.

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XI. Der Erste Weltkrieg: Existentielle Nöte, Deutungsversuche und der Tod zweier Jugendlicher Anders als im Briefwechsel zwischen Wolters und George, in dem der Krieg und seine Deutung, insbesondere von Wolters’ Seite, eine wichtige Rolle spielen, war die Kriegskorrespondenz zwischen Morwitz und George durch Kontinuität zur Vorkriegszeit geprägt. Die Entdeckung, Erziehung und die – angeleitete oder selbstständige – Entwicklung Jugendlicher blieben die wichtigsten Themen. Im Juli 1918 versuchte Morwitz, entgegen den eigenen Erfahrungen an der Front, dem technologischen Massenkrieg irgendeinen kreisadäquaten Sinn zu verleihen: Dieser Krieg hat nur Sinn, wenn er solange dauert bis dass auch im innern der Völker das morsche vernichtet, die Klassen verwechselt werden und die Kraft des einzelnen über die maschinelle Organisation triumphiert Das wird immer klarer. Dich wird man brauchen in Deutschland – Geliebter!105

Aber kurz vor Kriegsende, im Oktober 1918, schrieb er dann an George: „Ein Ende – gleichgültig welches!“106 Mit dem Selbstmord Bernhard von Uxkull-Gyllenbands (1899–1918) und seines Freundes Adalbert Cohrs (1897–1918), welche gemeinsam Schüler im Ilfelder Internat gewesen waren, war wenige Monate zuvor, Ende Juli 1918, der Krieg mit Wucht in die Beziehung zwischen Morwitz und George eingebrochen. Noch 1918 – Bernhard von Uxkull und Adalbert Cohrs waren seit 1917 bzw. seit 1915 Soldaten107 – hatte es mehrere Treffen des eng verbundenen Freundespaares mit George gegeben. Als im Juli 1918 (Bernhard von Uxkull war nach einem Lazarettaufenthalt im Offizierserholungsheim in Schierke im Harz zur Kur, und Adalbert Cohrs erholte sich dort von einer Diphterie-Erkrankung) ein neuer Fronteinsatz beider bevorstand, begingen sie, traumatisiert von den Kriegserfahrungen und verängstigt 105 Morwitz

an George am 11. Juli 1918. GMB, S.   321  f. an George am 21. Oktober 1918 (Poststempel). GMB, S.   328. 107 Adalbert Cohrs war seit dem Sommer 1915 als Feldartillerist an der Westfront und 1916 im Stellungskrieg bei Verdun und bei den verlustreichen Schlachten an der Somme eingesetzt gewesen. Bernhard von Uxkull hatte dagegen zwar eine soldatische Ausbildung als Feldartillerist erhalten, aber keine Fronterfahrungen gemacht. Zu beiden Personen und zu den Ereignissen vgl. Eckhart Grünewald: Art.   Cohrs, Adalbert und Art. Uxkull-Gyllenband, Bernhard von. In: Aurnhammer u. a., George-Handbuch (Anm.   3). Bd.   3, S.   1322–1324, S.   1719–1723. 106 Morwitz

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt51

angesichts eines anstehenden Fronteinsatzes, nach einem Desertionsversuch mit anschließender Verhaftung beide Selbstmord. Im Frühjahr des Jahres 1918 hatte Bernhard von Uxkull einen Gedichtzyklus, ‚Sternwandel‘ betitelt, verfasst. Stefan George, dem Adalbert Cohrs den Gedichtzyklus seines Freundes im Juni des Jahres zugeschickt hatte, war wie Ernst Morwitz vom Tod der beiden Jugendlichen tief erschüttert. Doch ein Treffen zur Aussprache und gegenseitigen Unterstützung in dieser schweren Situation war aufgrund des Kriegseinsatzes von Ernst Morwitz nicht möglich – eine schwierige Lage für ihn, der sich gegenüber George als Erzieher Bernhard von Uxkulls unter Rechtfertigungsdruck fühlte.108 Der Gedichtzyklus ‚Sternwandel‘ erschien 1919 anonym in der 11./12. Folge der ‚Blätter für die Kunst‘. George ließ in derselben Folge ein Zwiegespräch ‚Victor · Adalbert‘ erscheinen, das die Beweggründe der Freunde zum Freitod dichterisch gestaltete:109 Victor und Adalbert erscheinen als bis in den Tod einander liebendes und treues Freundespaar, gestaltet nach dem Vorbild der antiken Dioskuren. So trat neben den Maximin-Mythos in den 1920er Jahren im Kreis der neue Mythos des Sternwandel-Dichters. Die Verklärung des tragischen Tods der beiden jungen Soldaten, des älteren, wenn auch erst einundzwanzigjährigen Offiziers und des neunzehnjährigen Offiziersanwärters, zu einem kreisinternen Mythos führte in der Folgezeit dazu, dass binäre Freundschaftsbindungen Jugendlicher im Kreis eine ideell kaum noch zu überbietende und zugleich eine grundlegend lebens­ praktische Bedeutung erhielten.110 Freundespaare wie Johann Anton und Max Kommerell, Woldemar von Uxkull und Ernst Kantorowicz, Alexander von Stauffenberg und Woldemar von Uxkull, das Brüderpaar von Bothmer oder Claus von Stauffenberg und Max Kommerell, die während des Studiums auch zeitweise zusammen wohnten, wurden zu einem weiteren Fundament des Kreises, mit dem – durch einen kreis­ internen Mentor betreut – auch eine gegenseitige Erziehung einsetzen

108 Vgl.

Morwitz an George am 19. März 1918 und am 28. März 1918. GMB, S.   319. George, Das Neue Reich (SW IX), S.   94  ff. 110 Vgl. zur Freundschaft als neuem Strukturelement zwischen Jüngeren im Kreis Hans-Norbert Fügen: Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik, Stuttgart 1974, S.   334–358, hier S.   336  ff., sowie Groppe, Die Macht der Bildung (Anm.   6), S.   467  ff. 109 Vgl.

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sollte. 1925 schrieb Ernst Morwitz an George: „Die neuere Form der Erziehung ist Coeducation, durch die zu Erziehenden untereinander – bei ganz jungen Wesen wohl die einzige Möglichkeit jetzt.“111 Die Morwitzsche ‚Coeducation‘ in den jugendlichen Lebensgemeinschaften war aber auch Anlass zu intensiver gegenseitiger Beobachtung, Diagnose und – implizit – Kontrolle, über die George nicht selten auch schriftlich berichtet wurde. Innerhalb dieser Gemeinschaften war George – durch die Produktion von Gedichten, durch gemeinschaftliches Lesen und durch Gespräche – zudem imaginär präsent. So kamen in den Jahren um den Ersten Weltkrieg mehrere Strukturprinzipien zusammen: Die individuelle Begegnung der Kreismitglieder mit George, das Treffen größerer Kreisgemeinschaften, meist unter Anwesenheit Georges, an bestimmten Kreisorten wie Heidelberg, Marburg, Kiel und Berlin, binäre Freundschaftsbeziehungen Gleichaltriger untereinander und schließlich Erzieher-Zöglings-Figurationen eines älteren Erziehers mit einzelnen Jugendlichen oder Jugendgruppen. Ohne diese unterschiedlichen Sozialbeziehungen hätte der Kreis nach innen wohl nur schwer stabilisiert werden können und wäre nach außen, als Kreis, d. h. als besondere soziale Formation und nicht nur als individuelle, auf George bezogene Jüngerschaft, wenig glaubwürdig gewesen. Die mythische Überhöhung und homoerotische Aufladung der Jünglingsfreundschaften durch den Kreis112 konnte auch in Friedenszeiten 111 Morwitz

an George am 18. Januar 1925. GMB, S.   410  f. Vgl. Morwitz an George am 16. Januar 1924. GMB, S.   389. 112 Vgl. George an Morwitz vor dem 16./17. April 1927 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). George und Kommerell an Morwitz nach dem 6. Juni 456   ff., 1927 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.    S.   461. Typisch für die Jünglingsfreundschaften im Kreis sind die schwärmerischen Briefe, die Jugendliche und junge Erwachsene aneinander richteten, wie hier im Fall von Claus von Stauffenberg an Max Kommerell: „Geliebter! Meine gedanken sind stets um Dich – […] Ich sinne viel wie es Dir gehen mag, ob Du Dich wieder ganz erholt hast? […] Daß Du mein Maxim zu meiner Liebe und Bewunderung noch eine besondere Verehrung zum Dichter der neuen Gespräche [Kommerells ‚Gespräche aus der Zeit der deutschen Wiedergeburt‘ von 1929] geweckt hast, magst Du mir zu gestehen heute erlauben, und verzeihen die ungeschickte huldigung Deines Dich ersehnenden Claus.“ Claus von Stauffenberg an Max Kommerell im März 1930, zit. nach Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944. Aus dem Nachlass hg. von Inge Jens, Olten – Freiburg i. Br.   1967, S.   177  f. Solche Briefe beschrieben nicht nur intensive emotionale

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eine derartig starke Idealisierung der Beziehung erzeugen, dass Störungen des harmonischen Verhältnisses von Kreis und Freundschaft dramatisch endeten wie im Falle von Johann Anton, der sich nach der Trennung seines Freundes Max Kommerell vom Kreis im Februar 1931 das Leben nahm.113 Gleichzeitig konnte die Bindung an einen gleichaltrigen Freund das oft komplizierte Verhältnis zu George und zu einem kreis­ internen Mentor auffangen, Identitätsunsicherheiten ausbalancieren und eine Stütze in schwierigen Lebenslagen sein. Wie im George-Kreis häufig, waren die meist zu Zeiten des Studiums bestehenden Lebensgemeinschaften jedoch nicht nur kleine ‚George-Kreise‘, sondern auch Arbeits- und vor allem Bildungsgemeinschaften. Die innerkreisliche Leistungsanforderung drückte sich dabei nicht nur in der Anforderung regelmäßiger Gedichtproduktion aus, sondern auch im Erreichen des Abiturs, eines Universitätsabschlusses sowie im erfolgreichen Berufseintritt und einer entsprechenden Berufskarriere. Alle jugendlichen Kreismitglieder schrieben daher regelmäßig Rechenschaftsberichte an George über ihre Lebensführung, ihre Studienerfolge und ihr Lektürepensum und übersandten ihre Gedichte. Morwitz blieb vom Januar 1915 bis zum Kriegsende als Krankenpfleger an der Front. George konzentrierte sich währenddessen in seinen Briefen auf seinen Kreis und insbesondere auf eine pädagogische Berichterstattung über die jüngeren Kreismitglieder. Der Weltkrieg trat dahinter als weniger bedeutend zurück: „Ach liebe Seele dass so etwas in unsrer welt möglich war ist das nicht wichtiger als das bischen Krieg hunger + tod?“114 Noch deutlicher werden die Ignoranz und das Desinteresse Georges gegenüber den existenziellen Bedrohungen der Kreismitglieder an der Front in folgender Äußerung aus dem Januar 1915: Bindungen, sondern waren auch Bestandteil kreisinterner symbolischer Interaktionsformen, die nicht zwingend auf Liebesverhältnisse und sexuelle Orientierungen verwiesen, sondern ebenso elitäre Vergemeinschaftung anzeigten und Außeralltäglichkeit konstituierten. Vgl. Günter Baumann: Medien und Medialität. In: Aurnhammer u. a., George-Handbuch (Anm.   3). Bd.   2, S.   683–712, hier S.   687  f. In ähnlich gefühlsbetonter Sprache schrieb beispielsweise auch Friedrich Hölderlin um 1800 an seinen Freund Isaac Sinclair. 113 Vgl. zu diesem Problemkreis Fügen, Der George-Kreis in der ‚dritten Generation‘ (Anm.   110), S.   345. 114 George an Morwitz vor dem 28. Dezember 1916 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   290.

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Von vielen wissenswerten einzelheiten aus dem Feld werd ich Dir noch berichten. Wir erhalten sehr viel nachrichten. Der meiste kam von jenem Heyer (ein herrlicher lausbub!) der acht tage urlaub bekam wegen einer kleinen verwundung … Dass man einen wirklichen preussischen leutnant küsst – steht damit nicht die welt schon auf dem kopf!!!115

Morwitz verschonte George nach anfänglichen Berichten daher weitgehend mit Erfahrungsberichten aus dem Krieg. Dieser tritt aus manchen Briefen Georges nur noch wie Kulisse und Kostüm hervor, hier im Oktober 1917: Eines abends als B [Bernhard von Uxkull] seinen schweren waffenrock auszog und in einem graugrünen wollhemd dasass + ich ihm damit es ihn am hals nicht friere eine meiner schleifen umwickelte: da sah er aus wie ein S. S [Süßer/Staatsstütze] – aus dem volk. Denk – jener feine fadengrade B! – –116

In diesem Brief war es die von George als anziehend wahrgenommene Differenz von Uniform und Körperlichkeit des gerade Achtzehnjährigen, welche angesichts von dessen Lage, nämlich sich in der Ausbildung für den Fronteinsatz zu befinden, ignorant und selbstbezogen anmutet. Georges Äußerungen zum Krieg bleiben in seinen Briefen an Morwitz kurz, wenig empathisch und zeugen von geringem Verständnis für die lebensbedrohliche Lage der Kreismitglieder als Soldaten im Krieg – ein Verhalten, das Ernst Morwitz vorsichtig kritisierte.117

XII. Nachkriegszeit: Konkurrenzen und Entfremdungen In den 1920er Jahren nahm die Vorstellung einer politisch bedeutsamen Sendung Georges, nicht zuletzt durch den Einfluss von Friedrich Wolters und der von ihm betreuten jungen Männer,118 in den Kreisde115 George

an Morwitz am 7. Januar 1915. GMB, S.   237  f. an Morwitz am 18. Oktober 1917. GMB, S.   303. 117 Vgl. Morwitz an George Ende Januar 1918 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), Morwitz an George am 21. August 1918, Morwitz an Ludwig Thormaelen am 23.  August 1918 (Poststempel). GMB, S.   309  f., S.   323  f., S.   326. 118 Mit Max Kommerell (geb. 1902), Johann Anton (geb. 1900) und dessen Bruder Walter (geb. 1903), Söhne eines angesehenen, an der Universität Halle lehrenden Psychiaters, Ewald Volhard (geb. 1900), Walter Elze (geb. 1891) und Rudolf Fahrner (geb. 1903) entstand zu Beginn der 1920er Jahre der ‚Marburger Kreis‘ um Wolters als eine für die weitere Entwicklung des George-Kreises bedeut116 George

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt55

batten wachsenden Raum ein, auch wenn im Kreis um Wolters niemals endgültig geklärt wurde, ob der imaginierte Georgesche Staat nun eine geistige oder eine politische Elite hervorbringen sollte. In dieser Zeit brachen schließlich auch die Gegensätze zwischen einer individuellen Erziehung männlicher Jugendlicher zum Reich der Dichtung und zu einer erneuerten Lebenspraxis, wie sie Morwitz vorschwebte, und einer politisierbaren Reichsvision, wie sie Wolters entwickelt hatte, im Kreis in aller Schärfe auf. Im Briefwechsel zwischen Morwitz und George kann dies abgelesen werden an der unterschiedlichen Verwendung des Begriffes „Staat“. Dessen Häufigkeit nahm in den Briefen nach dem Ersten Weltkrieg exorbitant zu. George hatte bereits 1913 und während des Ersten Weltkriegs einige Male von seinem ‚Staat‘ gesprochen; Morwitz tat dies erst 1915 und setzte den Begriff insgesamt sparsamer ein.119 Morwitz gebrauchte die Abkürzung „S. S.“ zudem überwiegend als Umschreibung von ‚süß‘. Rund drei Viertel der rund achtzig Staatsnennungen finden sich im Briefwechsel erst nach dem Ersten Weltkrieg, und dies überwiegend von Seiten Georges und Max Kommerells. Dieser verfasste ab 1922 in wachsendem Maß die Briefe an Morwitz im Auftrag Georges, aber er schrieb auch in einer eigenen Diktion, die sich von derjenigen in Georges eigenhändigen Briefen unterschied. Regelrecht exzessiv wird der Staatsbegriff in dem nicht übermäßig langen, von Frank Mehnert für George geschriebenen Brief vom 4. August 1927 verwendet, in dem dieser insgesamt acht Mal vorkommt.120 George und Kommerell unterzeichneten einen Brief vom 9. August 1927 auch ganz unironisch mit „Herzlich Der Staat“.121 same Kreisfiliation. Vgl. dazu auch den Brief Georges an Ernst Morwitz vom 27. April 1922: „Das Kleinste [Max Kommerell] hat mir angekündigt dass es ein zettelchen für Dich schicken will. […] Die neue Trias [d. s. Max Kommerell, Johann Anton und Ewald Volhard] hat das S=problem recht verschoben .  .“. GMB, S.   362. 119 Vgl. George an Morwitz nach dem 11. Mai 1913 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), George an Morwitz vor dem 31. Dezember 1913 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), George an Morwitz am 31. Mai 1914, George an Morwitz nach dem 18. November 1914 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag), Morwitz an George am 26. Dezember 1915. GMB, S.   191  f., S.   202  ff., S.   215  ff., S.   231  f., S.   272  f. 120 Vgl. George an Morwitz am 4. August 1927 (Poststempel). GMB, S.   468. 121 George und Kommerell an Morwitz am 9. August 1927 (Poststempel). GMB, S.   469.

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Während die Korrespondenz zwischen George und Morwitz aus der Zeit vor 1914, aus dem Ersten Weltkrieg und aus den beginnenden 1920er Jahren stark durch Ich-Botschaften und -Befindlichkeiten Georges geprägt gewesen war, so verschwand die Person Georges nun zunehmend hinter dem ‚Meister‘. Das zeigt sich sowohl symbolisch als auch interaktionistisch und thematisch: Briefe wurden nun auch mit „D. M.“ (Der Meister) statt „St“ für „Stefan“ oder „St G“ unterzeichnet, sie wurden von anderen für George geschrieben, und sie veränderten sich in den Themenschwerpunkten. Aus Briefen über Pädagogik, Bildung, Dichtung, Liebe und Jugend wurden zunehmend Briefe über Publikations- und Verlagsfragen122 und über staatliche Projekte und Ziele. Pointiert deutlich wird dies in einem Brief, geschrieben von Max Kommerell im Auftrag Georges, vor dem 25. Juli 1926: Nun ist es mir auch klar geworden wie ich Dir den begriff des staatlichen klar machen kann: die jungen menschen die Dich angehn (Silvio) gehen Dich nur an bis zu einem gewissen alter: bis dahin sind sie nicht mündig und machen durch familie ∙ schule u. s. w. gebunden keinen selbständigen schritt hinaus. Sobald sie aber den 1. schritt hinaus machen ∙ müssen sie staatlich werden ∙ sonst o weh!123

Das bedeutete letztlich, dass Morwitz zwar eine erzieherische Vorarbeit leisten konnte und sollte, die eigentliche Bildung zum ‚Staat‘ sich aber im Rahmen größerer Gruppen, in der Kreispraxis zum Beispiel in Lebensgemeinschaften junger Männer, vollziehen sollte. Damit war Morwitz’ Erziehung in ihrer Bedeutung durch George stark reduziert und seine Interpretation der Georgeschen ‚Sendung‘ als individuell zu realisierendes Angebot einer Lebensführung im Zeichen der Dichtung und des Dichters grundsätzlich in Frage gestellt worden. Die wachsende Distanz zwischen George und Morwitz drückte sich auch darin aus, dass Morwitz’ Berichte über die Entwicklung seiner Zöglinge in den Briefen Georges und auch Kommerells nur noch verhaltene Resonanz hervorriefen.124 So hielt Morwitz zwar unverdrossen daran fest, über Silvio

122 Vgl.

z. B. George an Morwitz zwischen dem 13. September 1922 (Poststempel) und dem 5. Oktober 1922 (Poststempel). GMB, S.   365–370. 123 George an Morwitz vor dem 25. Juli 1926 (Herausgeberinnendatierung, Brief ohne Umschlag). GMB, S.   436. 124 Vgl. Morwitz an George und George an Morwitz vom 27. Dezember 1926 bis zum Februar 1927. GMD, S.   445–450.

Zum Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt57

Markees, Bernhard von Bothmer und weitere Zöglinge zu berichten und durfte diese George auch vorstellen, aber eine konkrete Kreisaspiranz oder gar eine Integration in die Jünglingskreise um George kam nicht zustande.

XIII. Fragen des Rechts und der Politik Mit keinem Wort erwähnte Morwitz in seinen Briefen an George 1933 die judenfeindliche Gesetzgebung und Politik, die aus ihm nun in erster Linie einen „Nichtarier“ gemacht hatten. George hielt in einem Brief an Morwitz vom 10. Mai 1933, der seine, Georges, Ablehnung der Einladung zur Teilnahme an der Deutschen Akademie der Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste enthielt, recht verletzend fest, dass Morwitz für das „Positive“ der Bewegung „unter den gegebenen umständen nicht geeignet“ sei, „das rechte wort zu finden“. Und die „ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung leugne“ er, George, „durchaus nicht ab“: .  . das märchen vom abseit stehn hat mich das ganze leben begleitet – es gilt nur fürs unbewaffnete auge. Die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang.125

Ernst Morwitz überbrachte die von George vorgegebene Textpassage, in der dieser die Ahnherrschaft der neuen Bewegung nicht geleugnet hatte, auftragsgemäß in „wortgetreuer abschrift“ dem Beauftragten des preußischen Kultusministers.126 Manche haben in der Tatsache, dass mit Ernst Morwitz der Überbringer der Botschaft ein deutscher Staatsbürger jüdischer Herkunft war, eine Stellungnahme Georges gegen das NS-Regime sehen wollen. Aber der absagende Brief formulierte nichts, was nicht in viele Richtungen ausdeutbar gewesen wäre. George enthielt sich wie in der Vergangenheit jeder politischen Konkretisierung seiner Ziele, hatte aber im obigen Brief an Morwitz vom 10. Mai 1933 diesen und dessen persönliche Lage zugleich zu einem randständigen Problem erklärt. Bereits anlässlich der 125 George

an Morwitz am 10. Mai 1933. GMB, S.   551  f. an George am 12. Mai 1933 (Poststempel). Vgl. Morwitz an George am 25.  Mai 1933. GMB, S.   553, S.   554  f.

126 Morwitz

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Auseinandersetzung um die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die ‚geistige Bewegung‘ hatte George an Friedrich Wolters schreiben lassen, „dass ausserstaatliche dinge unter uns keinen streit hervorrufen dürften“.127 So gab die Zugehörigkeit zum Kreis auch keine Richtung in politischen Fragen vor, auch wenn sich die Haltung vieler Kreismitglieder im Verlauf der Weimarer Republik in das rechte Parteienspektrum verschob. Hatte die offene Semantik der Gedichte und Kreistexte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gerade einen Teil seiner großen Faszination für unterschiedlichste Gruppen und insbesondere für die bürgerliche und adlige Jugend ausgemacht, so wurde diese innerhalb des George-Kreises angesichts der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu einer Hypothek. Für den Kreis hätte es zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft insbesondere um die Lage der jüdischen Kreismitglieder gehen müssen und um eine klare politische Stellungnahme. An dem Anspruch, eine verschworene Freundesgemeinschaft zu sein, scheiterte der Kreis 1933 auf fundamentale Weise. XIV. Schlussbemerkung Das Thema Pädagogik, männliche Jugend und sexualisierte Gewalt im George-Kreis ist im vorausstehenden Beitrag anhand des Briefwechsels zwischen Stefan George und Ernst Morwitz untersucht worden. Es sind Ambivalenzen und denkbare Übergänge zwischen Pädagogik, Pädophilie und sexualisierter Gewalt deutlich geworden sowie mögliche Rechtfertigungsstrategien und Legitimationen. Eine endgültige Klarheit über das Vorkommen (oder Nicht-Vorkommen) sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen im George-Kreis kann aus Georges und Morwitz’ Briefen nicht gewonnen werden. Ob sich dies durch die Untersuchung weiterer Briefwechsel und Nachlässe aus dem George-Kreis ändern lässt, bedarf weiterer, empirisch forschender Überprüfung. Das Problem sexualisierter Gewalt ist ein Thema, das kultur- und sozialgeschichtliche Analysen zu Orten und Gemeinschaften der Erziehung und Bildung generell im Blick behalten sollten.

127 Stefan

George an Friedrich Wolters am 4. November 1918. In: Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel (Anm.   29), S.   147.

Annette Dorgerloh

Zwischen Salon und „Mysteriengrotte“: Stefan Georges Lesungen im Haus Lepsius Im August 1904 schrieb die Malerin und Salonière Sabine Lepsius geb. Graef (1864–1942) in einen Brief an ihren Mann Reinhold: „Die Rahel ist wirklich eine der genialsten Personen, die je gelebt haben“.1 Die Schriftstellerin Rahel Varnhagen von Ense geb. Levin (1771–1833), die genau ein Jahrhundert vor Sabine Lepsius in der Berliner aufgeklärten Gesellschaft einen Salon führte, bildete in mehrfacher Hinsicht ein ‚Role­model‘ für die junge Malerin. Ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammend, jedenfalls mütterlicherseits, hatte sich auch die junge Sabine Graef über ihren Mann und Künstlerkollegen aus der bewunderten Gelehrtenfamilie Lepsius in der Berliner Gesellschaft einzuführen und erfolgreich über einen Salon zu situieren versucht. Zu ihren bewunderten Vorbildern gehörte daher die gelehrte Geselligkeit in den Häusern der einander freundschaftlich verbundenen Ägyptologen und Gräzisten Lepsius und Curtius.2 Anders als bei den Salons adliger Damen stand hier nicht eine aufwendige Beköstigung im Mittelpunkt, sondern der intellektuelle Austausch, das geistvolle Gespräch.3 Wie Rahel Levin hielt auch Sabine Lepsius Briefe für ein zentrales Medium zur Sicherung des Überdauerns. So bestimmte sie vor ihrem Tod, den Briefwechsel mit ihrem Mann Reinhold zur Archivierung aufzubewahren. Dies wurde später über das Literaturarchiv Marbach realisiert. Ein solcher Akt zur Sicherung des Andenkens war zu jener Zeit für eine Malerin singulär – noch bei Rahel hatte erst der deutlich jüngere Witwer Karl August Varnhagen von Ense die Herausgabe ihrer Briefe in die Wege geleitet. Sabine Lepsius hingegen hatte aus ihrer Kenntnis erfolgreicher Frauenbiographien die richtigen Schlussfolgerungen gezogen, als sie zum Ende der Zwanziger Jahre hin zwei  1 Sabine

an Reinhold Lepsius, Brief vom 14. 08. 1904, DLA Marbach. die Erinnerungen der (Schwieger-) Mutter Elisabeth Lepsius. In: Bernhard Lepsius (Hg.): Das Haus Lepsius. Vom geistigen Aufstieg Berlins zur Reichshauptstadt. Nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1933.  3 Vgl. Günther Erbe: Das vornehme Berlin. Fürstin Marie Radziwill und die großen Damen der Gesellschaft 1871–1918, Köln – Weimar – Wien 2015.  2 Vgl.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-002

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Erinnerungsbücher konzipierte. Während das eine der Freundschaft mit Stefan George gewidmet war, galt das zweite ihrer Autobiographie, die sie rückblickend als exemplarisch für eine Künstlerin der Zeit um 1900 ansah. Die Memoiren wurden jedoch erst 1972, dreißig Jahre nach ihrem Tod, veröffentlicht. Das Besondere an dem 1935 in dem Berliner Verlag ‚Die Runde‘ publizierten George-Erinnerungsbuch war die Beifügung von Faksimiles einiger Briefe und einer Serie von Porträtfotografien Georges, die wohl überwiegend auf Reinhold Lepsius zurückgehen. Neben dem Holzschnitt, den Reinhold Lepsius 1905 von George schuf, waren es vor allem diese Fotografien, die für das Fortleben der beteiligten Akteure sorgten. Es hatte sich für die Malerin als unabdingbar herausgestellt, selbst eine Wiedereinschreibung in die Kultur- und Kunstgeschichte vorzunehmen, da es offensichtlich keine andere Person oder Institution für sie tat – oder jedenfalls nicht so, wie sie es für wünschenswert hielt. Zwar hatten durchaus einige bedeutende Museen Bilder des Künstlerpaares erworben, etwa die Berliner Nationalgalerie oder das Städel-­ Museum Frankfurt am Main, doch war ihr bewusst, dass nur das Medium gedruckter Erinnerungsbücher ein längerfristiges Überdauern in der kunst- und kulturinteressierten Öffentlichkeit garantieren würde. Dies war in ihrem Fall notwendig geworden, da es das Künstlerpaar in seinem elitären Selbstverständnis verpasst oder besser: bewusst umgangen hatte, ein freundschaftliches Verhältnis zu den entscheidenden – und zunehmend wichtigeren – Multiplikatoren der Berliner Künstlersezession zu pflegen. Das betraf nicht nur die Vettern Paul und Bruno Cassirer, Galeristen und Verleger, sondern auch Kunstkritiker aus deren Umfeld wie etwa Karl Scheffler, dem Herausgeber der für die Formierung und Fixierung eines ‚deutschen Impressionismus‘ außerordentlich wichtigen Zeitschrift ‚Kunst und Künstler‘.4

 4 Vgl.

Georg Brühl: Die Cassirers. Streiter für den Impressionismus, Leipzig 1991; Bernhard Echte / Walter Feilchenfeldt (Hg.): Kunstsalon Cassirer. Die Ausstellungen. Bd. 1: 1898–1905, Wädenswil 2011; Sigrid Bauschinger: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen, München 2015; Sigrun Paas: „Kunst und Künstler“, 1902–1933. Eine Zeitschrift in der Auseinandersetzung um den Impressionismus in Deutschland. Diss., Heidelberg 1976; Andreas Zeising: Studien zu Karl Schefflers Kunstkritik und Kunstbegriff. Mit einer annotierten Bibliographie seiner Veröffentlichungen, Tönning u. a. 2006.

Zwischen Salon und „Mysteriengrotte“61

Die Folge war, dass das Künstlerpaar seit etwa 1908 nicht mehr zu den ‚top ten‘ der Berliner Sezession gehörte, obwohl Reinhold zuvor einer der höchstbezahlten Maler Berlins war. Sein überlanges Herumprobieren an den Bildern, seine neurasthenischen Phasen großen Zweifels und das daraus resultierende Nichtfertigwerden waren Gift für die Geschäftsbeziehungen. Schließlich wandten sich ihre Auftraggeber mehr und mehr solchen Künstlern der Sezession zu, die schnell und zuverlässig arbeiteten, wie etwa Lovis Corinth oder Max Slevogt. Sabine Lepsius versuchte daher oftmals, mit ihrer verbindlichen, lebendigen Art in die Bresche zu springen, wenn Reinhold nicht lieferte.5 Mit ihren frischen Damen- und vor allem Kinderbildnissen gelang es ihr somit, den Unterhalt für die größer werdende Familie mit den vier Kindern und diversen Gästen, zu denen regelmäßig im Herbst auch Stefan George, Karl Wolfskehl und Friedrich Gundolf gehörten, zu sichern. Anders als viele ihrer Sezessionskollegen konnten Sabine und Reinhold Lepsius nicht auf ein ererbtes Vermögen zurückgreifen und sie mussten allein mit ihrer Kunst den Lebensunterhalt der Familie erarbeiten. Dabei konnten sie sowohl auf die intellektuellen Kreise der Lepsius-Familie als auch auf die Kontakte und Verbindungen der Künstlerfamilie Graef, speziell des jüdischen Zweigs der Mutter, eine geborene Liebreich, aufbauen. So gehörte der AEG-Erbe Walther Rathenau ebenso wie Georg Simmel zu den Schulfreunden ihrer Brüder, während Sabine in der künstlerisch-musikalischen Welt der Familie Hensel-Mendelssohn verkehrte und hier ihre ersten musikalischen Sporen erwarb. Sie war ein solches musikalisches Talent, dass sich der Geiger Joseph Joachim für ihre Aufnahme an der königlichen Musikakademie einsetzte. Da ihr jedoch als Mädchen der Eintritt in die ersehnte Kompositionsklasse verwehrt blieb, verließ sie die Hochschule in großer Enttäuschung; sie wollte nicht nur musikalisch reproduzieren, sondern schöpferisch sein. Erst später fand sie zur Malerei, obwohl sie einer Malerfamilie entstammte, während Reinhold Lepsius durch seine Familie in seiner künstlerischen Ausbildung sehr gefördert wurde.6 Der Lenbach-Schüler Lepsius und die sieben Jahre jüngere Sabine Graef  5 Sabine

Lepsius: Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende, München 1972, S.   193  ff.  6 Zur Künstlerpartnerschaft vgl. Verf.: Das Künstlerpaar Lepsius. Zur Berliner Porträtmalerei um 1900, Berlin 2003.

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kamen im Frühjahr 1889 in Rom zusammen, wo sie ein Atelier teilten. Während Lepsius danach zunächst in München lebte, ging Sabine 1890 nach Paris, um an der Académie Julian ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Beide hatten sich unter dem Einfluss des französischen Impressionismus für die erneuerte Porträtmalerei als zukunftsweisende Gattung entschieden. Nach ihrer Eheschließung 1892 gingen sie auf Anraten Sabines nach Berlin und gehörten hier zu den Mitbegründern der Berliner Secession, die sich einer modernen Kunst und Ästhetik verschrieben hatte. Sabines spontane, vitale Art bildete eine Art Gegenpol zu dem sehr selbstkritischen und reflektierten Wesen ihres Mannes; beide ergänzten einander und wussten dies auch lebenslang zu schätzen. Gesellig waren sie beide, und so bildete sich bald schon ein Kreis bemerkenswerter Persönlichkeiten um sie – Männer wie Frauen –, die die Möglichkeit des intellektuellen Austauschs ebenso goutierten wie die Darbietungen der hochmusikalischen Gastgeberin. „Sabine ist weder schön noch reich, noch hat sie einen reichen Gönner – wie kommt sie dazu, einen Berliner Salon zu besitzen?“, fragte sich die Berliner Gesellschaft.7 Sabine reagierte darauf in ihren Memoiren mit der Erklärung, sie habe gar keinen Salon im landläufigen Sinne besessen, „sondern es bildete sich gleichsam organisch um Reinhold und mich eine Geselligkeit, wie sie unser beider Wesen entsprach. Allerdings war sie viel eigenartiger als die Gesellschaften bei den Berliner Prominenten und Geldleuten.“8 Die Geselligkeit in der Casa Lepsius besaß etwas Exklusives, denn die Gastgeber achteten darauf, zueinander passende Persönlichkeiten zusammenzubringen. Nahezu alle Habitués waren künstlerisch oder schriftstellerisch aktiv, so wie es auch im George-Kreis selbstverständlich war. Der wiederholt geäußerten Erfahrung, als Künstlerin in Berlin trotz ihres wirtschaftlichen Erfolgs nicht genügend „wurzeln“ zu können, begegnete Sabine Lepsius mit der Kultivierung ihrer Salongeselligkeit, zunächst in ihrer Charlottenburger Wohnung in der Hardenbergstraße, später in der Kantstraße 162. Im Jahr 1902 bezog die Familie schließlich mit den inzwischen vier Kindern ein Haus in der Ahornallee 31 in Westend, direkt benachbart dem Gärtner und Gartenreformer Karl Foerster, der dann später nach Bornim bei Potsdam zog. Immer wieder  7 Lepsius,  8 Ebd.

Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende (Anm.   5), S.   175.

Zwischen Salon und „Mysteriengrotte“63

wurde Sabine Lepsius in der Berliner Gesellschaft mit der Vorstellung konfrontiert, sie male nur zum Vergnügen – eine künstlerische Berufstätigkeit zum Broterwerb war vielen Angehörigen der Eliten für die Frau eines erfolgreichen Künstlers schlicht nicht vorstellbar. Es ist bemerkenswert, dass Sabine Lepsius im Jahr 1913 einen Aufsatz über das Aussterben des Salons publizierte.9 Die geborenen Begründerinnen eines Salons, so schrieb sie darin, pflegen heutzutage einen Beruf zu ergreifen, „weil es nicht immer lohnend ist, den Umweg zur Idee über einen Menschen zu machen.“10 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Stefan George mit seinen Freunden und Jüngern bereits von ihnen zurückgezogen, auch wenn es immer noch Anknüpfungspunkte gab.11 Mit dem Beginn des Weltkrieges verlagerten sich dann ohnehin die Interessen und informellen Gruppen, neue Klubs und Vereinigungen entstanden. Der Krieg, in dem der Sohn Stefan fiel, und das Ende der preußischen Monarchie bildeten eine weitere tiefe Zäsur. Während Reinhold Lepsius mit der neuen Zeit haderte und 1922 starb, erlebte Sabine in der Zeit der Weimarer Republik, die sie begrüßte – nicht zuletzt auch wegen des Frauenwahlrechts und neuer Freiheiten für Frauen – geradezu einen Schaffensrausch. Um so wichtiger war es ihr nun, ihre Erlebnisse und Erfahrungen für die Nachwelt festzuhalten. Publizierte Briefwechsel und Erinnerungsbücher nahestehender Persönlichkeiten werden in den 1920er Jahren erheblich zu dem Entschluss der Malerin beigetragen haben, die Geschichte ihrer Freundschaft zu Stefan George für ein öffentliches Publikum aufzubereiten. Dafür besaßen die Memoiren der Malerin und Schriftstellerin Marie von Bunsen (1860–1941), die ebenfalls Salons geführt hatte, offenbar eine Katalysatorfunktion. 1929 in Leipzig erschienen, heißt es in von Bunsens Buch ‚Die Welt in der ich lebte‘ sibyllinisch: Reinhold Lepsius und seine Frau Sabine begannen ein hübsches Haus zu machen; hätten sich die damals allgemein in kunstliebenden Kreisen auf ihn ge-

 9 Sabine

Lepsius: Über das Aussterben des Salons. In: März 7, 1913, Bd.   3, S.   222– 234. 10 Ebd., S.   232. 11 Vgl. Verf.: „Sie war wenigstens amüsant“. Sabine Lepsius und Stefan George – eine Freundschaft sans phrase? In: Ute Oelmann / Ulrich Raulff (Hg.): Frauen um Stefan George, Göttingen 2010, S.   105–118.

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setzten Hoffnungen erfüllt, wäre es ihm überaus gut gegangen, und beide hätten es vorzüglich verstanden, einen gesellschaftlichen bemerkenswerten Mittelpunkt zu bilden.12

Tatsächlich gehörte Marie von Bunsen, die zu dieser Zeit bereits allein und in einem Kanu alle deutschen Flüsse abgefahren hatte, zum Kern der Salonabende im Haus Lepsius; sie erinnert im Buch den ersten, an dem Georg Brandes zu Gast war und über seine „Hauptströmungen in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts“13 sprach. Von Bunsen fährt fort: In diesen neunziger Jahren gerieten Reinhold und Sabine Lepsius unter den Stefan Georgeschen Bann, und ich wurde dort zu einer erlesenen Veranstaltung geladen. Das Zimmer war verdunkelt, nur am Lesetischchen leuchtete eine rotverschleierte Lampe; der anliegende Raum wurde freigehalten, ‚denn‘, wie der Hausherr flüsterte, ‚hier wird der Dichter sitzen‘. Dann war er plötzlich da, wirkte wie eine Erscheinung, wirkte unglaubhaft unwahrscheinlich. Obwohl damals erst Mitte der Dreißiger, hätte er doppelt so alt sein können, er war zeitlos und alterslos wie ein Seher und Prophet. Teils Liszt, teils Dante, vor allem Dante; auch ihm hat man eine Höllenwanderung angesehen. Unfaßbar, daß man so einem Menschen auf der Straße hätte begegnen können. Er lebte ja auch nirgends und überall, zugänglich nur zu dem inneren Kreis, der enggeschlossenen Gemeinde.14

Anders als in ihrem Bericht in der ‚Vossischen Zeitung‘ 189815 beschrieb von Bunsen Georges Lesungen im Salon Lepsius in den Memoiren nun so, dass nur „eine ganz geringe Ironie zwischen diesen Zeilen entdeckt“16 werden könne. Sie gab immerhin zu, sie habe die „Konventikelluft“17 angedeutet; von der „Mysteriengrotte“18, mit der sie den Salon Lepsius noch 1898 betitelt hatte, ist hier 30 Jahre später allerdings nicht mehr die Rede.

12 Marie

von Bunsen: Die Welt in der ich lebte. Erinnerungen aus glücklichen Jahren 1860–1912, Leipzig 1929, S.   152. 13 Ebd. 14 Ebd., S.   153. 15 Marie von Bunsen: Stefan George: ein Dichter und eine Gemeinde. In: Vossische Zeitung, Nr.   13, 09. 01. 1898. 16 Bunsen, Die Welt in der ich lebte (Anm.   12), S.   153. 17 Ebd. 18 Bunsen, Stefan George: ein Dichter und eine Gemeinde (Anm.   15).

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Ihrem Fazit, „so war ich ein Versager und wurde nie wieder zu Stefan George eingeladen“, fügte sie nicht ohne Kalkül den Hinweis an, „wahrscheinlich verdiente ich nichts Besseres, für Verstiegenes bin ich ein zu einfacher Mensch“.19 Hinter diesem Bescheidenheitstopos stand jedoch ein ähnlich großes Selbstbewusstsein wie etwa bei Ricarda Huch, deren Begegnung mit George bekanntermaßen weitaus weniger erfreulich ablief als die Marie von Bunsens. Sabine Lepsius hingegen suchte mit ihrem Erinnerungsbuch ein anderes Bild zu zeichnen, es ging um nicht weniger als die facettenreiche „Geschichte einer Freundschaft“. Als Vorbild mag ihr das 1928 publizierte Erinnerungsbuch an Rainer Maria Rilke von Lou Andreas-­ Salomé vor Augen gestanden haben; diese beiden waren bereits in den Anfangsjahren wiederholt Gäste im Salon Lepsius.20 Vom 14. November 1896, dem Datum der ersten Lesung an, waren sowohl Sabine als auch Reinhold Lepsius dem Zauber Georges verfallen – er hätte „Unglaub­ liches“ von uns verlangen können, wie Sabine später schrieb.21 So nannte das Paar seinen im Juni 1897 geborenen Sohn nach dem Dichter Stefan. George verlangte nicht viel, er freute sich über die wirkungsvollen Inszenierungen, die ihm Sabine Lepsius in ihrem Salon ermöglichte: Sie feierte den Freund „gern durch brennende Kerzen oder blühende Lorbeerzweige, die ich im Süden lieben gelernt hatte, und die sein Wesen mir symbolisierten“.22 „Wie man den so Einzigen und das Wertvolle, das er schuf, zu fördern suchte durch Stimmung, die ihm wohltat und ihn fruchtbar machte“, schrieb Sabine in den Erinnerungen, so erkannte ich hier, daß ich meine Gaben in den Dienst dieses damals in Deutschland noch unbekannten Künstlers stellen müsse; sie waren zum Teil weiblich-sorgender, zum Teil ästhetisch-künstlerischer Natur, wie zum Beispiel die schöne Anordnung von Räumen, des Lichtes in ihnen, das Fernhalten alles Auffallenden, die Bevorzugung gedämpfter Wirkung, endlich das Zusammenhalten und Lenken der Menschen, die dem Schönheitsfrohen Freude bereiten, bei selbstverständlichem Zurücktreten meiner eigenen Person.23

19 Ebd. 20 Vgl.

Lou Andreas-Salomé: Rainer Maria Rilke, Leipzig 1928. Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende (Anm.   5), S.   173. 22 Sabine Lepsius: Stefan George – Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S.   15. 23 Ebd., S.   16. 21 Lepsius,

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Stefan George veranstaltete nun in größeren Abständen Lesungen im Haus seiner Freunde, und Frau Sabine sorgte für einen angemessenen Rahmen, so dass die Anwesenden in die Stimmung seiner Dichtung „hineingezaubert“24 wurden. George bezeichnete Sabine als die „Dionysische“, Reinhold Lepsius als den „Apollinischen“.25 Den vielen Gerüchten über eine ‚theatralische Aufmachung‘ der Lesungen Georges in ihrem Haus suchte sie selbst in Ihrem Erinnerungsbuch mit einer „genaue[n] Schilderung“ entgegenzutreten: Die Gäste wurden unmittelbar vom Gang in das Wohnzimmer geführt, das nur matt erleuchtet war, während im Musikzimmer, für die Gäste verborgen, zwei Klavierlampen standen, die ihr ungefärbtes starkes Licht auf den Vortragenden warfen. Eine sehr breite Tür führte vom Wohnzimmer ins Musikzimmer; dort war als einzige Veränderung gegen den täglichen Zustand ein Notenpult, das sonst dem Quartettspiel diente, für den Vortragenden in die Mitte gerückt, um die Manuskripte und Bücher, in späteren Jahren auch den ‚Teppich des Lebens‘ zu tragen. Es waren, wie immer bei festlichen Gelegenheiten, Blumen in Kübeln aufgestellt, im Musikzimmer aber ein Kupfergefäß mit Lorbeer­ zweigen.26

Die Mythenbildung aber war bereits in vollem Gang. So soll Anton von Werner, der bekanntermaßen konservative Direktor der Königlichen Akademie der Künste etwa verbreitet haben, „daß im Hause Lepsius die Wände violett ausgeschlagen seien und Jungfrauen mit Lilien in der Hand den Worten des Dichters lauschten“.27 Einer anderen Überlieferung zufolge sei das Buch ‚Der Teppich des Lebens‘ 1899 bei einer Lesung von zwei nackten Knaben gehalten worden. „Nur war es leider nicht wahr“, wie Sabine richtigstellte.28 Mehr noch als Marie von Bunsen und Sabine Lepsius selbst als Überlieferin solcher Vorstellungen sollte jedoch Edwin Redslob (1884–1973), der Begründer des West-Berliner Tagesspiegels, für die postume Wahrnehmung der Sabine Lepsius von entscheidender Bedeutung werden. In seinem 1957 herausgegebenem Buch ‚Berliner Frauen. Selbstzeugnisse und dokumentarische Berichte‘ stellt er die Erinnerungen an und von

24 Ebd.,

S.   17. Ebd., S.   25. 26 Ebd., S.   22. 27 Ebd. 28 Ebd., S.   23. 25

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Sabine Lepsius unter die Überschrift „Tempeldienst für Stefan George“.29 Damit war eine Schublade auf- und zugleich wieder zugemacht, die erst mehrere Jahrzehnte später unter dem Einfluss der Künstlerinnenforschung der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre einer erneuten Revision unterzogen wurde. Die Literatur insbesondere der letzten Jahre hat die einschlägigen Quellen neu ausgewertet, zuletzt Kai Kauffmann in seiner George-Biographie von 2014. Es wird dabei ersichtlich, dass Marie von Bunsen als Zeitzeugin wichtig ist und bleibt, weil sie den Inszenierungsaspekt der Lesungen früh schon deutlich macht. Auch Sabine Lepsius beschreibt in den erst lange nach ihrem Tod publizierten Erinnerungen, wie sie sich vor bzw. bei den Lesungen stets ein Körnchen Weihrauch auf ihre Zigarette zu tun pflegte – der Atmosphäre der Lesung angemessen. Selbstverständlich waren die engsten Freunde des Paares bei den Salonabenden mit Stefan George stets dabei, Gertrud und Georg Simmel und Gertrud Kantorowicz, später auch Margarete Susman. Aus dem Salon Lepsius erwuchsen dem jungen Stefan George wichtige Multiplikatoren; mit den Künstlern befreundete Geisteswissenschaftler wie Richard M. Meyer, Georg Simmel oder Max Dessoir waren die ersten, die sich publizistisch für George einsetzten. Erst sehr viel später fiel Sabine Lepsius auf, dass George zu seinen Lesungen stets „im Haus des Reinhold Lepsius“ eingeladen hatte, obwohl doch sie es war, die die Organisation der Salonabende verantwortete. In ihrem Erinnerungsbuch an ,Stefan George‘ hielt die Malerin fest, dass sie für die Dichterlesungen, wie überhaupt für alle geselligen Veranstaltungen, die alleinige Verantwortung trug, da Reinhold Lepsius sich um Derartiges nicht kümmerte, geschweige denn Stefan George […]. Einstimmig hatten wir die selbstverständliche Meinung, ein Dichter solle, bevor er seine Gedichte vorträgt, nicht im ‚Volke‘ erscheinen. Ebenso natürlich schien es, daß er sich nach dem Lesen in mein Atelier zurückzog, um Atem zu holen.30

29 Edwin

Redslob: Berliner Frauen. Selbstzeugnisse und dokumentarische Berichte, Berlin 1957. 30 Lepsius, Stefan George (Anm.   22), S.   22  f.

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Sabine hielt die Gäste zusammen und lenkte den Abend. Mit ihrer Musik wusste sie eine lebendige, zuweilen ausgelassene Stimmung hervorzurufen.31 Georges dem Künstlerpaar gewidmetes Gedicht ‚Blaue Stunde‘32 empfand Sabine Lepsius als Bestätigung ihrer Inszenierungspraxis. „Man mußte sich hüten, Stefan George mit wesensfremden Elementen zusammenzubringen; er ertrug nur das Adäquate.“33 Dazu zählten in der Anfangszeit Künstler wie Ludwig von Hofmann und Otto Eckmann, die Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin und der junge Ludwig Justi, der Literaturwissenschaftler Georg Brandes und auch der von Stefan George geschätzte Archäologe Botho Graef mit Ernst Hardt und Karl Gustav Vollmoeller, der Pianist Conrad Ansorge und seine Frau Margarethe. Sabine Lepsius legte Wert darauf, dass sich die Salongeselligkeit auch als ein Forum geistreicher Frauen profilierte. Dies beschränkte sich nicht nur auf ihren Salon, Sabine Lepsius engagierte sich auch darüber hinaus für die Emanzipation der Frau, trat auf dem Internationalen Frauenkongress 1904 als Rednerin auf und gehörte dem 1905 in Berlin gegründeten Internationalen Lyceum-Club an. George schätzte an Sabine Lepsius, dass sie, wie außer ihr nur Gertrud Simmel, keine gesellschaftlichen Ansprüche als Frau mache.34 Dieser Ausspruch erlaubt Rückschlüsse auf das durch ihre Profession geprägte Selbstverständnis der Malerin, die ihm nicht als konventionelle Gesellschaftsdame, sondern explizit als Künstlerin entgegentrat. So war es nicht Reinhold Lepsius, sondern sie, die George im Herbst 1898 bat, ihr für ein Porträt Modell zu stehen. Nach ihrer Schilderung im Erinnerungsbuch nahm sie damit eine Anregung Georges auf. Das 1898 begonnene, großformatige Porträt des Dichters scheiterte gleichwohl. Sabine Lepsius überarbeitete das Bild in den folgenden Jahren und Jahrzehnten mehrfach und verkaufte es schließlich in einem erheblich reduzierten Zustand.35 In ihrem Erinnerungsbuch schrieb 31 So

bei der Einladung anlässlich des Besuchs des portugiesischen Sängers Francesco d’Andrade im Hause Ludwig Justis am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Vgl. Lepsius, Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende (Anm.   5), S.   236  ff. 32 Vgl. Stefan George: Der Teppich des Lebens, SW V, S.   62. 33 Lepsius, Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende (Anm.   5), S.   179. 34 Ebd. 35 Eine reduzierte Fassung wurde 1936 für das Städelsche Kunstinstitut Frankfurt

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sie: „Ich hatte ein Riesenbild entworfen in Form eines Triptychons, auf welchem in der Mitte George in ganzer Figur saß, hinter ihm Architektur, die der Villa Aldobrandini in Rom glich. Die beiden Felder rechts und links waren ausgefüllt mit nackten musizierenden Knaben und harferührenden weiblichen Gestalten. George meinte damals, die Epheben sollten lieber die Flöte spielen, statt der Geige; doch konnte ich ihm die Vorstellung des Vibrierens der Violine, mit der ich so vertraut war, nicht opfern.“36 Das schließlich auf den sitzenden George reduzierte Bild wurde 1935 von dem Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main angekauft. Die Malerin unternahm keinen weiteren Versuch für ein George-Porträt, dies sollte Reinhold Lepsius vorbehalten bleiben. Sein 1916–22 entstandenes Altersbildnis des Dichters, das sich heute im Literaturarchiv Marbach befindet, gehört zu den eindrucksvollsten künstlerischen Werken der Porträterfassung Georges; aber auch sein Holzschnitt von 1905 wurde zu einer Ikone des Meisters. Obwohl sich George seit dem Tod Maximins 1904, dessen Bedeutung das Künstlerpaar nach Meinung Georges nur ungenügend erfasst hatte, zurückzuziehen begann, unternahmen sie doch noch gemeinsame Sommerreisen in die Schweiz.37 Ab etwa 1910 vertiefte sich diese Kluft. Unterschiedliche Auffassungen über die Musik, Frauen und den Umgang mit Kindern waren wohl nur die äußeren Symptome. Die Malerin resümierte, dass es „unmöglich für einen selbständigen Menschen“ wie sie sei, „die Satzungen Stefan Georges ohne weiteres anzunehmen“; „Gehorsam“ ihm gegenüber war ihr nicht möglich.38 Nach 1913 traf George zumeist nur noch mit Reinhold Lepsius zusammen. Ein Freund in der Not – das hatte George ihr einmal angeboten – konnte der Dichter ihr nach dem Kriegstod des am Main aus Mitteln der Frankfurter Pfungst-Stiftung erworben; zur Zeit als Dauerleihgabe in Bingen. Siehe Ute Oelmann: Das Malerehepaar Lepsius und Stefan George. In: George-Jahrbuch 3, 2000/01, S.   22–33. 36 Lepsius, Stefan George (Anm.   22), S.   37. 37 1906 reisten sie gemeinsam nach Gadenstädt, wo Stefan George während einer gemeinsamen Wanderung einen hölzernen Löffel für Sabine Lepsius schnitzte; 1909 trafen sie sich während des Sommerurlaubs für mehrere Tage in Fideris. Vgl. Lepsius, Ein Berliner Künstlerleben um die Jahrhundertwende (Anm.   5), S.   216  f. 38 Lepsius, Stefan George (Anm.   22), S.   90  f.

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Sohnes Stefan und des ihr eng verbundenen Bruders Botho Graef – beide starben 1917 – nicht mehr sein. Für Sabine Lepsius war das eine tiefe Enttäuschung, obwohl sie George gleichwohl bis an ihr Lebensende zugeneigt blieb. Auch George bewahrte sich trotz aller Diskrepanzen der späteren Jahre eine vergleichsweise hohe Meinung von ihr. Ihre publizistische Orientierung auf George und seine Freunde bedeutete in den 1930er Jahren erheblich mehr als eine bloße Dichterhuldigung, sie waren auch die Möglichkeit, im Nazideutschland neben George selbst auch seine jüdischen Freunde und Schüler noch einmal zu würdigen. Für Sabine Lepsius als ‚Halbjüdin‘ nach den Rassegesetzen war es essentiell, jenseits ihres eigenen ‚Webfehlers‘, wie sie es nannte, die großartigen Fähigkeiten und Leistungen der Freunde, etwa Karl Wolfskehls, herauszustellen. So sind die Erinnerungsbücher für uns heute in mehrfacher Hinsicht wichtige Dokumente: für die frühe Zeit Georges und seiner Aufenthalte in Berlin mit seinen Lesungen als dezidierten Höhepunkten, aber auch als ein Ausweis der künstlerischen und gesellschaftlichen – insbesondere über die Salon-Geselligkeit in der Tradition Rahel Varnhagens realisierten – Emanzipation einer Malerin und Musikerin mit jüdischen Wurzeln, die auch nach dem Ende des Kaiserreiches, dem Tod ihres Mannes 1922 und der Abwendung Stefan Georges selbstbewusst ein beachtliches eigenes Werk schuf und zudem auch das Schaffen ihres Mannes Reinhold Lepsius vor dem Vergessen bewahrte. Es ist daher eine besondere Anerkennung und Würdigung ihres Schaffens, dass ihr frühes Selbstbildnis als Malerin, das sie im Alter von 21 Jahren schuf, 2019 zum Titelbild und Werbeträger der Berliner Ausstellung „Kampf um Sichtbarkeit – Künstlerinnen der Alten Nationalgalerie“ gewählt wurde.39

39 https://blog.smb.museum/kampf-um-sichtbarkeit-kuenstlerinnen-der-alten-

nationalgalerie.

Friederike Felicitas Günther

Mehr als schales Leiern? Hofmannsthals Lesung des Gedichts ‚Manche freilich  …‘ Am 22. April 1907 sprach Hugo von Hofmannsthal trotz seiner Bedenken gegenüber der „Oberflächenkunst“ der Tonaufnahme1 ein Gedicht ins Mikrophon – schließlich konnte er sich damit unter die von Kaiser Franz Josef titulierten „Stimmen hervorragender Persönlichkeiten“ zählen, die zu Jahrhundertbeginn vor das Mikrophon des Wiener phonographischen Instituts traten.2 Für die Aufnahme wählte Hofmannsthal das wohl 1896 abgeschlossene Gedicht ‚Manche freilich  …‘.

MANC HE FRE ILIC H  …



Manche freilich müssen drunten sterben, Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, Andre wohnen bei dem Steuer droben, Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

5 10

Manche liegen immer mit schweren Gliedern Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens, Andern sind die Stühle gerichtet Bei den Sibyllen, den Königinnen, Und da sitzen sie wie zu Hause, Leichten Hauptes und leichter Hände.



Doch ein Schatten fällt von jenen Leben In die anderen Leben hinüber, Und die leichten sind an die schweren Wie an Luft und Erde gebunden:

 1 Tobias

Heinz: Hofmannsthals Sprachgeschichte. Linguistisch-literarische Studien zur lyrischen Stimme, Berlin – New York 2009, S.   112, „Oberflächenkunst“ zitiert aus: Hugo v. Hofmannsthal: Im Vorübergehen. Wiener Phonogramme. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd.   XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M.   1991, S.   8–12, hier S.   8.  2 Vgl. Heinz Hiebler: „… mit Worten (Farben) ausdrücken, was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert  …“. Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 10, 2002, S.   89–182, hier S.   127 u. 162.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-003

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Friederike Felicitas Günther

15

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, Noch weghalten von der erschrockenen Seele Stummes Niederfallen ferner Sterne.

20

Viele Geschicke weben neben dem meinen, Durcheinander spielt sie alle das Dasein, Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens Schlanke Flamme oder schmale Leier.3

Das Gedicht hat eine intensive und zum Teil kontroverse Interpretationsgeschichte.4 Auch Hofmannsthals Lesung von 1907, die seit der Jahrtausendwende der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist und inzwischen auch im Netz abgerufen werden kann,5 wurde bereits eingehend  3 Hugo

von Hofmannsthal: Manche freilich  … In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd.   I: Gedichte 1. Hg. von Eugene Weber, Frankfurt a. M.   1984, S.   54. Im Folgenden wird aus dem Gedicht im Haupttext mit der Verszahl in Klammern zitiert.  4 Die Interpretationslinie von Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. 20. Aufl., Bern 1992 (1. Aufl. 1949), S.   311–318, zählt das sprechende Ich im Gedicht zu den „Wissenden“ (hier S.   318) und damit – bei aller stilistisch feinfühlig hergeleiteten „Undeutlichkeit“ (hier S.   317) – implizit auf die Seite derer „droben“ (V. 3). Dagegen macht Reinhold Grimm: Das einzige Gesetz und das bittere. Hofmannsthals „Schicksalslied“. In: Benjamin Bennett / Anton Kaes / William J. Lillyman (Hg.): Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht. Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Sokel, Tübingen 1983, S.   43–164, eine Lesart stark, die das Gedicht von solchen ‚wissenden‘ Höhen wieder zurück auf die Erde holt, indem er dessen soziale Hinwendung zu denen „drunten“ (V. 1) im Gedicht herausarbeitet. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich viele weiter differenziertere Deutungen, etwa von Robert Vilain: „Wer lügt, macht schlechte Metaphern“. Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ and Walter Pater. In: DVjs 65, 1991, S.   717–754, der die Berücksichtigung derer ‚da unten‘ im Gedicht als Erweiterung rein ästhetizistischer Höhenflüge versteht. Eine grundsätzliche Infragestellung des Status des Wissens und des Wissenden im Gedicht verfolgt die Studie von Jörg Schönert: Hugo von Hofmannsthal: ‚Manche freilich  …‘. In: Ders. / Peter Hühn / Malte Stein (Hg.): Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin – New York 2007. Eine Zusammenfassung der vielfältigen Deutungen findet sich bei Tamara Reitmeier: ‚Manche freilich  …‘ (1896). In: Mathias Mayer / Julian Werlitz (Hg.): Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2016, S.   155–157.  5 Zunächst veröffentlicht als CD: Tondokumente aus dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Gesamtausgabe der historischen

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analysiert.6 Die Analysen der Tonaufnahme konzentrieren sich weitgehend auf eine Beschreibung des musikalisierten Leseduktus von Hofmannsthal und decken für heutige Ohren auf, in welchen Rezitations­ traditionen er sich bewegt und von welchen er sich abzugrenzen sucht. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob die Art und Weise seiner Lesung nicht nur seine Positionierung im zeitgenössischen Diskurs um das poetisch angemessene „Hersagen“ von Gedichten anzeigen,7 sondern auch Rückschlüsse auf die Interpretation des Gedichts zulassen. In diesem Sinne sieht Heinz Hiebler in Hofmannsthals Lesung das „Beispiel für eine auch akustisch hörbare Poetologie“8 und regt an, sich bei Bestände 1899–1950, Wien 1999. Dem 10. Hofmannsthal-Jahrbuch lag eine CD u. a. mit der Aufnahme von Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ bei, kommentiert von Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und Schriftsteller seiner Zeit. Zur beiliegenden CD-Ausgabe der Stimmporträts aus den Historischen Beständen (1899–1950) des Wiener Phonogrammarchivs. In: Hofmannsthal Jahrbuch 10, 2002, S.   161–181. Zurzeit ist die Lesung im Netz zu finden in Katja Stopka: Archiv der Poeten. Eine Anthologie zur Geschichte des lyrischen Sprechens – und der Aufnahmetechnik. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8, 2011, H. 2. Online-Ausgabe: https://zeithistorische-forschungen.de/22011/4721 (letzter Zugriff: 22. 02. 2022). Weitere Links: http://www.planetlyrik. de/hilde-spiel-zu-hugo-von-hofmannsthals-gedicht-manche-freilich/2021/04/ und https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hugo-von-hofmannsthal-liestmanche-freilich-16760111.html (letzter Zugriff: 06. 02. 2022).  6 In der Reihenfolge ihres Erscheinens: Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001; Hiebler, „… mit Worten (Farben) ausdrücken […]“ (Anm.   2); Alexander Košenina: In die Wachsplatte gegraben. Hofmannsthal spricht, sein Jahrbuch feiert zehnten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 240, 16. 10. 2003, S.   42; Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne, Würzburg 2003; Bernhard Böschenstein: Feierlich, getragen, autoritär. Das Ich als klangliches Universum: Hofmannsthals Stimme. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 120, 24. 05. 2006, S.   36; Reinhart Meyer-Kalkus: Verfehlte Dichterlesung? [Antwort auf Böschenstein]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 143, 23. 06. 2006, S.   11; Tobias Heinz: Der Dichter spricht. In: Ders., Hofmannsthals Sprachgeschichte (Anm.   1), S.   110–114; Reinhart Meyer-Kalkus: Zwischen George-Schule und Burgtheater. Hofmannsthals Lesung von ‚Manche freilich‘. In: Ders.: Geschichte der literarischen Vortragskunst, Stuttgart 2020, S.   585–588.  7 Vgl. zum „Hersagen von Gedichten“ als Vorleseduktus der George-Schule Reinhart Meyer-Kalkus: Stefan George und sein Kreis. Das Hersagen von Gedichten als Kulthandlung. In: Ders., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   6). Bd.   2, S.   559–585.  8 Hiebler, Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne (Anm.   6), S.   421.

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der Analyse der Lesung mehr auf den Text zu beziehen, der gesprochen wird.9 Dieser Anregung folgend wird es hier um die Frage gehen, welche Deutungen des Gedichts Hofmannsthal mit seiner Lesung nahelegt. Vor der Analyse von Hofmannsthals Lesung müssen daher einige Aspekte des Gedichts benannt werden, die bei der Interpretation die größten Schwierigkeiten bereiten, was bei der höchst differenzierten Deutungsgeschichte des Gedichts notgedrungen einigen Raum einnimmt. Daran anschließend wird nachvollzogen, welche Impulse Hofmannsthal durch seine Lesung für die Deutung dieser Passagen gibt.10

I. ‚Manche freilich  …‘ – Probleme der Deutung Einig sind sich die Interpretationen von ‚Manche freilich  …‘ darin, dass das Gedicht in seinen ersten beiden Strophen zwei Lebensbereiche kontrastiert. Auf der einen Seite eröffnet sich „drunten“ (V. 1) ein bedrückender („immer mit schweren Gliedern“, V. 5), durch dunkle u-Vokale gekennzeichneter Bereich der Beherrschten und in Sterblichkeit Gefangenen – hier muss man „sterben“ (V. 1) –, ein Bereich, der an die „Wurzeln des verworrenen Lebens“ rührt (V. 6). Demgegenüber erscheint auf der anderen Seite „droben“ (V. 3) ein Bereich, in dem das Sterben der unteren Ebenen zumindest temporär in ein „[W]ohnen“ verwandelt ist11 – hier „sind die Stühle gerichtet“ (V. 7) und man kann sich „wie zu Hause“ (V. 9) fühlen, mit einer gewissen Kontrolle über

 9 Ebd.,

S.   419. geht hier nicht um eine Aufdeckung des ‚Autorwillens‘ anhand der Lesung im Sinne einer letztgültigen Wahrheit, sondern um ein Einbeziehen aller Erscheinungsformen des Gedichts in die Interpretation, zu denen eben auch die sehr bewusste und genau vorbereitete Lesart und Akzentuierung des Gedichts durch Hofmannsthal zählt. Hiebler, Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne (Anm.   6), S.   419, zitiert diesbezüglich zu Recht die Einsicht aus Irmgard Weithases Studien zur Vortragskunst, dass „die lautliche Gestalt einer Dichtung mannigfaltige Stilfaktoren sichtbar werden lässt und somit zur Erkenntnisquelle für werkstoffgetreue Interpretation von Dichtung werden kann“ (Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen Sprache. 2 Bände. Bd.   1, Tübingen 1961, S.   500). 11 Vgl. Karl Heinz Stierle: Hugo von Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘: ein Paris Gedicht? In: Etudes Germaniques 45, 1990, S.   111–129, hier S.   113: „Auch das Wohnen ist vom Lebensgesetz des Sterbenmüssens nicht ausgeschlossen“. 10 Es

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den Raum („bei dem Steuer droben“, V. 3) und auch über die Zeit (man befindet sich „bei den Sibyllen“, die die Zukunft vorhersagen können, V. 8). Besonders akzentuieren die beiden ersten Strophen den Gegensatz der „[S]chwere“ drunten (V. 2 u. 5) und der Leichtigkeit droben, wo man „[l]eichten Hauptes und leichter Hände“ sitzt (V. 10). Die Mittelstrophe des Gedichts hebt diese Trennung auf und deutet eine Verbindung der Lebensbereiche an („die leichten sind an die schweren / […] gebunden“, V. 13  f.). Rückblickend scheinen daraufhin auch die klaren Trennungen der ersten beiden Strophen zweifelhaft – schwingt nicht im „[S]treifen“ der Ruder unten (V. 2) in den schweren Sphären auch eine gewisse Leichtigkeit mit? Auf der anderen Seite sitzen die scheinbar so überlegenen „Andern“ oben nur „wie“ zu Hause (V. 9)12 und nur „[b]ei“ den Sibyllen; sie zeigen sich damit als nur temporäre Gäste in diesen luftig-leichten Gefilden. Anklänge an den Mythos von Tantalus, aus dessen Gastmahl mit den Göttern schreckliche Folgen erwuchsen, machen die Heimlichkeit dieser leichten Sphäre mit den ‚gerichteten Stühlen‘ zusätzlich unheimlich.13 Letztlich will die Wortwahl der „Manche[n]“ und der „Andern“ (V.   7) auch nicht so recht zu einer klaren Gegenüberstellung taugen; beide Ausdrücke kennzeichnet, wie schon Kayser bemerkt, eine „leichte Unbestimmtheit“.14

12 Dieser

eingebaute Zweifel an der Zugehörigkeit der „Andern“ zu diesem Platz bei den „Sibyllen“ (V. 8) ist bislang kaum einer Interpretation entgangen: Stierle, Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   11), S.   114: „‚Wie zu Hause‘ ist nicht zu Hause“; vgl. Reitmeier, ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   155. 13 Grimm, Das einzige Gesetz (Anm.   4), S.   161, hört hier einen „drohenden Unterton“ mit Verweis auf die Parallele zum Lied der Parzen in Goethes ‚Iphigenie auf Tauris‘, in dem die für Tantalus gerichteten Stühle bei den Göttern das Leid vieler Generationen nach sich ziehen. Auch Stierle, Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   11), S.   115, hört einen „warnende[n] Nebenklang“ in den gerichteten Stühlen – gerichtet werden könnten auch diejenigen auf den Stühlen, daher stehen die Anderen da oben keineswegs über dem Schicksal. 14 Kayser, Das sprachliche Kunstwerk (Anm.   4), S.   314. Die Stärke seines Aufsatzes ist das stilistische Herausarbeiten dieser Undeutlichkeit auf vielen Ebenen (rhythmisch, lautlich, semantisch), insofern scheint der Vorwurf von Grimm, Das einzige Gesetz (Anm.   4), S.   158, Kayser verleihe dem Gedicht eine „fast messianische Verkündungspose“, nicht ganz gerechtfertigt. Vorhalten kann man Kayser allenfalls, dass er die von ihm sorgsam erarbeitete, sehr überzeugende Undeutlichkeit letztlich nicht stehen lassen konnte, sondern – eher hoffnungsvoll als textbasiert – auf eine letztlich doch vorhandene „Ganzheit“ in der „Ge-

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In den letzten beiden Strophen tritt an die Stelle der allgemein menschlichen Beobachtungen und Reflektionen der ersten drei Strophen die Erfahrung eines Ich,15 das gleichsam wehrlos der Schwere des Lebens ausgeliefert ist („Ganz vergessener Völker Müdigkeiten / Kann ich nicht abtun von meinen Lidern“, V. 15  f.). Gebannt, mit „erschrockener Seele“ (V.   17), beobachtet es das „[s]tumme Niederfallen“ der leichten und hohen Sternenwelt, die in den vorigen Strophen mit der Sphäre „droben“ verbunden war. Es bleibt offen, ob der Schrecken des Ich sich auf das Niederfallen der Sterne oder auf die Stummheit dieses Niederfallens bezieht (oder beides). Deutungskontroversen gibt es in Bezug darauf, welche Folgen diese Erfahrung für das Ich hat bzw. wo es angesichts des „Durcheinander[s]“ der Geschicke positioniert ist – mitten in diesem Durcheinander, daneben oder darüber erhaben? Dreh- und Angelpunkt dieser Kontroversen ist die letzte Strophe, insbesondere angesichts der Deutungsprobleme, die die letzten beiden Verse aufwerfen: 20

Viele Geschicke weben neben dem meinen, Durcheinander spielt sie alle das Dasein, Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens Schlanke Flamme oder schmale Leier.

Probleme bereitet vor allem die Tatsache, dass „mein Teil mehr“ sein soll als „dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier“, denn letztere beiden Bilder sind – ebenso wie das „[W]eben“ (V. 19) – poetisch konnotiert und gerade auch im Rahmen der Poesie ihrer Entstehungszeit ausgesprochen positiv besetzt.16 Zudem zitiert die Verbindung stalt des Gedichtes“ und eine „Einheit der Haltung“ des „Wissenden […], die die sprachliche Formung bestimmt“, verwies (ebd., S.   318). 15 Vgl. etwa Schönert, Hugo von Hofmannsthal (Anm.   4), S.   199: „Das Ich wird zum Erfahrungsort für Zusammenhänge der beiden Existenzformen“. 16 Böschenstein, Das Ich als klangliches Universum (Anm.   6), verweist als Anregung für die „schlanke Flamme“ auf den allerdings eher geschmähten Dichter Francis Vielé-Griffin, den auch Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   720, bereits nennt. Grimm, Das einzige Gesetz (Anm.   4), S.   343, schreibt, dass man Hofmannsthal einen solchen Gebrauch der „spezifischen Kunstmittel seiner Zeit“ kaum „[v]erargen“ könne, denn „[s]pricht schließlich nicht jeder große Dichter die Sprache seiner Zeit?“, ohne über solche Phrasen hinaus auf das Deutungsproblem, dass „mein Teil mehr als“ diese Kunstmittel sein sollen, einzugehen.

Mehr als schales Leiern? 77

von ‚schlank‘ und ‚schmal‘ ein Gedicht von George, das Hofmannsthal 1896 affirmativ in seinem Aufsatz ‚Gedichte von Stefan George‘ erwähnt.17 Wieso sollten diese vielversprechenden Konnotationen des letzten Verses durch „mein Teil“ derart herabgesetzt werden (weil dieser Teil „mehr“ sein soll als sie, V. 21)? Neben vielen Schattierungen des Ausweichens vor diesem Interpretationsproblem18 ergeben sich zwei Herangehensweisen an die letzten beiden Verse: Man kann den Widerspruch zwischen „mein[em] Teil“ und dem Leben als Flamme und Leier entweder auflösen oder ernst nehmen. Im Sinne des Ersteren erklärt Vilain die Verse als nur scheinbaren Widerspruch, indem er das ‚Mehr‘ in „mein Teil ist mehr“ nicht als Überbietung, sondern vielmehr als inklusive Erweiterung von „diese[m] Leben[]“ versteht.19 So lassen sich alle positiven Konnota­tionen des letzten Verses „Schlanke Flamme oder schmale Leier“, auch die des George-Zitats, mit in „mein[en] Teil“ retten, indem Vilain diesen Teil auf das Gedicht selbst bezieht: Es ist dies alles, aber eben noch viel mehr. Der Versuch, „mein Teil ist mehr“ dagegen als konfrontative Herabsetzung von Flamme und Leier zu lesen, ist noch nicht konsequent unternommen worden, wobei durchaus bereits viele Indizien für diese Lesart gesammelt wurden. Stierle weist darauf hin, dass die bereits erwähnten Anklänge des letzten Verses von ‚Manche freilich  …‘ an Georges Gedicht ‚Phaon‘ nicht unbedingt als reine Verbeugung vor George, sondern vielmehr durchaus als Widerspruch gemeint sein

17 Hugo

von Hofmannsthal: Gedichte von Stefan George. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd.   XXXII: Reden und Aufsätze 1. Hg. von Hans-Georg Dewitz / Olivia Varwig / Mathias Mayer / Ursula Renner / Johannes Barth, Frankfurt a. M.   2015, S.   169–175, hier S.   172: „Wie lieblich schweißt dieser Vers ‚An den schmalen Flüssen, / Schlanken Bäumen deiner Gegend‘ die Erinnerung an eine Seele und eine Landschaft zusammen“. Vgl. den Hinweis auf Georges Gedicht ‚Phaon‘ in Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   718. 18 Etwa wenn Reitmeier, ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   156, den Widerspruch der letzten Verse des Gedichts als „geheimnisvoll[es] [Ü]berschreiten“ bezeichnet, oder dieser Widerspruch wie bei Schönert, Hugo von Hofmannsthal (Anm.   4), S.   204, als Frage artikuliert, aber offen stehen gelassen wird. 19 Vgl. Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   730: „To be greater than life, it is implied, necessitates being part of it. The lot of the Ich is to be simultaneously of life and more than life, to be within life and above it […].“

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könnten.20 Zeitgleich mit ‚Manche freilich  …‘ skizziert Hofmannsthal in einem Aufsatz die ‚Gedichte von Stefan George‘, die er mit „hohe[n] Bestrebungen“ gleichsetzt, einer „Schönheit“, die in Verbindung mit „darüber schwebenden Göttern“ steht und sich „schlank“ ausdrückt.21 Die Nähe dieser Gestalten zu dem Leben derer „droben“ wie auch zum letzten Vers in ‚Manche freilich  …‘ ist unmissverständlich, zumal Hofmannsthal sein Gedicht in ‚Gedichte von Stefan George‘ sogar noch zitiert: „Diese Menschen scheinen freier, leichten Hauptes und leichter Hände, […] minderes Gewicht auf ihren Augenlidern“.22 Diesen poetischen Sphären bescheinigt Hofmannsthal einen Überlegenheitsgestus: „dem Leben überlegen zu bleiben […] mehr zu sein […].“ 23 Es wurde aber bereits deutlich, dass er in seinem Gedicht die luftigen Höhen mit Götterkontakt aus ihrer Erhabenheit herunterzieht und mit Schwere und Müdigkeit verbindet. Anders als den in der Höhe schwebenden Gestalten in Georges Gedichten sieht das Ich in ‚Manche freilich  …‘ seine „Lider[]“ von der „Müdigkeit“ „ganzer Völker“ beschwert (V. 16). Frühe Versuche, in ‚Manche freilich  …‘ eine Heroisierung des Ästhetizismus in Gestalt derjenigen mit den „leichte[n] Hände[n]“ zu sehen (V. 10), sind daher längst widerlegt worden.24 George selbst hat Hofmannsthals Absetzungsbewegung durchaus bemerkt und in seiner postalischen Reaktion auf Hofmanns­thals ‚Manche freilich  …‘ gleichsam die Seelenbruderschaft mit ihm aufgekündigt: „ich glaubte der satz von der edlen plötzlichkeit an der grosse und vornehme menschen sich allzeit erkannt haben erleide keine ausnahme“ – dies scheint durch 20 Stierle,

Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   11), S.   117: Hofmannsthal markiere hier „seine prinzipielle Differenz zu George. Denn wenn bei diesem die Menschen gleichsam zu Göttergestalten werden, so liegt das Zentrum seines eigenen poetischen Suchens […] in der Gebundenheit des Leichten an das Schwere.“ 21 Hofmannsthal, Gedichte von Stefan George (Anm.   17), S.   172. Dass das Verhältnis Hofmannsthals kein bewunderndes Lehrer-Schüler-Verhältnis war, ist hinlänglich bekannt, vgl. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd.   XXXII (Anm.   17), S.   845: „Hofmannsthal und Stefan George […] lernten einander Mitte Dezember 1891 in Wien kennen. Schon wenige Wochen später ergab sich für Hofmannsthal die Notwendigkeit, seine persönliche Sphäre unzweideutig von den Vorstellungen und Wünschen des sechs Jahre Älteren abzugrenzen.“ 22 Hofmannsthal, Gedichte von Stefan George (Anm.   17), S.   173. 23 Ebd., S.   172. 24 Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   26.

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Hofmannsthals Gedicht revidiert, er gehört nun offenbar nicht mehr zu diesen Vornehmen: „ich wies in meinem geist Ihnen den platz an ‚wo die schweren ruder der schiffe streifen‘.“25 Und doch hat man sich davor gescheut, explizit in den letzten beiden Versen von Hofmannsthals Gedicht über George hinaus eine Abkehr von der „Schlanke[n] Flamme oder schmale[n] Leier“ zugunsten von „meine[m] Teil“ zu lesen – zu stark ist das „Leben[]“ hier präsent und zu stark sind die Bilder von Flamme und Leier mit der Poesie verbunden, im Sinne derer – als poetologische Selbstreflexion – man auch „mein Teil“ verstanden hat. Die letzten beiden Verse bleiben also ein Problem der Interpretation. Die Frage ist, ob Hofmannsthals eigene Lesung diesbezüglich wie auch in Bezug auf die gesamte Deutung des Gedichts Anhaltspunkte für eine bestimmte Lesart gibt. II. Hofmannsthals Lesung von ‚Manche freilich  …‘ Was durch das Rauschen und Knacken der auf Wachsplatte26 aufgezeichneten Stimme Hofmannsthals zu hören ist, klingt für heutige Ohren befremdlich, monoton und zugleich doch auch pathetisch. Die Forschung hat deutlich gemacht, dass diese Wahrnehmung über die vielfältigen und historisch gesättigten Ausprägungen und Auseinandersetzungen hinweghört, die das dichterische und schauspielerische Vorlesen im frühen 20. Jahrhundert kennzeichnete.27 Infolge des „Pathos-Bruchs“28 nach 1945 geriet in der deutschen literarischen Wahrnehmung jedes poetische Tremolo in den Verdacht ideologischer Färbung und die

25 Hofmannsthal,

Sämtliche Werke. Bd.   I (Anm.   3), S.   262; vgl. Stierle, Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   11), S.   117. 26 Heinz, Der Dichter spricht (Anm.   6), S.   112: Die Lesung wurde „mit einer Glasmembran und einer Umdrehungsgeschwindigkeit von 50 Touren pro Minute auf einer Wachsplatte aufgezeichnet“. 27 Reinhart Meyer-Kalkus verfolgt in seiner 2020 erschienenen gewichtigen ‚Geschichte der literarischen Vortragskunst‘ (Anm.   6) die verschiedenen Schulen und Kontroversen des poetischen Vortrags seit dem 18. Jahrhundert, deren Echo bis ins 20. Jahrhundert vorgeführt wird. 28 Karl Pestalozzi: Vom Hören einer Karl-Kraus-Platte. In: Eckehard Czucka u. a. (Hg.): „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen“. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Festschrift für Helmut Arntzen, Münster 1991, S.   413–421, hier S.   419, vgl. Heinz, Der Dichter spricht (Anm.   6), S.   114.

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Sprechtraditionen des Jahrhundertbeginns nach und nach in Vergessenheit. Hiebler hat darauf aufmerksam gemacht, dass Hofmannsthals Lesung vor dem Hintergrund der Tonaufnahmen der Zeit keineswegs pathetisch, sondern eher zurückgenommen agiert – „im Vergleich zum extensiven Sprechstil eines Alexander Moissi […] erweist sie sich fast als dezent.“29 Der Ton Hofmannsthals ist im Kontext der Zeit, so Meyer-Kalkus, als bewusste Abgrenzung sowohl „von der Alltagsdiktion wie auch von der Schauspielerdeklamation“ zu verstehen.30 Hof­manns­ thal liest getragen und er betont, wie alle Beschreibungen der Aufnahme konstatieren, die lautliche und rhythmische Gliederung des Textes.31 Darin entspricht er einer wesentlichen Forderung, die George an das „Hersagen von Gedichten“ in seinem Kreis stellte.32 Der Eindruck der Monotonie stellt sich allerdings mehr noch durch ein weiteres Gestaltungsmittel ein, das insbesondere die Eingangsverse der zweiten und dritten Strophe prägt: Hofmannsthal hält beim Lesen die gleiche Tonhöhe, und zwar nicht nur, wie an vielen anderen Stellen, über einige Silben hinweg, sondern den ganzen Vers über bis hin zum Versende: „Manche liegen immer mit schweren Gliedern“ (V.   5); „Doch ein Schatten fällt von jenen Leben“ (V. 11), ebenso auch „Durcheinander spielt sie alle das Dasein“ (V.   20) bleiben im Vers suprasegmental auf einer Tonhöhe, d. h. ohne sprachliche Einschnitte durch tonale Abweichungen zu kennzeichnen. Wenn in den Beschreibungen der Lesung zu Recht von einer musikalisierten Sprache die Rede ist, dann meint dies nicht etwa musikalische Expressivität und Emotionalisierung. Vielmehr steht diese von Hofmannsthal gewählte Form des Sprechgesangs in der Tradition des ‚Psalmodierens‘. Das psalmodische Sprechen ist im Allgemeinen wie auch in Hofmannsthals Gedicht durch kontrollierte Tonhöhen gekennzeichnet und will „die ‚persönliche Note‘ des Sprechers, die Kundgabe seiner individuellen Meinung minimieren“, es bewirkt viel-

29 Hiebler,

Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne (Anm.   6), S.   421. Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   6), S.   587. 31 Vgl. ebd., S.   113: „Auffallend ist seine fast beschwörende Betonung der Vokale, deren starke Dehnung“. 32 Wolfgang Braungart: Lesen, Hören, Verstehen. In: Ders.: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S.   154–175; vgl. Meyer-Kalkus, Stefan George und sein Kreis (Anm.   7). 30 Meyer-Kalkus,

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mehr eine „feierliche Verfremdung“ der Alltagssprache33 und kündet von einer allgemeineren Wahrheit.34 Mit dieser Art der psalmodierenden Rezitation lehnt sich Hofmanns­ thal auch an Forderungen Georges an. Georges Lesungen wollten sich durch einen psalmodierenden Duktus dezidiert vom deklamatorischen und auslegenden Charakter der Schauspielerlesungen – etwa der allgegenwärtigen Stimmen der Wiener Burgtheater-Schauspieler – abgrenzen,35 um statt dessen mithilfe eines rhythmisch-rituellen Sprechens während der Lesung einen gemeinsamen Kult-Raum zu schaffen, in dem die Einzelnen in einem höheren, durch die Klangqualität der Sprache geformten Zusammenhang erfasst werden.36 Die gleichbleibende Tonhöhe der Verse ohne abgesenkte Kadenz am Versende, die in Hofmannsthals Lesung deutlich hörbar ist,37 erwähnen Zeitgenossen auch in Bezug auf Georges Lesungen. Sabine Lepsius etwa zieht den Vergleich mit „dem Responsorium in der katholischen Kirche […]. Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton“.38 In Hofmannsthals Lesung – wie im Gedicht überhaupt – geht es allerdings sicherlich nicht 33 Matthias

Nöther: Als Bürger leben, als Halbgott sprechen. Melodram, Deklamation und Sprechgesang im wilhelminischen Reich, Köln – Weimar – Wien 2008, S.   161  f. 34 Vgl. Ernst Klusen: Singen. Materialien zu einer Theorie, Regensburg 1989, S.   62: „diese Form der sprachsingenden Lautäußerung […] ist schon vom Anlaß her unalltägliche, besonders bedeutsame Lautäußerung, eben mehr als Alltagssprache: Verkündigung unbestreitbarer Wahrheiten in einem feierlichen, gehobenen Sinn. 35 Meyer-Kalkus, Stefan George und sein Kreis (Anm.   7). 36 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm.   32), hat den religiös-empfangenden Charakter dieser künstlerischen Rituale im Sinne eines „katholischen Ästhetizismus“ hervorgehoben, den George in den häuslichen Lesungen initiiert und inszeniert hat. 37 Meyer-Kalkus, Hofmannsthals Lesung von ‚Manche freilich‘ (Anm.   6), S.   562: „Charakteristisch für ihn [George] war ein feierlich getragenes, zugleich aber rhythmisiertes Sprechen ohne große dynamische Veränderungen, ohne ausgreifende Tonhöhenbewegungen und Akzentuierungen […], schließlich eine eigentümliche Prosodie der Kadenzen, die mit in der Schwebe gehaltener Stimme gesprochen wurden.“ Diese in der Schwebe gehaltenen Kadenzen finden sich in Hofmannsthals Lesung im Laufe des Gedichts mit abnehmender Tendenz (V. 1, V. 3, V. 5  f., V. 11  f., V. 20) 38 Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S.   17, vgl. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm.   32), S.   172.

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primär um die Frage danach, wie er zu George stand. Vielmehr wählt Hofmannsthal mit dieser Art seiner Lesung bewusst immer wieder einen Leseduktus, der eine über den Einzelnen hinausgehende Wahrheit ausdrücken will.39 Solche Wahrheiten, die ebenso unabänderlich scheinen wie die Tonhöhe, werden in ‚Manche freilich  …‘ insbesondere in den ersten drei Strophen artikuliert. Dieser Duktus knüpft nicht nur an das Psalmodieren an, sondern nimmt auch – wie Meyer-Kalkus betont – die Tradition des antiken Tragödienchors auf, in dem die Individuen sich auflösen und zu einem Chor verschmelzen, der Wahrheit spricht.40 Hier wird, abgekoppelt von persönlichen Empfindungen, das Schicksal der Menschen verkündet. Doch ist das Gedicht nicht auf die ersten drei Strophen im ‚allgemein-menschlichen‘ Modus reduzierbar – schließlich folgen noch zwei weitere, die die Erfahrung eines Ich wiedergeben –, und ebenso wenig lässt sich Hofmannsthals Lesung auf einen rein psalmodierenden Ton festlegen. Die Analysen seines Vortrags haben durchgehend bemerkt, dass Hofmannsthal aus diesem Duktus immer wieder ausschert, dass er durchaus einzelne Worte oder Silben durch Tonhöhe und rhythmische Tonbeugung hervorhebt. Meyer-Kalkus sieht in diesem variierenden Einsatz von Tonhöhe und Rhythmus Nähen zu schauspielerischen Lesungen aus den Reihen des Wiener Burgtheaters und weist dadurch nach, dass Hofmannsthals Lesung nicht eindeutig im Stil des George-Kreises zu verorten ist.41 Doch muss man diese Abweichungen von dem einmal gewählten Duktus darüber hinaus auch hinsichtlich der unterschiedlichen textuellen Aspekte des Gedichts betrachten, die durch sie hervorgehoben werden. Hofmannsthal verstößt in Text und Lesung

39 Heinz,

Der Dichter spricht (Anm.   6), S.   110, zeigt anhand der zeitgenössischen Rezeption von Hofmannsthals Lesungen, dass gegenüber der Schrift bereits die Lesung selbst (unabhängig von ihrem Duktus) durch die vom Atem getragene Stimme als Medium der „Repräsentation einer metaphysisch verorteten Wahrheit“ wahrgenommen wurde. 40 Vgl. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert (Anm.   6), S.   264  f.: Hofmannsthals „Vortrag klingt so, wie man sich den Orakelspruch einer Pythia vorstellen konnte, von der Alltagssprache wie durch einen Abgrund getrennt. Das Gedicht erweist sich als Nachempfindung der metrisch gebundenen Verssprache antiker Chorgesänge, etwa von Chören der griechischen Tragiker“ und habe den „Charakter einer düster mystischen Prophezeiung“. 41 Meyer-Kalkus, Hofmannsthals Lesung von ‚Manche freilich‘ (Anm.   6), S.   586.

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„an ausgesuchten Stellen dezidiert gegen überlieferte Formen“, die er ansonsten weitgehend aufruft,42 doch ist dies in Bezug auf die Lesung noch nicht gezielt für eine Interpretation des Gedichts herangezogen worden. Aufgefallen ist etwa, dass Hofmannsthal die „Sibyllen“ und „Königinnen“ (V. 8) durch Lautstärke und Tonhöhe hervorhebt,43 doch überrascht das wenig, denn sie sollen ja zu den herausragenden Gestalten zählen. Im Übrigen ist keiner der Verse, die die oberen Regionen betreffen, im psalmodierenden Ton gelesen, sondern vielmehr von starken Auf- und Abbewegungen der Tonhöhe bestimmt (V. 3  f., V.   7–10). Weitaus auffälliger dagegen ist, wenn Hofmannsthal die einmal gewählte psalmodierende Tonhöhe gezielt nur an einer Stelle abbricht und die Tonhöhe kurz nach oben wechselt, um dann wieder zur vorigen gleichen Tonhöhe zurückzukehren. Wiederholt werden dabei Silben und damit Worte hervorgehoben (im folgenden Zitat von mir kursiviert), die durch Assonanz und Semantik mit den ‚unteren‘ Regionen verbunden sind: Manche freilich müssen drunten sterben, Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen (V.   1  f.) Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens (V.   6)

„[D]runten“, „Ruder“ und „Wurzeln“ werden damit tonal gewissermaßen von unten nach oben befördert. Sie fallen aus dem psalmodierenden, detachierten Ton deutlich heraus – der einheitliche, über das individuelle Schicksal und dessen Affekte sich erhebende Tonfall wird durch sie unterbrochen und zugleich markiert. Grimm hatte mit seinem Beitrag bereits darauf aufmerksam gemacht, dass ‚Manche freilich  …‘ ein starkes Plädoyer für die schweren, unteren Regionen enthält.44 Bereits George hatte Hofmannsthal in seiner Reaktion auf das Gedicht ja auch entsprechend – wie bereits erwähnt – bei den „schweren Rudern“ ver-

42 Hiebler,

Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne (Anm.   6), S.   422. ebd. 44 Vgl. Grimm, Das einzige Gesetz und das bittere (Anm.   4), ebenso Stierle, Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   11), S.   120  ff., der auf deutliche Parallelen des Gedichts zu Romanfiguren von Balzac verweist, die aus dem Leben ‚unten‘ größere Weisheit ziehen als diejenigen, die im luftig-leichten oberen Teil der Welt leben. 43 Vgl.

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ortet45 und nicht bei den ästhetisch Leichten, die über den Dingen nahe den Sternenregionen schweben.46 Mit dem Unterbrechen des psalmodierenden Duktus gerade bei den mit dem Unten assoziierten Worten macht Hofmannsthal in seiner Lesung diese Deutung nochmals stark. Sie treten hier als einzelne aus dem einheitlichen Ton hervor. Diesen Eindruck verstärkt eine Anspielung des zweiten Verses auf eine Passage aus Aischylos’ ‚Agamemnon‘, deren Nähe zu Hof­manns­ thals Gedicht zwar bereits früh gesehen, aber in ihrer Signifikanz für die Interpretation wieder verworfen wurde.47 Aigisthos, der Mörder Agamemnons, wird hier vom Chorführer mit seinem Verbrechen konfrontiert, woraufhin Aigisthos ihn mittels der Schiffsmetaphorik als einen bloßen Unterchargen zurechtweist: σὺ ταῦτα φωνεῖς νερτέρᾳ προσήμενος κώπῃ, κρατούντων τῶν ἐπὶ ζυγῷ δορός (V.   1617  f.) Derartiges tönst du, der du unten sitzt am Ruder, obwohl doch die, die über das Schiff herrschen, am Steuer sitzen?48

Trotz seines Nachweises, dass Hofmannsthal zur Zeit der Niederschrift von ‚Manche freilich  …‘ Aischylos’ ‚Agamemnon‘ kannte, sieht Vilain hier keine wesentliche Verbindung, weil die aufrührerische Energie, die in dieser Szene der Tragödie zwischen unten und oben zu spüren ist, Hofmannsthals Gedicht eher fremd sei.49 Und doch ist die Rede des Chorführers im Rahmen der bisherigen Erkenntnisse aus Text und Lesung

45 S.

o. Anm.   25. S. o. Anm.   22. 47 Manfred Hoppe: Literatentum, Magie und Mystik im Frühwerk Hugo von Hofmannsthals, Berlin 1968, S.   36, hat auf die Textstelle in Aischylos’ ‚Agamemnon‘ hingewiesen, wo der Chorführer ermahnt wird, als einer von unten die Stimme nicht zu denen oben am Ruder zu erheben (Aischylos: Agamemnon, V.   1617  f.). In seinem Kommentar zu ‚Manche freilich  …‘ wischt Eugene Weber dies aber mit der Bemerkung beiseite, es sei „kein Anhaltspunkt für eine Beschäftigung Hofmannsthals mit Aischylos zu dieser Zeit gegeben“ (Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd.   1 [Anm.   3], S.   263). Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   744, bestätigt dagegen, dass Hofmannsthal in der Zeit Agamemnon gelesen habe. 48 Für die Übersetzung danke ich Timo Günther. 49 Vilain, Hofmannsthal’s ‚Manche freilich  …‘ (Anm.   4), S.   744: „There is here a note of challenge wholly absent from Hofmannsthal’s use of the image“. 46

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in anderer Hinsicht wichtig, denn sie spricht von Seiten des Chors eine Wahrheit aus (Aigisthos ist ein Mörder), die von unten her ertönt und nicht oben über den Dingen schwebt wie die Welt der „Andern“, Leichten (V. 7). Man kann hier von einer Gegenstimme sprechen, die – wie die Hervorhebung von „unten“, „Ruder“ und „Wurzeln“ – eine eigene Wahrheit betont. Es geht hier nicht um ein revolutionäres Aufbegehren, da ist Vilain recht zu geben, sondern es geht um den Gegenton des Choreuten vor dem Hintergrund des Chors. Auf diesen Gegenton wird im griechischen Original des ‚Agamemnon‘ gezielt hingewiesen: φωνεῖν [pho¯ nein] heißt ‚ertönen‘, ‚tönen‘. Auf diesen Ton – eine ‚von unten‘ aus der Einheit des Chors bzw. des Psalmodierens hervortretende Stimme – zielt auch Hofmannsthals eigener, durchkomponierter Ton seiner Lesung ab. Wie wichtig der eigene Ton für ihn war, ist der viel zitierten Stelle aus seinem Aufsatz ‚Gedichte von Stefan George‘ zu entnehmen:   …einen eigenen Ton haben, was in der Poesie und mutatis mutandis in allen Künsten, das einzige ist, worauf es ankommt und wodurch sich das Etwas vom Nichts, das Wesentliche vom Scheinhaften, das Lebensfähige vom Todtgeborenen unterscheidet.50

Man könnte sagen: Die Lesung Hofmannsthals findet in den ersten beiden Strophen ihren eigenen Ton, indem sie die Stimme derer da unten hervorhebt und sie – mit Blick auf Aischylos – als Stimme der Wahrheit kennzeichnet. Die „Andern“ oben dagegen werden eher mit dem affektierteren, wechselhaften Tonfall der schauspielerischen Lesungen der Jahrhundertwende versehen, dem jeder psalmodierende, Wahrheit verkündende Klang abgeht. Semantisch stimmt dies mit der Aussage der zweiten Strophe überein, dass die „Andern“ gleichsam nur Zaungäste der Prophetinnen („bei den Sibyllen“, V. 8) sind, nicht aber deren Stimme selbst. Dies alles führt auf das Fazit der dritten Strophe hin, dass Schwere und Gebundenheit für alle Lebensbereiche gelten und kein Leben davon ausgenommen ist. Ungebundenheit und Leichtigkeit – auch im Sinne eines individualisierten, sinngemäß variierenden Tonfalls der Lesung (V. 7–10) – sind als Alleinstellungsmerkmal keine Option, um Lebenswahrheiten zu erkennen oder auszusprechen.

50 Hofmannsthal,

Gedichte von Stefan George (Anm.   17), S.   169.

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Diese Erkenntnis senkt sich in der vierten Strophe auf das sprechende Ich: 15 Ganz vergessener Völker Müdigkeiten Kann ich nicht abtun von meinen Lidern, Noch weghalten von der erschrockenen Seele Stummes Niederfallen ferner Sterne.51

Die Lesung des ersten Verses der Strophe zeichnet das Herabsinken der Schwere auf das Ich nach, indem die Stimme Silbe für Silbe leicht heruntersinkt wie die „Müdigkeiten“ der Völker auf seine „Lider“ (V. 15  f.). Als auffälligster Einschnitt im gesamten Gedicht wie auch in der Lesung (im Zitat oben kursiviert) erscheinen dann die Worte „ich nicht“ (V. 16), mit denen das Ich seine Unfähigkeit betont, sich gegen diese niedersinkende Schwere zur Wehr zu setzen („kann ich nicht abtun […] / Noch weghalten“, V. 17  f.). Durch den Bruch des Metrums – entgegen dem trochäischen Maß muss das „ich“ hier als zweite Silbe betont werden – wie auch durch die plötzlich nach oben springende Tonhöhe auf „ich“ und „nicht“ klingt dies wie eine notgedrungene Abwehr, im Sinne von: ‚Die anderen machen das so, aber ich kann das nicht!‘ Mit diesem Erleben sondert sich das Ich offenbar von einem vorherrschenden Trend ab. Wenn man die ‚Li(e)der‘ in ihrer homophonen Doppeldeutigkeit ernst nimmt, dann sieht sich das Ich einer Dichtungweise wie auch einer Lebenshaltung nicht mehr gewachsen, die diese Schwere „abtu[t]“, also geringschätzt (V. 16). Hofmannsthal wendet sich damit nicht allein gegen George, sondern in erster Linie gegen den von ihm verehrten, größten und widersprüchlichsten Prediger der Höhensphären, Friedrich Nietzsche. In der Rede ‚Von den Hinterweltlern‘ berichtet Zarathustra vom Sieg über die „Müdigkeit“, um sich stattdessen eine „hellere Flamme“ zu erfinden, die als erfundene unmittelbar mit der Kunst konnotiert ist.52 Das Ich in ‚Manche freilich  …‘ dagegen kann die „Müdigkeiten“ ganzer Völker 51 Die

Kursivierung von mir steht für die plötzlich angehobene Tonhöhe. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd.   4, Berlin – New York 1988, S.   36: „Müdigkeit, die mit einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will“. Vgl. ebd., S.   35  f.: „Ich überwand mich, den Leidenden, ich trug meine Asche zu Berge, eine helle Flamme erfand ich mir.“

52 Friedrich

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nicht loswerden (V. 15). Darüber hinaus muss es erfahren, dass die Himmelslichter erlöschen und dies nicht einmal hörbar wird („Stummes Niederfallen ferner Sterne“, V. 18). Wenn man die in den „Lidern“ mitklingenden ‚Lieder‘ ernst nimmt, dann ist mit dem Fallen der Sterne etwas angesprochen, das in Liedern nicht zu Gehör gebracht werden kann, wie das Ich erschrocken bemerkt. Gänzlich verschwunden ist das Vertrauen in die „große Harfe“, die das Ich in einem früheren Entwurf von ‚Manche freilich  …‘ an dieser Stelle noch ertönen ließ.53 Statt der ‚helleren Flamme‘ des Zarathustra steht nun das Verlöschen der Sterne, anstelle von deren tänzerischer Leichtigkeit die Schwere. In Hofmannsthals Gedicht finden sich kaum Endreime, neben den rührenden (identischen) Reimen gibt es nur einen einzigen reinen Reim: „meinen Lidern“ (V. 16) reimt sich auf „mit schweren Gliedern“ (V. 5). Die Hilflosigkeit und Gebundenheit derer, die bei „den Wurzeln des verworrenen Lebens“ liegen, überträgt sich in der fünften Strophe auf das sprechende Ich und sein Li(e)d und es kann sie nicht abschütteln, ebenso wenig die Stummheit, die sich – mit der für die unteren Regionen stehenden u-Assonanz (drunten, Ruder, Wurzeln) – bedrückend und erschreckend auf das Ich legt. Hofmannsthals Lesung macht dieses Niedersinken von Licht und Laut durch den stufenförmigen Abgang im letzten Vers noch einmal als Sprachgeste deutlich: Jedes Wort sinkt in der Tonhöhe gegenüber dem vorigen ab. Danach ist man nahezu erstaunt, dass das Gedicht überhaupt noch weitergeht. 20

Viele Geschicke weben neben dem meinen, Durcheinander spielt sie alle das Dasein, Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens Schlanke Flamme oder schmale Leier.54

Hört man allein auf die Lesung, dann nehmen die ersten beiden Verse den psalmodierenden Ton, der auf das Allgemein-Menschliche zielt, noch einmal wieder auf. Über die menschlichen Schicksale heißt es auf einer durchgehenden Tonhöhe: „Durcheinander spielt sie alle das

53 Der

Kommentar zu ‚Manche freilich  …‘ in: Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd.   I (Anm.   3), S.   262, gibt die frühen Fassungen wieder: „Wenn ich meine große Harfe schlage / Tönen die Harfen verlorener Völker mir mit wieder“. 54 Kursivierung von mir, F. F. G.

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Dasein“ (V. 20) – die unausweichliche Vermischung und Verworrenheit (V. 6) der Leben, die nicht in oben und unten getrennt bleiben, wird hier als Weisheit abschließend kundgetan. Allerdings macht sich in der Lesung auch das Ich nun noch einmal durch deutlich angehobene Tonhöhen (hier durch Kursivierung gekennzeichnet) bemerkbar. Während Metrum und Semantik wie auch der Binnenreim („weben neben“) im ersten Vers (V. 19) die Einheitlichkeit und Verbundenheit der Schicksale untereinander betonen, zu denen auch das des Ich zu zählen scheint, signalisiert die Lesung durch den plötzlichen Tonsprung auf „neben“ eine deutliche Unterscheidung zwischen den vielen webenden Geschicken und „dem meinen“. Das Geschick des Ich befindet sich eben nur „neben“ ihnen, es ist nicht identisch mit ihrem, und ob es ebenfalls webt wie sie, ist alles andere als eindeutig. In derselben Strophe wird – wie das „neben“ und mit ihm durch Assonanz verbunden – auch das „mehr“ (V. 21) durch den Wechsel der Tonhöhe hervorgehoben. Wie das „neben“ signalisiert auch dieses eine Abgrenzungsbewegung: „mein Teil ist mehr“, ebenso wie mein Geschick nur „neben“ dem Weben der anderen existiert. Wie schon die vorsichtige Herabsetzung der Li(e)der in der vierten Strophe andeutet, wird hier eine Abgrenzung von den Webenden (als den Dichtenden) vollzogen. Wie oben gezeigt, ist viel darüber debattiert worden, worauf sich „dieses Lebens / Schlanke Flamme oder schmale Leier“ beziehen könnte, von dem sich das Ich („mein Teil ist mehr“, V. 21) abgrenzt. Deutlich ist, dass dieses Leben infolge seiner Verbindung mit der Leier auf die Dichtung hinweist. Lautlich ist es zudem auch als Binnenreim mit dem „[W]eben“ der vielen Geschicke verbunden (V. 19), von dem sich das Ich („neben dem meinen“) vorsichtig absetzt. Man könnte also durchaus vermuten, dass das Ich seinen Teil darin sieht, sich vom Weben und Dichten der Vielen abzusetzen – dasselbe Resultat ergab ja auch bereits die Analyse der vorigen Strophe, in der sich das Ich („ich nicht“!, V. 16) mit seinen schweren Lidern von anderen unterscheidet (und damit auch von den dichterischen Gestalten Georges, die „minderes Gewicht auf ihren Augenlidern“ haben55). Die deutliche Anhebung der Tonhöhe sowohl bei „ich nicht“ als auch bei „neben“ als Anzeige der Unterscheidung des Ich von den Webenden und bei „mehr“ in Ab-

55 Hofmannsthal,

Gedichte von Stefan George (Anm.   17), S.   173.

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grenzung vom Dichterleben in Flamme und Leier unterstreicht dies. Die schwere Aufgabe, mit der sich das Ich konfrontiert sieht („mein Teil“) und die auf ihm lastet mit der Schwere derer da unten,56 geht offenbar über das Dichten, von dem das Ich umgeben ist, hinaus – vielleicht, weil diese Aufgabe auch das Stumme (V. 18) mit integrieren soll. Nietzsche lässt sein „Vorspiel“ zu ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ – vorausschauend auf Zarathustra – in den Menschen „von Droben“ münden, der, erhaben über „Elend“ und „Mitleid“, „[v]orausbestimmt zur Sternenbahn“ zum Selbstanspruch des dichtenden Ich als Flamme wird: „Flamme bin ich sicherlich“.57 Die Nähe dieser Menschen zu den „Andern“ „droben“ in Hofmannsthals ‚Manche freilich  …‘ ist offensichtlich, und ebenso offensichtlich ist, dass ihre Position nicht die des Ich ist. Flamme und Leier werden in Hofmannsthals Gedicht – pikanterweise mit den Adjektiven aus Georges ‚Phaon‘58 – heruntergedimmt: Die bei Nietzsche alles verzehrende Flamme bleibt schlank, die Leier schmal. Die bereits erwähnte, in einem früheren Entwurf von ‚Manche freilich  …‘ erscheinende „große Harfe“ des Ich,59 die während der Arbeit am Gedicht zwischendurch ganz verschwand, ist als letzte Hinzufügung doch noch als „schmale Leier“ wieder aufgetaucht, jenseits derer das Ich seine Aufgabe verortet. Der Wortwechsel von ‚Harfe‘ zu ‚Leier‘ bringt die Konnotation des Leierns mit sich – Hofmannsthal zieht in seinen Notizen mit Blick auf den letzten Vers seines Gedichts sogar einmal eine Verbindung zwischen ‚schmal‘ und ‚schal‘.60 Nietzsches eher aus der Verzweiflung geborener Aufruf an die Künstler zur Leichtigkeit, „tapfer

56 Vgl.

Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd.   I (Anm.   3), S.   260, Kommentar zu ‚Manche freilich  …‘: In einer ersten Fassung hieß es statt: „Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens“ noch: „Und ich trage mehr als dieses Leben“ (V. 21). Das Tragen, Ertragen des Schweren und der Wahrheiten, die von den Wurzeln und der Tiefe gesprochen wird, wird als Los des Ich damit betont, es geht nicht um einen Überlegenheitsgestus. 57 Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders., Kritische Studienausgabe. Bd.   3 (Anm.   52), S.   367. 58 S. o. Anm.   17. 59 Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Bd.   I (Anm.   3), S.   260, Kommentar zu ‚Manche freilich  …‘. 60 Ebd. 262: In ‚Ad me ipsum‘ folgt auf „schale Schauer des Erinnerns“ ein Zitat der letzten beiden Verse von ‚Manche freilich  …‘, die auf „schmale Leier“ enden.

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bei der Oberfläche […] zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben“,61 der zur Jahrhundertwende als Schlachtgesang eines reinen Ästhetizismus missverstanden wurde, wird in Hofmannsthals Gedicht deutlich heruntergeschraubt. Bereits drei Jahre zuvor notierte er zur „Oberflächenkunst“: Mich interessiert etwas anderes: Seele, das was aus tiefen Wurzeln aufsteigt […]“.62 Ohne Nähe zu diesen „Wurzeln des verworrenen Lebens“, die in ‚Manche freilich  …‘ die untere Sphäre auszeichnet (V. 6), bleibt die Kunst oberflächlich oder, wenn man so will, schales Leiern. Dass Hofmannsthal seinen Einwand gegen diese „Oberflächenkunst“, wie schon ganz zu Beginn dieses Beitrags zitiert, auf die „Wiener Phonogramme“ bezieht, zu denen später auch seine Lesung von ‚Manche freilich  …‘ zählt, schlägt den Bogen zurück zu Hofmannsthals Poetik der Lesung. Bernhard Böschenstein hat in seiner ersten Reaktion auf Hofmannsthals Lesung seiner Enttäuschung Ausdruck verliehen und ihm gleichsam ein Herunterleiern vorgeworfen. „Die ‚große Harfe‘ tönt hier nicht luftig […]. Die Monotonie dieses Hersagens hat ihr eigenes, unpoetisches Gesetz.“63 Diesem Urteil ist seitdem von vielen Seiten widersprochen worden, aber vielleicht lag Böschenstein mit seinem Höreindruck durchaus richtig, nur dass die Absage an die ‚große Harfe‘ der Dichtung in Hofmannsthals Sprechweise eben gerade intendiert war? Die Lesung jedenfalls setzt sich durch den alles gleichmachenden Klang des Psalmodierens vom Ästhetizismus als Kunst der Oberfläche ab und spricht wie die antiken Choreuten mit einer Stimme ‚von unten‘ vom Schicksal der Menschen. Dass dieses Schicksal heißt, sterben zu müssen, macht bereits der erste Vers klar. Das Ich, das diese Wahrheit erschrocken erlebt und als eigenen „Teil“ zu tragen hat, steht mit seinen schweren Lidern gewissermaßen am Rand bzw. „neben“ der Dichtung. Wenn diese tragische Konstellation insgesamt nicht den Eindruck eines „Zusammenwirken der Kräfte“ oder einer „Einheitlichkeit der

61 Aus

der Vorrede zu ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ in Nietzsche, Morgenröte (Anm.   56), S.   352. 62 Hugo von Hofmannsthal: Im Vorübergehen. Wiener Phonogramme. In: Ders., Sämtliche Werke. Bd.   XXXI (Anm.   1), S.   8. 63 Böschenstein, Das Ich als klangliches Universum (Anm.   6).

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Formung“ erweckt, wie schon Kayser konsterniert feststellte,64 wenn Hofmannsthals Lesung den „Hörer“ dazu nötigt, „[d]iese Wiedergabe von seiner eigenen Erfahrung mit diesem Gedicht, einem der geglücktesten der Weltliteratur“ zu trennen,65 dann liegt das Problem wohl eher im Auge der Betrachter, die nicht sehen und hören wollen, was sie selbst doch so genau und treffend beschreiben.

64 Kayser,

Das sprachliche Kunstwerk (Anm.   4), S.   318. Das Ich als klangliches Universum (Anm.   6).

65 Böschenstein,

Reinhart Meyer-Kalkus

Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte Robert Boehringer (1884–1974), der Generalerbe und Nachlassverwalter von Stefan George, hat das Vorlesen als „Kulthandlung des Freundeskreises“ bezeichnet.1 Eine Fülle von Zeugnissen ist dazu überliefert, mit Beschreibungen von Georges eigenen Lesungen und denen seiner Freunde.2 Bei diesen Anlässen wurden besondere, von George angeleitete Vortragsweisen eines ‚rhythmischen Lesens‘ entwickelt, deren Echos noch nach seinem Tod in Kreisen der Getreuen nachhallten. Allerdings blieben diese performativen Rituale so exklusiv, dass man sie nach 1945 zumeist nur vom Hörensagen kannte. Die ‚Georgesche

 1 Robert

Boehringer: Mein Bild von Stefan George. Text und Tafeln, München – Düsseldorf 1951, S.   141. „Lesen ist die letzte kulthandlung“, sagt einer der Jünger nach dem Abschied des Meisters in Boehringers fiktivem Dialog ‚Der ewige Augenblick‘ [1945], Düsseldorf – München 1965, S.   57.  2 Zur Forschung vgl. Georg Peter Urban: Kinesis and Stasis. A study in the attitude of Stefan George and his circle to the musical arts, The Hague 1962, S.   191–203; Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997, S.   154–175; Wolfgang Braungart: Poetik, Rhetorik, Hermeneutik. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   2, Berlin – Boston 2012, S.   495–550, hier: S.   533–539; Jan Andres: Soziale Prozesse, Pädagogik, Gegnerschaften, ebd., Bd.   2, S.   713–750, bes. S.   726– 729; Kai Kauffmann: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S.   92  f., 130  f., 147  f. – Vgl. weiterhin: Irmgard Weithase: Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Bd.   1, Tübingen 1961, S.   508–514; Reinhard Tgahrt (Hg.): Dichter lesen. Bd.   2: Jahrhundertwende, Marbach am Neckar 1989, S.   327–374; Harun Maye: Lautlesen als Programm. Über das Hersagen von Gedichten im George-Kreis. In: Britta Herrmann (Hg.): Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst in der Moderne, Berlin 2015, S.   231–252; Till Dembeck: (Anti-) Phonographische Kulturpolitik um 1900: Stefan George und Eduard Sievers. In: Britta Herrmann / Lars Korten (Hg.): Diskurse des Sonalen, Vollwerk 2019, S.   161–197; Verf.: Geschichte der literarischen Vortragskunst. 2 Bde., Berlin 2020, hier: Bd.   2, S.   559–588. – Ich habe mir erlaubt, einige Absätze aus diesem bereits publizierten Text im 3. und 4. Abschnitt mit Veränderungen zu übernehmen.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-004

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Reinhart Meyer-Kalkus

Manier‘ (Th. W. Adorno) war mehr ein Gerücht als ein lebendiger Hör­ eindruck. Es überrascht deshalb, dass ein akustisches Dokument aus dem inneren Kreis zumeist übersehen und überhört wurde: die vier Vinyl-Schallplatten mit Aufnahmen von Robert Boehringer aus den Jahren 1959 und 1960, von denen sich ein vollständiger Satz im Stuttgarter Stefan George Archiv (StGA) der Württembergischen Landesbibliothek befindet.3 Diese Sprechschallplatten sind umso wertvoller, als wir von George selbst keine akustischen Zeugnisse besitzen. An den sich um 1900 durchsetzenden neuen Vortragsformaten öffentlicher Lesungen und Dichterlesereisen beteiligte er sich nicht, anders als Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke. Ebenso wenig war er zu Besuchen von Tonstudios oder Rundfunkstationen zu bewegen, wozu sich viele Dichterkollegen (wie Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn und Karl Kraus) seit 1928 bereit fanden. Auch Aufnahmen mit dem Phonographen, die bereits seit 1889 von Dichtern (etwa von Robert Browning und Walt Whitman) gemacht wurden, kamen nicht in Betracht. Robert Boehringer, einer von Georges Lieblingsvorlesern unter seinen Anhängern,4 setzte sich über diese Vorbehalte hinweg. Seit

 3 Das

George-Handbuch (Anm.   2), das einen von Günter Baumann verfassten Beitrag zu ‚Medien und Medialität‘ (vgl. Bd.   2, S.   683–712) aufweist, kennt diese Sprechschallplatten nicht, wie überhaupt die George-Rezeption durch die literarische Vortragskunst dort ausgespart bleibt. Lediglich Wolfgang Braungart hat in seiner Studie ‚Ästhetischer Katholizismus‘ (Tübingen 1997) einige wichtige Beobachtungen zu Boehringers Lesungen auf Sprechschallplatte festgehalten, worauf zurückzukommen sein wird. – Ich danke dem StGA und seiner vormaligen Leiterin Ute Oelmann sowie dem Leiter seit 2014, Maik Bozza, für die Möglichkeit, diese Aufnahmen eingehend studieren und Recherchen dazu anstellen zu können. Ich danke auch Iris Hoffmann, die den Nachlass von Robert Boehringer in den Jahren 2012–2015 im StGA katalogisiert hat, für wichtige Hinweise zu den Schallplatten.  4 Schon bei der ersten Begegnung in Basel 1905 hatte es George gerührt, dass der damals einundzwanzigjährige Robert Boehringer „durch sein Hersagen der Gedichte des Vorspiels [aus: ‚Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel‘], das melodisch und innig [war], genau den vom Dichter gewollten Ton traf.“ Georg Peter Landmann: Vorträge über Stefan George. Eine biographische Einführung in sein Werk, Düsseldorf – München 1974, S.   178.

Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte95

Mitte der 1950er Jahre hatten Freunde und Bekannte ihn dazu gedrängt, seine Lesungen mit einem ‚tape recorder‘ aufnehmen zu lassen, „zur Bewahrung der echten Tradition“ angesichts einer Gegenwart, in der die Kunst des Sprechens von Gedichten in Vergessenheit zu versinken drohe, wie der nach Jerusalem emigrierte Gundolf-Schüler Gerschon Jarecki ihm schrieb.5 Boehringer überwand anfängliche Widerstände, weil ihm bewusst war, dass ein akustischer Eindruck eine andere und höhere Evidenz hat als schriftlich fixierte Beschreibungen und Anweisungen zum Vorlesen von Gedichten.6 Im Übrigen hatte er sich in  5 Gerschon

Jarecki in einem Brief an Robert Boehringer vom 15. 7. 1955. Jarecki schlug ihm – vermutlich als erster – vor, „eine Auswahl Gedichte des Meisters, Hölderlins, Goethes auf ein Band aufnehmen“ zu lassen. Dieses Band mit Tonaufnahmen könne im Archiv für die Nachwelt aufbewahrt werden. „Bei der heutigen Vollkommenheit der Aufnahme-Technik bleibt kaum mehr ein Unterschied zwischen dem aufgenommenen und dem unmittelbar gesprochenen Wort spürbar. Ihre heute schon fast legendäre Stimme würde so den kommenden Geschlechtern echt erhalten.“ StGA Boehringer III, 15701. Boehringer ging darauf in einem nicht erhaltenen Antwortbrief offenbar ein, so dass G. Jarecki ihm in einem Folgeschreiben vom 8. 8. 1955 die technischen Bedingungen einer Bandaufnahme durch einen ‚tape recorder‘ beschrieb. StGA Boehringer III, 15702. Als Jarecki schließlich eine der von Boehringer eingesprochenen Platten (wahrscheinlich mit Gedichten des ‚Neuen Reichs‘) in der Hand hielt, schrieb er am 4. 10. 1965 mit einiger Genugtuung: „Ich werde diese Platte stets als eine einmalige Kostbarkeit hüten und in Ehren halten. Wenn ich mich nicht vermesse, so glaube ich für mich die erste Anregung dieser Aufnahmen in Anspruch nehmen zu dürfen. Es war wohl ziemlich unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Europa im Sommer 1955, daß ich Ihnen in diesem Sinne schrieb. Lange standen Sie dann noch dieser Idee ablehnend gegenüber, und es hat Sie sicherlich viel Überwindung gekostet, bis Sie sich zu diesen Aufnahmen entschlossen haben. Daß Sie es taten und damit Ihre unvergleichliche Kunst des Hersagens der Vergänglichkeit entrissen, werden Ihnen nicht nur Ihre Freunde und Bewunderer immer danken, sondern auch die musischen Menschen kommender Geschlechter, die ohne diese Platte vielleicht niemals erfahren könnten, was es heißt, Gedichte zu sprechen.“ StGA Boehringer III, 15704. – Als Empfänger seiner Platten im Jahr 1967 nach weiteren George-Aufnahmen verlangten, war Boehringer aufgrund eines Augenleidens zu Lesungen nicht mehr imstande. So schrieb er an Sophie Hildebrandt, die Frau von Kurt Hildebrandt, am 23. 2. 1967: „Leider habe ich zu wenig auf Platten gesprochen und heute ist es nicht möglich, weil ich nicht mehr lesen kann.“ StGA Boehringer II, 12205.  6 Gegenüber Walter Jablonski hat Boehringer am 31. 8. 1959 einen Hinweis auf dieses Motiv seiner Aufnahmen gegeben: Aufgrund von Beschreibungen könne

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diesen Jahren daran gemacht, alle verfügbaren Dokumente des Dichters und seines Kreises im Archiv zu sichern.7 Gehörten dazu nicht auch die akustischen Spuren der unter Georges Ägide entwickelten und vom Vergessen bedrohten Vortragsweisen? Mögen diese Tonaufnahmen auf unvorbereitete Zuhörer heute auch als kitschig weihevolles Psalmodieren erscheinen, ja beim ersten Anhören sogar ein Verlegenheitslachen provozieren, so haben sie doch einen unvergleichlichen vortragshistorischen Wert. Sie sind das einzige akustische Zeugnis, dem man Authentizität in Hinblick auf die Vortragsweisen in Georges Freundeskreis beimessen könnte. Auf kunstvolle Weise vergegenwärtigen sie die Ritualität und Musikalität eines „rhythmischen Lesens“, dessen Maßgaben Boehringer selbst in Aufsätzen und Abhandlungen zur Vortragskunst programmatisch dargelegt hatte.8 So und nicht anders – oder nur mit geringen Variationsspielräumen – sollten Georges und Hölderlins Verse klingen. Das war eine Prämisse seiner Vortragslehre des dichterischen Sprechens. Einen Pluralismus der Vortragsweisen, wie sie Schauspieler und professionelle Vortragskünstler kultivierten, hatte er immer bekämpft. Im Folgenden untersuche ich den Entstehungszusammenhang sowie medien- und vortragsgeschichtliche Aspekte von Boehringers Lesungen. Ich frage nach den Koordinaten und historischen Konstellationen dieser Vortragskunst und lege dazu einen umfassenden Analyse- und Beschreibungsraster zugrunde, der eine Objektivierung des Gehörten gewährleisten soll.9 Eine Beschäftigung mit Vortragskunst auf Tonmedien muss ja darum bemüht sein, vor allem zwei Klippen zu umschiffen: man sich die Art, wie ein Dichter, etwa W. B. Yeats, seine Gedichte vorgelesen habe, nicht vorstellen. „Das lässt sich eben durch Noten nicht wiedergeben. Ich habe deshalb begonnen, Gedichte auf Tonband zu sprechen und habe danach Platten herstellen lassen, freilich noch nicht viele bisher.“ (StGA Boehringer II, 14337).  7 Vgl. Christoph Perels: Robert Boehringer. In: Aurnhammer, Stefan George und sein Kreis (Anm.   2), Bd.   3, S.   1290–1295.  8 Vgl. Robert Boehringer: Über Hersagen von Gedichten. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung 2, 1911, S.   77–88. Zitiert im Folgenden nach: Ders.: Kleine Schriften, Stuttgart 1981, S.   5–16. Vgl. auch ders.: Das Leben von Gedichten, Breslau 1932. Sowie ders., Der ewige Augenblick (Anm.   1), S.   57–59.  9 Leitkategorien meiner ‚Koordinaten und Konstellationen der literarischen Vortragskunst‘ sind u. a.: Format des Vortrags, Vorlagen, Vortragskonzeption, Vortragsart, individuelle Vortragsweise, Stimme, prosodische Artikulationsebenen,

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die Unmittelbarkeit subjektiver Gefühls- und Körperreaktionen und die Verabsolutierung von Einzelzügen. I. Vortragsformat, Vorlagen, Art des Vortrags und Stimme In den Jahren 1959 und 1960 sprach Boehringer in dem Basler Tonstudio Max Lussi drei Folgen von George-Gedichten sowie Hölderlins Elegie ‚Menons Klagen um Diotima‘ ein. Einige Jahre später (1964, 1965, 1966 und 1971) wurden von diesen Tonbandaufnahmen – auf Veranlassung zunächst von Mitarbeitern der Basler Dependance der C. H. Boehringer Sohn GmbH (Ernst Robert Märki), dann von Boehringers Genfer Sekretariat – vier Sprechschallplatten hergestellt. Die ersten drei Platten, im mittelgroßen Format von 25 cm Durchmesser (mit 33 RPM), hatten eine Auflage von je 100 Exemplaren, die letzte mit einem Durchmesser von 30 cm (33 RPM), also im LP-Format, eine Auflage von 50 Exemplaren. ‚Privatpressungen‘ nannte man solche für nichtkommerzielle Zwecke produzierte Schallplatten.10 Gegenüber dem Basler Tonstudio verpflichtete sich Boehringer, dass sie ausschließlich „für den Eigenverbrauch bestimmt sind und nicht für den Verkauf“.11 So lehnte er auch vereinzelte Anfragen aus dem Handel ab.12 Sie sind bislang auch nicht als Vinyl-Schallplatten oder Audio-CDs kommerzialisiert worden, abgesehen von einem Ausschnitt von zwei Strophen des ‚Seelied‘ (aus dem

interperformative Konstellationen, Medien, produktive Rezeptionen, vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   1–43. 10 Das Tonstudio Max Lussi präzisierte seine Leistungen bei der Pressung dieser Platte: „Ueberspielung ab Band auf Folien, Galvanische Behandlung, Pressung, bedruckte Etikette, unbedruckte Papierhülle“ (Max Lussi an R. Boehringer am 22. 4. 1964, StGA Boehringer III, 23027). Bei der dritten Platte mit dem ‚Stern des Bundes‘ musste das Tonstudio – nach Abhörung der Musterplatte – eine neue Pressung vornehmen, da zwei Verse von dem siebzehnten Gedicht ‚Du nennst es viel dass du zu eigen nimmst‘ irrtümlicherweise vom Rest des Gedichts getrennt worden waren, indem sie noch auf Seite 1 der Platte, die anderen Verse aber auf Seite 2 gepresst wurden (vgl. Boehringers Genfer Sekretariat oder Basler Bevollmächtigter an Max Lussi am 17. 6. 1966, StGA II, 23014). 11 Robert Boehringer an das Tonstudio Max Lussi am 4. 10. 1971, StGA Boehringer II, 23019. 12 Vgl. seinen Brief vom 21. 10. 1966 an das Stuttgarter Radio-Musikhaus Barth, StGA Boehringer II, 35000.

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Gedichtband ‚Das Neue Reich‘), der sich auf YouTube verirrt hat.13 Die Platten sollten ein Geschenk an frühere Kreisangehörige und Freunde sein, vereinzelt auch an deren Bekannte aufgrund von Empfehlungen. Anlass dazu war die Wiederkehr von Georges Geburtstag am 12. Juli 1964, 1965 und 1966.14 Ausdrücklich untersagte Boehringer die Verbreitung an ihm oder seinen Freunden unbekannte Personen.15 Was das Vortragsformat anbelangt, so handelt es sich um Studio-Aufnahmen, also nicht um Live-Mitschnitte, die von Gedicht-Rezitationen auf Schallplatte damals noch unüblich waren.16 Boehringer besaß die Möglichkeit, misslungene oder fehlerhafte Lesungen auszuscheiden und zu wiederholen, wovon er im Fall seiner Lesung von Hölderlins ‚Menons Klagen um Diotima‘ am 13. Mai 1959 auch Gebrauch gemacht hat.17 Beim Abhören einer Probeplatte entdeckte er ein Versehen, er hatte den sechsten Vers in der letzten Strophe überlesen. Skrupulös wie er war, nahm er die letzte Strophe des Gedichts noch einmal auf, so dass der Fehler in der auf Schallplatten gepressten Version behoben ist. Bei seinen Lesungen beschränkte sich Boehringer auf eine knappe einleitende Ankündigung dessen, was er vorlas und verzichtete auf weitere performative Epitexte, also auf Erläuterungen und Kommentare zum Vorgelesenen. Die Gedichte sollten für sich selbst sprechen und durch den Vortrag wirken. Gegenüber Kommentaren und Interpretationen hatte man im George-Kreis ohnehin Vorbehalte, sofern sie sich vor das dichterische Wort zu drängen drohten. Der für den Kreis übliche rituelle performative Kontext – die Exklusivität des Zuhörerkreises, 13 https://www.youtube.com/watch?v=7CJtPQa7M6E,

Zugriff am 25. 11. 2021. Boehringers Nachlass im Stefan George Archiv finden sich keine Versand­ listen für die Schallplatten. Aufgrund der Dankesschreiben lassen sich allerdings viele Empfänger identifizieren. Die meisten brieflichen Reaktionen erfolgten auf die erste Plattensendung mit der Hölderlin-Lesung im Jahr 1964 (Information von Iris Hoffmann). 15 Vgl. das Schreiben von Robert Boehringer an Walter Jablonski am 21. 9. 1964 (StGA Boehringer II, 14343). 16 Auch die Aufnahmen der Lyrik-Lesungen von Gottfried Benn nach 1945 sind – mit wenigen Ausnahmen wie einer Lesung vor Fernsehkameras – in Studios gemacht worden. 17 Vgl. Robert Boehringer an Max Lussi am 9. 6. 1959, StGA Boehringer II, 23002, und an Max Lussi am 29. 6. 1959, StGA Boehringer II, 23003. – Der Schnitt vor der letzten Strophe ist aufgrund einer leicht veränderten Raumakustik zu erkennen. 14 In

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die Schmückung und Abdunkelung der Räume, die Weihe-Stimmung etc. – all das fiel freilich fort. Boehringers Lesungen wirken deshalb eigentümlich dekontextualisiert: feierlich getragen, aber ohne den sozialen Kontext, in dem solche Töne den Erwartungen festlich gestimmter Zuhörer entsprechen. Vermittelt durch das kalte Medium Schallplatte liegen die Töne nun nackt vor unseren Ohren. Aufschlussreich ist Boehringers Wahl und Zusammenstellung der Vortragsvorlagen. Auf der zuerst produzierten Schallplatte (zum 12. 7. 1964 mit einer Auflage von 100 Exemplaren in Auftrag gegeben)18 findet sich die Aufnahme von Hölderlins elegischen Distichen ‚Menons Klagen um Diotima‘ aus dem Mai 1959. Die Wahl dieser Elegie war nicht zufällig: George und Wolfskehl hatten sie in ihre Anthologie ‚Das Jahrhundert Goethes‘ (= ‚Deutsche Dichtung‘ III) aufgenommen.19 Und diese, gegenüber der späteren Edition von Norbert von Hellingrath in der dritten Strophe um zwei Verse erweiterte Fassung legte Boehringer seiner Lesung zugrunde.20 Bereits im Jahr 1910 hatte er sie zusammen mit Freunden in Berlin-Charlottenburg vorgelesen.21 Seine Aufnahme

18 Hölderlin:

Menons Klagen um Diotima. Gesprochen 1959 von Robert Boehringer. Privatpressung Basel: Lussi [1964]. Ein Exemplar im StGA mit der Signatur: StGA 07NBa/3; vgl. die entsprechenden Einträge in der George-Bibliographie des StGA unter http://www.statistik-bw.de/SGeorge/SGeorge.asp?H C=53yl7YOnAGN&K2=2&T2=Boehringer%2 +Robert&K3=3&T3=Schallplatte&TA=1&TA=2&TA=3&TA=4. 19 Stefan George / Karl Wolfskehl (Hg.): Das Jahrhundert Goethes. 2. Aufl., Berlin 1910, S.   38–40. 20 George und Wolfskehl benutzten die Schwabsche Hölderlin-Ausgabe von 1846, in die – laut dem Kommentar von Norbert von Hellingrath – Ludwig Uhland zwei Verse nach Vers 36 willkürlich eingesetzt hatte (Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd.   4. Besorgt durch Norbert von Hellingrath. 3. Aufl., Berlin 1943, S.   309). Die beiden von Boehringer gesprochenen Verse lauten: „Ihr vertrauten! ihr lebenden all, einst nahe dem herzen, / Einst wahrhaftiger, einst heller und schöner gesehn!“ Zit. nach: George / Wolfskehl, Das Jahrhundert Goethes (Anm.   19), S.   38. Entsprechend dieser von George und Wolfskehl zugrunde gelegten Fassung – und übrigens in Übereinstimmung mit Hellingraths Edition – spricht Boehringer im 5. Vers der 8. Strophe „sanftmutathmende Musen“ anstatt „sanftumathmende Musen“ (vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Bd.   2/1: Gedichte nach 1800. Text. Hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1951, S.   78 [Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe].) 21 Boehringer, Mein Bild von Stefan George (Anm.   1), S.   141.

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sollte den Freunden wohl eine Erinnerung daran sein, zugleich diente sie als Einstimmung auf die drei George-Schallplatten, die folgen sollten. Eine zweite Schallplatte (zum 12. 7. 1965 mit einer Auflage von 100 Exemplaren in Auftrag gegeben)22 brachte Boehringers Tonbandaufnahme aus dem März 1959 mit zwölf Gedichten und einem Vorspruch aus dem letzten Teil von Georges ‚Das neue Reich‘, darunter ‚Das Lied‘, ‚Seelied‘, ‚Das Wort‘ und ‚Du schlank und rein wie eine flamme‘ – Georges letzte Auseinandersetzung mit der Liedform und anderen Formen lyrischen Sprechens.23 Der Vorspruch ist wie ein Motto seines ganzen Dichtens: „Was ich noch sinne was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen Züge.“24 Eine dritte Schallplatte (gesprochen im März 1960 und zum 12. 7. 1966 mit einer Auflage von 100 Exemplaren in Auftrag gegeben) hält die Lesung des zweiten Buchs von ‚Der Stern des Bundes‘ mit dreißig Gedichten fest.25 Nach Georges Wunsch sollte der Titel ursprünglich ‚Lieder für die heilige Schar‘ lauten, da die Gedichte für den Freundeskreis bestimmt waren.26 George selbst las mehrfach in den Jahren 1911–1913 aus dem damals noch unveröffentlichten Gedicht-Zyklus vor.27 Dieser wurde dann „zur bevorzugten Modelldichtung des Kreises […], die man rituell mit verteilten Rollen las.“28 Eines der ersten, gerade aus der Druckerpresse kommenden zehn Exemplare hatte, mit seinem Vornamen auf der Innenseite versehen, Boehringer 1913 von George in Berlin erhalten, ebenso wie Wolters, Morwitz, Vallentin, Thormaehlen u. a. Vielen Kreismitgliedern war Boehringer durch seine Lesungen daraus in Erinnerung geblieben. 22 Stefan

George: Neues Reich. Das Lied. Gesprochen März 1959 von Robert Boehringer. Privatpressung Basel: Lussi [1965]. Sechs Exemplare im StGA mit den Signaturen: StGA 07NBa/2 bzw. 2a–2e. 23 Vgl. den Werkkommentar von Ray Ockenden: Das Lied. In: Jürgen Egyptien (Hg.): Stefan George – Werkkommentar, Berlin – Boston 2017, S.   651–675. 24 SW IX: Das Neue Reich, S.   98. 25 Stefan George: Der Stern des Bundes. Zweites Buch. Gesprochen März 1960 von Robert Boehringer. Privatpressung Basel: Lussi [1966]. Fünf Exemplare im StGA: StGA 07NBa/1 bzw. 1a–1d. 26 Dieser Titel wurde allerdings aufgegeben, weil die Gattungsbezeichnung ‚Lied‘ gegenüber den überwiegend reimlosen Spruchgedichten des Bandes unangemessen erschien. Vgl. den Kommentar zu SW VIII, S.   127 u. S.   120. 27 Vgl. SW VIII, S.   123. 28 Kauffmann, Stefan George (Anm.   2), S.   225, Anm.   185.

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Die vierte Schallplatte (gesprochen am 3. 6. 1959 und am 4. 10. 1971 in Auftrag gegeben, mit einer Auflage von 50 Exemplaren)29 bringt Aufnahmen aus dem dritten Teil, dem Zyklus ‚Gezeiten‘ des Bandes ‚Der Siebente Ring‘ mit insgesamt einundzwanzig Gedichten. Bei der Wahl dieses Zyklus dürfte nicht nur dessen besondere poetische Qualität eine Rolle gespielt haben, sondern auch ein biographisches Motiv. Denn sechs Gedichte im zweiten Abschnitt des Zyklus (13–18) können auf Georges Begegnung mit dem jungen Robert Boehringer bezogen werden. Der Dichter hatte ihn nach dem Tod Maximilian Kronenbergs im April 1905 in Basel kennengelernt.30 Und Boehringer las diese Gedichte später immer wieder im Kreis vor, auch im Beisein von George, der seine Bewegung dabei nicht verbergen konnte.31 Insgesamt umfassen Boehringers George-Lesungen vierundsechzig Gedichte mit einer Dauer von 86'54 Minuten. Als er die Aufnahmen in den Jahren 1959 und 1960 unternahm, muss er die spezifische Wiedergabekapazität der beiden Typen der seit 1954 für Vortragskunst kommerziell genutzten Vinyl-Schallplatten (von 25 oder 30 cm Durchmesser) im Auge gehabt haben. Seine Lesungen plante er entsprechend der Speicherzeit „einer kleineren Langspielplatte“, also des mittelgroßen Schallplatten-Typs.32 Boehringer führt seine Vortragskonzeption mit bemerkenswerter Strenge durch. Indem er vollständige Folgen von Gedichten aus Georges letzten drei Veröffentlichungen wählt, unterstreicht er den Zusammenhang dieser Gedichte als eigene Sinndimension. Strikt hält er sich – mit

29 Stefan

George: Der siebente Ring. Gezeiten. Gesprochen Juni 1959 von Robert Boehringer. Privatpressung Basel: Lussi [1971]. Fünf Exemplare im StGA: StGA 08NBa/1 bzw. 1a–1d. 30 Ernst Morwitz: Kommentar zu dem Werk Stefan Georges, München 1960, S.   251 u. S.   262. 31 Vgl. Morwitz, Kommentar (Anm.   30), S.   264. 32 An Max Lussi schrieb er am 6. 3. 1959, dass er am 13.3. zu ihm kommen werde, „um eine Viertelstunde lang zu sprechen und damit eine kleinere Langspielplatte zu füllen“ (StGA Boehringer II, 23001). – Die beiden Schallplattenseiten haben bei der Hölderlin-Lesung von ‚Menons Klagen um Diotima‘ eine Länge von 9'20 und 8'39 Minuten, beim ‚Neuen Reich‘ 10'41 und 9'39 Minuten, beim ‚Stern des Bundes‘ 14'33 und 14'49 Minuten sowie beim ‚Siebente Ring‘ 22'16 und 13'52 Minuten. – Dass die Tonaufnahme des ‚Siebenten Ring‘ nur auf LPs zu pressen war, hatte Boehringer offenbar nicht einkalkuliert.

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einer Ausnahme33 – an den Wortlaut der Gedichte, was bei zeitgenössischen Vortragskünstlern um 1960 wie Mathias Wieman, Gert Westphal und Will Quadflieg, geschweige denn bei Klaus Kinski keineswegs selbstverständlich war, ebenso wenig bei Autoren wie Ingeborg Bachmann, die bei Lesungen den Wortlaut auch bereits gedruckter Werke variierte. Als Norm öffentlicher Lesungen kam ein strengerer Textbezug erst später auf, nachdem die Verbreitung von Sprechschallplatten und Audio-Kassetten den Käufern den leichten Vergleich mit den Druckvorlagen ermöglichte. Boehringer gestattet sich auch kein Verlesen, wie es professionellen Vortragskünstlern selbst auf Sprechschallplatten der Deutschen Grammophon Gesellschaft (DGG) in diesen Jahren immer wieder unterlief. Hörbar ist dieser Vortragende mit den Texten seit Jahrzehnten vertraut, er kennt keinen Augenblick des tastend Gesprochenen, des ‚Vorlesend-den-Text-Erschließens‘, keine Unsicherheit in Phrasierung und Atmung und auch keine willkürlichen Akzentuierungen. Vortragskunst hat im George-Kreis hohe handwerklich-technische Anforderungen, um das dichterische Wort, so wie es der Dichter gewollt hat, zum Klingen zu bringen – das ist eine der Prämissen von Boehringers Vortragskonzeption. Bei der von ihm gewählten Vortragsart handelt es sich um eine für Studio-Lesungen von Autoren charakteristische Mischform aus Vorlesen und Hersagen von Gedichten, um ein lesegestützes Hersagen. Boehringer hat das Hersagen in seiner Abhandlung ‚Das Leben von Gedichten‘ (1932) durch das Auswendig-Sprechen definiert, wodurch es gegenüber dem Vorlesen „kühner, freier, pathetischer“ werde. Der Vortragende müsse das Gedicht vorher in sich aufgenommen haben, seine Lesung erhalte dadurch „beinah etwas bekennerhaftes, rauschhaftes, herausforderndes“.34 Ein Rascheln zwischen einigen Gedichten verrät, dass 33 So

liest er „verklingende mären“ statt „verschlungene mären“ im Gedicht ‚Stern der dies jahr mir regiere!‘ [‚Der Siebente Ring‘]. Vgl. SW VI/VII, S.   69. Handelt es sich hierbei um ein Lese-Versehen oder hatte Boehringer Gründe für diese Lesart? 34 Boehringer, Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   28. Das Hersagen ist mithin gespannter und ausdrucksvoller als das Vorlesen, muss aber gleichfalls auf die Einheit des poetischen Kunstwerks bedacht sein: „Er [der Vortragende] muß den rhythmus erkennen und die tonverhältnisse, muß die widerstände im fluß der Rede spüren und die gemäße Stärke mit der sie zu überwinden sind, muß das maaß fühlen das die leidenschaft hält, muß den reim genießen und doch

Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte103

Boehringer bei den Aufnahmen die Vortragsvorlagen vor Augen hatte und wahrscheinlich immer wieder einmal einen Blick darauf warf,35 andererseits waren ihm die Verse so vertraut, dass er sich vermutlich gelegentlich vom Text lösen konnte, um ihn herzusagen, zumal bei jenen Versen, die er regelrecht sang. Boehringers sonore und warme Stimme, die schon von seinen Freunden gerühmt wurde,36 verleiht seinen Aufnahmen auratische sich nicht an ihn verlieren, den sinn begreifen, das sinnbild sehen, den klang vernehmen und vom rhythmus immer durchströmt sein. Und bei jedem wort muß ihm die einheit des gedichtes wichtiger sein als irgend ein teil.“ (Ebd., S.   30.) 35 Das Tonstudio Lussi ließ Boehringers Sekretärin am 20. 6. 1966 wissen, dass die Nebengeräusche beim Umblättern der Seiten des Buchs, aus dem Boehringer die Gedichte las, nicht mehr auszumerzen seien. „Auf alle anderen Nebengeräusche werde man bei der Herstellung der Platte achten.“ (StGA Boehringer IV, 2250). Bei der zweiten versandten Schallplatte mit den Lesungen aus ‚Das Neue Reich‘ war einmal ein Räuspern zwischen den Gedichten zu hören, das nicht geschnitten worden war. 36 Ich beschränke mich hier auf das Zeugnis von Michael Landmann, das allerdings besonders aufschlussreich ist, weshalb ich es in toto zitiere: „Boehringer hatte eine ausserordentliche imitatorische (er sprach ein wunderbares Französisch), schauspielerische und rezitatorische Begabung. Mit ihm Shakespeare zu lesen war das reinste Gaudium. Nach Georges Tod ahmte er zuweilen dessen Tonfall so unheimlich nach, dass man den Meister selbst zu hören glaubte. Ein Freund seiner Jugend legte ihm dringend nahe, Schauspieler oder Deklamator zu werden; er werde damit sein Glück machen. Boehringer lehnte dies ab, weil damals (wie zum Teil bis heute) noch die naturalistisch theatralische Darbietungsweise vorherrschte. Sie widersprach völlig der Forderung Georges, beim Sprechen von Dichtung gerade den Gedichtcharakter des Gedichts zur Geltung zu bringen und nicht die Dichtung als ein Element in den Dienst der Darstellungskunst zu stellen, sondern umgekehrt diese eine Dienerin sein zu lassen für das Lautwerden, für das Zu-sich-selbst-Kommen des Gedichts. Wohl dagegen nahm Boehringer in der Jugend Rezitationsunterricht, um die Gesetze der Atemgebung und der Artikulation zu lernen. Hundertmal musste er ‚Abraham a Santa Clara‘ sagen, um ein volltönendes klares A einzuüben. Er verstand es, den gesamten Resonanzboden des Schädels auszuschöpfen. Seine Stimme war, auch im täglichen Leben, ungewöhnlich klingend und tragend. Die Vokale blühten, auch die Konsonanten wurden sonor. Die Sprechfähigkeit und Sprechbewusstheit kam auf ihren Höhepunkt, wenn er aus Dichtern vorlas. Gut erinnere ich mich mancher solcher Lesungen in unserm Haus. Wenn ich als Kind schon zu Bett geschickt war, umfing mich noch seine Stimme aus dem Nachbarzimmer. In einer Zeit, in der ich nur Platen und Hölderlin liebte und

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Qualitäten, wie nur die Stimmen großer Vortragskünstler (wie Mathias Wieman und Will Quadflieg) klassischen Gedichten auf Sprechschallplatte. Vortragskunst ist ja eine Kunst des Sagens und des Sich-Zeigens.37 Anders als Schauspieler auf der Theaterbühne präsentieren sich Vortragende hier nicht in fiktionalen Rollen, sondern als sie selbst, insofern sie einem Text ihre Stimme und mehr als das: Resonanz verleihen. Dieses Sich-Zeigen ist eine wesentliche Wirkungsdimension der Vortragskunst – wie dies Walter Benjamin einmal am Beispiel des Rezitators Karl Kraus pointiert formuliert hat: dieser stelle „so ganz und gar sich selbst und nichts als sich der Sache widmend“ dar.38 Die Spannung zwischen den konträren Ansprüchen des Sagens und des Sich-Zeigens lässt unterschiedliche Gewichtungen zu. George knüpfte poetologisch und vortragsästhetisch an die „disparition élocutoire du poète“ an, die er im Kreis der Pariser Symbolisten um Stéphane Mallarmé kennen gelernt hatte.39 Der junge Robert Boehringer versuchte dementsprechend in seinem, vermutlich in enger Abstimmung mit

mich gegen Goethe spröde verhielt, las er für mich Goethes ‚Seefahrt‘. Einmal wurden mit verteilten Rollen Teile aus dem Sommernachtstraum gelesen. Ungeheuer eindrucksvoll las er die Verse Georges So hat das schimmern eines augenpaares als ziel bei jeder wanderung geglimmt. [‚Nun lass mich rufen‘ aus ‚Der Siebente Ring‘] Erst später erfuhr ich, dass dieses Gedicht Georges an Boehringer selbst gerichtet ist und ihn deshalb doppelt bewegte. Aus der nachfolgenden Zeile desselben Gedichts ‚So ward dein sanfter sang der sang des jahres‘, entnahm sich Robert Boehringer den Titel seiner eigenen Gedichtsammlung ‚Sang der Jahre‘ (1944).“ Michael Landmann: Erinnerungen an Robert Boehringer. In: Georg Peter Landmann (Hg.): Wie jeder ihn erlebte. Zum Gedenken an Robert Boehringer, Basel 1977, S.   62  f. – Übrigens trat Boehringer gelegentlich auch öffentlich mit George-Lesungen auf, so etwa am 14. 1. 1936 in der Genfer Gesellschaft für Deutsche Kunst und Literatur mit einem umfangreichen Querschnitt durch das lyrische Werk. StGA 07C/448. 37 Vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   28–34. 38 Walter Benjamin: Karl Kraus liest Offenbach. In: Gesammelte Schriften. Bd.   4. Hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt 1972, S.   515  f. 39 „L’oeuvre pure implique la disparition élocutoire du poëte, qui cède l’initiative aux mots, par le heurt de leur inégalité.“ Stéphane Mallarmé: Divagation première relativement aux vers. In: St. Mallarmé: Vers et Prose. Morceaux Choisis. 4. Auflage, Paris 1899, S.   191  f.; vgl. Vincent Laisney: En lisant, en écoutant. Lectures en petit comité, de Hugo à Mallarmé, Paris 2017, S.   156–161.

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George entstandenen Aufsatz ‚Über Hersagen von Gedichten‘ (1911) nachzuweisen, dass der Vortragende seine Aufgabe umso besser erfüllt, je mehr er sich darauf beschränkt, „erkennendes und wiedergebendes“ Medium des Gedichts zu sein.40 Im Vordergrund stand dabei die rigorose Abgrenzung gegenüber einer schauspielerischen Selbstdarstellung mit Hilfe literarischer Texte, wie er sie bei Vortragskünstlern seiner Zeit diagnostizierte. In seiner späteren Abhandlung ‚Das Leben von Gedichten‘ (1932) gesteht Boehringer allerdings zu, dass jedem Vortragenden nur das von einem Gedicht zugänglich sei, was durchs eigene Erleben gedeckt sei. Noch einen Schritt weitergehend spricht er von der „äußerung der sonst verborgenen seele im tönenden vers“41 – womit er dem Verse-Sprechen eine über das bewusste Erleben hinausgehende katalytische Funktion hinsichtlich des unwillkürlich-unbewussten Ausdrucks zuspricht. Demnach treten tiefere Schichten einer Person gerade beim strikt text- und formbezogenen ‚rhythmischen Lesen‘ hervor.42 George und seine Schüler nutzten diese Wirkungsdimension des Sich-Zeigens beim Vorlesen bekanntlich für die Rekrutierung von Novizen in den inneren Kreis.43 „Und wie die Stimme, wunderbares Phänomen aus Seele und Leib, die besondere Art eines Jeden erkennen lässt, so war auch das Lesen der Gedichte, bei aller

40 Boehringer,

Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   6. Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   13. 42 Michael Landmann behauptete eben dies von Boehringers Lesungen: „Er hätte aber das Gedicht nicht so sehr zu seinem Selbstsein befreien können, hätte er nicht aus seinem eigenen Sein eine verwandte Substanz dazugegeben. Der passionelle Grundzug seines Wesens, von dem wir sprachen, trat beim Gedichtelesen am unverhülltesten hervor.“ Landmann, Erinnerungen an Robert Boehringer (Anm.   36), S.   63. 43 „Wer liest, tönt wider, was er innen vernimmt“ und: „Beim lesen, sagt der Meister, kommt das wesen dessen der liest heraus“, so lauten einige der Maximen Georges in den Erinnerungen der Jünger an die gemeinsamen Lese-Rituale. Boehringer, Der ewige Augenblick (Anm.   1), S.   57. Vgl. Baumann, Medien und Medialität (Anm.   3), S.   699–701. Dem entsprechen übrigens neuere kognitionswissenschaftliche und psychologische Forschungen zum Verhältnis von Stimme und Persönlichkeit. Wir vernehmen die Stimme anderer Menschen nicht nur im Hinblick auf das, was sie sagen, sondern stets auch als Hinweis auf das Wie des Gemeinten und auf die ganze Person, ihr Geschlecht, Alter, Befindlichkeit, Stimmung usw. 41 Boehringer,

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Stilisierung, für einen Jeden bezeichnend“44, so schreibt Boehringer in ‚Mein Bild von Stefan George‘. Was zeigt Boehringer von sich in seinen Schallplattenaufnahmen? Als Schwabe (gebürtig aus Winnenden/Württemberg), aber seit 1942 Bürger der Stadt Genf,45 spricht er ein Deutsch ohne dialektale Anklänge, lediglich die hohe Melodiosität der Tonbewegungen mag auf eine süddeutsch-schweizerische Herkunft hindeuten. In Begriffen der musikalischen Gesangstypologie müsste man seine Stimme als lyrischen Bariton bezeichnen. Sie ist warm timbriert, womöglich eine Raucherstimme, mit angenehmem Korn oder besser: mit Edelrost der Stimme.46 Ohne kurzatmig oder in der Grundfrequenz wesentlich erhöht zu sein,47 weist sie doch deutliche Altersspuren auf, die sich vor allem beim Absenken bemerkbar machen, wenn – gewollt oder ungewollt – ein stärkeres Tremolieren zu hören ist. Wahrscheinlich ist diese Stimme auch zu Humor und Ironie begabt gewesen, doch bei der George-Lesung schlägt sie einen weihevollen Ton an, einen „Tempelton“.48 Wolfgang Braungart hat zu Recht geschrieben: „Wie der Priester im religiösen Ritual, so will auch der poeta vates nicht aus seiner Subjektivität heraus sprechen und sie aussprechen, sondern im Amt und als Auftrag. Diese Stilisierung weist noch einmal hin auf die im Kreis wichtige, kulturkritische Unterscheidung zwischen der allgemeine Geltung beanspruchenden Persönlichkeit einerseits und dem heftig kritisierten Individualismus und Subjektivismus andererseits.“49 Diese Ritualität des Sprechens mag den verwirrenden Umstand erklä44 Boehringer,

Mein Bild von Stefan George (Anm.   1), S.   141. Edgar Salin: Über den Dichter Robert Boehringer. In: Deutsche Rundschau 75, 1949, S.   628, zit. nach: Bernhard Zeller (Hg.): Stefan George 1868/1968. Der Dichter und sein Kreis. Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs im Schiller Nationalmuseum Marbach a. N., Marbach 1968, S.   389. 46 Ein Begriff aus einem Aphorismus von August Wilhelm Schlegel: Urtheile, Gedanken und Einfälle über Litteratur und Kunst 1798. In: Sämtliche Werke. Hg. von Eduard Böcking. Bd.   8, Leipzig 1846, S.   3–33, hier: S.   27  f. 47 Zum Altern männlicher Stimmen und zum Greisendiskant vgl. Bernhard Richter: Die Stimme. Grundlagen, künstlerische Praxis, Gesunderhaltung, Leipzig 2013, S.   189. 48 „Was früher klang im tempeltone / Deucht nun den menschen mehr in ihrer sprache“, so formulierte George in einer der Tafeln des ‚Siebenten Rings‘ (SW VI/VII, S.   187). 49 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm.   3), S.   228  f. 45 Vgl.

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ren, dass sich hier einer der über Jahrzehnte hinweg erfolgreichsten Manager und Berater der Schweizer Pharma-Industrie exponiert – ein Mann des öffentlichen Lebens, Familienoberhaupt, freisinnig. 50 Er selbst hat das „Mißverhältnis“ zwischen dem „nüchternen tone der nur in nützlichkeiten geübten stimme“ und einer „Äußerung der sonst verborgenen seele im tönenden vers“ reflektiert, da ihm bewusst war, dass ein solches Vorlesen unweigerlich „ein beinah ungehörig pathetisches“ haben könne.51 Er empfahl deshalb auch ein Vorlesen in vertrautem Kreis, um die Missverständnisse durch Außenstehende zu vermeiden. Vorlesen und Hersagen von Gedichten waren für ihn und den Kreis ein priesterähnliches Amt, und dieses Amt – verbunden mit der hohen Stilisierung des Vortrags – machte den Sprecher in gewisser Hinsicht unsichtbar, auch dann, wenn er die vom Gedicht geweckten Eindrücke und Emotionen mitklingen und sich von dem im Gedicht gebannten „gehobenen lebensgefühl“ ergreifen ließ.52 Eine solche Vortragshaltung darf jedenfalls nicht mit dem ungeschmälerten Ausdruck der Subjektivität des Individuums – gar mit dessen Authentizität, wie heute üblich – verwechselt werden. Dichtung sei kein „Erlebnisausdruck […], sondern Spracherlebnis“, hatte George verfügt.53 Wenn man diese poetologisch-vortragsästhetischen Prämissen nicht konzediert, wird man Boehringers Lesungen in ihrem Anspruch nicht verstehen und Anstoß an den heute kitschig anmutenden Tempeltönen nehmen. II. Rhythmisch-melodische Bindung und Wechsel zwischen Sprechen und Singen Wolfgang Braungart hat Boehringers Vortragsweise auf folgende Weise charakterisiert: Feierlich-getragen wiederholt jeder Vers – in Hebungen und Senkungen der Stimme, in Lautstärke und Emphase leicht variierend – dasselbe Grundmuster einer gleichmäßigen, getragenen Melodieführung, die an liturgisches Sprechen

50 Vgl.

Christoph Perels: Robert Boehringer, in: Aurnhammer, Stefan George und sein Kreis (Anm.   2), S.   1290–1295. 51 Boehringer, Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   13. 52 Ebd., S.   14. 53 Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S.   87.

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und an Rezitative aus Motetten erinnert. Dieses feierliche Sprechen zeichnet den Text aus und unterstreicht seinen kultisch-rituellen Charakter. Macht und Anspruch des Textes kommen erst eigentlich in der Macht der feierlichen Sprache zur Geltung.54

Boehringers Vorlesen halte sich im Übrigen „weitgehend an die Versgliederungen; es überspielt die zahlreichen Enjambements nicht, versucht also nicht, syntaktisch-semantische Zusammenhänge, die die poetische Form übergehen, gegen die Versgliederung und den Rhythmus herzustellen und durchzusetzen.“55 In der Tat erscheint Boehringers Vortrag bei erstmaligem Anhören als „feierlich getragen“, erst eine größere Vertrautheit durch wiederholtes Anhören lässt erkennen, wie stark er diesen Grundton differenziert, vor allem durch die Variation von Rhythmus und Tonhöhenbewegungen und einen Wechsel von Sprechen und Singen. Ritualität und Feierlichkeit des Sprechens werden – und das ist gegenüber Braungarts einseitiger Beschreibung festzuhalten – von einer blühenden Sprech-Musikalität grundiert. Diese klangsinnliche Dimension ist mehr als nur Schmuck und Verschönerung, sie ist – heute kaum mehr nachvollziehbar – Ausdruck eines ganzen Bildungsprogramms, das bei der Erneuerung der Sprache und des Sprechens ansetzte. Boehringer rühmte selbst die „gestaltung des ganzen menschen durch die wirklich bildenden kräfte, deren eine, vielleicht die oberste, jenes wunderwerk der natur, die im gedicht form gewordene sprache ist“.56 Die Schönheit der klingenden Sprache stand für ein verändertes, für ein „schönes Leben“. Über ihre kunstreligiösen Implikationen hinaus hatte die Kulthandlung Vorlesen mithin eine hohe pädagogische und lebensreformerische Bedeutung.57

54 Braungart,

Ästhetischer Katholizismus (Anm.   3), S.   173  f.

55 Ebd. 56 Boehringer,

Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   25. An anderer Stelle schreibt er: „Wer ein solches gedicht empfängt, empfängt das große. Wem es gelingt, das gedicht sich derart einzuverleiben, daß dessen ‚heimlich bildende gewalt‘ in ihm wirksam wird, der wird geistig und körperlich umgestaltet, gebildet im Goetheschen Sinne; er wird dem großen das im gedichte steckt nachgeformt.“ (Ebd., S.   4.) 57 Der Germanist Richard Alewyn hat diesen Zusammenhang in einem Rundfunkvortrag für den WDR Köln im Jahr 1950 präzise herausgearbeitet: „Es ist ein Irrtum zu glauben, es handele sich bei der Erneuerung der Sprache um eine lediglich literarisch-ästhetische Angelegenheit. Es ergibt sich nämlich, dass,

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Fragt man nach den vier prosodischen Artikulationsebenen von Boehringers Lesungen, also nach Tempo/Rhythmus, Lautstärke, Akzentsetzung/Tonhöhenbewegung, Klang/Timbrierung, so drängen sich folgende Beobachtungen auf, die man im Hinblick auf einzelne Aspekte durch eine spektrographische Analyse gegebenenfalls objektivieren könnte,58 was hier nicht zu leisten ist.

A. Tempo/Rhythmus Auffällig ist ein – für Gedicht-Rezitationen – überaus langsames Sprech­ tempo, das nur wenig variiert wird und keine größeren Schwankungen kennt. Hier wird ein Ritus zelebriert und jede spontane Gefühlsexpression durch die Form des dichterischen Worts gebändigt. Dank der Langsamkeit des Sprechens, die ja eine Kunst für sich ist, tritt die Rhythmizität der Verssprache – jenseits aller monotonen Skandierung – deutlicher hervor, das Zusammenspiel der metrischen Regulierung betonter und unbetonter Silben mit der Zäsurensetzung und der Phrasierung der Sprecheinheiten (der Kola).59 Die Aufmerksamkeit des Hörers wird von dieser Rhythmizität nicht durch größere Tempo-Differenzierungen ab-

wer seine Sprache in die Zucht nimmt, seine Haltung verändert, dass er seine Gefühle in die Gewalt bekommt, sein Denken umformt, und dass von der Sprache her der ganze Mensch erneuert wird. Die neue Sprache wurde für George das Mittel, mit dem er eine neue Jugend aufzog und ihr sein Profil aufprägte.“ Richard Alewyn: Stefan George. Radiovortrag Köln. 1. Teil, 1950 im WDR-Hörfunk (StGA, Boehringer III, 180366). 58 Zu den neueren stimmakustischen Forschungen vgl. Richter, Die Stimme (Anm.   47). 59 Vgl. die kleine Abhandlung von Ernst Morwitz zu Georges Interpunktionsregeln, die zugleich Sprechanweisungen der Vers-Dichtungen sind, in: Morwitz, Kommentar (Anm.   30), S.   263  f. – In Boehringers ‚Der ewige Augenblick‘ heißt es dazu aus dem Kreise der Jünger: „Gegenüber einer sprechweise, die das gedicht in prosa auflöst, wird man darauf dringen, dass die merkmale des verses deutlicher vortreten. Wenn aber einer alles eintönig und skandierend liest, ohne dass die natur des gedichtes und die des lesenden – denn beide wirken zusammen – es verlangt, dann muss er sich lockern und lösen, bis sein lesen – oder sein wesen – blühend wird und voll, und man den versbau wohl immer tragend gegenwärtig fühlt, aber doch nicht aufdringlich heraushört.“ Boehringer, Der ewige Augenblick (Anm.   1), S.   59.

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gelenkt, und auch nicht durch jähe Akzentsprünge nach oben oder nach unten oder durch Unterschiede der Lautstärke. Die rhythmisch-melodische Bewegtheit des Gesagten kann voll ausgespielt werden. Entgegen Wolfgang Braungarts Meinung werden viele Enjambements übersprochen, und zwar aus syntaktisch-semantischen Gründen, um das Verständnis der Verse zu erleichtern, doch stets auf eine Weise, die den rhythmischen Zusammenhang wahrt, also das Ineinanderwirken von Sinn- und Tonbewegungen, von Vorstellungen und Klängen. Gegenüber einer starren Versmetrik mit regelmäßigem Absetzen der Verskadenzen wirkt dieses Überspielen als rhythmisierendes Moment. Nach dem Einschnitt im nachfolgenden Vers ist jeweils ein neuer, deutlich verkürzter Anlauf bis zur Verskadenz erforderlich.60

B. Lautstärke Boehringer wählt die Lautstärke einer eindringlich gespannten Vortragsstimme, die immer deutlich vernehmbar ist, ohne doch übermächtig laut und deklamatorisch zu wirken, wie dies ein Vortragskünstler wie Will Quadflieg in einigen Hymnen von Goethe und Hölderlin passagenweise vorführt, wenn er die Dynamik bis zum Fortissimo spannt.61 Andererseits opponiert er mit dieser gehobenen Vortragshaltung den seit den 1930er Jahre üblichen Empfehlungen, vor dem Mikrophon möglichst natürlich aufzutreten, am besten im Parlando-Ton in Zimmerlautstärke62, wie dies Gottfried Benn nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Aufnahmen in Rundfunk-Studios vorführte. Es bleibt Spekulation, ob Boehringer dabei auf die besondere Sprechsituation vor den Mikrophonen des Basler Tonstudios Rücksicht nahm oder eine solche Vortragshaltung auch in anderen Situationen wählte.

60 Hegel

hat solche redebedingten Einschnitte in der Versmetrik mit einem glücklichen Begriff als „Gegenstoß“ bezeichnet. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd.   III, Frankfurt a. M.   1970, S.   289–318, hier: S.   293. 61 Vgl. die Ende der 1950er Jahre von der Deutschen Grammophon Gesellschaft (DGG) herausgegebenen Langspielplatten mit Will Quadfliegs Goethe- und Hölderlin-Lesungen. 62 Vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), S.   503–517.

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C. Akzentsetzung/Tonhöhenbewegung a) Am auffälligsten ist Boehringers Gebrauch prosodischer Ausdrucksmittel im Hinblick auf Akzentuierung und Tonhöhenbewegungen. So verzichtet er auf größere Intervallsprünge, wie sie Vortragskünstler wie Josef Kainz und Alexander Moissi und später Kinski, Quadflieg und Westphal in ihren Gedicht-Rezitationen pflegten, um die Verse expressiv aufzuladen und Spannung zu erzeugen. Sein Tonumfang ist in der Regel geringer als eine Quarte. Durch den Zwang zur Reduktion des Tonumfangs glaubte er, die minimalen tonstuflichen Nuancen intensiver differenzieren zu können.63 Jeder Vers erhält einen Hauptton, den er nach dem Aufschwung der Stimme zu Beginn und vor dem Abschwung der Kadenz auf mehreren Silben annäherungsweise festhält, so dass die Verse zwischen Rede und Gesang zu schweben scheinen, um sich dann wieder zur Rede zu neigen.64 b) Während George bei seinen Lesungen die Stimme auf charakteri­ stische Weise am Versende jeweils in der Schwebe hielt, „ähnlich dem Resposorium in der katholischen Kirche“ (wie Sabine Lepsius dies eindrücklich beschrieben hat),65 kennen Boehringers Rezitationen beide Formen der Kadenzierung: einerseits ein In-der-Schwe63 So

lautet die Anweisung eines der Schüler: „In schmalem intervall, also zwischen zwei tönen, die nicht zu weit auseinander liegen, einem tiefsten und einem höchsten. Die wirkende kraft ist grösser, wenn die modulation kleiner ist, das heisst: wenn die stimme nur niedere stufen hinauf und hinab steigt. Nur selten dürfen die tongrenzen überschritten werden.“ Boehringer, Der ewige Augenblick (Anm.   8), S.   58. 64 „Es ist ein intonieren, nicht gesang aber auch nicht rede, es ist dazwischen“, so beschreiben die Jünger die Vortragsweise des Meisters. Boehringer, Der ewige Augenblick (Anm.   8), S.   59. 65 Sabine Lepsius schrieb: „Der Ton der Stimme wechselte seine Höhe und Tiefe nur in ganz seltenen Abständen, wurde dann streng beibehalten, fast wie eine gesungene Note, ähnlich dem Responsorium in der katholischen Kirche, und trotzdem bebend vor Empfindung und wiederum hart, dröhnend. Es war der Zusammenhang mit seiner Kinderzeit zu spüren, da er einst während der Messe das Weihrauchgefäß schwingen durfte. Auch die Endzeilen verharrten auf dem gleichen Ton, so daß nicht nur der übliche Schlußeffekt völlig vermieden wurde, sondern es schien, als sei das Gedicht nicht ein einzelnes in sich abgeschlossenes, sondern ohne Anfang, ohne Ende, wie herausgegriffen aus dem Reiche großer Gedanken und erhöhter dichterischer Vorstellungen.“ Sabine Lepsius: Stefan George. Geschichte einer Freundschaft, Berlin 1935, S.   17.

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be-Halten der Stimme am Versende (vor allem in ‚Das Lied‘, der historisch ersten Aufnahme aus dem März 1959), andererseits aber ein deutliches Markieren von Verskadenzen durch ein Absenken der Stimme, sofern sie mit einem Sinnabschnitt zusammenfallen. Dies ist gewiss kein Zugeständnis an die übliche Art des Verse-Lesens, wie es Germanisten und Sprecherzieher damals lehrten, vielmehr ist es ästhetisch begründet. Die Kadenzen werden auf diese Weise auditiv zwingend gestaltet, und der Vers wird als rhythmisch-melodische Einheit hörbar. Doch macht Boehringer daraus keine Regel. In seinem fiktiven Dialog ‚Der ewige Augenblick‘ (1945) verteidigt er seinen Ansatz, wonach es auf das jeweilige Gedicht ankomme.66 c) Diese rhythmisch-melodischen Ausdrucksmittel werden ergänzt durch eine Terrassen-Prosodie der Sprechmelodie,67 die dazu dient, Verse und Strophen zu binden und deren innere Architektur plastisch herauszuarbeiten. Diese subtile melodische Kunst ist von Boehringer zur Perfektion entwickelt worden, sie gehört zum Kostbarsten seiner Rezitationen. Sie verleiht den Gedichten – bei aller Strenge der Stilisierung – eine luxurierende Lebendigkeit, ja etwas Schwelgerisches. So markiert Boehringer etwa in dem Gedicht ‚Trübe Seele‘ (aus dem Band ‚Der siebente Ring‘)68 – einer Zwiesprache zwischen Dichter und liebendem Anderen – die Sprecher-Einsätze der parallel gebauten Versanfänge („Trübe seele“, „Schwache seele“, „Bleiche seele“, „Blinde seele“, „Harte seele“, „Leichte seele“, „Dunkle seele“) durch deutliche Tonhöhenunterschiede: der Andere in höherer, der Dichter in tieferer Tonlage. Die musikalisch durchartikulierte Architektur des Gedichts wird auf diese Weise hörbar – einer der vortragskünstlerischen Höhepunkte von Boehringers Lesungen. Auch 66 In

dem Gespräch über Vortragskunst in ‚Der ewige Augenblick‘ wird danach gefragt, ob „der ton am ende des satzes in der schwebe gehalten werden [muss], oder darf er sinken?“ Die Antwort: „Je nach dem vers. Da gibts keine vorschrift. Man muss lesen, wie das gedicht es verlangt, das grosse gross, das zarte zart, erzählendes erzählend, und im einzelnen soll man jeden gewähren lassen, wenn er nur das ethos des ganzen trifft.“ Boehringer, Der ewige Augenblick (Anm.   8), S.   59. 67 Ein Begriff von Matthias Noether: Als Bürger leben, als Halbgott sprechen. Melodram, Deklamation und Sprechgesang im Wilhelminischen Reich, Köln u. a. 2008. 68 SW VI/VII, S.   74.

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in mehrstrophigen Liedern (wie in ‚Das Lied‘) beschränkt er sich nicht darauf, alle Verse und Strophen auf nur einer Haupt-Tonstufe vorzutragen. So werden etwa in ‚Der letzte der Getreuen‘69 die ersten beiden Strophen mit einem relativ schmalen Tonhöhenspektrum vorgetragen, dann die ersten drei Verse der dritten Strophe auf einer unverkennbar höheren Tonstufe, von der aus die Melodie des letzten Verses tiefer herabfällt, um die Vers- und Strophenkadenz zu markieren. Solche prosodischen Großgliederungen lockern den Eindruck des Litaneihaft-Monotonen auf subtile Weise auf. d) Schließlich findet bei einigen Gedichten ein Übersprung zum Gesang statt. Mit einem Mal singt diese Stimme für kurze oder längere Abschnitte, wie von innerer Emphase ergriffen, zumeist auf einem Ton und in regelmäßigen Tondauern. Das geschieht exemplarisch etwa bei dem Gedicht ‚Nun lass mich rufen über die verschneiten / Gefilde wo du wegzusinken drohst‘ (aus ‚Der Siebente Ring‘).70 Man versteht diesen Kunstgriff, wenn man – durch Ernst Morwitz’ biographischen Kommentar belehrt – weiß, dass Gegenstand dieses Gedichts Georges Begegnung mit dem jungen Robert Boehringer im Jahr 1905 ist: Höhepunkt und zugleich Trennung nach erfüllter Zeit. Die beiden Verse: „So ward dein sanfter sang der sang des jahres / Und alles kam weil du es so bestimmt“ erhalten im Munde des Adressaten einen wehmütigen autoreferentiellen Rückbezug. Ähnlich gesungen wird – als Höhepunkt und Erfüllung des Zyklus – das letzte Gedicht ‚Wo sind die perlen süsse zähren‘71 aus dem zweiten Buch des ‚Stern des Bundes‘ und einige Gedichte und Verse aus ‚Das neue Reich‘, wie etwa der letzte Vers von ‚Die Becher‘: „wieviel Mein los wieviel Dein los“, der sogar eine intervallisch abgestufte Melodieführung erhält. Durch den Wechsel der Vortragsart kommt das von den Versen evozierte ‚gehobene Lebensgefühl‘ und damit ein festliches Außersichsein zum Ausdruck.72 Verse aus dem zweiten Buch des ‚Stern des 69 SW

IX, S.   106. SW VI/VII, S.   84. 71 SW VIII, S.   79. Ähnlich die letzten anderthalb Verse von ‚Er ist Helle .  . wenn er leuchtet‘ (aus ‚Der Stern des Bundes‘): „kannst du wissen / Wohin ER mit dir mich führt?“ (SW VIII, S.   55). 72 Wenn Wolfgang Braungart einräumt, dass die Beschreibung von Boehringers Vortrag als ‚monoton‘ und ‚psalmodierend‘ „möglicherweise mißverständlich [sei], weil sie den existentiellen Anspruch dieser Poesie unterbestimmen 70

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Bundes‘ oder aus ‚Der Siebente Ring‘, die die Begegnungen von sich liebenden und sich trennenden Menschen und eine durch Verbote und Versagungen nobilitierte Freundesliebe feiern, erhalten dadurch eine unvergleichliche klangsinnliche Schönheit, über alle Ritualität des ‚Tempeltons‘ hinaus. Neuere Forschungen zur Gesangs- und zur Sprechstimme kommen darin überein, dass man die beiden Formen vokaler Aktivität deutlich voneinander unterscheiden muss: „Singen ist – in der Regel – charakterisiert durch die stimmliche Ausformung klar definierter Intervalle und Tonlängen, für das Sprechen ist hingegen eine kontinuierlich fließende Veränderung von Tonhöhen und eine an der Prosodie orientierte Gestaltung von Silbenlängen bezeichnend. Im Gesang können weite Tonumfänge verwendet werden, Sprechen dagegen nutzt im Normalfall nur einen vergleichsweise engen Ausschnitt des Gesamttonumfangs einer Stimme.“73 Die Grenzen zwischen Sprechen und Singen sind im künstlerischen und religiös-liturgischen Gebrauch der Stimme allerdings fließend. Vor allem im Kontext kultisch-religiöser Praktiken entstanden Zwischen- und Mischformen, wie die Kantillation des Talmuds im Judentum, das Psalmodieren von Evangelientexten und die Epistel-Rezitationen im Christentum, Koranrezitationen und Gebetsrufe im Islam.74 Auch Boehringers Vortragsweise changiert zwischen Sprechen und Singen, wobei das eigentliche Singen, verstanden als Ausformung von wiedererkennbaren Intervallen und Tondauern Ausnahme bleibt. Der Übersprung des rhythmisch und melodisch gebundenen Sprechens in Gesang bleibt den Höhepunkten vorbehalten.

könnte“, so mag dies vor allem für solche gesungenen Partien gelten. Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm.   3), S.   173  f. 73 Vgl. Artikel Sprechen und Singen. In: Lexikon der Gesangsstimme. Geschichte, Wissenschaftliche Grundlagen, Gesangstechniken, Interpreten. Hg. von Ann-Christine Mecke u. a., Laaber 2016, S.   573–578, hier: S.   573. 74 Vgl. Heidy Zimmermann: Tora und Shira. Untersuchungen zur Musikauffassung des rabbinischen Judentums, Bern u. a. 2000; zum Gregorianischen Choral in der lateinischen Messe, also eines einstimmigen unbegleiteten Gesangs, der für die Liturgie des fränkisch-römischen Ritus bestimmend war, vgl. Stefan Morent: Die Musik der Antike und des Mittelalters, Lilienthal (vormals Laaber) 2021, S.   104  f.

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D. Klang/Timbrierung a) Die rhythmische und melodische Bindung der Verse und die Gesangspassagen werden grundiert von einer einzigartigen vokalischen Klangpracht. Boehringers Vortrag macht auf plastische Weise hörbar, was in Georges Gedichten angelegt ist. Als Beispiel diene das letzte Gedicht aus dem 2. Buch des ‚Stern des Bundes‘: Wo sind die perlen süsse zähren Wo sind die rosen üppiger pfühl? Das spiel von werben und gewähren? Der prunk ward welk der duft ward schwül. Nun sühne strengster stille brauch: Keimmonat ist es .  . frühste frühe Verhülltes sprossen keusche blühe Ein kühles licht ein herber hauch. (SW VIII, 79)

Ein achtzeiliges Gedicht in vierfüßigen Jamben, dessen erste vier Verse durch einen Kreuzreim und dessen letzte vier Verse durch einen umgreifenden Reim und einen Paarreim gebunden werden, eine liedhafte Form also. Assonanzen und Alliterationen schaffen – in Verbindung mit den Reimen – einen berauschenden Klangzauber, vor allem durch den zehnfachen Gebrauch des Umlauts ‚ü‘ und den achtfachen Gebrauch des verwandten Vokals ‚i‘ (etwa in den Worten „spiel“, „stille“ und „licht“). Vor diesem hellgrundierten Hintergrund profilieren sich umso markanter die anderen, wie delikate Tonvaleurs hingetupften Vokale bzw. Umlaute ‚ä‘, ‚e‘, ‚o‘, ‚a‘ und ‚u‘, schließlich das ‚au‘ und ein einmaliges ‚ei‘. Der achte Vers antwortet dem vierten Vers bis in die Variation der Lautsubstanz hinein („herber“ / „welk“ und „kühles“ / „schwül“). Man könnte von einer Tonpalette sprechen, vergleichbar dem Farbenspiel auf Gemälden französischer Impressionisten und Postimpressionisten. Boehringer zelebriert die vokalische Substanz und die Rhythmen dieses Gedichts geradezu. Die Vokale werden sorgsam und genießerisch gegeneinander abgetönt, etwa die Valeurs der verschiedenen ‚e‘- und ‚ä‘-Laute, die artikulatorisch fast überdeutlich differenziert werden, so dass die Verwandtschaft von ‚perlen‘, ‚welk‘, ‚strengster‘ (kurz und ungespannt) einerseits, die von ‚zähren‘, ‚werben‘, ‚gewähren‘ und ‚herber‘ (lang und gespannt) andererseits hervortritt. Ähnlich die ‚i‘-

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und ‚ü‘-Laute. Die lang zu sprechenden Vokale werden noch über das alltagssprachlich übliche Maß hinaus gedehnt, entsprechend dem in älteren Vortragslehren sogenannten Portament der Stimme, also dem Tragenden der Stimme, das den Klang betonter Vokale als besonderen Schmuck lyrischer Rede herausstellt.75 Von diesem Portament der Stimme ist der Übergang zum Gesang nur ein Schritt. Komplementär dazu werden die unbetonten Vokale von Artikeln wie ‚der‘ zum ‚dr‘ verkürzt. Klangvoll ist auch die Artikulation der Konsonanten: Das ‚r‘ wird nach Bedarf gerollt oder als Rachen-‚r‘ artikuliert. Man denkt unwillkürlich an Roland Barthes’ Beschreibung der ‚Prononciation‘ seines Lieblingssängers Charles Panzéra, dem er nachrühmte, die Phonetik der französischen Sprache transparent gemacht zu haben. b) Unterstützt wird das Portament der Stimme von einem starken Vibrato bzw. Tremolieren der Stimme, besonders bei Verskadenzen und bei „Edelvokabular“, sei es als bewusstes Stilmittel, sei es aus Altersgründen. Als er die Schallplatten mit den Aufnahmen abhörte, meinte Boehringers Freund Michael Landmann, die Stimme des Fünfundsiebzigjährigen weise bereits altersbedingte Stereotypien auf: „Sie war in seinem reifen Mannesalter schmeichlerischer, spielerischer, war ein jedesmal erneuter freier Aufschwung“76 – was sich freilich nicht mehr nachprüfen lässt. c) Zur Dimension von Klang und Timbrierung des Vortrags gehört schließlich die unverkennbare Markierung des Einsatzes von unterschiedlichen Sprechstimmen in dialogischen Kurzgedichten. So wird die Stimme des Meisters zu Beginn seiner Interventionen (etwa in

75 Vgl.

Verf.: Von der Schönheit der Sprechmelodie. In: FAZ, 5. Juni 2021. Erinnerungen an Robert Boehringer (Anm.   36), S.   63. In ähnlichem Sinne schreibt Georg Peter Landmann: „Zu spät entschloss er sich, George und Hölderlin auf Platten zu sprechen: damals war sein Vortrag hart geworden und gab keinen Begriff mehr vom Wohllaut seiner Stimme, wenn sie, ‚mit anständigem Enthusiasmus‘, in der Musik der Sprache schwelgte und die Hörer verzauberte – ‚dass noch die Süssigkeit im Ohr mir klinget‘.“ Georg Peter Landmann: Erinnerungen an Robert Boehringer. In: Georg Peter Landmann (Hg.): Wie jeder ihn erlebte. Zum Gedenken an Robert Boehringer, Basel 1977, S.   20–33, hier: S.   24. Ernst Morwitz meinte dagegen, dass die Hölderlin-Schallplatte, die ihm Boehringer zusenden ließ, seine „Erinnerung an Ihr Verse-Lesen in Ihrer Jugend wachgerufen“ habe. Brief von Ernst Morwitz an Robert Boehringer am 25. Oktober 1964 (StGA, Boehringer III, 25243).

76 Landmann,

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‚Entbinde mich vom leichten eingangsworte‘ oder ‚Mich den finstren musst du fesseln‘ aus ‚Der Stern des Bundes‘) mit etwas verdicktem Nachdruck aufgetragen. Solche Markierungen von Sprecherwechseln beschränken sich allerdings auf die ersten Worte der Intervention und sind von einem dramatisierenden Rollen-Sprechen himmelweit unterschieden. Nimmt man alle Ausdrucksmittel dieser vier prosodischen Mikro-Artikulationsebenen zusammen, so wird deutlich, dass Boehringers Vortragsweise darauf abzielt, das den Gedichten immanente sinnliche Klangpotential zu entbinden und ins Hörbare zu übersetzen. Es geht ihm dabei nicht um eine aufgesetzte Musikalisierung des Vortrags, wie sie etwa Alexander Moissi anstrebte, der Verse – zum Verdruß etwa von Franz Kafka77 – in körperlos-klingende Sprech-Melodiebögen auflöste, sondern um etwas anderes. Die der Verssprache eigene Musik sollte zum Klingen gebracht werden, und zwar über jede Musik hinaus. Mit dieser Überzeugung knüpften George und sein Kreis in vieler Hinsicht an Tendenzen des europäischen, zumal französischen Symbolismus seit Mallarmé und Verlaine an.78 Warum sollte die Dichtung mit ihren Klängen und Rhythmen der Wirkung von Musik nachstehen? In Verbindung mit ihrem gedanklichen Gehalt konnte sie sie übertreffen und zu einer den ganzen Menschen ergreifenden Bildungsmacht werden. Allerdings fragt sich, ob diese für Georges Gedichte entwickelte Vortragsweise für Hölderlins ‚Menons Klagen um Diotima‘ angemessen ist. Boehringers Lesung der elegischen Distichen überwältigt durch die schiere Monumentalität eines feierlichen Klagegesangs. Sorgsam beachtet er – von kleineren Ausnahmen abgesehen – die metrischen Strukturen und spricht in langsamem Duktus. Auch hier bedient er sich auf extensive Weise der um 1959 außer Kurs geratenen Vortragstechnik des Portaments der Stimme mit klanghafter Dehnung der Vokale betonter Silben. Dieses Portament, unterstützt von einem starken Vibrato und einem Sprechen auf annäherungsweise gleichen Tonhöhen, verleiht dem Vortrag etwas von einem ‚redenden Gesang‘ (Karl Philipp 77 Vgl.

Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   429. Urban, Kinesis and Stasis (Anm.   2), S.   107–139; Wolfgang Osthoff: Stefan George und ‚Les deux musiques‘. Tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerstreit, Stuttgart 1989, S.   2  f.

78 Vgl.

118

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Moritz). Das Distichon am Ende der ersten Strophe: „So, ihr Lieben! auch mir, so will es scheinen, und niemand / Kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum?“, wird psalmodierend singend vorgetragen, ähnlich dem priesterlichen Sprechgesang in der katholischen Messe. Auch jene Verse, bei denen ein Wechsel der Töne im Sinne von Hölderlins Poetologie nahegelegen hätte, wie bei der enthusiastischen Erinnerung an gemeinsame Naturerfahrungen zu Beginn der vierten Strophe („Aber wir, zufrieden gesellt, wie die liebenden Schwäne“), unterwirft Boehringer einer unerbittlichen Stilisierung. Damit werden aber die Grenzen seiner Vortragskonzeption erkennbar, ebenso wie die Grenzen des im George-Kreis herrschenden Hölderlin-Verständnisses. Was bei Hölderlin Zeugnis eines zerrissenen Bewusstseins ist, das zwischen der Erinnerung an die Gegenwart des Göttlichen und der Erfahrung von dessen Entzug hin und her geworfen wird, gerinnt zum hieratischen Duktus eines quasi-liturgischen Messgesangs, ohne alles „Spielerische“ und ohne den „jedesmal erneuten freien Aufschwung“ (Michael Landmann).79 III. Historische Konstellationen Bereits der junge Robert Boehringer hat in einem Beitrag für den zweiten Band des ‚Jahrbuchs der geistigen Bewegung‘ (1911) eine historische Kontextualisierung der im Kreis gepflegten Vortragsweisen unternommen.80 Sein vermutlich in enger Abstimmung mit George entstandener Aufsatz ‚Über Hersagen von Gedichten‘ skizziert die Entwicklung

79 Schon

Hans-Georg Gadamer monierte – ohne Boehringers Lesung zu kennen –, dass George und seine Schüler die Verse von Hölderlin „in eine Sprechlage einstilisieren, die ihm, wie wir heute sehen, nicht ganz angemessen ist“. „Es ist das Melos des Chorals, das der Georgeschen Sprachgebärde den Charakter eines liturgischen Tuns gibt.“ Demgegenüber seien Hölderlins lyrische Formen durch einen „protestantisch-meditativen Zug“ gekennzeichnet, sie verlangten ein „Hinsagen“, kein „Hersagen“. Hans-Georg Gadamer: Hölderlin und George. In: Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt a. M.   1990, S.   56 u. S.   50. 80 Er knüpft dabei an einen wahrscheinlich von George und Wolfskehl gemeinsam verfassten kurzen Text ‚Über Hersagen von Gedichten‘ in der 8. Folge der ‚Blätter für die Kunst‘ (1909) an. Wieder abgedruckt in: Georg Peter Landmann (Hg.): Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst, Düsseldorf – München 1964, S.   44–46.

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dieser Kunst seit der Antike und grenzt die von George eingeführten Vortragsweisen als dichterisch autorisierte scharf von allen anderen, gerade nach 1900 hervortretenden Optionen ab. Bei dieser Gelegenheit polemisiert er – Friedrich Nietzsches Kritik an Richard Wagners Histrionentum aufnehmend – gegen eine Kunst in den Händen von Schauspielern und professionellen Vortragskünstlern. Ähnlich kritisch ist er gegenüber zeitgenössischen Dichtern von Hauptmann über Dehmel bis zu Hofmannsthal, deren Vortragsweisen ihm als schlechter Kompromiss zwischen schauspielerischer Theatralisierung und genuin dichterischer Rezitation erscheinen, als Deklamieren wider besseres Wissen.81 Solche Selbstbeschreibungen von Akteuren dürfen nicht das letzte Wort für eine historische Erforschung der literarischen Vortragskunst bleiben, sie geben aber wichtige Hinweise auf die jeweiligen historischen Konstellationen und Prozesse, in denen sich Vortragsformate und Vortragsweisen ausbilden. Wie wurde diese Konstellation wahrgenommen und gedeutet? Diese Sicht muss Teil der historischen Rekonstruktion der literarischen Vortragskunst sein, gerade wenn es ihr Ziel ist, die Vortragsweisen als Produkte einer Auseinandersetzung mit oralen Traditionen zu erkennen. Ich knüpfe hier an Diskussionen in der US-amerikanischen Oral Poetry- und Oral Tradition-Forschung in Ethnologie, Literaturwissenschaft und Performance-Analyse an. John Miles Foley, einer ihrer profiliertesten Vertreter, hat diesen methodischen Ansatz in dem Aphorismus resümiert: „Performance is the enabling event and tradition is the enabling referent.“82 Die Performance gibt also Verständnisschlüssel, wie die vorgetragenen Worte und Texte

81 Boehringer,

Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   5: „Von den Schriftstellern die einem weiteren Publikum heute den Dichter repräsentieren begleitet Hauptmann sein Lesen mit Gesten, und deklamiert Dehmel mit theatralischem Pathos, obwohl gerade er sich gegen die schauspielerische Vortragsweise gewendet hat. Selbst Hofmannsthal liest unter dem Einfluss der alten Wiener Theaterschule schauspielerhaft, wenn er auch starke Effekte diskret vermeidet.“ Diese Charakterisierung der Lesungen von Hauptmann, Dehmel und Hofmannsthal wird im Übrigen durch eine Vielzahl von historischen Zeugnissen bestätigt, vgl. Verf.: Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   2, S.   671 Anm.   52, S.   458–464 u. S.   585–588. 82 John Miles Foley: Homer’s Traditional Art, Pennsylvania State University Press, University Park, Pennsylvania 1999, S.   22; vgl. ders.: The Singer of Tales in Performance, Bloomington 1995, S.   28.

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jeweils zu verstehen sind, sie kann aber nur wirksam sein vor dem Hintergrund der von Performern und Zuhörern geteilten oralen Traditionen, der „traditional referentiality – the resonance between the singular moment and the traditional context“.83 Performance und orale Traditionen bilden die beiden Brennpunkte einer historischen Rekonstruktion literarischer Vortragskunst. Über den Ansatz der Oral Poetry-Forschung hinausgehend mögen Anregungen der Konstellationsforschung nützlich sein, um Performances und die Weise, wie sie die oralen Traditionen jeweils aktivieren und verändern, historisch zu kontextualisieren.84 Damit ist – unter Bedingungen von vergleichbaren Frage- und Aufgabestellungen – der Aspekt des Aufeinander-Einwirkens, Voneinander-Lernens, Einander-Kopierens, Miteinander-Rivalisierens, Sich-voneinander-Abgrenzens usw. gemeint. Die Konstellationsforschung klärt die Formationsbedingungen einer bestimmten Position vor dem Hintergrund des Tableaus von historisch gegebenen Möglichkeiten und Konfliktlinien. Ich bezeichne den Bezug der Akteure auf solche Konstellationen in den darstellenden Künsten als Interperformativität – in Analogie zum literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität.85 Wenn Vortragskünstler oder Autoren eigene Vortragsweisen entwickeln, so geschieht dies stets mit Rücksicht auf die Koordinaten literarischer Vortragskunst, also die literarischen Vorlagen, das Publikum, den Vortragsraum, die Medien, die den Vortrag verstärken, übertragen oder speichern – doch immer auch mit Rücksicht auf die Konstellation der überlieferten und zeitgleich erfolgreichen Vortragsweisen. An welche mündlichen Vortrags-Traditionen knüpfe ich an, gegen welche ist mein eigener Vortrag gerichtet? Welche wirken ohne mein Wissen hinter meinem Rücken? Solche Fragen erlauben, wesentliche historische Bedingungen der Vortragskunst heraus83 Foley,

Homers Traditional Art (Anm.   81), S. XIV (Preface). Begriff ist von Dieter Henrich für die Philosophiegeschichtsschreibung geprägt worden, besonders für die Genese des Deutschen Idealismus in den 1790er Jahren. Er zielt auf die komplexen „Gesprächslagen“, in deren Kontext sich die einzelnen Konzeptionen entwickelten. Vgl. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991, bes. S.   29–46. 85 Dieser Begriff wurde geprägt von Richard Bauman u. a. in seinem Buch: Verbal Art as Performance, Prospect Heights 1984, vgl. dazu Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   34–39. 84 Dieser

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zuarbeiten – gleichviel ob man dabei ausschließlich schriftliche Quellen zur Hand hat, wie für die Zeit vor 1889, oder darüber hinaus auch noch akustische Dokumente.86 Für eine historische Rekonstruktion der interperformativen Konstellation der Georgeschen Vortragsweisen sind Boehringers Ausführungen umso aufschlussreicher, als er nicht nur eine Skizze der Geschichte der literarischen Vortragskunst seit der Antike entwirft, sondern die von George und seinen Freunden angestrebte Vortragskunst in den zeitgenössischen Kontext miteinander rivalisierender performativer Künste stellt. So sieht er die Stellung des dichterischen Worts in der Öffentlichkeit durch Musik und Theater bedroht.87 Hauptursache dafür sei die Allgegenwart der Musik im öffentlichen und privaten Leben. „Das musikalische Getriebe übertönt heute aufdringlich die edleren Ansätze, lässt das chaotische Gefühl als eine mächtige Welle erscheinen und kein geistiges Leben aufkommen. Musik ist dem Dichterischen feind wie das Dichterische ihr.“88 Die Schärfe dieser Aussage versteht man wohl nur aus dem Bedürfnis einer Abgrenzung gegenüber allem Subjektivismus des nur Gefühls- und Stimmungshaften. Boehringer macht dafür letztlich den Protestantismus der Deutschen und dessen Affinität zur Musik verantwortlich.89 Literarische Vortragskunst wird für Boehringer aber auch durch Schauspieler und professionelle Rezitatoren pervertiert. Diese hätten 86 Mit

diesem Konzept interperformativer Konstellationen glaube ich, den trügerischen Totalisierungen des Schlüsselbegriffs der älteren Forschungen zur literarischen Vortragskunst entgehen zu können, dem Stil-Begriff, vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   2, S.   823. Erste Ansätze zu Forschungen, die sich vom Stilbegriff lösten und damit zur geschichtlichen Dimension vorstießen, wurden im Russischen Formalismus entwickelt, zumal durch den Begründer der russischen Deklamationstheorie Sergej I. Bernštejn, vgl. ebd., S.   828–836. 87 Boehringer, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   6: „Die Dichtung ist ihres öffentlichen Ausdrucks beraubt. Nach dem gesprochenen Wort als der Erscheinung eines dichterischen Gebildes ist bei uns kein Bedürfnis vorhanden, und selbst die zweckmässige Prosarede, deren Vortrag noch geübt wird, weil sie überzeugen oder Kenntnisse vermitteln soll, ist ohne Bildung.“ Vgl. ein entsprechendes Zitat „eines unserer Freunde“, in: George / Wolfskehl, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   79), S.   46. 88 Boehringer, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   6. 89 Ebd., S.   5

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sich dichterischer Texte auf öffentlichen Podien bemächtigt, um sie mit dichtungsfremden Ausdrucksmitteln zu präsentieren. Was Boehringer dazu ausführt, ist scharf gesehen und erlaubt einen Zugang zu den zeitgenössischen Hörkulissen, von denen sich der George-Kreis umstellt sah. Schauspieler und Vortragskünstler läsen „alle unrhythmisch akteurhaft nach der jeweiligen Mode“ und wirkten dadurch, dass sie den ihnen unbekannten Rhythmus durch Stimmungen zu ersetzen suchen. […] Kainz, der ‚anerkannt grösste deutsche Sprecher‘ rasselte Verse gleichsam um Entschuldigung bittend herunter als ob sie Prosa wären und liess ganze Passagen unter den Tisch fallen, um die ihm bedeutend scheinenden Worte recht eindringlich zur Wirkung kommen zu lassen. Andere spielen wie Possart jedes Gedicht als vielstimmiges Drama oder rezitieren gefühlvoll und zerfliessend.90

Boehringer Charakterisierung konvergiert mit dem, was andere Autoren (wie Cäsar Flaischlen und Vilma Mönckeberg-Kollmar) im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts als „illustrierendes Sprechen“ aufs Korn genommen haben.91 Mit einer solchen Theatralisierung der Dichtung hätten die Schauspieler sogar Laien und Schriftsteller – wie Hauptmann, Dehmel und Hofmannsthal – beeinflusst: Das Ergebnis dieses Übergriffs in ein wesensfremdes Gebiet ist das schauspielerische Deklamieren, das jedes Gedicht wie eine oder mehrere Rollen vorspielt und ‚nach der jeweiligen Mode meiningerisch-pathetisch oder naturalistisch-prosaisch‘ ist. Dem deklamierenden Schauspieler ist das Gedicht Material. Statt von dem Gesetze auszugehen, sucht er jede Vorstellung, jeden Begriff und jede Beziehung einzeln zu erfassen, psychologisch zu durchdringen und aus seinem Leben heraus zu verstehen. Hat er jede Einzelheit als Natur­ ereig­nis beobachtet, dann setzt er seine Beobachtungen zu täuschend natür­ lichen Nachahmungen und die nachgeahmten Einzelheiten wieder mosaikartig zum Gedicht zusammen. Er zerschlägt eine Einheit, nimmt jeden Teil als ein Ganzes […].92

An diese Beschreibung mag man sich erinnert fühlen, wenn man Schellack-Platten der ersten Garde der professionellen Rezitatoren nach 1900, 90 Ebd.,

S.   6. Vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   443  f. u. S.   419. 92 Boehringer, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   15. Die von Boehringer zitierte Passage stammt aus George / Wolfskehl, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   79), S.   45. 91

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der Josef Kainz, Josef Lewinsky, Ernst von Possart, Alexander Moissi und Ludwig Wüllner anhört. Man erkennt, wie präzise George und seine Anhänger auf diese damals erfolgreichen Vortragsweisen reagiert haben, und wie erfrischend ihr Neuansatz bei der Rhythmizität der Dichtung und damit der Einheit des Kunstwerks gewirkt haben muss. Ihre Reaktion ist allerdings nicht primär mediengeschichtlich vermittelt, wie man neuerdings unterstellt,93 sie ist vielmehr eine genuin vortragsästhetische und poetologische. Lesungen auf phonographischen Walzen und Schellackplatten hatten vor dem Ersten Weltkrieg noch längst nicht jene öffentliche Resonanz, die sie durch den Rundfunk seit 1928 erhalten sollten. Dass sie gar am Ursprung des Ende des 19. Jahrhunderts sich einbürgernden Vortragsformats der Dichterlesung gestanden hätten, gehört zu den steilen Thesen spekulativer Medientheorie. Boehringer gibt noch einen weiteren Hinweis auf die interperformativen Konstellationen der zeitgenössischen Vortragskunst, wenn er Gegenbewegungen gegen das schauspielerische Deklamieren registriert, vor allem im akademischen Bereich. Hier sei „ein ganz einfaches begriffliches, manchmal metrisches Vorlesen üblich geworden […]. Diese Art vermeidet aber das Dichterische ebenso wie die Mache, und ihr Verdienst ist nur die Abwesenheit des Fehlers.“94 Vermutlich bezieht sich Boehringer hier auf Sprecherzieher und Rezitatoren wie Emil Milan, die – im Widerstand gegen eine schauspielerische Virtuosenkunst – ein metrisch korrektes und „begriffliches Vorlesen“, also ein sinngemäßes Lesen postulierten und damit schon vor dem Ersten Weltkrieg auf Germanistik und Lehrerausbildung wirkten.95 Um die aufgezeigten Irrwege zu vermeiden, stellt Boehringer das dichterische Sprechen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen – und zwar nicht irgendein dichterisches Sprechen, sondern ein solches, wie es George selbst pflegte und bei seinen Schülern anleitete. Er nennt es „rhythmisches Lesen“.96 Dieses verzichte auf die von Schauspie-

93 Vgl.

Maye, Lautlesen als Programm (Anm.   2), bes. S.   234  f. Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   16. – In George / Wolfskehl, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   79), S.   45, wird diese Option der Vortragskunst als „sinngemäss, skandierend (abzählend)“ bezeichnet. 95 Vgl. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   1, S.   440– 446. 96 Boehringer, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   5  f. 94 Boehringer,

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lern missbrauchten Ausdrucksmittel und bringe stattdessen das im Gedicht Angelegte zu Gehör – unter strikter Beachtung der Einheit des Kunstwerks und seiner formalen Aspekte, vor allem von Metrik und Rhythmus.97 Boehringer argumentiert hier, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, mit ähnlichen Argumenten wie eine einflussreiche zeitgenössische Forschungsrichtung in Germanistik, Phonetik und Sprecherziehung, die Leipziger Schallanalyse von Eduard Sievers. Auch Sievers stellte die Möglichkeit einer Vielzahl von gleichermaßen legitimen Vortragsweisen ein und desselben Textes in Frage, da er davon ausging, dass die angemessene Vortragsweise durch den Text und damit durch dessen Autor aufs genaueste fixiert sei. Der Vortragende müsse nur die richtige Sprechhaltung des Textes treffen, um die Stimme des Autors wieder aufleben zu lassen. Denn nur diese sei der Maßstab für einen gelungenen Vortrag.98 Das Dogma von der unbedingten Autorität des Dichters für den Vortrag seiner Gedichte verschränkt sich mit der These einer Determiniertheit des lauten Vorlesens durch den schriftlichen Text. Dementsprechend ist auch nach Boehringer der Dichter der einzige, der „die Richtigkeit einer Hersagung, das heisst also die genaue Einhaltung des Gesetzes“ beurteilen könne, „denn aus der rhythmischen und melodischen Bewegung seiner Seele hat er das Gedicht geschaffen […] und diese Bewegung (das Gesetz) muss ihm beim Lesen oder Anhören seines Gedichtes wieder lebendig werden.“99 Boehringer gesteht allerdings zu, dass der Dichter nicht immer über die angemessenen Ausdrucksmittel verfüge, um Rhythmus und Tonverhältnisse in jedem seiner Gedichte zu treffen, ja er räumt sogar ein, dass ein „wahrer Hersager“, der sein Sprechen in Gewalt hat, dem „bei der Geburt des Gedichtes tätigen Urrhythmus“ mit seinem Hersagen – „kraft seiner natürlichen Begabung“ – näher kommen könne als der Dichter. Doch ändert dieses Zugeständnis nichts an seiner Überzeugung, dass dieser „allein […] den einzigen richtigen Maassstab in sich“ trage.100 97 Ebd., 98 Vgl.

S.   6. Verf., Geschichte der literarischen Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   2, S.   807–

813. 99 Boehringer,

Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   6. S.   7. Boehringer scheint hier auf eigene Erfahrungen mit der Lesung von George-Gedichten in Gegenwart des Dichters anzuspielen: „Es ist vorgekommen, dass Personen, die von der Art eines Dichters seine Verse zu lesen nichts wussten, lasen, als ob sie vom Dichter selbst unterwiesen worden wären, und

100 Ebd.,

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Boehringer verabsolutiert dieses vom Dichter angeleitete „rhythmische Lesen“ zur Norm des Vorlesens von Dichtung schlechthin. Dichter hätten seit der Antike nie anders gelesen – was von Nicht-Initiierten seit jeher als „seltsam und fremdartig“ empfunden worden sei.101 Ein ganzer Parnaß von Autoritäten wird für diese These angeführt, von Platon bis zu Gegenwartsautoren wie Albert Verwey, dem niederländischen Freund Stefan Georges. Dabei beweist Boehringer en passant eine erstaunliche Kenntnis der Diskussionen zur literarischen Vortragskunst in Deutschland, so erwähnt er Ramler, Herder, Goethe, Johann Heinrich Voss, August Wilhelm Schlegel, Hölderlin, Tieck, Brentano, August von Platen, Nikolaus Lenau, Gottfried Keller, Heinrich Leuthold, Albert Verwey – wobei jeweils charakteristische Beschreibungen ihrer Vortragsweise oder einzelne Lese-Anweisungen angeführt werden. Sonderbarerweise geht er dabei auf den eigentlichen Begründer der literarischen Vortragskunst in Deutschland, auf Friedrich Gottlieb Klopstock nicht ein, nennt nicht einmal dessen Namen, obgleich dieser doch die rhythmische Deklamation von Gedichten allererst auf den Weg gebracht hatte.102 dass später die Vorlesung wahllos herausgegriffener Gedichte Rhythmus und Tonverhältnisse nach dem Urteil des Dichters genau traf.“ (Ebd., Anm.   1). – Erst in der 1932 publizierten Schrift ‚Das Leben von Gedichten‘ öffnet Boehringer diese Konzeption, indem er die Möglichkeit einer Mehrzahl von Lesarten ein und desselben Gedichts konzediert, die „gleich und doch verschieden klingen und vielleicht allmählich alle seiten seines wesens [des Gedichts] zeigen, freilich vielleicht auch einige verhüllt lassen […].“ Boehringer, Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   15. 101 Boehringer, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   8), S.   5, Anm. Auch hier wieder ein kaum abgewandelter Passus aus George / Wolfskehl, Über Hersagen von Gedichten (Anm.   79), S.   44. – Boehringer geht zurück bis zu den Dichtern der griechischen Antike, um ihnen – historisch irrtümlich – „ein reines Rezitieren mit dem Lorbeerzweig in der Hand“ zu unterstellen, „das erst bei späteren Rhapsoden in mimisch-schauspielerischen und musikalischen Vortrag ausartete“ (Boehringer, Über Hersagen von Gedichten, S.   5). Dichter wie Archilochos, Sappho, Alkäus u. a. trugen ihre Verse – soweit wir wissen – stets singend vor, sich selber auf der Phorminx begleitend, und auch die von Pindar verfasste Chorlyrik wurde von Kithara-Klängen begleitet, im Übrigen choreographisch aufgeführt. Vgl. Albrecht Dihle: Griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Hellenismus. 2. Aufl., München 1991, S.   49  ff. 102 Und das, obgleich George und Wolfskehl ihn mit 17 Gedichten (eines davon ist ihm irrtümlich zugeschrieben) in den 3. Band ihrer Anthologie ‚Deutsche Dich-

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Viele Züge dieses von Boehringer beschriebenen dichterischen Sprechens mag man in seinen späten Basler Schallplatten-Aufnahmen wiedererkennen, so die starke rhythmische und melodische Bindung, die die Einheit von Vers und Strophe betont, so eine zwischen Sprechen und Singen wechselnde Vortragsart, so eine gewisse Monotonie, wenn man darunter die Abwesenheit von dramatisierenden und illustrierenden Ausdrucksmitteln versteht. Boehringers Aufsatz gibt uns die Möglichkeit, die historischen Konstellationen dieser um 1900 von George und seinen Freunden begründeten Vortragsweise mit ihren interperformativen Bezugnahmen und Abgrenzungen besser zu verstehen. Allerdings fehlt hier signifikanterweise noch eine Begründung des rituellen Grundzugs dieser Vortragsweise und ihrer Bildungsfunktion. Diese kunstreligiösen und pädagogischen Aspekte hat Boehringer in einer kleinen, erstmals 1932 veröffentlichen Schrift ‚Das Leben von Gedichten‘ nachgetragen. Hier wird, was zwei Jahrzehnte früher ein vortragsästhetisch aus der Autorität des Dichters heraus begründetes Programm für das rhythmische Lesen war, zu einem Kompendium von Verhaltensregeln für ein Leben im Medium von Gedichten. Bildung durch die dichterische Sprache – das ist das Ziel dieser unzeitgemäßen Schrift, die ein „kleiner Katechismus des richtigen Lebens“103 ist, einer als Lebenskunst verstandenen Lesekunst. In sieben Abschnitten entwickelt Boehringer in lakonischem Stil eine Lehre der höheren Bildung durch das Gedicht: durch Hören, Lesen, Abschreiben, Auswendiglernen, Hersagen, Deuten und Übersetzen. Mit diesen exerzitienhaften Praktiken könne der Mensch des Vollkommenen, ja, wie Boehringer mit Anklängen an die neutestamentliche Pneumatologie sagt, des Unsterblichen teilhaftig werden: „Ein gedicht zu lesen, ist die erlesenste art auf die der musische mensch dem großen geiste dienen, sein leben veredeln kann.“104 Boehringer diskutiert und argumentiert nicht eigentlich, sondern stellt einen Katalog von in Jahren quasi-liturgischer Praxis gewonnenen Maßgaben auf. Das gemeinschaftliche laute Vorlesen von Gleichgesinnten rückt dabei in den Mittelpunkt. Modell dafür ist der klösterliche Mönchsorden, der die tung‘ aufgenommen hatten. Vgl. George / Wolfskehl, Das Jahrhundert Goethes (Anm.   19), S.   8–20. 103 Braungart, Ästhetischer Katholizismus (Anm.   2), S.   154  ff. 104 Boehringer, Das Leben von Gedichten (Anm.   8), S.   13.

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heiligen Gesänge zum Ruhme Gottes intoniert. Boehringer evoziert das Bild einer Gemeinschaft von Mönchen, die sich abseits der Laien zur Messe versammeln, die desselben geistes voll, einförmig und doch vielstimmig, immer wiederkehrend und doch abstufend, einzeln, abwechselnd, verschlungen und im chor den text halb reden und halb singen, bewußt verzichtend auf das kurze spiel vordergründlicher intellektualität und betriebsamkeit, aber leidenschaftlich flehend daß durch solche hingabe des ganzen wesens an den im gebundenen worte wohnenden großen geist das geheimnisvolle geschehen auch in ihnen sich erfülle: am anfang war das wort und das wort ward fleisch und wohnte unter uns.105

Ästhetischer Katholizismus, Kult und bildende Funktion der Dichtung, Gemeinschaftsethos und Subjektivismuskritik – alle Elemente von Georges Poetik und Vortragslehre sind in diesem Bild versammelt. Die katholische Liturgie wird zum Paradigma für die Vortragskunst. Eine auf den Dichter gerichtete Kunstreligion erfüllt sich im Mysterium des gemeinschaftlich erfahrenen Heils in lesender Runde. In diesen Ritualen wird „das kurze spiel vordergründlicher intellektualität“ zum Schweigen gebracht. Was hätte auch der Verstand des Einzelnen in der übermächtigen Gegenwart des ‚großen Geistes‘ schon vorzubringen? Solche Lese-Exerzitien stellen in der Geschichte der literarischen Vortragskunst in Deutschland eine Art von Vollendung und Umkehr dessen dar, was mit Klopstock auf den Weg gebracht worden war. Vortragskunst begann ja nicht zufällig mit religiös gehaltvollen Texten (wie Klopstocks Oden und dem ‚Messias‘) und war zunächst – im Kontext des aufgeklärten Protestantismus – Teil einer außerkirchlichen Glaubenskommunikation, die auf eine immer weiter sich vergrößernde unsichtbare Kirche von Gleichgesinnten zielte, weshalb auch Vortragskünstler und Laien (darunter Frauen) willkommen waren, die das dichterische Wort aufnahmen und fortpflanzten. Demgegenüber beschränkte sich der George-­Kreis auf die exklusive Pflege des Worts durch eine Gruppe von Ini­tiierten, die keine über die eigene Bildung hinausgehenden Ziele mehr verfolgte. Eine um den Meister versammelte Mönchsgemeinschaft dichtete sich gegenüber einer unverständigen Umwelt ab, um ihre festlichen Vorleserituale zu zelebrieren.

105 Ebd.,

S.   16.

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Ritualität und „gehobenes Lebensgefühl“ von Boehringers Studio-Lesungen stehen in diesem Kontext. Und dieser Kontext mag begründen, weshalb seine Schallplattenaufnahmen heute so fremdartig anmuten. Eine sakralisierende Aufladung des Vorlesens – begleitet von einer sprechmusikalischen Ästhetisierung – war nur möglich durch eine rigorose Abkehr von allen öffentlichen Podien und durch die Beschränkung auf Zirkel von Gleichgesinnten. Boehringer tat einen riskanten Schritt, als er ein Massenmedium wie die Sprechschallplatte zur Fixierung und Verbreitung seiner Lesungen nutzte. Der Gefahr, dass die Platten in die Hände von Uneingeweihten fallen könnten, so sehr er sich um eine Einhegung ihrer Verbreitung bemühte, muss ihm bewusst gewesen sein; dass sie auf Unverständnis stoßen würden, ebenfalls. Einmal in die Welt gesetzt, ließ sich der Benutzerkreis solcher Massenmedien nicht mehr kontrollieren. Diesen Preis war er offenbar zu zahlen bereit, um eine tönende Erinnerung an die „Kulthandlung des Freundeskreises“ zu hinterlassen. IV. Echos Zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme, Ende der 1950er-Jahre, waren Boehringers Lesungen im Kontext professioneller Vortragskunst unzeitgemäß, und sie sollten dies wohl auch sein.106 Ihre luxurierende Musikalität und 106 Einer

der Empfänger von Boehringers George-Rezitation auf Sprechschallplatte war der Literaturwissenschaftler Momme Mommsen. Die Germanistin Katharina Mommsen hörte mit ihm zusammen diese Aufnahmen an. Sie war soeben von einer Vortragsreise aus dem Iran zurückgekehrt und hatte dort erlebt, wie man die großen Dichter des Landes ehrte: „Überhaupt: ist dort von einem Dichter die Rede, so spricht man wie von einem Heiligen – auch der einfachste Mann des Volks. Im Kreise von sehr gebildeten Persern konnte meine Frau es erleben, wie man abendelang über die Auslegung eines Verses von Hafis, von Sadi diskutiert – all das noch ganz lebendig. Nun aber hatte sie dort auch erlebt, wie, gleichfalls von hochgebildeten Persern, Gedichte von Hafis und Sadi vorgetragen wurden. Sie hatte mir schon erzählt, wie ganz ähnlich das der von uns angestrebten Art des Lesens sei. Als sie nun aber Ihre Stimme die Verse des ‚Neuen Reichs‘ vortragen hörte, kannte ihre Überraschung keine Grenzen. Nichts komme jener persischen Art so nahe wie dieses: selbst die Einzelheiten, das Tempo, Stimmlage, Klangfärbung – alles schien ihr in ganz rätselhafter Weise identisch. Nun, des Rätsels Lösung dürfte wohl bei Goethe zu finden sein. Persien ist wohl wirklich noch heute ein ‚Land der Dichtung,

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ihr impliziter Bildungsanspruch standen quer zum Zeitgeist, der sprachliche Klangschönheit des ideologischen Scheins verdächtigte. Boehringers Platten geben ein letztes Echo der Vortragskunst des Kreises, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt wurde. Sie sind in dieser Hinsicht allen anderen älteren George-Rezitationen überlegen, von denen sich Aufnahmen auf Sprechschallplatten erhalten haben, seien es Lesungen des Allround-Sprechers Bruno Schoenfeld aus dem Jahr 1928 (Electrola),107 sei es eine theatralische Deklamation von ‚An die Toten‘ („Wenn einst dies geschlecht sich gereinigt von schande“) in dröhnendem Nazi-Gebrüll durch den Schauspieler und Regisseur Lothar Müthel aus dem Jahr 1935 (AG C. Lindström), sei es eine Aufnahme von ‚Litanei‘ durch den Sprecherzieher und Sprechchorleiter Wilhelm Leyhausen aus dem Jahr 1940 (Electrola), der mit tremolierender Stimme in monotones Leiern verfällt.108 Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten George-Gedichte nicht länger zum Kanon der vorgetragenen Texte auf Vortragspodien, auf Sprechschallplatte und im Rundfunk. George galt weithin als geistiger Wegbe-

der Dichter‘ katexochen, wie Goethe im ‚West-östlichen Divan‘ sagte. Die gleiche Kunstgesinnung und Tradition schafft sich also – auch über die Jahrhunderte hinweg – die gleichen Ausdrucksformen. Das wäre an sich noch nicht so erstaunlich. Was einen aber überrascht, ist, daß in unserer Zeit sich noch derartiges bewahrt. Hier in Europa, jedenfalls in Deutschland, ist doch das Verseverständnis von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr im Schwinden. Die heutige Jugend hat es praktisch nicht mehr. Das erfährt man an den Universitäten.“ Brief von Momme Mommsen an Boehringer vom 13. Juli 1965 (StGA Boehringer III, 24903). Eine solche Parallelisierung von Boehringers Rezitation mit der im Iran üblichen ist in historischer Hinsicht natürlich halsbrecherisch. Doch könnte dieser Kommentar immerhin als Ausgangspunkt geeignet sein, um einmal öffentliche Dichterlesungen hier und dort in interkulturell vergleichender Perspektive zu erforschen. 107 Bruno Schoenfeld sprach für Electrola ‚In meinem Leben rannen schlimme Tage‘ (aus dem ‚Teppich des Lebens‘), ‚Wer je die Flamme umschritt‘ und ‚Gottes Pfad ist uns geweitet‘ (aus dem ‚Stern des Bundes‘) ein. 108 Georges Lyrik war in nationalsozialistischer Zeit durchaus noch lebendig, nicht nur bei seinen Anhängern. So veranstaltete etwa der Intendant Heinz Hilpert an dem von ihm geleiteten Wiener Theater in der Josefstadt am 19. März 1944 eine Morgenfeier, bei der er Texte von George vorlas, wozu Klaviermusik von Schumann erklang, vgl. Michael Dillmann: Heinz Hilpert: Leben und Werk, Berlin 1990, S.   478.

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reiter des ‚Dritten Reichs‘ und damit als persona non grata.109 Nicht nur Publikumssprecher wie Mathias Wieman, Will Quadflieg, Gert Westphal, Ernst Ginsberg und Maria Becker machten einen Bogen um ihn, auch Exzentriker wie Oskar Werner und Klaus Kinski gingen an ihm vorüber. In den einschlägigen Anthologien des Literarischen Archivs der Deutschen Grammophon-Gesellschaft110 oder bei Telefunken und Ariola war George schlichtweg nicht vertreten – anders als Rilke, Hofmannsthal, Trakl, Weinheber und Britting. Eine lebendige Rezeption, sofern es sie gab, spielte sich außerhalb der Öffentlichkeit in Kreisen der George-Anhänger ab.111 Eine erste Schallplatten-Aufnahme eines George-Gedichts nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wohl erst 1965 durch den Freiburger Christophorus-Verlag für schulische Zwecke kommerziell verbreitet. Hier las der Schauspieler Peter Arens mehrere George-­Texte in einer Weise vor, als wolle er alle Vorurteile gegen die Lyrikrezitation in den Händen von Schauspielern bestätigen. Erst die 1980er-Jahre brachten eine Veränderung im Zuge eines neu erwachten Interesses an George und seinem Kreis.112 109 Vgl.

zur George-Rezeption nach 1945 den Artikel von Jürgen Egyptien, in: Stefan George und sein Kreis (Anm.   2), Bd.   2, S.   1016–1044. 110 Deutsche Gedichte. Poesie & Musik aus vier Jahrhunderten (Aufnahmen 1951– 1972). DGG, Hamburg 2001 [5 CDs]. 111 Vgl. den Bericht eines Anonymus über eine George-Lesung von Friedrich Adam, einem Laien-Rezitator aus dem weiteren Umkreis von George-Freunden, in der Wuppertaler Literarischen Gesellschaft am 23. 3. 1946, StGA SoSaB, 01180. F. Adam orientierte sich offenkundig an Boehringers Vortragsmaximen und stieß bei seinen Zuhörern auf völliges Unverständnis. 112 Diese These müsste anhand der Sendungen zu Stefan George in den deutschsprachigen Rundfunkanstalten überprüft werden. So gab es zwar vereinzelte Sendungen nach Kriegsende und in den Jahrzehnten danach, vor allem von Kreismitgliedern, vgl. Neue Beiträge zur George-Forschung (4). Hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Stefan-George-Gedenkstätte im Stefan-George-Gymnasium Bingen e. V., 1979, S.   3–26. StGA 08ZC/37–4.1979. Doch eine intensivere Auseinandersetzung mit Werk und Leben durch Autoren, die nicht zum Kreis gehörten, setzte offenbar erst in den 1980er Jahren ein, vgl. exemplarisch die Sendung, die Gert Westphal für den Südwestfunk am 12. 1. 1985 gestaltete: ‚Soirée: Wer je die Flamme umschritt. Eine – meine Annäherung an Stefan George.‘ Hier sprachen Gert Westphal, Gisela Zoch und Friedrich von Bülow George-Verse, vgl. das Ms. in StGA 08C/1386. – Im Jahr 2005 entstanden Aufnahmen von 25 George-Gedichten durch den in London lehrenden Germanisten Claus Victor Bock, der die Nazi-Zeit in Amsterdam überlebt

Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte131

Parallel zum Verstummen der Georgeschen Vortragskunst jenseits des Kreises seiner Getreuen entstand seit den 1910er Jahren allerdings eine Seitenlinie mit wachsender öffentlicher Resonanz. Grundlegende Ideen des rhythmischen Lesens wurden im akademischen Bereich von Germanisten und Sprecherziehern rezipiert und fanden ihren Weg über die Deutschlehrerausbildung bis in Schule und Gymnasium. Den Anstoß dazu gab der im Umkreis des George-Kreises agierende Hölderlin-Herausgeber Norbert von Hellingrath. Dieser begründete mit Kreis-affinen Argumenten, weshalb Hölderlins Dichtungen laut vorgetragen werden müssten und weshalb dafür nur ein rhythmisches Lesen geeignet sei. Dabei unterstellte er ähnliche vortragsästhetische Ideen, wie sie der junge Boehringer in seinem frühen Aufsatz entwickelt hatte. Was seinen Anweisungen zum Vortrag (in den Vorreden zu seinen Hölderlin-Ausgaben) ihre Durchschlagskraft verlieh, war nicht zuletzt der Bezug auf die neuesten sprachwissenschaftlich-physiognomischen Forschungen der Leipziger Schallanalyse (Eduard Sievers, Ottmar Rutz). Hellingrath brachte damit ein wissenschaftsgestütztes Bündnis zwischen Vortragskunst und Schallanalyse auf den Weg. Dieses für Hölderlins Dichtungen entwickelte Modell einer ‚dichterischen Vortragskunst‘ fand unter Germanisten und Sprecherziehern im Zuge der seit 1914 einsetzenden Hölderlin-Rezeption großen Anklang.113 Spuren dieser Allianz zwischen George-Schule und Schallanalyse im Zeichen Hölderlins lassen sich bis weit bis in die 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgen. Ein Beispiel dafür ist die Rezitatorin, Sprecherzieherin und Autorin Vilma Mönckeberg-Kollmar, von der sich Aufnahmen von Hölderlin-Rezitationen aus den 1920er und 1960er Jahren erhalten haben.114 Diese unterstützte schon 1925 in Zeitungsartikeln Georges Ideen zur Zentralstellung des dichterischen Worts und einer entsprechenden Vor-

hatte (Stefan George – 25 Gedichte, Amsterdam 2005 [CD]. Aufgenommen im Institut für Mediengestaltung in Mainz). Diese Lesungen beeindrucken durch Klarheit und rhythmisch-metrische Genauigkeit, doch kehren sie gegenüber Boehringers ‚rhythmischem Lesen‘ zu traditionellen Formen eines expressiven Vorlesens zurück. 113 Vgl. Verf., Geschichte der Vortragskunst (Anm.   2), Bd.   2, S.   596–610. 114 Vilma Mönckeberg-Kollmar spricht Hölderlins ‚An den Äther‘ (Berliner Laut­ archiv 1929); dies.: Hölderlin: Der Archipelagus, Brot und Wein (1. Strophe), Andenken, Hälfte des Lebens u. a., LP, Hölderlin-Gesellschaft, Tübingen 1977.

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Reinhart Meyer-Kalkus

tragskunst.115 Ihrer späteren Buchpublikation ‚Der Klangleib der Dichtung‘ (1946) legte sie Georgesche Vortragsmaximen zugrunde, etwa dass Dichtung nicht Vorlage für eine persönliche Ausdeutung, nicht Text ist, der einer Klangkomposition durch den jeweiligen Sprecher bedarf, sondern ein Organismus mit eigenen Gesetzen, fertiggeformte Gestalt, bis ins Letzte durchkomponierte Klangfigur; als solche allerdings auf das Medium einer Person angewiesen, um als hörbare Wirklichkeit in Erscheinung zu treten. Sie will sich einer Stimme und eines Mundes bedienen und – wie wir sehen werden – des ganzen Menschen.116

Das war – einmal mehr – ein Echo der Vortragsdoktrinen von George-Kreis und Schallanalyse, mit der charakteristischen Verschränkung der Dimensionen des Sagens und des Sich-Zeigens.117 Im Jahr 1943 trat Mönckeberg-Kollmar zur Feier des 100. Todestags von Hölderlin in Tübingen auf, um Verse von Hölderlin, u. a. den ‚Archipelagus‘ zu rezitieren.118 Zwanzig Jahre später wiederholte sie diese Rezitation im Rahmen der Berliner Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft. Zuhörer dabei war u. a. der Philosoph Theodor W. Adorno, der selbst dort einen Hauptvortrag über Hölderlin gehalten hatte. In einem privaten Schreiben vom 10. Juni 1963 lobte er die Rezitatorin, „daß Ihre Sprechweise nicht den leisesten Anklang an die Georgesche Manier verriet, die gerade Hölderlin zu monopolisieren drohe“. Vor allem die ‚Archipelagus‘-Rezitation fand seine ungeteilte Zustimmung.119 Adornos Urteil war zutreffend insofern, als Möncke115 Vgl.

Vilma Mönckeberg-Kollmar: Chorisches Sprechen. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt 213, 1925. 116 Vilma Mönckeberg: Der Klangleib der Dichtung, Hamburg 1946, S.   7  f. 117 Einen ähnlichen Ansatz wie Mönckeberg-Kollmar verfolgte der Sprecherzieher Friedrichkarl Roedemeyer, der 1925 für die Carl Lindström AG Hölderlins Kurzgedicht ‚Abbitte‘ einsprach – die älteste uns erhalten gebliebene Aufnahme einer Hölderlin-Rezitation. 118 Mündliche Mitteilung von Ingrid Strohschneider-Kohrs (München) dem Verf. gegenüber. 119 „Was ich am meisten daran bewundere, war, wie Sie zwischen Szylla und Charybdis hindurchsteuerten – daß Sie auf der einen Seite alles deklamatorische Pathos strikt vermieden, auf der anderen aber doch nicht in eine Art von Sachlichkeit verfielen, die mit dem weitgespannten Hymnus nun einmal nicht zu vereinbaren wäre. Es war, wenn ich es so sagen darf, eine Leistung des außerordentlichen Taktes.“ Theodor W. Adorno an Vilma Mönckeberg-Kollmar am 10. Juni 1963, abgedruckt in: Begleittext der von der Hölderlin-Gesellschaft

Robert Boehringers Hölderlin- und George-Lesungen auf Sprechschallplatte133

berg-Kollmars Rezitation nichts von dem feierlich-rituellen Sprechen der George-Schule hatte, vielmehr expressiv belebt war. Ihm blieb freilich verborgen, dass sich ihre textgenaue rhythmische Rezitation einer produktiven Rezeption der Vortragsmaximen von George und seinem Kreis verdankte. Seine Befürchtung, die Georgesche Manier sei dabei, die Hölderlin-Rezitation zu dominieren, ist vortragsgeschichtlich kaum mehr nachzuvollziehen, denn von Schauspielern und professionellen Rezitatoren war sie nicht aufgenommen und nachgeahmt worden. Entweder hatte Adorno Vorlesepraktiken in privaten Freundeskreisen im Ohr, oder aber er zielte – mit einer versteckten Pointe – auf Heideggers Hölderlin-Lesungen, die als Schallplatte freilich erst ein Jahr später in Umlauf kamen. Heidegger trug Hölderlins Verse – an Hellingrath anknüpfend – noch einmal mit starker rhythmisch-melodischer Bindung bis hin zum Psalmodieren vor.120 Die Polemik gegen Heidegger und der Versuch, die Ausstrahlung von dessen Werk einzuhegen, waren in diesen Jahren eines von Adornos Leitmotiven. Wenn man nach Echos der Vortragskunst des Kreises fragt, muss man sich also auf verschlungene Rezeptionswege gefasst machen. Vor allem in den Hölderlin-Rezitationen von Germanisten und Sprecherziehern wird man Spuren finden,121 während George-Rezitationen jenseits der exklusiven Freundeskreise offenbar terra incognita blieben. Die wenigen Autoren, die nach 1945 ihre Gedichte mit starker rhythmisch-melodischer Bindung vorlasen, wie etwa Wilhelm Lehmann, Peter Huchel oder Paul Celan, sind mit den Georgeschen Vortragspraktiken, wie es scheint, nicht in Berührung gekommen. Paul Celan verdankte seine melodische Vortragsweise sprachlichen und kulturellen Anregungen seines Herkunftsmilieus in der Bukowina; nachdem er auf massives Unverständnis bei seinen sprachlich und kulturell anders sozialisierten Dichterkollegen im Westen gestoßen war, stimmte er sie merklich herab. herausgegebenen Sprechschallplatte mit der Rezitation von Hölderlins ‚Archipelagus‘ (Anm.   114). Zur George-Rezeption durch den Komponisten Adorno vgl. Dieter Martin: Musikalische Rezeption, in: Aurnhammer, Stefan George und sein Kreis (Anm.   2), Bd.   2, S.   949. 120 Martin Heidegger liest Hölderlin (10 Gedichte), LP, Neske-Verlag, Pfullingen 1963. 121 Bis hin zu den Hölderlin-Rezitationen von Bernhard Böschenstein auf der CD ‚Hölderlin, Hälfte des Lebens, Brot und Wein u. a.‘, Castrum Peregrini, Amsterdam 2007.

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Reinhart Meyer-Kalkus

Dieser historische Kontext der 1950er und 1960er Jahre beleuchtet einmal mehr die Ausnahmestellung von Boehringers George- und Hölderlin-Aufnahmen. Sie sind das einzige akustische Zeugnis für die von George angeleiteten Vortragsweisen. Sie haben einen darüber hinausgehenden vortragsgeschichtlichen Aufschlusswert. Historiker der literarischen Vortragskunst müssen ja ein gewisses Maß an historischer Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen, was die detaillierten Beschreibungen von Lesungen und Rezitationen aus vor-phonographischer Zeit schriftlich evozieren. Ich möchte hier eine persönliche Erfahrung anführen: Während der Arbeit an meinen Buch ‚Geschichte der literarischen Vortragskunst‘ (2020) erschienen mir Boehringers Lesungen als eine der wenigen verfügbaren Optionen, um einen akustischen Eindruck von einer starken rhythmisch-melodischen Bindung des Verssprechens bis hin zum Sprechgesang zu erhalten. Wenn mir auch beim Studium der schriftlichen Quellen mehr und mehr klar wurde, dass das, was Klopstock und Johann Heinrich Voss als „rhythmisches Deklamieren“ und Karl Philipp Moritz als „beredten Gesang“ bezeichneten, vermutlich anders geklungen haben mag, so unzweideutig schienen mir doch einige Züge von Boehringers Lesungen (wie das rhythmische Lesen, die melodische Bindung und das Portament der Stimme) zumindest die Richtung anzudeuten, in der wir präzisere auditive Vorstellungen von diesen Vortragsweisen nach 1770 entwickeln müssten. Boehringers Aufnahmen als Hörrohr in den Überlieferungsraum eines älteren Dichtungssprechens? Warum nicht, wenn man sich bewusst bleibt, dass dieses Hörrohr einen entschieden Georgeschen Zuschnitt hat.

Christin Krüger

Architektonische Tiefe und weiße Flächen. Stefan Georges und Melchior Lechters bibliophile Übertragung von Mallarmés ‚Herodias‘ Unter den Werken Stéphane Mallarmés muss die ‚Hérodiade‘, erstmals 1869/71 in ‚Le Parnasse contemporain‘ als Szenen-Fragment erschienen,1 wohl den größten Eindruck auf den angehenden Lyriker Stefan George gemacht haben. Dies legt nicht nur eine Erinnerung des belgischen Symbolisten Albert Mockel nahe, der den stillen George – „bei aller Verehrung für den Dichter der ‚Hérodiade‘“2 – gleichwohl nur wenige Male zu den Mardis in der Pariser Rue de Rome, den berühmten Dienstagabendtreffen um Mallarmé, angetroffen hat. Vor allem die Umdichtung ‚Herodias‘ bezeugt Georges Faszination für das dramatische Gedicht. Bereits im August 1893 hatte er in der ‚Lobrede auf Mallarmé‘ eine kurze Passage der ‚Hérodiade‘ auf Deutsch vorgelegt.3 Erst sieben Jahre später zeichnet sich die Arbeit an einer vollständigen Übertragung ab. Am 29. April 1900 schreibt sein Künstlerfreund Melchior Lechter: „WOLLEN SIE MIR NICHT BALD DAS GANZE ‚HERODIA FRAGMENT‘ ÜBERREICHEN […]? ICH MÖCHTE MIR EIN KLEINES

 1 Mallarmé

arbeitete von 1864 bis zu seinem Tod 1898 immer wieder am ‚Hérodiade‘-Projekt, das zuerst als dreiaktige Tragödie geplant, dann als „poème“ geschrieben und schließlich von ihm als ‚Les Noces d’Hérodiade. Mystère‘ betitelt wurde. Der Text besteht aus mehreren, teils Fragment gebliebenen Partien. Davon ist die ‚Scène‘ die einzige Partie, die zu Mallarmés Lebzeiten, insgesamt drei Mal, veröffentlicht wurde. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte vgl. ausführlich Peter Szondi: Studienausgabe der Vorlesungen. Hg. von Jean Bollack mit Henriette Beese u. a. 5 Bde. Bd.   4: Das lyrische Drama des Fin de siècle, Frankfurt a. M.   21991, S.   36–40 und S.   100–118.  2 Albert Mockel: Pariser Erinnerungen. In: Neue Zürcher Zeitung, literarische Beilage Nr.   1249, 8. Juli 1928, S.   1  f. Zit. nach Bernhard Zeller (Hg.): Stefan George. 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N., Stuttgart 1968, S.   49.  3 Vgl. [Stefan George:] Dichterköpfe. III Mallarmé. In: Blätter für die Kunst 5, 1893, S.   134–137, hier S.   136.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-005

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Christin Krüger

KOSTBARES BUCH DAVON MACHEN“,4 und George offenbart kurz darauf: „Herodias – habe ich um frei zu sagen mit der eigensüchtigen neben-absicht übertragen daraus mit Ihrer hülfe eine schöne kleine Blätter f·d·K-ausgabe herzustellen.“5 So kommt es denn auch: Im April 1905 erscheint die ‚Herodias‘ in nur neun und von dem Buchkünstler Lechter überaus aufwendig gestalteten Exemplaren. Die Übersetzung der ‚Hérodiade‘, die George wenige Monate später zudem im zweiten Band der ‚Zeitgenössischen Dichter‘ veröffentlichte,6 rief beim damaligen Publikum nur ein schwaches, wenn auch überwiegend positives Echo hervor.7 Der eher kritische Oskar Loerke, damals noch Student, notiert 1905 in seinem Tagebuch, dass Georges ‚Herodias‘ „Stellen allertiefster Poesie [aufweist], das Ganze aber“, so Loerke weiter, „widerspricht meinem Geschmacke, weil es nicht stilvolle Nachahmung der Natur ist, sondern ein höchster Typus von Manier im Goetheschen Sinne.“8 Die Forschung, deren Beschäftigung mit der ‚Herodias‘ bis heute spärlich geblieben ist,9 stört sich desgleichen an Georges Wahl einer Umdichtung und -deutung. So meint Bernhard Böschenstein, dass George die ‚Hérodiade‘ als „heidnische Versinnlichung“ begreife, während sie doch im Gegenteil die „Selbstbewegung einer leeren Transzendenz“ sei.10  4 Melchior

Lechter an Stefan George, 29. 4. 1900. In: Dies.: Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Günter Heintz, Stuttgart 1991, S.   123  f., hier S.   123. Sofern nicht anders angegeben, folgen Hervorhebungen in Zitaten grundsätzlich der Vorlage.  5 George an Lechter, 1. 5. 1900. In: ebd., S.   125  f., hier S.   125.  6 Vgl. Stéphane Mallarmé: Herodias. In: Stefan George: Zeitgenössische Dichter. Übertragungen. Zweiter Teil, Berlin 1905, S.   35–42.  7 Vgl. Jutta Schloon: Zeitgenössische Dichter. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   1, Berlin – Boston 22016, S.   269–290, hier S.   287  ff.  8 Zit. nach Zeller (Hg.), Stefan George (Anm.   2), S.   195. Der Eintrag wurde nicht mit aufgenommen in: Oskar Loerke: Tagebücher 1903–1939. Hg. von Hermann Kasack, Heidelberg – Darmstadt 1955.  9 Vgl. Manfred Gsteiger: Französische Symbolisten in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende (1869–1914), Bern – München 1971, S.   188–192. Erst 2016 hat Mario Zanucchi eine neuere, eingehende Analyse der ‚Hérodiade‘-Übersetzung vorgelegt. Vgl. ders.: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923), Berlin – Boston 2016, S.   161–175. 10 Diskussionsbeitrag von Bernhard Böschenstein zu: Roger Bauer: Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. In: Eckhard Heftrich / Paul Gerhard Kluss

Architektonische Tiefe und weiße Flächen137

Noch seltener als dem Text hat man sich in der literaturwissenschaftlichen Rezeption bisher dem eigens für die ‚Herodias‘ hergestellten Buch zugewandt.11 Gerade dieser dinglich-buchförmigen Seite der Übertragung sollte jedoch besonderes Augenmerk gelten, wenn man bedenkt, dass auch Mallarmé zusammen mit Édouard Manet zwei Bücher anfertigte und zuletzt sogar eine Illustration der ‚Hérodiade‘ plante.12 Denn mitnichten ist das Schaffen des französischen Dichters allein der „leeren Transzendenz“ verschrieben. Mallarmé hat sich in seinem Spätwerk verstärkt mit der materiellen Gebundenheit von Literatur und medien­ ästhetischen Fragen befasst. Selbst in der ‚Hérodiade‘ lässt sich mit Peter Szondi diese „Zuwendung zu Realien“13 beobachten. Es bietet sich also an, auch die buchmaterielle Realisierung der ‚Herodias‘ als Übersetzungsleistung zu lesen und zu verstehen. So geht die hier vorgeschlagene Lektüre von der These aus, dass die Gestaltung der ‚Herodias‘ nicht nur Elemente des Textes aufnimmt und verarbeitet, sondern die Buchreflexion respektive Buchmystik Stéphane Mallarmés fortschreibt.

mann / Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Stefan George Kolloquium, Köln 1971, S.   160–177, hier S.   173. 11 Eine Ausnahme bildet die Forschung von Cornelia Ortlieb. Vgl. dies.: Englisch zum Vergnügen. Die dritte Dimension der Übersetzung bei Mallarmé, Whistler und George. In: Giulia Agostini (Hg.): Mallarmé. Begegnungen zwischen Literatur, Philosophie, Musik und den Künsten, Wien 2019, S.   111–138, hier S.   126–129; dies.: Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance · Verse unter Umständen, Dresden 2020, S.   207–221; dies.: Augenfällige Berührungen, sichtbare Klänge. Stefan Georges Mallarmé-Buch. In: Stephanie Catani / Jasmin Pfeiffer (Hg.): Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität, Berlin – Boston 2021, S.   39–58. Vgl. in Ansätzen auch Zanucchi, Transfer und Modifikation (Anm.   9), S.   170. 12 In diesem Sinne ist Ludwig Lehnen unbedingt zuzustimmen, der hinsichtlich der Bedeutung Mallarmés für George schreibt: „[G]erade in der in Zusammenarbeit mit Melchior Lechter entstandenen Publikationsgestaltung der Herodias folgte er Mallarmés Vorbild, der gemeinsam mit Manet kostbare Broschüren […] verfertigte. Neben der außergewöhnlichen Prunkausgabe der Herodias ist schon die Rarität der Übersetzungen ein Zeichen der Verehrung.“ Ders.: Baudelaire-Übertragungen. In: Jürgen Egyptien (Hg.): Stefan George – Werkkommentar, Berlin – Boston 2017, S.   712–725, hier S.   724. Zur ‚Hérodiade‘Illus­tra­tion vgl. Mallarmés Brief an den Verleger Ambroise Vollard, 15. 9. 1897. In: Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Hg. von Bertrand Marchal. 2 Bde. Bd.   1, Paris 1998, S.   817. 13 Szondi, Das lyrische Drama (Anm.   1), S.   137.

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Christin Krüger

Die ‚Herodias‘-Ausgabe von George und Lechter erweist sich buchstäblich als ein Druckbild, das einen dreidimensionalen Raum suggeriert, mithin das Druckwerk transzendieren will, und doch den Blick auf die papierene Oberfläche lenkt.14 Sie verheißt das Ideal ‚geistig-visueller Tiefe‘, das im nachromantischen metaphysischen Denken der Zeit Georges steht,15 und durchkreuzt gleichzeitig die imaginative Versenkung, indem ihre graphische Gestalt nicht minder die zweidimensionale Fläche der Schrift thematisiert. Mit der Ambivalenz zwischen Tiefe und Fläche erinnert die Machart der ‚Herodias‘ an eine Anschauung des Mediums Buch, wie man sie sowohl in Mallarmés kritischer Prosa zur Lesekultur als auch in seinen poetischen Werken antrifft: Das Buch ist ihm ein „geistiges Instrument“,16 und dennoch drängt sich die Materialität der Schrift und des Schreibens in seiner Dichtung unablässig auf. Auf den folgenden Seiten soll es darum gehen, das opulente ‚Herodias‘-Artefakt nicht allein als Indiz besonderer Mallarmé-Verehrung anzusehen, wie dies Ludwig Lehnen vorschlägt,17 oder es lediglich in den Kontext der europäischen Buchkunstbewegung um 1900 zu stellen,18 sondern als mehrdimensionale Übersetzung wahrzunehmen. Dafür widmet sich der erste Teil Stéphane Mallarmés Gedanken zum Medium und zur Kultur des Buchs, die er 1897 in dem Band ‚Divagations‘ versammelte. Im Anschluss wende ich mich dem „Rarissimum der neueren deutschen Literatur“19 zu und gehe zuerst – mit einem literaturgeschichtlichen Seitenblick auf Joris-Karl Huysmans’ Roman ‚À rebours‘ – der Frage nach, warum George und Lechter gerade der ‚Hérodiade‘ einen edlen Sonderdruck schenkten. Zuletzt soll anhand 14 Damit

beziehe ich mich auf Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes „West-östlichen Divan“, Stuttgart – Weimar 1994, S.   4–19. 15 Vgl. zum Begriff der Tiefe Inka Mülder-Bach: Tiefe: Zur Dimension der Romantik. In: Dies. / Gerhard Neumann (Hg.): Räume der Romantik, Würzburg 2007, S.   83–102, hier S.   84–92. 16 Stéphane Mallarmé: Le livre, instrument spirituel / Das Buch, geistiges Instrument. In: Ders.: Werke. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. 2 Bde. Bd.   2: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Übers. von Gerhard Goebel, Gerlingen 1998, S.   254–263. 17 Vgl. Lehnen, Baudelaire-Übertragungen (Anm.   12), S.   724. 18 Vgl. hierzu Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000, Göttingen 2011, S.   283  ff. 19 Zeller (Hg.), Stefan George (Anm.   2), S.   195.

Architektonische Tiefe und weiße Flächen139

des Schriftbilds, der Ornamentik sowie der Farbigkeit die Tiefenästhetik der ‚Herodias‘ dargelegt werden, in welche die materiale Fläche des Buches interveniert. I. ‚Quant au livre‘: Stéphane Mallarmé und die (Un-)Tiefen des Buchs „Mallarmé“, so schreibt 1927 sein Schüler und Weggefährte Paul Valéry, war „der Anlaß, daß sich in Frankreich der Begriff des schwierigen Autors bildete. Er führte in die Kunst ausdrücklich die Verpflichtung zu intellektueller Anstrengung ein und verlieh dadurch dem Vorgang des Lesens eine neue, höhere Würde.“20 Diese Aufwertung und Re-Konturierung des Lesens als mühsame, unerschöpfliche und vor allem auch exklusive Praxis ist nicht nur eine Beobachtung der Mallarmé-Leser:innenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert.21 Der Dichter hat die Nobilitierung der Poesie-Lektüre selbst zeitlebens in seinen kritischen Schriften propagiert und dabei immer wieder den Buchmarkt ins Visier genommen. Schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen, dem Artikel ‚Hérésies artistiques. L’art pour tous‘ (1862), beklagt Mallarmé aufgrund der Massenproduktion, zunehmenden Alphabetisierung und des eklektizistischen Bildungskonzepts im Second Empire die „Popularisierung“ der Dichtkunst.22 „Ô fermoirs d’or des vieux missels! ô hiéroglyphes inviolés des rouleaux de papyrus!“/„Oh Goldschließen der alten Meßbücher! Oh unbetastete Hieroglyphen der Papyrusrollen!“,23 rühmt er dort jene alten Schriftwerke, die sich im Gegensatz zu den billig hergestellten

20 Paul

Valéry: Brief über Mallarmé. In: Ders.: Über Mallarmé. Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Übers. von Dieter Steland und Elmar Tophoven, Frankfurt a. M.   1992, S.   21–33, hier S.   28. 21 In jüngerer Zeit erscheinen dagegen vermehrt Studien, welche die egalitäre Seite an Mallarmés Dichtung aufzeigen. Vgl. Anna Sigrídur Arnar: The Book as Instrument. Stéphane Mallarmé, The Artist’s Book, and the Transformation of Print Culture, Chicago – London 2011; Stefan Ripplinger: Mallarmés Menge, Berlin 2019. 22 Stéphane Mallarmé: Hérésies artistiques. L’art pour tous / Artistische Irrlehren. Die Kunst für alle. In: Ders., Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   20–29, hier S.   29. Vgl. auch Bettina Rommel: Mallarmé: Lesestrategien in einer Massenkultur. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58, 1985, S.   166–185, hier S.   168–171. 23 Mallarmé, Hérésies / Irrlehren (Anm.   22), S.   20/21.

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Christin Krüger

Druckwaren seiner Zeit als „mystère“24 vor Augen stellen und nicht für jeden „profanateur“25 zugänglich sind. Konfrontiert mit einem stetig wachsenden literarischen Publikum, einer auch durch die Massenpresse veränderten Lesekultur sowie dem Bedeutungsschwund der meist buchförmigen Poesie, wendet sich Mallarmés Denken und Schreiben kontinuierlich rezeptionsästhetischen Fragen zu, besonders der Medialität und Materialität des Buchs. Werke wie das Poem ‚Un coup de dés jamais n’abolira le hasard‘ (1897) und die fragmentarische ‚Le livre‘-Phantasie26 sind später künstlerischer Ausdruck dieser Auseinandersetzung. Sie geben den Anlass, dass man den Schriftsteller heute einen „Visionär des Buchs“27 nennt, der – so Monika Schmitz-Emans – gemeinsam „mit wenigen anderen Pionieren […] das Buch als poetisches Medium [entdeckt]“28 hat. Abseits dieser berühmten Buch-Arbeiten hat Mallarmé in der ersten Hälfte der 1890er Jahre aber auch Essays publiziert, in denen er Reflexionen zum Buch als Objekt und Medium anstellt und ansatzweise einen Begriff, gar eine Metaphysik des Buchs formuliert.29 Unter der Rubrik ‚Quant au livre‘ (‚Das Buch betreffend‘) vereint er 1897 die drei Artikel ‚L’action restreinte‘, ‚Étalages‘ und ‚Le livre, instrument spirituel‘ in dem programmatisch betitelten Band ‚Divagations‘, zu Deutsch: „Abschweifungen“, „Phantastereien“. Es sei eines der Bücher, wie er sie nicht liebe: „ceux épars et privés d’architecture“ / „hingestreut und bar

24 Ebd.,

S.   20. Ebd., S.   24. 26 Vgl. zu diesem Projekt u. a. Jacques Scherer: Le „Livre“ de Mallarmé. Premières recherches sur des documents inédits, Paris 1957; Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979– 1980. Hg. von Éric Marty. Übers. von Horst Brühmann, Frankfurt a. M.   2008, S.   284  ff. 27 Monika Schmitz-Emans: Buchvision, Entfaltungskunst und Papierbastelei bei Stéphane Mallarmé. In: Dies. (Hg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium, Berlin – Boston 2019, S.   199–207, hier S.   202. 28 Ebd., S.   199. 29 Zum metaphysischen Buch-Konzept Mallarmés vgl. Barthes, Vorbereitung des Romans (Anm.   26), S.   286; Alois M. Haas: „In angello cum libello  …“. Kleine Metaphysik des Buches. In: Andreas Gardt / Mireille Schnyder / Jürgen Wolf (Hg.): Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin – Boston 2011, S.   99–116, hier S.   109–112. 25

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jeder Architektur“,30 gesteht er gleich zu Beginn der Vorrede selbstkritisch. Der erste Satz der Prosasammlung markiert nicht nur Mallarmés „Ehrgeiz zum Buch“.31 In dem Bekenntnis kündigt sich überdies an, dass er das Medium Buch wesentlich räumlich versteht.32 Während sich der von ihm beklagte Mangel an Architektur hier zwar rein metaphorisch auf den angeblich inexistenten Bauplan der ‚Divagations‘ bezieht, wird spätestens in ‚Le livre, instrument spirituel‘ deutlich, dass Mallarmé die Räumlichkeit des Buchs auch in physischer Hinsicht interessiert, und zwar in Form der Papierfalze. Ausgangspunkt seiner zuerst 1895 in der Zeitschrift ‚La Revue blanche‘ publizierten Überlegungen ist dabei die Konkurrenzbeziehung zwischen Buch und populärer Tageszeitung. In einer dichten und provozierend inkonsistenten Prosa notiert Mallarmé, „comment ce lambeau diffère du livre, lui suprême“/„wie dieser Fetzen vom Buch, ihm dem höchsten, differiert“,33 und nimmt dafür die materielle Beschaffenheit der beiden Druckwerke in den Blick. Woran es dem Zeitungsfetzen demnach mangelt, ist nicht nur buchstäblich das Gewicht, sondern die (Viel-)Faltigkeit: Le pliage est, vis-a-vis de la feuille imprimée grande, un indice, quasi religieux: qui ne frappe pas autant que son tassement, en épaisseur, offrant le minuscule tombeau, certes, de l’âme. Die Faltung ist, gegenüber dem großen bedruckten Blatt, ein quasi religiöses Indiz: das nicht sosehr [sic] auffällt wie ihre dichte Anhäufung, darbietend das winzige Grab, sicherlich, der Seele.34 30 Stéphane

Mallarmé: Aus den Divagations. In: Ders., Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   130  f., hier S.   130/131. 31 Barthes, Vorbereitung des Romans (Anm.   26), S.   290. Hervorhebung von der Verf. entfernt. 32 In seinen Buchreflexionen gebraucht Mallarmé wiederholt architektonisches Vokabular, etwa in einem Brief an Paul Verlaine, 16. 11. 1885: „un livre qui soit un livre, architectural et prémédité, et non un recueil des inspirations de hazard [sic]“/„ein Buch ist ein Buch, architektural und wohlüberlegt, und nicht eine Sammlung zufälliger Eingebungen“ (Mallarmé, Œuvres complètes. Bd.   1 [Anm.   12], S.   786–790, hier S.   788; Übersetzung von der Verf.), oder in ‚Crise de vers‘ (1897), wenn er von der „ordonnance du livre de vers“, der „Bauordnung des Versbuches“, spricht. Stéphane Mallarmé: Crise de vers / Vers-Krise. In: Ders., Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   210–231, hier S.   224/225. 33 Mallarmé, Le livre / Das Buch (Anm.   16), S.   254/255. 34 Ebd.

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Jene Faltung ist in Mallarmés Augen das zentrale, „quasi religiöse“ und leicht zu übersehende Merkmal, welches die Majestät und Relevanz des Buchs begründet. Der Gedanke mag zunächst verwundern, da auch Zeitungsbögen fraglos über Falzkanten verfügen. Im Vergleich zur dünnen Zeitung profitiert das Buch aber davon, dass die „dichte Anhäufung“ der Falten, also die Schichtung der gefalzten, oftmals noch unbeschnittenen Seiten, einen dreidimensionalen Raum bildet, den der Dichter sogar genau benennt: als „winzige[s] Grab […] der Seele“. Aus dem Buchblock entsteht bei Mallarmé somit eine ‚tiefe‘ Ruhestätte, mit der Dina Blanc in ihrer Lektüre des Textes die Erbauungsfunktion der Literatur assoziiert.35 Der zu einem Quader verdichtete, schrein- oder sargähnliche Codex bedeutet dem Dichter einen Ort stiller Sammlung, der eine kontemplative Rezeptionshaltung förmlich erzwingt. Folgt man Mallarmés materialästhetischer Logik, dann garantieren Bücher den Leser:innen Versenkung, weil sie selbst vertieft sind. Das wiederholt im Text gebrauchte Wort „reploiement“,36 das sowohl das Übereinander-Gefaltete als auch das mentale Andächtig-Sein bezeichnet,37 ist ein zusätzlicher Fingerzeig auf dieses Ähnlichkeitsverhältnis. Denn auch in ‚L’action restreinte‘ figuriert Mallarmé das Buch als einen Ort, „où vit l’esprit satisfait“/„worin der Geist befriedigt lebt“ und in dem „[l]e sens enseveli se meut“/ „[d]er vergrabene Sinn sich regt“.38 Ob er hierbei das Buch als Pforte zu übersinnlicher Bedeutung, innerer Einkehr oder als Begegnungsort mit dem poetischen Geist und Schöpfer versteht,39 die Lektüre von ‚Quant

35 Vgl.

Dina Blanc: Mallarmé on the Press and Literature: „Étalages“ and „Le Livre, instrument spirituel“. In: French Review 71, 1998, H.   3, S.   414–424, hier S.   420. 36 Mallarmé, Le livre / Das Buch (Anm.   16), S.   256 und S.   260. 37 Vgl. den Eintrag zu ‚reploiement‘ im Wörterbuch ‚Le Grand Robert de la langue française‘. URL: https://grandrobert.lerobert.com [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. 38 Stéphane Mallarmé: L’action restreinte / Beschränktes Handeln. In: Ders., Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   232–241, hier S.   238  f./239  f. 39 In Mallarmés ‚Vers de circonstance‘ findet sich etwa ein Widmungsgedicht, in dem er einen geschenkten Poe-Band mit dem Grab des Schriftstellers gleichsetzt: „Louÿs / ta main frappe au / Sépulcre d’Edgar Poe.“ / „Louÿs / deine Hand klopft so / an das Grab von Edgar Poe.“ Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance. Hg. von Bertrand Marchal, Paris 1996, S.   142. Übersetzung von Cornelia Ortlieb. Vgl. für weitere Grab-Metapher-Beispiele Joachim Schulze:

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au livre‘ macht augenfällig, dass die Buchkonzeption Mallarmés von seinem ‚esoterischen‘ Idealismus getragen ist.40 Die Papierfalze avancieren in dem schwärmerischen, neoromantischen Nachsinnen über das Buch immer wieder zu Vorboten einer Erfahrung des ‚Wunderbaren‘. Um das Medium als Hort spiritueller Tiefe zu verteidigen, konstruiert Mallarmé über sie ein Außen und Innen des Buchs und legitimiert so die Idee, dass das Buch ein ‚Instrument‘ des Imaginären und Geistigen sei. Erst durch die „intervention du pliage“/ „die Operation der Falzung“, schreibt er, kann es „une feuille fermée“/ „ein geschlossenes Blatt“ geben, das „un secret“/„ein Geheimnis“ enthält,41 was er in Anbetracht der sonst ‚grundlosen‘ schwarzen Lettern nochmals bekräftigt: Oui, sans le reploiement du papier et les dessous qu’il installe, l’ombre éparse en noirs caractères, ne présenterait une raison de se répandre comme un bris de mystère, à la surface, dans l’écartement levé par le doigt. Ja, ohne die Übereinanderfaltung des Papiers und die Tiefen, die sie herstellt, würde der in schwarzen Typen verstreute Schatten keinen Grund vorweisen, sich wie ein Geheimnisbruch an der Oberfläche auszubreiten, in der Spreizung, die der Finger auftut.42

Poesie ist in dieser Perspektive nicht ohne das Buch zu denken, da die gedruckte Schrift ihren geheimnisvollen Wert erst aus der dunklen Falz bezieht. Das Auseinanderspreizen der Seiten mit dem Finger kommt damit sinnbildlich auch der Entfaltung von Bedeutung gleich, deren (Un-)Ergründlichkeit die Buchfalte manifestiert.43 Mallarmés Ptyx und der „sens réel“. In: Poetica 27, 1995, H.   1/2, S.   113–148, hier bes. S.   124  ff. 40 Vgl. zu Mallarmés Esoterik-Affinität Alain Mercier: Les sources ésoteriques et occultes de la poésie symboliste (1870–1914). 2 Bde. Bd.   1: Le symbolisme français, Paris 1969, S.   123–144. 41 Mallarmé, Le livre / Das Buch (Anm.   16), S.   256/257. 42 Ebd. Hervorhebung und leichte Änderung in der deutschen Übersetzung von der Verf. 43 Siehe zu Mallarmés Poetik der Faltung auch seine (erotisch kodierte) Fächer-Kunst. Vgl. dazu Cornelia Ortlieb: Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé. In: Jörg Paulus / Renate Stauf (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin – Boston 2013, S.   307–329; Angelika Jacobs: Stimmungskunst von Novalis bis Hofmanns­ thal, Hamburg 22016, S.   291–299.

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Konkrete und figurative Räumlichkeit überblenden sich permanent in Mallarmés Versuch, das Buch als ästhetisches Objekt zu fassen. Der Autor besetzt den Codex mit einer Semantik von Tiefe, die in der westeuropäischen Tradition einen ursprünglichen Seelen- und Wesensgrund verheißt.44 Er partizipiert damit an einer mystisch-metaphysischen Tiefenvorstellung, wie sie sich in der Frühromantik verfestigt und der zufolge ‚Sinn‘ als etwas Innen- oder Dahinterliegendes existiert.45 Die materialgebundene Struktur des Buches stellt Mallarmé, fast schon pa­ro­distisch priesterlich, in den Dienst einer idealistischen Tiefe des Seins. Doch sein Idealismus erweist sich bekanntlich als krisenanfällig und so lässt sich in seinen Betrachtungen beobachten, was der Romanist Lars Schneider für den Dichter insgesamt bemerkt, dass nämlich dessen „metaphysische Reise […] nicht in den tiefen Schoß des Seins [führte], sondern auf die Oberfläche der weißen Seiten.“46 Sosehr Mallarmé die materielle Tiefe des Buchs auch exponiert, sein insgeheimes Augenmerk gilt der Gestaltung der Schriftfläche. Stellenweise liest sich ‚Le livre, instrument spirituel‘ merklich wie eine Vorarbeit zum ‚Coup de dés‘, dessen exzeptionelles Schriftarrangement die gewohnte Doppelseitenstruktur des Buches aufbricht. In unterschiedlich großen Schrifttypen gedruckt, ordnen sich die Verse in diesem Buchprojekt um und über die Mittellinie hinaus an. In der Konsequenz erinnert das Gedicht optisch an eine Partitur, den Sternenhimmel und auch an die vorgeblich minderwertigen Zeitungsblätter, deren Typographie dann doch richtungsweisend für Mallarmés Modernisierungsbestreben wird.47 Deutlich ist in ‚Quant au livre‘ zu erkennen, wie den Autor die Visualität der Doppelseiten, das Zusammenspiel von schwarzen und weißen Flächen, umtreibt. Die Schrift – beschrieben als ornamentale „Saat von Schnörkeln“ („un semis de fioritures“)48 – denkt er explizit mit dem Papier-Weiß zusammen, das die dichterische „Rede“ über44 Vgl.

zu dieser Tradition Aleida Assmann: Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015, S.   61–77. 45 Vgl. Mülder-Bach, Tiefe (Anm.   15), S.   84–87. 46 Lars Schneider: Die page blanche in der Literatur und bildenden Kunst der Moderne, Paderborn 2016, S.   58. 47 Zum Einfluss der Zeitung auf Mallarmés Buchästhetik und seiner eigenen kurzlebigen Zeitschrift ‚La Dernière Mode‘ (1874) vgl. Arnar, The Book as Instrument (Anm.   21), S.   228–239. 48 Mallarmé, Le livre / Das Buch (Anm.   16), S.   260/261.

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haupt erst lesbar macht und ihr gleichzeitig Schweigen entgegenhält. Beim Folgen der Zeilen „indéfectiblement le blanc revient“ / „kehrt unfehlbar das Weiße wieder“,49 so Mallarmé in ‚Le mystère dans les lettres‘, ein weiteres Prosastück aus den ‚Divagations‘. Die stumme Fläche greift mithin als materiale Bedingung in den Lektüreprozess ein und behauptet ihren medialen Eigenwert. Gemäß dieser (am ‚Coup de dés‘ geschulten) Lesart kommt Carlos Spoerhase zu dem Schluss, Stéphane Mallarmé vertrete „die Position, dass das moderne Buch sich wesentlich durch seine Zweidimensionalität, also durch seine immanente Flächigkeit, auszeichne.“50 Prinzipiell bleibt Mallarmés theoretische wie praktische Arbeit an der Zweidimensionalität des Buches, so lässt sich ergänzen, aber auf die Kategorie der Tiefe bezogen. Wie Bettina Rommel schreibt, entwirft der Autor in ‚Le livre, instrument spirituel‘ die „Idee der Doppelseite, d. h. die Vorstellung einer räumlichen Vertiefung des Druckbilds in einem graphischen Raum.“51 Die typographische Neuorganisation der flachen Seiten ist entscheidend davon motiviert, visuelle Tiefe zu suggerieren und den Übertritt der Lektüre in eine halluzinative Raumwahrnehmung zu unterstützen.52 Ein erneuter Blick in ‚Le mystère dans les lettres‘ bekräftigt diese Annahme. Darin spricht Mallarmé von einem Motiv „als unsichtbare Kreuzblume und Schlußvignette“ („motif en fleuron et culde-lampe invisibles“), welches der „unter der Oberfläche des Textes“ weilende „Gesang“ („chant sous le texte“) auf die Oberfläche desselben appliziere.53 Auf äußerst bildbrüchige Weise umschreibt er hier den synästhetischen Prozess der Lektüre und stellt nebenbei einen Zusam-

49 Stéphane

Mallarmé: Le mystère dans les lettres / Das Mysterium in den Litterae. In: Ders., Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   264–275, hier S.   274. 50 Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy), Göttingen 2016, S.   33. 51 Bettina Rommel: Kommentar zu ‚Le livre, instrument spirituel‘. In: Mallarmé, Werke. Bd.   2 (Anm.   16), S.   369  f., hier S.   370. 52 Vgl. Rommel, Lesestrategien (Anm.   22), S.   178. 53 Mallarmé, Le mystère / Das Mysterium (Anm.   49), S.   274. Die deutsche Übersetzung folgt an dieser Stelle Stéphane Mallarmé: Das Mysterium in der Literatur. In: Ders.: Sämtliche Dichtungen. Französisch und deutsch mit einer Auswahl poetologischer Schriften. Übers. von Carl Fischer und Rolf Stabel, München 52016, S.   304–310, hier S.   310.

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menhang zwischen Typographie und vergeistigter Tiefe her. Wie er mit den Begriffen ‚Fleuron‘ und ‚Cul-de-lampe‘ andeutet, bewegt sich das Lesen in einem realen und imaginären Buchraum. Beides sind Vokabeln, die sich die Buchdruckkunst und Architektur fachsprachlich teilen, um blumenförmige Verzierungen und Schlussvignetten bzw. -steine zu benennen. Der an dieser Stelle allegorisch verstandene Bauschmuck stellt sich entsprechend als (nicht wahrnehmbarer) ‚äußerer‘ Ausdruck dessen dar, was in den Tiefen des Textes vage singt. Die tatsächlich sichtbaren, flachen Schlussornamente können als schwacher Widerschein dieser poetischen ‚Abgründigkeit‘ verstanden werden.54 Insgesamt lässt sich für ‚Quant au livre‘ festhalten, dass Mallarmé das Buch durchaus von seiner auch dinglichen Tiefe her begreift, diese allerdings fast ganz in der Symbolik seines romantischen Buchokkultismus aufzugehen droht.55 Mallarmés Schreiben über das Buch steht im Zeichen einer antimodernistischen Tiefenmystik und zugleich nehmen seine Essays mal explizit, mal implizit Anteil an der oberflächenaffinen visuellen (Schrift-)Kultur der Moderne, wie sie sich in der Szenerie europäischer Großstädte mit ihren Zeitungsständen, Plakatwänden und Reklameschildern Ende des 19. Jahrhunderts etablierte. In seiner Medienästhetik zeigt sich zwar, dass er der metaphysischen Überhöhung

54 Nina

Wiedemeyer argumentiert dagegen, dass Ornamentik anders als in den Theorien des 19. Jahrhunderts nicht nur als „flach“ zu betrachten ist, sondern sich z. B. über das Papiermuster auch die „verdrängte Räumlichkeit des Buchs“ sowie Buchgeschichte generell mitteilen. Vgl. dies.: Buchfaltenmuster. Eine Ornamenttheorie mit den Dingen. In: Mateusz Kapustka / Martin Kirves / Martin Sundberg (Hg.): Falten-Muster. Texturen von Bildlichkeit, Emsdetten – Berlin 2018, S.   23–35, hier S.   27–34. 55 Zur buchmateriellen „Tiefenlektüre“ in Mallarmés Konzeption des ‚Coup de dés‘ vgl. Annette Gilbert: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren, Paderborn 2018, S.   141–144 und S.   155  f. Dass sich der Autor in den ‚Divagations‘ dagegen vor allem für den symbolischen Aspekt des Buchs interessiert, stellt auch Barbara Bohac heraus. Vgl. dies.: Mallarmé et l’esthétique du livre. In: Alain Milon / Marc Perelman (Hg.): L’esthétique du livre, Paris 2010, S.   149–164, hier Abs.   2 [online ohne Seitenzahlen]. URL: http://books.openedition.org/pupo/1883 [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. Zu den romantisch-naturphilosophischen Zügen im mallarméschen Buch-Denken vgl. Maurice Blanchot: Das kommende Buch. In: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Übers. von Karl August Horst, München 1962, S.   302–330, hier S.   308.

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und Essenzialisierung von Tiefe geflissentlich zuzuarbeiten scheint, doch schon bei der von ihm geehrten Buchfalz schöpft man Verdacht, dass sich die (Buch-)Tiefe wesentlich auf die materiale, weiße Fläche beruft, ja kaum von ihr zu trennen ist. Schließlich entsteht durch das Einknicken des Papiergewebes eine „tiefe[] Äußerlichkeit“,56 sodass gerade die Falte das Ineinander von Innen und Außen, Tiefe und Fläche in hohem Maße anschaulich macht. Obschon sich Mallarmés Nachdenken über die buchmaterielle Tiefe als ambivalent erweist, ist das Buch für ihn immerhin sinnbildlich ein Medium des Tiefgangs, gegen dessen Entzauberung und Verflachung er anschreibt. Hieraus erklärt sich auch Mallarmés eigene, auf Materialluxus und Kostspieligkeit bedachte Publikationspraxis, die sich an einen exklusiven Kreis von scheinbar tiefgründigen, in erster Linie aber begüterten Poesieliebhaber:innen richtete und parallel zu seinen Veröffentlichungen in Zeitschriften verlief. Mit dem „désir de faire du livre un bel objet“57 stand der französische Dichter in den 1890er Jahren jedoch nicht allein da. Er folgte damit dem buchreformerischen und marktstrategischen Geist, der inspiriert durch die Londoner Kelmscott Press viele Verleger:innen und Künstler:innen in Europa erfasste. In Deutschland gilt dies am prominentesten für den Lyriker Stefan George. Weit mehr als Mallarmé auratisierte er, im Zusammenspiel mit Melchior Lechter, das dichterische Buch. Unter all seinen bibliophilen Veröffentlichungen widmet sich sein rarstes und kostbarstes Druckwerk einem Gedicht Stéphane Mallarmés.

56 Sabine

Müller: Einleitung: Perspektiven einer aktuellen Kulturgeschichte der Tiefe. In: Dies. / Dorothee Kimmich (Hg.): Tiefe. Kulturgeschichte ihrer Konzepte, Figuren und Praktiken, Berlin – Boston 2020, S.   1–18, hier S.   3. Gilles Deleuze hat mit seinen Überlegungen zur Falte maßgeblich zur Rekonzeptualisierung der Tiefe-Fläche-Opposition beigetragen. Ders.: Le pli. Leibniz et le baroque, Paris 1988. Vgl. dazu ebenfalls Angelika Seppi: Simply Complicated: Thinking in Folds. In: Michael Friedman / Wolfgang Schäffner (Hg.): On Folding. Towards a New Field of Interdisciplinary Research, Bielefeld 2016, S.   49–76. 57 Bohac, Mallarmé et l’esthétique du livre (Anm.   55), Abs.   5.

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II. Der bibliophile Luxus der ‚Hérodiade‘ Bernhard Böschenstein hat die Frage, warum Stefan George das dramatische Gedicht ‚Hérodiade‘ übersetzte, versuchsweise mit dessen Faszination für den imperatorischen Stil des Textes beantwortet.58 Was George und den befreundeten Künstler Melchior Lechter dagegen offenbar unabhängig voneinander auf die Idee brachte, die Übersetzung in eine Schmuckausgabe zu kleiden, darüber geben Selbstzeugnisse wie Forschung kaum Aufschluss. Eine naheliegende Antwort ist, dass George Mallarmé selbst zum Vorbild nahm, der 1875 eine großformatige und limitierte Luxusedition seiner französischen Übersetzung von Edgar Allan Poes ‚The Raven‘ (frz. ‚Le Corbeau‘) herausgab.59 Für „[s]on Poe“60 ließ er den Text auf geripptem Hollandpapier drucken und von Édouard Manet mit vier Lithographien auf edlem Chinapapier ausstatten.61 Eine andere Inspiration könnte der Fin de siècle-Kultroman ‚À rebours‘ (dt. ‚Gegen den Strich‘) von Joris-Karl Huysmans aus dem Jahr 1884 gewesen sein. Deutungen von Georges ‚Algabal‘-Zyklus (1892) machen aufgrund von Figur- und Motivanklängen immer wieder darauf aufmerksam, dass der Dichter das Buch höchstwahrscheinlich gekannt hat.62 Von Lechter ist dagegen überliefert, dass ‚À rebours‘

58 Vgl.

Diskussionsbeitrag von Böschenstein zu: Bauer, Übersetzungstechnik Georges (Anm.   10), S.   173. 59 Vgl. Lehnen, Baudelaire-Übertragungen (Anm.   12), S.   724; Enrico De Angelis: Einführung. In: Stefan George / Stéphane Mallarmé: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. von Enrico De Angelis, Göttingen 2013, S.   7–49, hier S.   48. Angelis geht irrtümlicherweise von einer durch Manet illustrierten Ausgabe der ‚Hérodiade‘ aus, zu der es aber nie kam. Für die vermutlich erst nach Édouard Manets Tod geplante Illustration hatte Mallarmé den Maler Édouard Vuillard im Auge. Vgl. hierzu Mallarmé, Œuvres complètes. Bd.   1 (Anm.   12), S.   817. 60 Stéphane Mallarmé an Arthur O’Shaughnessy, 27. 11. 1875. In: Ders.: Correspondance. Hg. von Henri Mondor und Lloyd James Austin. 11 Bde. Bd.   2, Paris 1965, S.   86  ff., hier S.   86. Zit. nach Brigitte Ouvry-Vial: Mallarmé, le „bibliophile navré“ et les éditions de L’Après-midi d’un faune. In: Alain Riffaud (Hg.): L’écrivain et l’imprimeur, Rennes 2010, S.   315–336, hier S.   331, Anm.   115. 61 Zur Edition und ihrer Geschichte vgl. ausführlich Juliet Wilson-Bareau / Breon Mitchell: Tales of a Raven. The Origins and Fate of Le Corbeau by Mallarmé and Manet. In: Print Quarterly 6, 1989, H.   3, S.   258–307. 62 Vgl. Mario Zanucchi: Algabal. In: Egyptien (Hg.), George – Werkkommentar (Anm.   12), S.   60–96.

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zu seinen „Lieblingslektüren“63 zählte. Zudem galt eine seiner ersten buchkünstlerischen Arbeiten der 1897 erschienenen deutschen Erstausgabe.64 Lechters Verbundenheit mit ‚Gegen den Strich‘ ist insofern bedeutsam, als sich in der ‚Bibel der Dekadenz‘ eine äußerst bibliophile Szene findet, in der der Protagonist Des Esseintes seine Verehrung für Mallarmés ‚Hérodiade‘ ausdrückt: Er [Des Esseintes] ergriff eins der Bücher, das in Eselshaut gebunden war, eingehüllt in eine Schutzdecke aus altem chinesischen Seidenstoff, der verblasst war und den Reiz verblasster Stoffe hatte, wie sie Mallarmé in einem entzückenden Gedichte rühmte. Das Buch bestand aus nur neun Seiten und enthielt Auszüge aus Mallarmés ersten beiden Büchern. Sie waren auf Pergament gedruckt und unter dem Titel: „Einige Verse von Mallarmé“ vereinigt. Sie waren von einem geschickten Kalligraphen in goldenen und farbigen Buchstaben mit der Hand im Stil der alten Handschriften gemalt. Einige dieser Stücke interessierten ihn, aber besonders ein Bruchstück der Herodias wußte ihn in gewissen Stunden wie durch einen Zauber zu bannen.65

In dieser stellenweise etwas groben Übersetzung von Marie Capsius, wohl aber auch im französischen Original las Melchior Lechter von Jean Floressas des Esseintes’ buchverliebtem Herodias-Zauber; und es ist kaum vorstellbar, dass George auf die Lektüre dieses auch von Mallarmé geschätzten Werkes verzichtete, zumal Michael Landmann in Huysmans „ein Bindeglied zwischen Lechter und dem jungen George“66 vermutet.67

63 Jan

Stottmeister: Der George-Kreis und die Theosophie. Mit einem Exkurs zum Swastika-Zeichen bei Helena Blavatsky, Alfred Schuler und Stefan George, Göttingen 2014, S.   96. 64 Vgl. Wolfhard Raub: Melchior Lechter als Buchkünstler. Darstellung. Werkverzeichnis. Bibliographie, Köln 1969, S.   63  f. 65 Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich. Übers. von Marie Capsius, Berlin 1897, S.   264  f. 66 Michael Landmann: Figuren um Stefan George. Zehn Porträts, Amsterdam 1982, S.   14. 67 Anscheinend schlug Lechter dem Dichter auch eine Übersetzung Huysmans’ vor, der laut George aber „nur in sehr gesichteter wahl wertvoll wird“. George an Lechter, 1. 1. 1900. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   102  f., hier S.   102. Zur ‚À rebours‘-Begeisterung vgl. Stéphane Mallarmé an Joris-Karl Huysmans, 18. 5. 1884. In: Ders., Œuvres complètes. Bd.   1 (Anm.   12), S.   781  f. Mit ‚Prose (pour des Esseintes)‘ widmete Mallarmé dem dekadenten Helden

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Huysmans’ Romanheld beschreibt in der zitierten Passage eine eigens für ihn erstellte Gedicht-Auslese in Buchform, die elf Gedichte von Mallarmé versammelt, darunter „un fragment de l’Hérodiade“.68 Nach seinem Bedauern darüber, dass man nur allzu wenige Bücher wiederlesen könne, wendet er sich der Broschur in ausgefallenem Wildeselsleder („en peau d’onagre“69) zu. Das Leder, wie es in der neueren deutschen Übersetzung von Brigitta Restorff lautet, „[war] zuvor mit einer hydraulischen Presse satiniert und mit kleinen aquarellierten Silberwölkchen übersät worden“ sowie mit „Vorsatzpapier aus altem chinesischem Seidenstoff“ versehen, das „mit seinem etwas verblaßten Rankenmuster […] die Anmut von Verwelktem“ hatte („préalablement satinée à la presse hydraulique, pommelée à l’aquarelle de nuées d’argent et nantie de gardes de vieux lampas, dont les ramages un peu éteints […] avaient cette grâce de choses fanées“).70 Des Esseintes erzählt im französischen Original ferner von dem „titre: Quelques vers de Mallarmé, dessiné par un surprenant calligraphe, en lettres onciales, coloriées, relevées, comme celles des vieux manuscrits, de points d’or“.71 Präziser als in der Erstübertragung von Capsius heißt es bei Restorff an dieser Stelle: „[D]en Titel ‚Einige Verse Mallarmés‘ hatte ein außergewöhnlicher Kalligraph in farbigen, wie in den alten Manuskripten mit Goldpunkten zur Geltung gebrachten Unzialbuchstaben gemalt.“72 Merklich lustbetont würdigt Des Esseintes die buchtechnische Ausstattung, noch bevor er auf den Buchinhalt der schmalen Anthologie zu sprechen kommt. Die ausgeprägte Bibliophilie und der unzeitgemäße Rückgriff auf altertümliches Buchhandwerk sind dabei interessanterweise nicht nur eine Spezialität des fiktiven Dandys. Sein Faible für rare, handschriftliche Ausgaben fand im Umkreis Mallarmés mit Valère sogar ein Gedicht, von dem eine Abschrift Georges existiert. Vgl. Stefan George: [Abschrift] – Prose (pour Des Esseintes). In: Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek. URL: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/ bsz49254624X [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. 68 Joris-Karl Huysmans: À rebours. In: Ders.: Romans et nouvelles. Hg. von André Guyaux und Pierre Jourde, Paris 2019, S.   535–728, hier S.   692. 69 Ebd. 70 Ebd.; Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich. Übers. von Brigitta Restorff, Düsseldorf 2008, S.   212. 71 Huysmans, À rebours (Anm.   68), S.   692. 72 Huysmans, Gegen den Strich (Anm.   70), S.   212.

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Gille wenigstens einen Nachahmer. Offenkundig in Anlehnung an ‚À rebours‘ ließ sich der belgische Schriftsteller ein farbig kalligraphiertes Mallarmé-Manuskript auf Pergamentpapier fertigen: „geschrieben in prächtiger Fraktur und geschmückt mit Buchmalereien, Initialen, Schlussverzierungen“.73 Der Dichter selbst war davon derart begeistert, dass er den Band Familie und Freunden daheim in Paris zeigte und anschließend mit einem Widmungssonett an Gille zurücksandte.74 Höchstpersönlich attestiert Mallarmé dem Büchlein darin den Anschein eines glorreich-gotischen Messbuchs.75 Als noch erstaunlicher erweisen sich die Sätze aus ‚À rebours‘, die Mallarmés ‚Hérodiade‘-Fragment in die Nähe sakral-antiker Majuskelschrift rücken, jedoch im Hinblick auf Stefan Georges ‚Herodias‘-Buchprojekt. Denn aus dem Nachlass von Melchior Lechter stammt eine einseitige, von George in goldenen und roten Großbuchstaben geschriebene, reich verzierte Vorstudie, die „an illuminierte Handschriften des europäischen Mittelalters [erinnert]“76 (Abb.   1). Während der französische Originaltext angibt, dass der Titel des Heftchens in bunter Unzialschrift steht und die graphische Gestalt des übrigen Textes offenlässt, überträgt Marie Capsius wie bereits zitiert: „Sie [Mallarmés Gedichte (!)] waren von einem geschickten Kalligraphen in goldenen und farbigen Buchstaben […] gemalt“. Vor dem Hintergrund, dass mindestens Melchior Lechter die Capsius-Übersetzung kannte, drängt es sich geradezu auf, Stefan Georges Schmuckblatt als Anverwandlung dieser deutschen Romanstelle von ‚Gegen den Strich‘ zu lesen. Neben dem Trend zum schönen Buch um 1900 hätte die buchmaterielle ‚Herodias‘-Übersetzung aus der Werkstatt George-Lechter damit auch ein konkret intertextuelles Motiv. Zweifelsohne stellt das ‚Herodias‘-Buch von George und Lechter keine Auseinandersetzung mit den mallarméschen ‚Quant au livre‘-Essays dar.77 Vielmehr reagierten sie – dem Vorbild des französischen 73 José

Camby: Stéphane Mallarmé en Belgique (1890). In: Empreintes 5, 1948, S.   54–66, hier S.   56. Übersetzung von der Verf. Vgl. hierzu auch Arnar, The Book as Instrument (Anm.   21), S.   137  f., deren Studie eine Seite jenes Manuskripts abbildet. 74 Vgl. Camby, Mallarmé en Belgique (Anm.   73), S.   56. 75 Vgl. Mallarmé, Vers de circonstance (Anm.   39), S.   186. 76 Ortlieb, Weiße Pfauen (Anm.   11), S.   211. 77 Es ist unklar, ob George diese rezipierte. Zwar finden sich in seinem Nachlass

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Abb.   1 Vorarbeit zur ‚Herodias‘-Übersetzung von Stefan George, ca. 1900 (StGA-George I,1508)

Dichters entsprechend – auf buchkünstlerische Aktivitäten, die sich um das Lyrikbuch zu jener Zeit in ganz Europa entfalteten.78 Die Szene aus drei Bände von Mallarmé, nicht aber die Prosasammlung ‚Divagations‘. Vgl. Ute Oelmann: Nachwort. Stéphane Mallarmé in den Beständen des Stefan George Archivs. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm.   59), S.   147–150, hier S.   147. 78 Dass George in seiner kleinen Korrespondenz mit dem Dichter diesen ohnehin auch in kalligraphischer Hinsicht spiegelte, hat Cornelia Ortlieb beobachtet. Vgl.

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‚À rebours‘ ist sprechender Beweis für die auch mit Stéphane Mallarmés Namen verknüpfte Affinität zu aufwendig gestalteten Büchern am Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei hängt die „Vorliebe für eine präzis erdachte Ausstattung“, so Dirk Niefanger et al., „mit dem Bewußtsein von der Änigmatik der Lyrik zusammen.“79 Der markante Materialluxus mit seinen arabesken Mustern und Stoffschichten spiegelt Mallarmés poetische Sprache, die nicht auf Sinnzuweisung, sondern auf permanente Sinnzerstreuung und assoziatives Gleiten an der Oberfläche des Schriftmaterials angelegt ist. „Leisten, Vignetten, Miniaturen, Schlußstücke, Bucheinbände und Vorsatzblätter werten nicht nur den Inhalt eines Textes auf, sie werden zum selbständigen Bestandteil des literarischen Kunstwerks.“80 Die archaisierende Aufmachung verlängert die Lektüre über die Buchstaben hinaus. Sie gilt Mallarmé und Huysmans’ Protagonisten als Aufforderung, die sprachlichen sowie optisch und haptisch erfahrbaren Arabesken in stiller Zweisamkeit mit dem Buch phantas­ma­ go­risch fortzuführen. Symbolistische Buchkunst dient in diesem Sinne „als Anreiz einer fetischistischen Tagträumerei.“81 Der Aristokrat Des Esseintes demonstriert dies in ‚À rebours‘ beispielhaft, wenn er im Anschluss an seinen bibliophilen Exkurs berichtet, dass er sich an unzähligen Abenden unter dem Schein der Lampe von „cette Hérodiade“ berührt fühlte.82 Die stilisierte Lese-Szene findet in einem atmosphärisch aufgeladenen Raum statt. Stimuliert durch die erlesenen Materialien, geheimnisvollen Worte und den Anblick von Gustav Moreaus Salomé-Aquarell ‚L’Apparition‘ (1876) tritt Des Essein-

dies., Weiße Pfauen (Anm.   11), S.   209  f. Zur buchkulturellen Tendenz am Beispiel Rilkes vgl. Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung, Tübingen 2000, S.   191–211; Carlos Spoerhase: Refabrikationen Rilkes: Uljana Wolfs materielle Poetik der Übertragung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 91, 2017, S.   455–477, hier S.   462. 79 Moritz Baßler / Christoph Brecht / Dirk Niefanger / Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996, S.   152. 80 Ebd., S.   153. 81 Rommel, Lesestrategien (Anm.   22), S.   177. Zum Lesen als buchüberschreitende rêverie vgl. ebd., S.   177–183. 82 Huysmans, À rebours (Anm.   68), S.   692.

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tes bereitwillig in die visuellen Tiefen der Imagination ein, wobei sein Lesen respektive Sehen deutlich autoerotische Züge trägt.83 L’obscurité cachait le sang, endormait les reflets et les ors, enténébrait les lointains du temple, noyait les comparses du crime ensevelis dans leurs couleurs mortes, et, n’épargnant que les blancheurs de l’aquarelle, sortait la femme du fourreau de ses joailleries et la rendait plus nue. Invinciblement, il levait les yeux vers elle, la discernait à ses contours inoubliés et elle revivait, évoquant sur ses lèvres ces bizarres et doux vers que Mallarmé lui prête: .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .Ô miroir ! Eau froide par l’ennui dans ton cadre gelée Que de fois, et pendant les heures, désolée Des songes et cherchant mes souvenirs qui sont Comme des feuilles sous ta glace au trou profond, Je m’apparus en toi comme une ombre lointaine ! Mais, horreur ! des soirs, dans ta sévère fontaine, J’ai de mon rêve épars connu la nudité ! 84 Die Dunkelheit verbarg das Blut, betäubte Widerspiegelungen und alles Goldene, umschattete den Hintergrund des Tempels, ertränkte die in ihre toten Farben gehüllten Komparsen des Verbrechens und schälte die Frau, indem sie nur das Weiße des Aquarells hervorholte, aus ihrem Juwelenbehang und machte sie wirklich nackt. Magisch angezogen, hob er die Augen auf zu ihr, erkannte sie an ihrer unvergessenen Gestalt, und sie lebte wieder, und ihre Lippen formten die wundersamen, sanften Verse Mallarmés:                O spiegel Wasser durchs leid im rahmen eingefroren Wie oft und während stunden in verzweiflung Ob träumen und erinnerungen suchend Wie blätter unter deinem tiefen eise Erschien ich mir in dir ein ferner schatten! Doch schrecken! nachts · bei deiner strengen quelle Ward meines irren traumes nacktheit kund.85

83 Vgl.

hierzu Rommel, Lesestrategien (Anm.   22), S.   177; Kirsten Dickhaut: Verkehrte Bücherwelten. Eine kulturgeschichtliche Studie zu deformierten Bibliotheken in der französischen Literatur, München 2004, S.   353. 84 Huysmans, À rebours (Anm.   68), S.   692  f. 85 Huysmans, Gegen den Strich (Anm.   70), S.   213. Der ‚Hérodiade‘-Auszug ist im

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In der ‚Hérodiade‘-Vision dominieren – inspiriert durch Mallarmés Text wie durch Moreaus Bild – Dunkelheit und Helle, Schwarz und Weiß. Die „obscurité“ legt sich schattengleich über die antik-biblische Umgebung der Herodias-Tochter, die sich bei Mallarmé den Namen mit ihrer Mutter teilt und nicht, wie um die Jahrhundertwende üblich, als Salome auftritt.86 Mitten in der düsteren Palastwelt, an deren Horizont sich die Enthauptung Johannes des Täufers ankündigt, erstrahlt die jungfräuliche Hérodiade in weißer Nacktheit. Die „wundersamen, sanften Verse Mallarmés“ rezitierend, offenbart sie sich schließlich mit ihrer „unvergessenen Gestalt“ vor Des Esseintes’ Augen. Allem Anschein nach garantiert Mallarmés ‚Scène‘, mindestens bei Huysmans’ Figur, die von ihm gewünschte „intensive Sinnlichkeit der Lektüre“,87 eine Lektüre, die vom sachten, nie übergriffigen Abtasten der hermetischen Worte lebt. So gesehen weist der exzeptionelle Buchkörper in den Händen bereits auf den Kontakt mit dem preziösen Schriftkörper (sowie imaginären Frauenkörper) voraus.88 Die Tatsache, dass die ursprünglich als Tragödienauftakt geplante Wechselrede zwischen Fürstentochter und Amme gleich zwei Mal – einmal fiktiv in ‚À rebours‘ (1884), einmal real in der deutschen George-Ausgabe (1905) – im Zusammenhang mit der ‚Sinnlichkeit des schönen Buchs‘ erscheint, mag somit nicht nur Zufall sein. Am luxuriösen Gewand verrät sich die zeitgenössische Rezeptionsweise der ‚Hérodiade‘ – und es prägte wiederum die Wahrnehmung derselben und ihres Autors.89 Bei Huysmans illustriert der Einband die „verschlungenen und kostbaren Ideen“90 Mallarmés und webt diese materialiter fort, um das passende Setting Fließtext im Original abgedruckt. In einer Endnote wird die hier stattdessen eingefügte deutsche Übersetzung von Stefan George angeführt. Vgl. ebd., S.   241. 86 Zum kulturhistorischen Hintergrund der Namenswahl vgl. Szondi, Das lyrische Drama (Anm.   1), S.   41–44. 87 Johannes Hauck: Nachwort. In: Mallarmé, Sämtliche Dichtungen (Anm.   53), S.   312–330, hier S.   316. 88 Zur Erotisierung der Lektüre und (fraglos problematischen) Feminisierung des Buchs vgl. auch Évanghélia Stead: La chair du livre. Matérialité, imaginaire et poétique du livre fin-de-siècle, Paris 2012, S.   211–282. 89 So hat Huysmans’ Romanerfolg ‚À rebours‘ entscheidend zur Rezeption und dem Bilde Mallarmés beigetragen. Vgl. hierzu Richard Cándida Smith: Mallarmé’s Children. Symbolism and the Renewal of Experience, Berkeley 1999, S.   3–8; Stottmeister, Der George-Kreis (Anm.   63), S.   66  ff. 90 Huysmans, Gegen den Strich (Anm.   70), S.   214.

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für die Tiefenvision zu schaffen. Ähnlich scheint für Stefan George die bildliche Verführungskraft des Werkes leitend gewesen zu sein. In der „biblische[n] wildheit der Herodias die in verrufenen nächten mit fliegendem haar in den gemächern auf und abgeht“, sah er eines von Mallarmés „deutlich greifbare[n] bilder[n]“, die er dessen „klangvolle[n] dunkelheiten“ zur Seite stellte.91 Mehr als Huysmans hob er damit die Anschaulichkeit der mallarméschen Sprache hervor. Ein gleichermaßen fassbares Ideal verfolgt George dann auch selbst in seiner ‚Lobrede auf Mallarmé‘ (1893), aus welcher der knappe ‚Herodias‘-Kommentar stammt. In gewohnt pathetischer Manier vergleicht er darin die Werke des „Meister[s]“92 mit Schriften aus längst vergangenen, ‚mystischen‘ Zeiten und stimmt so auffällig in Stéphane Mallarmés Preisung der kostbar verschlossenen Missale und chiffrierten Papyrusrollen mit ein: Denken wir an jene sinnlosen sprüche und beschwörungen die von unbezweifelter heilkraft im volke sich erhalten und die hallen wie rufe der geister und götter, an alte gebete die uns getröstet haben ohne dass wir ihren inhalt überlegt, an lieder und reime aus grauer zeit die keine rechte klärung zulassen bei deren hersagung aber weite fluten von genüssen und peinen an uns vorüberrollen und blasse erinnerungen auferstehen […]. Wir wissen auch noch welchen starken eindruck die schriften der Byzantiner und Spätlateiner in uns hinterliessen und der kirchenväter die sich nicht enthalten konnten ihre bereuten sünden in schillernden farben darzustellen […].93

Angesichts dieser Zeilen nimmt es kaum wunder, dass die in der ‚Lobrede‘ schon in Teilen präsentierte ‚Herodias‘-Übersetzung über zehn Jahre später ein Gewand „in schillernden farben“ erhält. George und Lechter entsprechen mit ihrer streng limitierten Ausgabe dabei dem symbolistischen Geist der Zeit: Sie machen aus dem nur dreizehn Seiten umfassenden Text ein optisch und spirituell ‚tief gehendes‘ Buch, und dennoch bleibt die materielle Flächigkeit der Seiten auch in ihrer Arbeit allgegenwärtig.

91 George,

Dichterköpfe (Anm.   3), S.   136. Ebd., S.   135. 93 Ebd., S.   136. 92

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III. Architektonische Tiefe und weiße Flächen: Sehweisen des ‚Herodias‘-Buchs Mit ‚Herodias: Ein Zwiegespräch von Stéphane Mallarmé‘, wie der Titel in Georges wohl erster Reinschrift und Gestaltungsvorlage für Melchior Lechter zunächst lautet,94 übersetzte der Dichter eine Szene, die kein Bühnengeschehen im klassischen Sinne darstellt. Es handelt sich bei dem Zwiegespräch um eine von der berührungsscheuen Herodias immer wieder blockierte Ankleidesituation mit ihrer Amme, innerhalb derer die metaphernreiche, polyseme Sprache die eigentliche Hauptrolle spielt. Die Dramatik ist hier nicht in einer äußeren Handlung zu suchen, sondern im Wandel der komplexen Sprachbilder: Sie ziehen die Bühnenrealität beständig ins Irreale und dienen weit mehr der Aufführung von Herodias’ Innenleben.95 Die in ‚À rebours‘ zitierte Textstelle deutete bereits an, dass glatte, reflektierende Oberflächen wie der von Hérodiade beschworene Spiegel („Ô miroir!“96) dabei ein wiederkehrendes Motiv bilden; etwa in der Eis- und Wassermetaphorik, in gerühmten Kristallen, wandschmückenden Waffen oder den als Fremdkörper inszenierten, buchstäblich gold-metallenen Haaren der Heldin. Peter Szondi hat in seiner grundlegenden Untersuchung zur ‚Hérodiade‘ dargelegt, dass die allerorten widerschimmernde Schönheit zum Spiegel auch des ästhetizistischen Textes wird, der sich wie seine Protagonistin reflexiv und ‚selbstverliebt‘ auf sich zurückzieht.97 „Pour moi“,98 ganz „für sich“ allein will Mallarmés Figur existieren und hält in Vorahnung ihres Schicksals jedwede menschliche Berührung von sich fern. Beide – Figur wie Text – verwehren sich in ihrem kühlen mehrdeutigen Schillern des Zugriffs und ko-

94 Vgl.

Stefan George: Herodias – [Handschrift]. In: Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek. URL: http://digital.wlb-stuttgart.de/purl/ bsz488785804 [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. 95 Vgl. Szondi, Das lyrische Drama (Anm.   1), bes. S.   99  f. 96 Stéphane Mallarmé: Fragment d’une étude scénique ancienne d’un poëme de Hérodiade. In: Ders., Œuvres complètes. Bd.   1 (Anm.   12), S.   142–146, hier S.   143 (V.   44). 97 Vgl. Szondi, Das lyrische Drama (Anm.   1), bes. S.   122–126. 98 Mallarmé, Hérodiade (Anm.   96), S.   144 (V.   76).

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kettieren gleichwohl mit ihrer Anziehungskraft, wenn Hérodiade fragt: „Nourrice, suis-je belle?“99 Der selbstreflexive Charakter der ‚Scène‘ ist dem jungen Stefan George gewiss nicht entgangen. Bezeichnenderweise setzt denn auch der kurze ‚Herodias‘-Auszug auf der schon erwähnten Schmuckhandschrift mit der Frage „AMME BIN ICH SCHÖN?“ ein (Abb.   1). In der ‚Herodias‘-Übersetzung tritt diese Eigenschaft hingegen weniger zutage. Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend ‚L’art pour l’art‘-kritische George ist darin sichtlich bemüht, die Selbstbezüglichkeit des Originals einzuebnen.100 Das „deutlich greifbare bild“, das Stefan George in der ‚Hérodiade‘ zu sehen glaubte, ist programmatisch für seine sprachliche Übertragung, in der er zu Konkretisierung neigt und im Gegensatz zu Stéphane Mallarmé „die dramatische Form als Korrektiv weltloser Innerlichkeit“101 betont. Georges Dankesgruß für die fertige ‚Herodias‘-Prachtausgabe – zwei Exemplare auf Pergament, sieben Exemplare auf Japanpapier mit je zwei Handmalereien – lässt indes erkennen, dass er an Herodias’ „ablehnende[r] erdenferne“,102 wie er im Briefentwurf noch wertend schreibt, immerhin in ebenfalls greifbarer Buchgestalt Gefallen fand: lieber Melchior: meinen freudigen dank für diese überraschende gabe: die wunderbare Herodias für deren erdenferne nichts besser passen konnte als die blau und goldnen buchstaben und der sagenhafte blau und goldne vogel des stolzes! […]. Welch ein trost dass über alle ungunst des schicksals hinaus so prunkende schöne dinge weiter gedeihen!103

Der „vogel des stolzes“, ein auf goldener Wolke schwebender Pfau (Abb.   2), ist eines von mehreren Bildsymbolen, mit denen Lechter das Gedichtbuch als Frontispiz eröffnet und als Cul-de-lampe beschließt.104

99 Ebd.,

S.   143 (V.   52). ausführlich Zanucchi, Transfer und Modifikation (Anm.   9), S.   172–175. 101 Ebd., S.   175. 102 George an Lechter, April 1905 [Entwurf]. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   239  f., hier S.   239. 103 George an Lechter, 27. 4. 1905. In: ebd., S.   240  f., hier S.   240. 104 Zu Ausstattung und Details der beiden im Stefan George Archiv befindlichen ‚Herodias‘-Ausgaben (Nr.   II und VII), auf die sich der Aufsatz vorrangig stützt, vgl. Oelmann, Nachwort (Anm.   77), S.   149  f.; Raub, Lechter als Buchkünstler (Anm.   64), S.   80  f. Ein weiteres Exemplar (Nr.   III) ist im Besitz des Getty Re100 Vgl.

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Die für Georges Widmungsexemplar getroffene Wahl des Pfaus, den der Dichter hier begeistert als Sinnbild für die hochmütige Egomanie der Hérodiade feiert, rührt dabei auch bei dem Buchkünstler aus dem Bedürfnis her, mit dem jahrhundertealten Attribut der Könige und Göttinnen den herrschaftlich-enthobenen Ort der ‚Byzantinerin‘ zu illustrieren. Der von Lechter anfangs geplante „DECKEL AUS VERGOLDETER BRONZE MIT EMAIL UND STEINEN“,105 der schließlich einem hellen, goldgeprägten Pergament- bzw. Ledereinband wich, hätte nur zu gut in dieses Bild gepasst und belegt einmal mehr, dass das ‚Herodias‘-Rarum zur antikisierenden wie orientalisierenden Mystifikation und Verkörperung des Inhalts beitragen sollte.106 Zugleich dürfte der Lechter’sche Pfau eine Referenz auf ein anderes Herodias-Buch sein und führt damit mitten hinein in den von Des Esseintes angeführten bibliophilen ‚Femme fatale‘-Kult der Dekadenzliteratur: 1894 erschien die englische Ausgabe von Oscar Wildes Drama ‚Salome‘ mit Zeichnungen des britischen Graphikers Aubrey Beardsley, darunter eine Darstellung der Salome im sogenannten ‚Peacock Skirt‘, im Pfauenkleid.107 Im Gegensatz zu Beardsleys Buchgraphiken ist die Buch- und Ornamentkunst Melchior Lechters von plastischer, architektonischer Struktur, was sich auch in der ‚Herodias‘ (1905) niederschlägt. Dem Künstler „bedeutete das Buch im eigentlichsten Sinne des Wortes noch eine Konzentration geistig-magischer Kräfte“,108 schreibt der Zeitgenosse Georg search Institute in Los Angeles. Vgl. die digitalisierte Fassung. URL: https:// archive.org/details/gri_33125009321742/mode/2up [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. 105 Lechter an George, 29. 4. 1900. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   123. 106 Vgl. dagegen Ortlieb, Weiße Pfauen (Anm.   11), S.   205–219, die anhand der Farbund Herrschaftssymbolik der ‚Herodias‘ sowohl bei Mallarmé als auch in Georges Buch eine „Hybridisierung“ der Kulturräume konstatiert. 107 Zu diesem Buch sowie ‚The Peacock Skirt‘ vgl. Stead, La chair du livre (Anm.   88), S.   166–177. Lechter kannte über Karl Wolfskehl Beardsleys ‚Salome‘-Bilder und sympathisierte mit dessen Kunst. Vgl. hierzu Manuel R. Goldschmidt (Hg.): Melchior Lechter. Der Meister des Buches 1865–1937. Eine Kunst für und wider Stefan George, Amsterdam 1987, S.   127. Ferner hat Cornelia Ortlieb darauf hingewiesen, dass der Pfau an den ‚Peacock Room‘ des Künstlers James McNeill Whistler anschließt, der 1876–77 unter dem Haupttitel ‚Harmony in Blue and Gold‘ einen Londoner Innenraum mit Pfauen-Darstellungen ausstaffierte. Vgl. dies., Weiße Pfauen (Anm.   11), S.   160–164. 108 Georg Fuchs: „Meister Lechter“. Ein Versuch in neun Kapiteln. In: Goldschmidt (Hg.), Lechter (Anm.   107), S.   94–123, hier S.   109.

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Abb.   2 Frontispiz des ‚Herodias‘-Widmungsexemplars von Melchior Lechter an Stefan George (StGA)

Fuchs. In allen Arbeiten des „Hohepriester[s] der Kunst“109 teilt sich der Wille mit, dem Buch Aura und ‚Geist‘ zu verleihen. Wie das Äußere des ‚Herodias‘-Bandes anzeigt, scheinen dem Liebhaber theosophischer 109 Sebastian

Schütze: Ein Gotiker im George-Kreis: Melchior Lechter und die Erneuerung der Kunst aus dem Geist des Mittelalters. In: Barbara Schlieben / Olaf Schneider / Kerstin Schulmeyer (Hg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S.   147–180, hier S.   157.

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Lehren und mittelalterlicher Mystik die Verse „SO TIEF WIRKEND SCHÖN“ gewesen zu sein, dass er – analog zum ‚Teppich des Lebens‘ (1899) – „GLEICH EIN KLOSTER BAUEN MÖCHTE.“110 Statt eines Klosters im gotischen Stil erblickt man bei der ‚Herodias‘, gemäß der Zeit des Stoffes, allerdings einen schematischen antiken Säulenbau auf dem vorderen und hinteren Buchdeckel (Abb.   3 und 4). Untermauert wird dieser ‚Raum‘ durch die Gestaltung der Seiten. Der Text ist durchgängig, für Lechter typisch, in Antiqua-Versalien gesetzt und befindet sich in einem schnörkellos-goldfarbenen Rahmen, sodass man bei jeder Seite sogleich Inschrifttafeln altertümlicher Palastanlagen vor Augen hat (Abb.   5).111 Allein mit dem gezielten Einsatz von Textrahmen und Typographie, und dank des beachtlichen Formats (35,0 × 27,5 cm), setzen Melchior Lechter und Stefan George die ‚Herodias‘ als Monument in Szene, womit das Buchartefakt überdies das übersetzerische Programm des deutschen Dichters vollzieht.112 Das Papierwerk nimmt die Form eines vermeintlich steinern-dauerhaften, ‚großen‘ Bauwerks an. Nicht nur Mallarmés Fragment, sondern auch die deutsche Übersetzung markieren die Künstler mithin als Meisterleistung. Dabei geht die räumlich anmutende Fläche von Einband und Seiten mit dem Versprechen einer tief empfunden Intensität der Literatur einher.113 Das Pseudo-Räumliche des ‚Herodias‘-Designs eröffnet so im Geiste der Romantik einen

110 Lechter

an George, 3. 1. 1899. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   59–62, hier S.   60. 111 Im Probedruck nutzte Lechter noch einen floralen Rankenrahmen, den er alsbald für das ornamental deutlich verspieltere ‚Maximin‘-Gedenkbuch (1907) wiederverwertete. Vgl. die Abbildungen des Entwurfs in George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm.   59), S.   110. Die Arbeit am ‚Maximin‘-Buch begann direkt nach Fertigstellung der ‚Herodias‘. Vgl. Lechter an George, 20. 4. 1905. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   235  ff., hier S.   236  f. Ähnlichkeiten zwischen den Bänden gibt es auch in der Gestaltung des Einbands. 112 Vgl. hierzu Wolfgang Hottner, der Bezug nehmend auf Georges Vorrede zur Baudelaire-Übertragung ‚Blumen des Bösen‘ (1901) schreibt: „George versteht sich […] als ‚umdichter‘, der nicht auf ‚getreue nachbildung‘, sondern auf die Schaffung eines ‚deutschen denkmals‘ abzielt.“ Ders.: Im Bergwald. Walter Benjamins Polemik gegen Stefan George in der „Aufgabe des Übersetzers“. In: Weimarer Beiträge 66, 2020, H.   3, S.   421–440, hier S.   425. 113 Vgl. Mülder-Bach, Tiefe (Anm.   15), S.   90–94.

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Abb.   3 Vorderseite des Pergament­ einbands von Melchior Lechter, Februar 1905 (StGA)

Abb.   4 Rückseite des ,Herodias‘Pergamenteinbands (StGA)

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Abb.   5 ‚Herodias‘, Papierausgabe, Exemplar VII, erste Textseite (StGA)

Raum für Projektionen, die Zugang zu arkanen Welt- und Seelentiefen in Aussicht stellen. Im Anklang an die von Stefan George gepriesene zauberische „graue[] zeit“ beginnt sich in der ‚Herodias‘ die Schrift optisch „wieder vom Boden zu heben“,114 ohne dass Lechter und George damit jedoch die von Walter Benjamin diagnostizierte Re-Vertikalisierung der Schrift im Zuge der Zeitungs- und Reklamekultur antizipieren würden. Eher speist sich der „graphische Archaismus der Eingravierung“115 aus einer rückwärtsgewandten Faszination für mächtige Schriften und der esoterisch inspirierten Sehnsucht nach Bedeutungserfahrung. Das Verlangen nach metaphorischer Tiefe ist gleichfalls den handgemalten Vignetten zu entnehmen, obwohl sie wie die Säulen auf dem Einband „nicht pers114 Walter

Benjamin: Einbahnstraße. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bde. Bd.   IV: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Teilbd. 1, Frankfurt a. M.   1972, S.   83–148, hier S.   103. 115 Susanne Strätling: Mobile Monumente. Romantische Bewegungsfiguren aus Stein und Schrift (Aleksandr Puškin). In: Dies. / Inke Arns / Mirjam Goller / Georg Witte (Hg.): Kinetographien, Bielefeld 2004, S.   179–215, hier S.   182.

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pektivisch verkürzt [sind], sondern flache geometrische Formen“116 darstellen. Laut Lechters Brief vom 20. April 1905 bekamen alle der sieben Japanpapier-Drucke unterschiedliche Motive: „KEINE WIEDERHOLUNGEN; JEDES BUCH VERSCHIEDEN GESCHMÜCKT“.117 Neben dem Pfau handelt es sich in den Exemplaren II und VII um drei Schlangen-Bilder: ein Ornament aus sieben verschlungenen Schlangen; ein Uroboros, welcher im Inneren seines schwanzfressenden Körpers den Kosmos hält; und eine dreiköpfige Schlange, die sich um eine Jugendstilvase windet. Auch die Nummer III enthält als Schlussvignette eine gekrönte Schlange vor heiligem Kranz-Ornament, wobei alle Schlangen drachenähnliche Köpfe aufweisen. Das Titelblatt zeigt dort einen geflügelten, goldumwölkten Springbrunnen, aus dem Sterne steigen.118 Er gehört wie die Tierwesen zum sphärischen Interieur des Buchtempels und prophezeit sowohl ein erotisches Zusammentreffen als auch übersprudelnde poetische Inspiration.119 Als mythologische Urkreatur steht die Schlange seit jeher unter Verdacht, unsichtbare Kräfte und dunkles Wissen zu besitzen, und sie überrascht daher nicht in einem Buch Melchior Lechters, dem die „symbolische Ebene“ – so Karlhans Kluncker – „als höchste und sublimste, zugleich auch mächtigste Kommunikationsstufe“ galt.120 Lechters Bildschmuck fällt durch seine animalisch-organische Vitalität auf und bezieht sich weniger – in antimimetischer Geste – auf sich selbst als vielmehr auf ein geheimes „Leben“ hinter den Formen.121 Der unter Alchemisten beliebte Uroboros oder die dreiköpfige Schlange, die sich 116 Bert

Treffers: Melchior Lechters Buchkunst. Eine Einführung. In: Goldschmidt (Hg.), Lechter (Anm.   107), S.   5–19, hier S.   13. 117 Lechter an George, 20. 4. 1905. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   235. Die zwei Vorzugsexemplare auf Pergament waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bebildert. Vgl. ebd. 118 Vgl. dazu das Digitalisat der ‚Herodias‘ (Exemplar III), S.   7 und S.   16 [unpaginiert]. URL: https://archive.org/details/gri_33125009321742/mode/2up [letzter Zugriff: 9. 1. 2022]. 119 Zur Symbolik des Springbrunnens vgl. Daniela Gretz: Quelle / Brunnen. In: Günter Butzer / Joachim Jacob (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart – Weimar 22012, S.   331  ff.; o. A.: Springbrunnen. In: Ami Ronnberg / Kathleen Martin (Hg.): Das Buch der Symbole, Köln 2011, S.   608  f. 120 Karlhans Kluncker: Dichtung und Buchschmuck. Melchior Lechter zum 50. Todestag. In: Goldschmidt (Hg.), Lechter (Anm.   107), S.   20–60, hier S.   42. 121 Zu diesem generellen Befund der Buchornamentik um 1900 vgl. Annette Si-

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von der buddhistischen Schutzgöttin Benzaiten herleitet,122 veredeln zwar zunächst auf form- und farbschöne Weise die Buchoberfläche, doch sind die Bildornamente spürbar auf Repräsentation allegorischen Sinns angelegt. Insofern sich Herodias selbst als „SCHLANGE UNNAHBAR“123 charakterisiert, ist die Wahl des Tieres zudem eng mit dem Text verbunden. Wie bereits der Pfau symbolisiert die Schlange die Titelheldin, die sich in dem raren, ebenso unnahbaren Buchartefakt gleichsam verdoppelt. Der fetischisierte Buchkörper, der die Leser:innen in die Imagination der ‚Herodias‘-Welt und damit auch des weiblichen Körpers leiten soll, ist aus Huysmans’ Roman ‚À rebours‘ bekannt. Georges und Lechters Band orientiert sich an diesem Vorbild, weil auch dessen Optik insgesamt darauf angelegt ist, die harte Buch- und Schriftmaterialität auf ein Imaginäres hin durchlässig, nicht aber vergessen zu machen. Gelesen mit Gerhart von Graevenitz, artikuliert sich in dem ornamentalen und typographischen Erscheinungsbild der ‚Herodias‘ das Ideal hermeneutischer Transparenz. Das Druckmedium ist augenscheinlich als Textbild konstruiert und dirigiert – man denke an das Säulenportal – den betrachtenden Blick in die Bahn eines (verstehenden) Durchblicks.124 Dass die Tiefenperspektive auf dem tempelförmigen Einband gestalterisch nur evoziert, zeichnerisch aber nicht umgesetzt ist, spricht für ein kalkuliertes Spiel mit der materiellen Buchtiefe: Kraft des Buchkörpers können sich die zweidimensionalen Papiersäulen ihrer Tiefe gewiss sein und daher auf Trompe-l’œil-Effekte verzichten. Jenes Wechselspiel zwischen Papierfläche und konkretem sowie vorgestelltem Raum spiegelt dabei nicht nur die künstlerische Finesse, sondern indirekt auch die labile mediale Konstellation wider, innerhalb derer sich die Lektüre der ‚Herodias‘ zuträgt. Besonders die Monumentalschrift, die eine Vertiefung des Papierblocks insinuieren soll, macht auf das „‚Oszillieren‘ zwischen Materialität und Immaterialität des Zeichens“ aufmerksam

monis: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000, S.   143  f. 122 Vgl. Zanucchi, Transfer und Modifikation (Anm.   9), S.   170. 123 Stéphane Mallarmé: Herodias. Umdichtung von Stefan George. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm.   59), S.   99–109, hier S.   106 (Seite 10 im ‚Herodias‘-Exemplar II). 124 Vgl. Graevenitz, Ornament des Blicks (Anm.   14), bes. S.   4–30.

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und strebt gleichzeitig danach, die „Opazität des Mediums“ zu übersteigen.125 Was das ‚Herodias‘-Buch vermöge seines visuellen Gepräges zur Schau stellt, ist folglich jene Grenzsituation, „in der der Blick von der materialen Dichte des Mediums abgleitet und durchstößt zur reinen Sichtbarkeit des Dargestellten.“126 Für das intendierte Überspielen der Buchrealität spricht ferner die durchgängige Farbgebung von Schrift und Ornamentik in harmonischem Gold und Blau, wobei der Text in blauer Farbe, nur der Neben- und ein Teil des Paratextes in Gold gedruckt sind. Beide Farben signalisieren, wiederum erinnernd an die schillernde Schriftlichkeit in Antike und Mittelalter, ein göttliches Jenseits der Erfahrung;127 und sie zitieren den „traum in blau und gold“ aus der ‚Hymnen‘-Aufschrift Stefan Georges.128 Denkt man an die literaturhistorisch bedingte Aufladung der Farbe Blau und speziell an die „blaue stunde“, die in Georges gleichnamigen Gedicht „[w]ie eine tiefe weise“129 erklingt, dann weist das Blau der Schrift die lesenden Augen förmlich dazu an, den gedruckten Text zugunsten eines wie auch immer gearteten nicht fasslichen, ‚tiefen‘ Raums transparent werden zu lassen. Traditionell wird dem Blau in der Kunsttheorie eine sinnliche Tiefenwirkung zugeschrieben, die in der ‚Herodias‘ das Schriftbild, gleich einem Gemälde, einlösen soll.130 Mehr schwebend denn im

125 Ebd.,

S.   28. Ebd., S.   167. 127 Vgl. Ulrich Ernst: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration. Wissen und Wahrnehmung, Heidelberg 2006, S.   257–279; Angelika Overath: Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht, Stuttgart 1987, S.   2  ff. 128 Zu dieser Beobachtung vgl. Zanucchi, Transfer und Modifikation (Anm.    9), S.   170  f., Anm.   422. George selbst gab die Richtung für die Farbgestaltung vor. Etwas rätselhaft schreibt er an Lechter, dass er „lebhaft an die decke aus veilchenblauer leinwand mit tiefgelbem druck [denke]“, womit auch seine Lieblingsfarben benannt sind. George an Lechter, 1. 5. 1900. In: Lechter / George, Briefe (Anm.   4), S.   125. Vgl. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 22007, S.   371. Interessanterweise findet sich auch bei Mallarmé ein eher alltagsweltlicher ‚Traum in Gold und Blau‘: Sein Frauenmagazin ‚La Dernière Mode‘ zeigt in einer Ausgabe eine Dame im festlichen dunkelblauen Kostüm mit goldenen Säumen und Schleifen. Vgl. hierzu die Abbildung in Arnar, The Book as Instrument (Anm.   21), S.   249 (Plate 9). 129 SW V, S.   62. 130 Vgl. Overath, Das andere Blau (Anm.   127), S.   21–29. 126

Architektonische Tiefe und weiße Flächen167

harten Schwarz-auf-Weiß verweisen die dunkelblauen, in die Luft gemeißelten Zeilen getreu dem romantischen Blau-Kult auf Ideenhimmel, transzendentale Vertiefung und (genieästhetische) Introversion. Relevant ist hierbei auch, dass das Blau im Werk Stéphane Mallarmés eine prominente Rolle spielt. Als Dichter des ‚Azur‘ erhob er den Farbton zum Inbegriff reiner Klangpoesie.131 Das ‚Herodias‘-Blau mag ein Bekenntnis zu ebendieser Utopie sein. Denn „[s]chon beim Anblick des Buches, der Seiten, soll uns die unsichtbare Seele der Verse, der Prosa wie stumme Musik umfangen“,132 erklärt Melchior Lechter in seinen buchkünstlerischen Grundsätzen. Indessen steht die Farbwahl erheblich quer zur Blau-Aversion der Herodias. „DER AZUR – / SERAPHISCH LÄCHELT ER IM TIEFEN FENSTER. . / ICH HASSE IHN DEN SCHÖNEN AZUR“,133 bekundet sie gegen Ende des Dialogs. Peter Szondi hat diese Stelle als Mallarmés „Absage an das Reich der Idee“ betrachtet, als „die Überwindung des romantischen, identitätsphilosophischen Idealismus seiner Jugendlyrik im Sinne einer Zuwendung zu Realien“.134 Folgt man dieser Lesart, dann stellen die in Blau und Gold aufglänzenden Inschriften bei George und Lechter ein letztes Aufbäumen dieses „Ideenreichs“ dar; vielleicht kommentieren sie sogar die Vergeblichkeit des Versuchs, sich von der metaphysischen „TIEFE“ des azurblauen Fensters gänzlich loszusagen. Vordergründig scheint sich die Ästhetik des ‚Herodias‘-Sonderdrucks, wie bis hierhin zu sehen war, immerhin nicht darum zu bemühen, Buch und Text als diesseitige Realien auszustellen. Auch wenn die farbigen Schrifttypen und das funkelnde Rahmendekor dazu einladen, sich sehend-lesend an die reale, gewissermaßen reflektierende Oberfläche der ‚Herodias‘-Schrift anzuschmiegen, sind die Lichteffekte doch als Überleitung in die innere visio und rêverie gemeint. Dennoch wird einem „close looking“135 nicht entgehen, dass das luxuriöse weiße Büttenpapier im ‚Herodias‘-Buch eine eigentümliche 131 Vgl.

ebd., S.   51–66. Vgl. ferner Susan Harrow: Colourworks. Chromatic Innovation in Modern French Poetry and Art Writing, London 2020, S.   49–55. 132 Melchior Lechter: Das Buch als Kunstwerk und sein inneres Gesetz [1917]. Zit. nach Raub, Lechter als Buchkünstler (Anm.   64), S.   15–18, hier S.   15. 133 Mallarmé, Herodias (Anm.   123), S.   107 (Seite 11 im ‚Herodias‘-Exemplar II). 134 Szondi, Das lyrische Drama (Anm.   1), S.   137. 135 Lisa Müller: Schriftpoesie. Eigenbedeutung lyrischer Schriftlichkeit am Beispiel Thomas Klings, Paderborn 2021, S.   92.

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Präsenz bewahrt; umso mehr, als man sich nach Betreten der pergamentenen ‚Halle‘ durch mehrere Leerseiten blättert, bevor man auf das Titelblatt stößt. Gleiches gilt nach der Lektüre für den Austritt aus dem Buch. Gemessen an früheren Arbeiten Lechters räumen darüber hinaus Satzspiegel und Druckbild der papierenen Weiße weitaus mehr Platz ein, was vermutlich auch auf Drängen Stefan Georges geschah, der Lechters verspielt-ornamentalem Stil immer kritischer gegenüberstand.136 Während sie mit dem demonstrativen Weiß wohl auf Herodias’ lilienhafte Reinheit und Jungfräulichkeit anspielen, lässt sich abseits dieser figurativen Ebene festhalten, dass die flimmernden Schrifttafeln rechts und links der Buchfalz sich zum einen zwar vom weißen Grund abzuheben scheinen, dabei zum anderen aber erst recht ihren materiellen, realen Untergrund betonen (Abb.   6). Der Dekorrahmen, der die Seiten in ein inneres und äußeres Weiß teilt, wirft gerade nicht nur ein funkelndes Licht auf die Schrift, sondern nebenbei auch auf ihr ‚randständiges‘ Komplement: namentlich das weiße Papier. Sicherlich ist die Gestaltung der ‚Herodias‘-Doppelseiten nicht mit den typographisch so kühnen Konstellationen des ‚Coup de dés‘ vergleichbar und hegt – mit Blick auf Textbild und Rahmen – konträr zu Mallarmés Arbeit die Absicht, das Lesen zu zentrieren statt zu dynamisieren. Der Praxistest aber belegt, dass die Seiten der ‚Herodias‘ mitnichten umstandslos die Lektüre eröffnen. Vielmehr sorgen die nicht sofort eingängigen, dicht gesetzten Versalien für eine kaum überwindbare Distanz, für ein zuweilen mühsames Starren auf die Lettern, deren Medialität und Materialität den verstehenden Durchblick irritieren. Zu keiner Zeit verliert man beim Lesen den Eindruck, sich auf einer kons­ truierten, geschmückten und weiterhin undurchdringlichen Papierfläche zu bewegen. „[Z]wei gegenüberliegende Druckseiten sollen sich zum organischen Flächenbilde […] zusammenschliessen“,137 heißt es bei Melchior Lechter. Genau in diesem Begriff des Flächenbildes, der im Übrigen auch für Lechters Ornamentik gilt, kondensiert sich die Tatsache, dass imaginäre Transparenz eben nicht ohne die raue Fläche des Papiers oder 136 Vgl.

hierzu Wulf D. von Lucius: Die buchkünstlerische Gestaltung der Werke Stefan Georges – Solitär oder Zeitstil? In: George-Jahrbuch 9, 2012/13, S.   69–91, hier S.   85–91. 137 Lechter, Das Buch als Kunstwerk (Anm.   132), S.   15.

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Abb.   6 ‚Herodias‘-Doppelseite, Exemplar VII, mit breiten weißen Rändern und lockerem, nicht blockhaft geschlossenem Druckbild (StGA)

die platten Buchstaben zu haben ist. Am stärksten äußert sich diese „rätselhafte Grenze zwischen harter Materialität und dem Imaginären“138 auf dem Rückdeckel der ‚Herodias‘ (Abb.   4). In der offenen Mitte des goldgeprägten Säulenornaments, die auf dem Vorderdeckel noch das Urnensignet enthielt, zeigt sich nun völlige Leere. Die Augen stranden auf dem hellbeigen, mittlerweile stockfleckigen Pergament. Der Durchblick auf ein immaterielles Dahinter, den der nur mit wenigen Linien hergestellte ‚architektonische‘ Rahmen, in noch reduzierterer Form auf den Textseiten, präfigurierte, gerät jetzt offensichtlich zum Draufblick. Melchior Lechters ambivalentes „Raumornament“139 manifestiert hier, am Schluss der Lektüre, nochmals die Materialität der Buchfläche, von der poetische Imagination nicht zu trennen ist. Inszeniert als ätherisch-erhabenes Dichtwerk, als ein Werk, das paradoxerweise zugleich Luft und Stein, unsichtbar leicht und stofflich hart ist, verrät das ‚Herodias‘-Buch von George und Lechter, dass sprachlich-imaginative Bedeu138 Graevenitz, 139

Ornament des Blicks (Anm.   14), S.   226. Treffers, Lechters Buchkunst (Anm.   116), S.   13.

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tungswelten prinzipiell auf handfestes (Zeichen-)Material angewiesen sind.140 Sogar schon die erste Textseite der ‚Herodias‘ spielt unfreiwillig auf die Überlagerung von Imaginärem und materialen Bedingungen an, wenn dort die letzte Zeile des poème mit dem Wort „ENTBLÄTTRE“141 endet (Abb.   5) – und so aus dem fiktionalen Rahmen in die körperlich-materielle Realität des Lesens übergreift, um daraufhin wiederum ein phantasiertes Tête-à-Tête mit dem weiblich konnotierten Buch-Leib anzustiften. Der Buchfalten-Freund Stéphane Mallarmé hätte gewiss Gefallen an dieser versteckten performativen Aufforderung gefunden, in der Seite-Aufblättern und Sinn-Entblättern überaus sinnfällig zusammenfallen. IV. Schluss Aus der von Stefan George geplanten „schöne[n] kleine[n]“ Ausgabe der ‚Herodias‘ ist unter den Händen Melchior Lechters ein Buch-Monument gewordenen, das ob seiner bibliophilen Pracht in der deutschen Buchkunst um 1900 kaum seinesgleichen findet. Nicht aber wegen dieser solitären Stellung lohnt es sich, dem Artefakt Beachtung zu schenken. Vielmehr erzählt die kostbare ‚Buch‘-Übersetzung von den Hoffnungen und Umtrieben europäischer, mindestens deutsch-französischer Buchkultur im Fin de siècle. Das elitäre Verhältnis zum Buch als Stätte rätselhaften Tiefsinns eint den Autor Stéphane Mallarmé und das Duo George-Lechter. Während nach Mallarmé der geschlossene, räumliche Codex mit seinen Falzungen per se für das Bewahren und Auffinden dahinterliegender Bedeutung bürgt, inszenieren Lechter und George den faktisch dünnen ‚Herodias‘-Block buchstäblich als antik-spirituellen Tempelbau.

140 Zur

„materialästhetischen Dimension“ auch in Georges Spracharbeit vgl. ferner Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde, Göttingen 22010, S.   475–506. 141 Mallarmé, Herodias (Anm.   123), S.    101 (Seite 5 im ‚Herodias‘-Exemplar II). Das Wort erscheint im Kontext dieser Verse der Herodias: „ICH STEHE / VON FREMDER HEIMAT TRÄUMEND UND ENTBLÄTTRE / WIE ÜBERM BRUNNEN DESSEN STRAHL MICH GRÜSST / DIE BLEICHEN LILIEN DIE IN MIR SIND“. Ebd., S.   101  f.

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Es bleibt Spekulation, ob der früh verstorbene Mallarmé mit Georges deutscher Übersetzung der ‚Hérodiade‘ zufrieden gewesen wäre. Innerhalb des überschaubaren Briefwechsels der beiden Dichter finden sich allein für Georges Übertragungen von ‚Frisson d’hiver‘ (‚Winter-Schauer‘), ‚Brise marine‘ (‚Seebrise‘) und ‚Apparition‘ (‚Erscheinung‘) enthusiastische Lobesworte des „Maître“, der allerdings die deutsche Sprache gar nicht beherrschte.142 Mit einiger Gewissheit lässt sich jedenfalls behaupten, dass der Aufputz der materiellen Übersetzung nicht den Geschmack des französischen Autors getroffen hätte. Trotz des beiderseitigen Bedürfnisses nach metaphysischer (Buch-)Tiefe entspricht die ‚Herodias‘-Prunkausgabe in ihrem weihevollen Versinnlichungsdrang nicht der von Mallarmé kultivierten Buchästhetik, die sich durch einen anti-ornamentalen und textzentriert-sachlichen Gestus auszeichnet.143 Ein Vergleich der ‚Herodias‘ mit der buchkünstlerischen Praxis Mallarmés, etwa mit seiner illustrierten Sonderedition von ‚Le Corbeau‘, würde diese Einschätzung wohl bestätigen.

142 Vgl.

Mallarmé an George, 3. 2. 1893. In: George / Mallarmé, Briefwechsel (Anm.   59), S.   65  f. sowie Mallarmé an George, 29. 3. 1897. In: ebd., S.   75  f. Georges erste Übersetzungskostprobe der ‚Hérodiade‘, die noch fünf Jahre vor Mallarmés Tod erschien, wird darin nicht erwähnt. 143 Vgl. Luce Abélès: „Je suis pour – aucune illustration“: Mallarmé et le livre illustré. In: Yves Peyré (Hg.): Mallarmé 1842–1898. Un destin d’écriture, Paris 1998, S.   109–115; Arnar, The Book as Instrument (Anm.   21), S.   57–239.

Kai Kauffmann

Poetik der Freundschaft. Eine Fallstudie zur Praxis wechselseitiger Übersetzungen und Widmungen bei Stefan George und Wacław Rolicz-Lieder

I. Die dichterische Zusammenarbeit der europäischen Symbolisten Nachdem Stefan George (1868−1933) bei seinem ersten, von Mai bis August 1889 dauernden Aufenthalt in Paris einige französische Dichter aus dem ‚Cercle‘ Stéphane Mallarmés persönlich kennengelernt hatte und 1890 sein erster Gedichtband ‚Hymnen‘ in Berlin als Privatdruck erschienen war, trug er von deutscher Seite aus zum Aufbau eines europäischen Netzwerkes von symbolistischen Autoren der jüngeren Generation bei.1 Dazu gehörte die 1892 erfolgte Zeitschriftengründung der ‚Blätter für die Kunst‘,2 in denen er, neben eigenen Gedichten, nicht nur Originaltexte deutschsprachiger Autoren publizierte, sondern auch – überwiegend von ihm selbst stammende – Übersetzungen aus anderen Literatursprachen. So enthielten die Zeitschriftenbände der ersten drei Folgen, die zwischen Oktober 1892 und Oktober 1896 erschienen, Übertragungen von Aloysius Bertrand, Charles Baudelaire,  1 Der

vorliegende Aufsatz ist unter demselben Titel in der Festschrift für eine Bielefelder Kollegin erstveröffentlicht worden, vgl. Bettina Kluge / Wiltrud Mihatsch / Birte Schaller (Hg.): Kommunikationsdynamiken zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Festschrift für Barbara Job zum 60. Geburtstag, Tübingen 2020, S.   15–168. Für die Erlaubnis der Zweitveröffentlichung (bei der kleinere Fehler korrigiert werden konnten) danke ich dem Narr Francke Attempto Verlag. – Zu Georges Aufbau eines europäischen Netzwerks vgl. Verf.: Stefan George. Eine Biographie, Göttingen 2014, S.   49–56.  2 Im Folgenden werden, wie in der George-Forschung üblich, die ‚Blätter für die Kunst‘ mit der Sigle „BfdK“ und römischen Ziffern für die jeweilige Folge und lateinischen Ziffern für den jeweiligen Band der Zeitschrift nachgewiesen: Blätter für die Kunst. Begründet von Stefan George. Hg. von Carl August Klein. 1/1892−12/1919, Düsseldorf – München 1968 [Neudruck in 6 Bden.]. Üblich ist auch, dass die kommentierte Ausgabe der ‚Sämtlichen Werke‘ mit der Sigle „SW“ zitiert wird: Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von der Stefan George Stiftung. Bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart 1982–2013.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-006

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Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé, Henri de Régnier, Jean Moréas, Francis Vielé-Griffin, Albert Saint-Paul, Gabriele d’Annunzio, John Ruskin, Algernon Charles Swinburne, Willem Kloos, Albert Verwey, Herman Gorter, Jens Peter Jacobsen und Wacław Rolicz-Lieder.3 Dass George die zeitgenössischen Autoren, die Dichtungen zu seiner Zeitschrift beisteuerten, als Freunde der ‚Blätter für die Kunst‘ bezeichnete, hatte zwei unterschiedlich gelagerte, aber eng aufeinander bezogene Gründe. Zum einen kannte George die meisten Beiträger persönlich und legte großen Wert auf freundschaftliche Verbindungen. Zum anderen verstand er die dichterische Zusammenarbeit, die sich im Medium der Zeitschrift vollzog, selbst als eine freundschaftliche Praxis im Dienste einer gemeinsamen, auch die Grenzen der eigenen Sprache überschreitenden Kunstauffassung. Deutlich über das Vorbild von Mallarmés Pariser ‚Cercle‘ hinausgehend, in dem der ‚Maître‘ die Dichtungen seiner wohlwollend als „amis“ titulierten jüngeren Schüler lediglich zur Kenntnis nahm, verknüpften George und einige seiner etwa gleichaltrigen Mitstreiter die soziale Form der persönlichen Freundschaft mit ästhetischen und medialen Praktiken dichterischer Zusammenarbeit. Für den Aufbau eines europäischen Netzwerkes symbolistischer Autoren spielte das wechselseitige Übersetzen eine konstitutive Rolle. Als Albert Saint-Paul (1861−1946) im Oktober 1891 einen Artikel über Stefan George in der Pariser Literaturzeitschrift ‚L’Ermitage‘ veröffentlichte, stellte er diesen nicht nur als den ersten, von der französischen Poesie stark beeinflussten symbolistischen Dichter in Deutschland vor, sondern ergänzte seine Charakteristik auch durch die exemplarische Übersetzung zweier Gedichte aus den ‚Hymnen‘. Von diesen Gedichten, ‚Verwandlungen‘ und ‚Strand‘, die von George selbst im Hinblick auf das französische Publikum der Zeitschrift ausgewählt worden waren, hatte er Saint-Paul eine Rohfassung der Übersetzung geschickt – ein zwischen europäischen Symbolisten nicht allein aus pragmatischen Gründen praktiziertes Verfahren, das uns in der Dichterfreundschaft mit Wacław Rolicz-Lieder (1866–1912) ausführlicher beschäftigen wird. Umgekehrt erschienen dann 1893 in den ‚Blättern für die Kunst‘ Georges Übersetzungen von Gedichten aus Saint-Pauls ‚Pétales de Nacre‘.  3 Vgl.

Steffen Martus: Geschichte der Blätter für die Kunst. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   1, Berlin – Boston 2012, S.   301−364, bes. S.   310.

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Die wechselseitigen Übersetzungen waren für die symbolistischen Dichter mehr als ein strategisches Hilfsmittel, um das eigene ‚symbolische Kapital‘ im ‚literarischen Feld‘ (Pierre Bourdieu) zu vermehren, die internationale Bekanntheit der befreundeten Autoren zu erhöhen und die Kunstauffassung des Symbolismus4 in ganz Europa durchzusetzen. Sie waren für sie zugleich eine praktische Konsequenz aus der sprach- und literaturtheoretischen Grundannahme, allen Sprachen sei das poetische Vermögen gemeinsam, durch Laute, Bilder, Metren, Kadenzen, Reime und andere formale Mittel bestimmte Seelenstimmungen zu evozieren und Denkbewegungen zu symbolisieren. Obwohl die Symbolisten nicht der romantischen Idee einer poetischen Ursprache nachhingen und sie sogar umgekehrt den eigentümlichen Charakter jeder Sprache, was etwa ihre lautlichen Formen betrifft, als Basis der jeweiligen Dichtung betonten, gingen sie doch von einer verwandtschaftlichen Ähnlichkeit zumindest zwischen den europäischen Literatursprachen aus. Ihr ästhetisches Sensorium für die eigene Sprache ermöglichte es den symbolistischen Dichtern daher, die analogen Verfahren in fremdsprachigen Dichtungen zu erkennen und die durch sie evozierten Stimmungen wenigstens zu erahnen. Das glaubten sie jedenfalls selbst. Als Stéphane Mallarmé, des Deutschen weitgehend unkundig, Stefan George für ein Heft der ‚Blätter für die Kunst‘ dankte, in dem neben der Übersetzung von Gedichten Mallarmés auch Verse aus dem ‚Algabal‘ Georges standen, schrieb er am 3. Februar 1893: Le croiriez-vous, en vous déchiffrant mal à travers une langue ignorée, vos vers Algabal, et les autres, me paraissent tout d’abord familiers, intuitivement. La mélodie au sens secret ne me trahit pas, je la perçois en tant qu’un chant certain et pur, et de qualité lyrique tout en déversant sa multiple et subtile rêverie en des intentions verbales qui m’echappent et que je sens belles.5

Auch in späteren Dankesbriefen signalisierte Mallarmé allerdings seine Unsicherheit, ob die dichterische „divination“, über die er verfügte, mehr als einen ungefähren Eindruck von der schönen Form und dem

 4 Vgl.

Paul Hoffmann: Symbolismus, München 1987. Mallarmé / Stefan George: Briefwechsel und Übertragungen. Hg. und eingeleitet von Enrico De Angelis. Mit einem Nachwort von Ute Oelmann, Göttingen 2013, S.   65.

 5 Stéphane

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träumerischen Charakter der deutschsprachigen Gedichte Georges zu erfassen vermochte.6 Für Übersetzungen war das natürlich nicht genug. Hier musste es den symbolistischen Dichtern vor allem darum gehen, das formale Gefüge der Laute, Bilder, Metren, Kadenzen, Reime etc. so nachzubilden, dass, bei möglichst großer Ähnlichkeit mit dem Original, die Übersetzung als poetisches Äquivalent in der Zielsprache funktionierte. Wenn dies annäherungsweise gelang, so trat die Übersetzung als fast gleichwertiges sprachliches Kunstwerk neben das Original. Das erklärt, warum George seine Übertragungen als Teil des eigenen dichterischen Oeuvres auffasste,7 und auch, dass Wacław Rolicz-Lieder, wie wir noch sehen werden, in eine Sammlung seiner polnischen Gedichte die deutschen Übersetzungen Georges mit aufnahm. Die wechselseitigen Übersetzungen der Symbolisten intensivierten die Beziehungen zwischen den miteinander verwandten Literatursprachen, die nun, ohne ihren je eigenen Charakter aufzugeben, ein gemeinsames Ziel verfolgten. Durch die Übertragung fremdsprachiger Dichter mit ihren vorbildlichen Werken sollte die Reform der Kunstauffassung im eigenen Land unterstützt werden. Genau in diesem Sinn argumentierte George im Vorwort zu dem im Oktober 1896 erscheinenden Band der ‚Blätter für die Kunst‘, wenn er dort eine Zwischenbilanz der erfolgreichen Arbeit zieht: Mit grosser vorsicht haben wir die ausländischen hervorragenden meister eingeführt, die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren. vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war. (BfdK III 5, S.   131)

 6 Vgl.

Mallarmés Briefe an George vom 23. Februar 1896 und vom 11. Januar 1898 (ebd., S.   72 bzw. 95).  7 Vgl. Roger Bauer: Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges. In: Eckhard Heftrich / Paul Gerhard Klussmann / Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Stefan George Kolloquium, Köln 1971, S.   160−177; Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S.   192–209.

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Die wechselseitigen Übersetzungen schufen zugleich eine neuartige Form geteilter Autorschaft von international vernetzten Dichtern, bei der der Übersetzer die Kunstwerke des anderen Dichters – im doppelten Sinn des französischen Wortes – interpretierte. Das verstärkte bei den Autoren gleichermaßen ihr Selbstbewusstsein wie das Gruppengefühl, als Vorkämpfer der symbolistischen Dichtung in der eigenen Literatur zu einer internationalen Avantgarde zu gehören. Und die Übersetzungsarbeit konnte darüber hinaus zu einem verbindenden Element in den persönlichen Freundschaften zwischen Autoren werden, die räumlich entfernt von einander lebten. Letzteres galt im Falle von Stefan George besonders für seine Freundschaften mit dem niederländischen Dichter Albert Verwey und dem polnischen Dichter Wacław Rolicz-Lieder. Dass daneben auch gegenseitige Widmungsgedichte, die sich dann wieder für wechselseitige Übersetzungen anboten, eine wichtige Rolle für eine Poetik und die Praxis der Freundschaft spielten,8 lässt sich speziell in der Beziehung von George und Rolicz-Lieder studieren.

II. Stefan Georges Übersetzungen von Wacław Rolicz-Lieders Gedichten in den ‚Blättern für die Kunst‘ Möglicherweise haben sich Stefan George und der polnische Dichter Wacław Rolicz-Lieder, der von 1888 bis 1897 dauerhaft in Paris lebte, schon im September 1891 bei Besuchen im abendlichen ‚Cercle‘ Mallarmés in der Rue de Rome getroffen. Nachdem der gemeinsame Freund Albert Saint-Paul einen postalischen Austausch von Gedichtbänden vermittelt hatte, entstand eine engere Verbindung im Frühjahr 1892, als sich George wieder für einige Wochen in Paris aufhielt. Spätere, jeweils auf

 8 Jutta

Schloon bemerkt zu dieser dichterischen Praxis, dass sie in der zeitgenössischen Lyrik sehr verbreitet war: „Die gegenseitige Anerkennung und zum Teil auch freundschaftliche Verbundenheit schlug sich in einem Geflecht von Dedikationen sowie Preis- und Widmungsgedichten nieder.“ Jutta Schloon: Zeitgenössische Dichter. In: Stefan George und sein Kreis (Anm.   3), S.   269−290, hier: S.   271. Sie verweist u. a. auf Swinburnes ‚Widmung‘ an Edward Burne-Jones. Vgl. auch den Sammelband ‚Freundschaftsdichtung in den Niederlanden‘ mit Widmungsgedichten von Jacques Perk, Willem Kloos und Albertt Verwey. Aus dem Niederländischen übertragen und mit einer Einführung versehen durch Rudolf Eilhard Schierenberg, Heidelberg 1996.

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wenige Stunden oder Tage beschränkte Zusammenkünfte der beiden Dichter fanden am 11. Juli 1892 in Berlin, im Juni 1894 in Wien, im November 1894 in München, im Juni 1895 sowie von Ende Februar bis Anfang März 1896 in Paris, im Juli 1897 in Bingen und schließlich, nach fast zehnjähriger Unterbrechung, im September 1906 in Berlin statt.9 Bereits seinem ersten Brief an George vom 20. Dezember 1891, in dem er nicht nur für die Übersendung der ‚Hymnen‘ dankte, sondern auch auf Saint-Pauls Übersetzungen aus diesem Band in ‚L’Ermitage‘ einging, legte Rolicz-Lieder drei seiner eigenen Gedichte in einer Interlinearversion bei, genauer „en traduction (mot à mot) française“.10 Der Kontext des Briefes lässt vermuten, dass die französische Interlinearversion als Basis für eine deutsche Übersetzung durch George dienen sollte. Zu diesem Zeitpunkt verfügte George aber noch über kein eigenes Zeitschriftenorgan. Erst nach der seit Frühjahr 1892 geplanten Gründung der ‚Blätter für die Kunst‘ begann er, wie oben aufgelistet, symbolistische Dichter aus anderen Sprachen ins Deutsche zu übertragen und sie so im Leserkreis seiner nur in ausgewählten Buchhandlungen erhältlichen Zeitschrift bekannter zu machen. Der dritte Band der zweiten Folge, der im August 1894 erschien, brachte fünf Gedichte Rolicz-Lieders, darunter ‚Das Buch‘ (‚Ksia˛z˙ka‘), das vermutlich zu den von Rolicz-Lieder in seinem ersten Brief für die Übersetzung ausgewählten Texten gehört hatte.11 George stellte der Gruppe die redaktionelle Notiz voran: Wir führen unsern freund den polnischen Dichter WACLAW LIEDER mit diesen gedichten ein, von denen das erste, ‚das Buch‘, in seinen ‚Poezye‘ enthalten ist, die übrigen zum erstenmal in dieser übertragung veröffentlicht werden. (BfdK II 3, S.   90)

 9 Zur

Chronik der Freundschaft vgl. Georg-Peter Landmann: Eine Chronik der Freundschaft. In: Wacław Rolicz-Lieder / Stefan George: Gedichte ∙ Briefe. Hg. von der Stefan George Stiftung, Stuttgart 1996, S.   138−147, und Annette Werberger: Roliccz-Lieder, Wacław Koz´ma Damian. In: Aurnhammer, Stefan George und sein Kreis (Anm.   3), hier: Bd.   3, S.   1593−1595. 10 Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   81. 11 Vgl. Landmann, Chronik der Freundschaft (Anm.   9), S.   139.

Poetik der Freundschaft179

Bemerkenswerterweise wurden also vier der fünf Texte des polnischen Dichters zuerst in deutscher Sprache publiziert. In den nächsten Bänden der ‚Blätter‘ kamen bis Oktober 1896 einundzwanzig seiner Gedichte hinzu; deutlich später folgten als Nachzügler zwei Gedichte im Oktober 1899 und ein Gedicht im Mai 1901. Insgesamt umfasste also das Korpus der in der Zeitschrift gedruckten Übersetzungen nicht weniger als neunundzwanzig Gedichte Rolicz-Lieders.12 Als George die Übersetzungen auswählte, die 1905 in den zwei Sammelbänden der ‚Zeitgenössischen Dichter‘ erscheinen sollten, übernahm er, im Unterschied zu anderen, von ihm inzwischen weniger hoch eingeschätzten Autoren, im Falle von Rolicz-Lieder das gesamte Korpus aus den ‚Blättern‘. Bei der Redaktion dieser beiden Sammelbände im Rahmen der ‚Gesamt-Ausgabe der Werke‘ (1927  ff.) fügte George noch die Übersetzung von ‚Widmung VI‘ hinzu. Als Vorlage seiner Übersetzungen dienten George sowohl die polnischen Originaltexte, die ihm Rolicz-Lieder in handschriftlicher oder gedruckter Form zuschickte, als auch die von Rolicz-Lieder angefertigten Interlinearversionen in französischer oder deutscher Sprache. Bei wie vielen Übersetzungen ihm dieses Hilfsmittel zur Verfügung stand, ist heute aufgrund von Verlusten in Georges Nachlass nicht mehr genau zu ermitteln. Zwar finden sich dort zahlreiche Wort-für-Wort-Übersetzungen von Rolicz-Lieders Hand; zu den von George übertragenen Texten haben sich aber lediglich eine französischsprachige Interlinearversion von ‚Widmung VI‘ sowie deutschsprachige Versionen von ‚Palme in der Wüste‘, ‚Die Zauberin‘ und ‚Im Herbst des Lebens‘ erhalten. Nicht nur eine Reihe von Briefstellen macht jedoch die regelmäßige Verwendung von Interlinearversionen wahrscheinlich. Denn Georges Kenntnisse der polnischen Sprache reichten für eine direkte Übersetzung nicht aus, selbst wenn er Rolicz-Lieders Gedichte auch im Original las und sich in ihren Ton einzuhören versuchte.13 Er war also auf die Vorarbeiten seines 12 Vgl.

die Titelübersicht in Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   156  f. 13 Georg Peter Landmann zitiert einen Brief von Karl Wolfskehl an Robert Boehringer aus dem Jahr 1937, in dem Wolfskehl, der mit George seit Ende 1893 eng befreundet war, über dessen Zusammenarbeit mit Rolicz-Lieder schreibt: „Er hatte das Polnische unter der Anleitung Lieders erlernt, ließ sich die Gedichte wieder und wieder lesen, um ihres Klanges und Gefälles ganz mächtig zu werden, besprach alle Einzelheiten, jedes ihm Auffällige im Gefüge wie im

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polnischen Freundes angewiesen, der sich, das zeigt die Briefkorrespondenz, ebenso souverän wie George im Französischen bewegte und auch ein passables Deutsch schrieb. Für Sprach- und Literaturwissenschaftler, die ihrerseits über die beteiligten Sprachen verfügen, ist das Studium der drei vorhandenen Versionen des Widmungsgedichtes besonders interessant.14 WIDMUNG AN S. G. Chciałbym wiedziec´, ilu jest na ziemi

Je voudrais savoir combien il-y-a ici bas (sur   la terre)

Ich möchte wissen ob auf dieser erde

Królów tak wysokomys´lnej włas´ci,

Des rois aux pouvoirs aussi hieratiques

Es fürsten gibt so fürstensinniger kraft

Iz˙bys´ zgasna˛c´ mógł pomie˛dzy niemi

Pourque tu puisses être éclipsé parmi eux

Dass Deine durch sie überfinstert werde –

Rhythmus bis zum Wortsinn aufs sorgfältigste mit dem Dichter selbst, mit dem auch die fertige Übertragung – Lieder konnte gut deutsch – sehr genau durchgenommen wurde.“ Zit. nach Landmann, Chronik der Freundschaft (Anm.   9), S.   140. Schon Landmann merkt allerdings auf der Basis der überlieferten Briefzeugnisse an, dass diese Erinnerung höchstens auf einen Teil der Übertragungen zutreffen könne (vgl. ebd.). Sie übertreibt die Polnischkenntnisse Georges und verklärt die Zusammenkünfte der beiden Dichterfreunde, die doch viel zu selten und viel zu kurz für eine derart minuziöse Arbeit an den Übersetzungen waren. Der Realität dürfte die Einschätzung von Christoph Perels deutlich näher kommen: „Während George die französische Sprache völlig beherrschte und auch des Italienischen und Spanischen mächtig war, hatte er es hier mit einer ihm fremden Sprache zu tun. Zwar hörte er sich dank Rolicz-Lieders Rezitationen in den Klang des Polnischen und den Ton der Gedichte ein, lernte auch selbst ein wenig polnisch. Aber eine hinreichende Voraussetzung, um Poesie zu übertragen, konnte das nicht sein, so unvergleichlich auch Georges Genie der Sprachaneignung sein mochte. Rolicz-Lieder versorgte den deutschen Freund daher sowohl mit französischen als auch mit deutschen Wort-für-Wort-Übertragungen, so daß George mitunter nur zu redigieren brauchte. Das erklärt auch, warum in den ‚Blättern für die Kunst‘ Waclaw Rolicz-Lieders Gedichte mehrfach nicht unter den Übertragungen eingeordnet werden, sondern neben den Texten von deutschen Muttersprachlern stehen.“ (SW XVI, S.   126) 14 Das polnische Gedicht zit. nach Rolicz-Lieder  / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   38. Die französische Interlinearversion zit. nach SW XVI, S.   176. Die deutsche Übersetzung Georges zit. nach SW XVI, S.   96.

Poetik der Freundschaft181 Ty, co władca˛ stałes´ sie˛ bez mas´ci,

Toi qui es devenu souverain sans baume

Du der sich ohne salböl hub zum throne –

Lecz nie maja˛c stolicy na ziemi,

Mais n’ayant (pas) de trône sur terre

Doch hälst Du auch kein zepter auf der erde

Królem be˛dziesz po za nia˛ Roi [Lücke] tu seras au nad niemi? dela d’elle sur eux [Einweisungszeichen] Tu regneras

Wird über ihr und ihnen Dir die krone.

Auch wenn dem Verfasser dieses Aufsatzes die slawistische Kompetenz15 für eine tiefgehende Analyse fehlt und er sich seinerseits mit wörtlichen Übersetzungen aus dem Polnischen ins Deutsche behelfen muss, wird durch den Vergleich deutlich, dass sich George semantisch weniger an dem polnischen Original als an der französischen Version orientiert hat. So etwa im zweiten Vers, dessen polnisches Original keine Entsprechung zu „pouvoirs“ bzw. „kraft“ enthält. Noch auffälliger ist, dass George in den beiden Schlussversen die schon durch das Satzzeichen erkennbare Frage, die semantisch in der Schwebe lässt, ob der hochgesinnte Dichter auch ein König auf Erden sein und über den Herrschern dieser Welt stehen werde, in eine affirmative Aussage verwandelt. Auch diese Abweichung geht auf die französischsprachige Version zurück. Wollte Rolicz-Lieder in der ursprünglichen Version des Gedichts seine Zweifel an einer Konzeption andeuten, in der sich der Dichter auch zum Herrscher ernennt? Und tilgte er den Ausdruck von Skepsis in seiner Übersetzung, um George, der derartige Ambitionen hegte, nicht zu verstimmen? Gegen diese Interpretation spricht, dass Rolicz-Lieder sein Gedicht wohl schon Ende 1897 verfasst hat, einige Zeit bevor George mit dem ‚Teppich des Lebens‘ (1899) den Weg zum Stifter einer Kunstreligion und Gründer einer Jüngergemeinde einschlagen sollte. Aber möglicherweise hatte Rolicz-Lieder bereits in den früheren Gedichtbänden

Forschungsarbeiten zu Wacław Rolicz-Lieder und Stefan George sind bibliographisch verzeichnet in Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   154  f. Vgl. aus der deutschen Slawistik auch den auf die wechselseitigen Übersetzungen eingehenden Aufsatz von Hildegard Schroeder: Eine literarische Freundschaft zwischen Stefan George und Wacław Lieder. In: Peter Brang / Herbert Bräuer / Horst Jablonowski (Hg.): Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1967, S.   228−250.

15 Polnischsprachige

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gewisse Anzeichen für eine solche Entwicklung seines Dichterfreundes erkannt. Formal bemühte sich George, das Versmaß des polnischen Gedichts getreuer nachzubilden, als das in der französischen Interlinearversion bezweckt war. Das Reimschema (ababaa) wurde modifiziert (a/-/a/b/ a/b), vielleicht um durch die Waise einen zumindest im Deutschen langweilig anmutenden Gleichklang am Ende von vier der sechs Verse zu vermeiden. Tatsächlich wirkt seine Version durch die Modulation der Vokale „e“, „a“ und „o“ am Versende volltönend. Mit den von George gefundenen Reimwörtern „throne“ und „krone“ gelang es ihm sogar besser, als dies im polnischen Original mit seiner Wiederholung des bedeutungsschwachen Personalpronomens ‚ihnen‘ („niemi“, franz. „eux“) der Fall war, die Hoheit des Dichters im lautlich markierten Kontrast zur Sphäre der „erde“ herauszuarbeiten. Auch die Bildlichkeit des Gedichtes wurde von ihm in seinem Sinn perfektioniert: Wo im fünften Vers des polnischen Originals davon die Rede ist, dass der nicht gesalbte Dichter anders als die Herrscher auch keine ‚Hauptstadt‘ auf Erden habe („Lecz nie maja˛c stolicy na ziemi“), was in der französischen Version durch „throne“ übersetzt wird, vervollständigt George die Attribute königlicher Herrschaft „salböl“ und „thron“ durch „zepter“ und „krone“. Er verstärkte damit die – von Rolicz-Lieder in Frage gestellte – majestätische Aura. George schuf in der deutschen Version durch die Wortwahl weitere Lautkorrespondenzen („fürstensinniger“ – „überfinstert“, „ohne“ – „krone“, „zepter“ – „erde“) und verschob durch Eingriffe in die Satzstellung bedeutungstragende Nomen an das Versende, besonders prägnant in der letzten Zeile des Gedichts, das so mit „krone“ schließt. Ungewöhnliche Wörter („überfinstert“), Wortfügungen („Es fürsten gibt so fürstensinniger kraft“) und Satzstellungen („Du der sich ohne salböl hub zum throne“) machten den hohen Ton noch feierlicher. Gerade durch diese Mittel näherte George die Sprache des polnischen Lyrikers dem Stil der eigenen Dichtung an. Oder mehr in seinem Sinn formuliert: Er lieh dem Gedicht eine Stimme, die es auf die Höhe der symbolistischen Sprachkunst in Deutschland hob. Das, was aus heutiger Sicht eher als Angleichung, wenn nicht sogar als „Einverleibung“16 erscheinen mag, 16 Karlhans

Kluncker: Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges, Frankfurt a. M.   1974, S.   89.

Poetik der Freundschaft183

sollte der dichterische Vollzug einer sprachlichen Begegnung und ein künstlerischer Akt menschlicher Freundschaft sein. Dass es sich seinerseits bei dem polnischen Gedicht um eine freundschaftliche Geste handelte, machte Rolicz-Lieder durch die Überschrift der französischen Interlinearversion deutlich: „Widmung an S. G.“. Der Text selbst bezeugt die Verbundenheit, indem er thematisch auf Gedichte Georges antwortet, die von der königlichen Hoheit des Dichters sprechen. Unter anderem ist an das Gedicht ‚Kindliches Königtum‘ zu denken, das Rolicz-Lieder aus den von ihm besonders geschätzten Büchern der ‚Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘ (1895) kannte, vor allem aber an ein im ‚Jahr der Seele‘ (1897) erschienenes Gedicht, das durch die Initialien „W. L.“ als Widmungsgedicht an Lieder ausgewiesen wird. Dieses Gedicht, auf das Rolicz-Lieder wohl unmittelbar nach seiner Lektüre in den ersten Dezembertagen des Jahres 1897 mit den Versen von ‚Widmung VI‘ reagierte,17 lautet: Der seltnen Einer die das loos erschüttert Verbannter herrscher ∙ ihr erhabnes trauern Und unbemerkter tod ∙ schon weil du bist Sei dir in dank genaht ∙ durch deine hoheit Bestätigst du uns unser recht auf hoheit ∙ Verwirfst und nimmst mit königlichem wink ∙ Du richte unser manchmal schwanken tritte Und leitstern über jeder edlen fahrt. (SW IV, S.   72)

Der genau in der Mitte stehende Satz „durch deine hoheit bestätigst du uns unser recht auf hoheit“ ist auch für die Bedeutung des Gedichts zentral. George beschwor hier eine seelische Verbundenheit befreundeter Dichter, die er einige Jahre zuvor vergeblich in dem als „zwillingsbruder“ apostrophierten Hugo von Hofmannsthal gesucht hatte.18

17 In

seinem Brief an George vom 3. Dezember 1897 dankte Rolicz-Lieder für ‚Das Jahr der Seele‘ im Allgemeinen und das Widmungsgedicht im Besonderen. Mit der Frage „Combien il y a-t-il des rois ici bas qui seraient autant souve­ rains que vous l’êtez?“ fasst er dabei den Kerngedanken seines Antwortgedichts zusammen oder nimmt ihn vorweg. Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   105. 18 Vgl. u. a. Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007, S.   9–27, und Jürgen Egyptien: Stefan George. Dichter und Prophet, Darmstadt 2018, S.   76–89.

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Gegen den Verdacht, er beweihräuchere damit hauptsächlich sich selbst und ehre in Rolicz-Lieder lediglich den einfühlsamen Leser der ‚Pilgerfahrten, des Algabal‘ sowie der ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘, spricht die Tatsache, dass er von keinem anderen zeitgenössischen Dichter so viele Verse übersetzt hat, wie von dem polnischen Lyriker. Es sah in Wacław Rolicz-Lieder einen der bedeutendsten Dichter des europäischen Symbolismus und hielt an dieser Wertschätzung sein Leben lang fest.

III. Übersetzungen und Widmungen in Wacław Rolicz-Lieders Gedichtbänden Für Rolicz-Lieder, der, in den 1890er Jahren überwiegend in Paris lebend, für seine in Krakau privat in kleinen Auflagen gedruckten Gedichtbände kaum polnische Leser fand, bedeutete die Anerkennung durch Stefan George und die Übersetzung von Gedichten in den Blättern für die Kunst sehr viel. Als George im Januar 1894 das zur Reihe der ‚Preisgedichte auf einige junge Männer und Frauen‘ dieser Zeit gehörende Gedicht ‚An Kallimachus‘ in seiner Zeitschrift veröffentlichte, verstand Rolicz-Lieder die Verse zurecht als eine an ihn adressierte Reminizenz des Berliner Treffens vom 11. Juli 1892. Es reicht hier, die ersten vier Zeilen zu zitieren: Als deine treusten geleiter stehen wir am hafen      Zu des gerüsteten schiffes brüstung schauen wir Trennung-beklommen dich teuren unserm arm entrissen      Lang schon der unsre geworden ob auch fremden bluts (BfdK II 1, S.   6)

Der am Jahresende 1895 erscheinende Band der ‚Bücher der Hirtenund Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘, in den das Gedicht leicht überarbeitet aufgenommen wurde, trug zudem die Widmung „SEIEN DIESE SEITEN MIT DEN NAMEN DREIER DICHTER GESCHMÜCKT: PAUL GERARDY WENZESLAUS LIEDER KARL WOLFSKEHL“ (SW III, [S.   5]). Auf die erste Veröffentlichung des Gedichts reagierte Rolicz-Lieder, glücklich und dankbar, am 2. Juli 1894 mit der Ankündigung, er werde die Verse ins Polnische übersetzen:

Poetik der Freundschaft185 Le depart de Kallimachus me plaît enormement. Comme il est antique ce poëme! Je traduirai cette pièce en polonais. La traduction sera presque verbalement faite et pourtant elle gardera la beauté de l‘original.19

Vermutlich dachte er zu diesem Zeitpunkt daran, die Übersetzung von ‚An Kallimachus‘ in seinen nächsten Gedichtband aufzunehmen. Nachdem aber in den ‚Blättern‘ die ersten Übersetzungen eigener Gedichte veröffentlicht worden waren, entschied Rolicz-Lieder sich bei der Planung der Sammlung ‚Wiersze III‘ für eine andere Form der dichterischen Kooperation und freundschaftlichen Korrespondenz mit George. In einem Brief vom 1. November 1895 heißt es: Je vous envoi des vers inedits en traduction banale. Faites en quelque chose si vous pouvez. Si vos traductions seront prêtes dans le courant de ce mois je les donnerai avec les anciennes a la fin de mon troisième volume qui s‘imprime actuellement a trente exemplaires a Cracovie.20

Die Komposition von ‚Wiersze III‘ baute Rolicz-Lieder so auf, dass er im Anschluss an seine polnischsprachigen Gedichte die sechs bis dahin in den ‚Blättern‘ erschienenen Übersetzungen abdruckte21, eingeleitet durch Georges Widmungsgedicht ‚An Kallimachus‘ im Original. Um den polnischen Lesern die Verdopplung seiner Gedichte in deutscher Sprache zu erklären, stellte er den Zweizeiler voran: „Tu cszy ucho smutnym trenem / Jak pies´n´ polska echowo zagrała nad Renem“ (in Georg Peter Landmanns Übersetzung: „Hier lies ∙ das ohr gestillt von dem trauergesang ∙ / Wie das polnische lied im echo am Rheine klang“).22 Wenigstens der Verfasser dieses Aufsatzes kennt aus der

19 Rolicz-Lieder / George,

Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   83. Ebd., S.   86. 21 Es handelt sich um die Übersetzungen der Gedichte ‚Ballada o poczciwej dziewczynie‘ (‚Ballade von einer teuren maid‘ / „Meine geliebte hat augen wie ein see …“), ‚Mygły jesienne‘ (‚Im Nebel des Herbstes‘), ‚Ksia˛z˙ka‘ (‚Das Buch‘), ‚Palma na pustyni‘ (‚Die Palme in der Wüste‘), ‚Lelije kwiaty dziwne‘ (‚Lilien eigene Blumen‘), ‚Sa˛ miesc‘ (‚Der orte giebt’s‘) und ‚Modlitwa na organy‘ (‚Gebet für Orgel‘ / „Wach auf, die du mich geleitet durch einsame jahre …“). Mit Ausnahme von ‚Ksia˛z˙ka‘, das schon in ‚Poezje II‘ erschienen war, wurden diese Gedichte erstmals in ‚Wiercze III‘ auf Polnisch veröffentlicht. 22 Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.    9), S.   10  f. Vgl. die entsprechende Erläuterung in Rolicz-Lieders Brief an George vom 25. Januar 1896 (ebd., S.   87). 20

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deutschen und europäischen Literatur keinen Gedichtband mit einer ähnlichen Art der Verdopplung. Zur gleichzeitigen Präsentation seiner Gedichte im Original und in einer – von ihm selbst durch Interlinearversionen vorbereitete − Übersetzung durch George mögen Rolicz-Lieder mehrere Motive bewogen haben. Psychologisch dürfte der aus einer Mischung von Kränkung und Stolz erwachsene Wunsch, den polnischen Landsleuten, die ihn bislang so wenig beachtet hatten, vor Augen zu führen, dass seine Dichtungen von dem wichtigsten deutschen Symbolisten als gleichrangig behandelt wurden, eine große Rolle gespielt haben. Zudem verband sich die künstlerische Faszination, dem eigenen Werk in der Übersetzung eines verwandten Dichters wiederzubegegnen, mit dem sprachlichen, literarischen und kulturellen Interesse an den Unterschieden und Gemeinsamkeiten des Polnischen und des Deutschen sowie dem literatur- und kulturpolitischen Programm des europäischen Symbolismus, vereint an der Erneuerung der Kunst zu arbeiten. Und schließlich sollte der Band ‚Wiersce III‘ auf diese Weise zu einem Zeugnis der persönlichen Verbundenheit und der dichterischen Zusammenarbeit werden, mit dem sich Rolicz-Lieder bei George nicht nur für die Übersetzungen bedankte. So war es die Erwiderung einer Freundschaftsgabe, als Rolicz-Lieder, der an der Jahreswende 1895/96 die soeben erschienenen ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘ erhalten und sich über die Widmung gefreut hatte,23 George wenig später ‚Wiersze III‘ zuschickte oder bei einem Besuch in Bingen überreichte. Nach dem Erhalt der ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘ hat Rolicz-Lieder begonnen, Gedichte aus dem Band ins Polnische zu übersetzen. Er schätzte dieses Werk über alles und bewunderte die Kunst, mit der George in den drei ‚Büchern‘ die unterschiedlichen Stiltraditionen der Antike, des Mittelalters und des Orients, die als Bildungsmächte die europäischen Literaturen und Kulturen geprägt hatten, zu neuem Leben erweckte. Er sah sich dadurch in der ähnlichen Ausrichtung der eigenen Arbeiten

23 Rolicz-Lieder

an George, 9. Januar 1896: „Inattendu – comme l’amour – se presenta chez moi votre dernier volume, charmant, caressant l’oeil et l’oreille  … avec la dédicace spéciale pour laquelle je vous suis très gré.“ (Ebd., S.   87).

Poetik der Freundschaft187

bestätigt und bestärkt. In einem Brief vom 7. Mai 1896 berichtete er George von seinen Übersetzungen: Mais un vrai chef d’oeuvre (voyez moi un peu cette modestie!) est ma traduction de ‚Stimmen im Strom‘ que j’ai terminé la semaine dernière. Que je me suis donné de la peine! Mais enfin ça y est! Cette pièce fugirera [richtig wohl: figurera, K.K.] dans mon volume deux fois. Car je l’ai pris pour une composition originale. Tout en conservant la musique de l’originale j’ai allongé le vers, car la chose était indispensable.24

Im Anschluss erwähnt Rolicz-Lieder zwei weitere „tableaux“, an denen er arbeite, und merkt mit flapsigen Worten, die eine gewisse Unsicherheit gegenüber dem dichterischen Wert der eigenen Produktion überspielen, an: „Voyez maintenant que je commence à voler vos pièces!“25 Diese nicht ganz eindeutige Briefstelle ist insofern interessant, als Rolicz-Lieder hier wahrscheinlich von einer weiteren durch die Beschäftigung mit Georges Gedichten angeregte Art der Adaption spricht. Denn mit der „composition originale“ ist wohl nicht seine Übersetzung von ‚Stimmen im Strom‘ mit den Anfangsworten „Cerca, dla których …“ gemeint, sondern eine imitierende und variierende Nachdichtung. Vorbildliche Werke einer anderen Sprache und Literatur nachzudichten, war in der europäischen Lyrik um 1900 eine verbreitete und nicht unter das Verdikt des Plagiats fallende Praktik der künstlerischen Anverwandlung, für die es auch in Georges Oeuvre einige Beispiele gibt. Diese Praktik würde in der Taxinomie von Gérard Genettes Buch ‚Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe‘ im Grenzbereich zwischen dem Verfahren der Traduction (sprachliche Transposition) und einer Art der Forgerie (dichterische Nachbildung und Fortsetzung) anzusiedeln sein.26 Rolicz-Lieder hat ein zu der zitierten Briefstelle passendes Gedicht mit den Anfangsworten „Szemra jc ie – o …“ und eine französische Version − „Murmurez, murmurez, flots murmurants de mer …“ – an George geschickt, in dessen Nachlass das Manuskript aufbewahrt wird.27 Aus unbekannten Gründen hat er später seine Idee aufgeben,

24 Ebd.,

S.   92.

25 Ebd. 26 Vgl.

Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M.   1993, S.   44. 27 Vgl. Rolicz-Lieder / George, Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   115.

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sowohl die Übersetzung als auch die Nachdichtung von ‚Stimmen im Strom‘ in einem seiner nächsten Bände zu veröffentlichen.28 Das Werk eines anderen Dichters gleich in zweifacher Form dem eigenen Oeuvre einzuverleiben, erschien ihm dann vielleicht doch als Überschreitung einer künstlerischen Grenze. Stattdessen hat er in der 1897 gedruckten Sammlung ‚Wiersze V‘ fünf George-Übersetzungen aus den ‚Büchern der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘ mit einer Folge von acht Widmungsgedichten ‚Do Stefana Georga‘ kombiniert. (Fünf dieser Gedichte waren kurz zuvor, von George übersetzt, unter dem Titel ‚Widmungen I−V‘ in den ‚Blättern für die Kunst‘ veröffentlicht worden.)29 Auf Georges Widmungsgedicht ‚An Kallimachus‘ und dessen Rolicz-Lieder-Übersetzungen in deutscher Sprache, die in ‚Wiersze III‘ aufgenommen worden waren, folgte in ‚Wiersze V‘ also ein Echo in polnischer Sprache. Aber damit nicht genug an Entsprechungen und Überbietungen: Hatte er dem Schlussteil der früheren Sammlung ein polnischsprachiges Epigramm vorangestellt, so eröffnete er nun den gesamten Band mit einer deutschsprachigen Inschrift nach Art römischer Triumphbögen, die auch Georges schlicht gehaltene Zueignung der ‚Bücher der Hirten- und Preisgedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten‘ an monumentaler Größe bei weitem übertraf:

28 Die

Übersetzung von ‚Stimmen im Strom‘ ging in den 1903 gedruckten Band der ‚Nowe Wiersze‘ ein. 29 Nach der ‚Widmung an S. G.‘ („Es schimmerten gleich zwei sternen in frühlingsbläue / Im weltraum unsre beiden leben Gefährte −“), mit der Bd.   III 3 (August 1896) der ‚Blätter für die Kunst‘ eröffnet wurde, folgten die ‚Widmungen II−V‘ zu Beginn von Bd.   III 5 (Oktober 1896). Diese Gruppe schließt nach Art von ‚An Kallimachus‘ mit der Erinnerung an die Tage der persönlichen Begegnung der beiden Dichter: „Erinnern werd ich mich all jener guten Tage / Auf deren schwingen der träume zweisang geflogen / An jene gespräche, lebendge gedanken spinnend / Die angenehm uns den weltlichen dingen entzogen. // Noch schwimmen über die stirn mir wolken des traumes / Ich scheide und denke nicht was mit dem morgen droht / Wie nach korinthischem mahl auf lateinischer tafel / Wo man zum nach-tisch reichliche küsse bot.“ (BfdK III 5, S.   135) Mit zeitlichem Abstand erschienen zwei weitere ‚Widmungen‘ in BfdK IV 4 (Oktober 1899).

Poetik der Freundschaft189 WIR DER BEWAHRER DES GEISTIGEN ERBES: AN STEFAN GEORGE MIT DER SEELE DES NÄCHTLICHEN RHEIN’S. ER EINZIG UNTER DEN TRÜBEN GERMANISCHEN VÖLKERN: FREITE ZU WAHREM BUND DAS UNFEHLBARE WORT. FEIERTE SEIN GESCHICK IN ERHABENEN STROPHEN. SANG MIT FRÖMMIGKEIT SEINE STOLZESTEN LIEBEN. IN DER UNSTERBLICHKEIT TREUEN ARMEN WIRD ER VERHAUCHEN GLEICH HEHREN FESTGESÄNGEN. ERDE ZU JENER ZEIT SEI LEICHT FÜR IHN. WAR ER FÜR DICH JA NUR EIN KUSS VON GOTT.30

Es lässt sich bezweifeln, dass der bombastische Schwulst dieser Inschrift (bei dem man Rolicz-Lieder das geringere Stilgefühl in der Fremdsprache zugute halten darf) George in künstlerischer Hinsicht gefallen hat. Doch in Verbindung mit der Folge der Widmungsgedichte und der Gruppe der Übersetzungen dürfte sie ihn persönlich tief bewegt haben. Davon spricht Georges Brief vom September 1897, der einzige übrigens in der Korrespondenz mit Rolicz-Lieder, der sich von seiner Seite im Nachlass erhalten hat. Dass hier die bis dahin offenbar übliche Anredeformel „Mon cher Ami“ zum erstenmal durch „Mon très cher Ami“ ersetzt wird, ist ein Zeichen noch größerer Verbundenheit: Mon tres cher Ami Waclaw: enfin après des moi la première nouvelle. […] Enfin, aussi, je reçois votre dernier volume qui, très noble d’extérieur, cache peutêtre vos plus beaux trésors poétiques. Merci encore une fois pour la préface. Je lis dans ce livre un de mes poèmes favoris: ‚Jaskołki‘ et l’autre aussi qui commence ‚Deszcz płacz..[‘]. Ce choix très riche de traductions de mes livres doit être pour votre langue polonaise d’une grande nouveauté. mon oreille sent mon propre rhytme dans le vôtre. surtout ces ‚Pies´ni we˛drownego lutnika‘ me paraissent d’une adaption et d’une exactitude admirable. […] J’ai encore découvert un charmant petit poème qui se prêterait facilement à l’adaptation allemande czarne lelije avec ces rimes finales: ’Rzewny poeta, o oczu spokojnych Bieluchna˛ re˛ka˛ czarne kwiaty zrywa[‘] […] Tout vôtre  Stefan George31

Die zuletzt genannten Verse über einen wehmütigen, schwarze Lilien brechenden Dichter, die sich laut George für den Fortgang der wechselseitigen Übersetzungen anboten, hat er dann allerdings bei seinen Übertragungen aus ‚Wiersze V‘ nicht mehr berücksichtigt. 30 Rolicz-Lieder / George, 31

Ebd., S.   102  f.

Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   54.

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IV. Ein Denkmal der Dichterfreundschaft Die Jahre 1894 bis 1897 waren die intensivste Phase einer Freundschaft, deren hauptsächlicher Gesprächsinhalt und eigentliche Ausdrucksform die Dichtung war. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit dem fast gleichzeitigen Erscheinen von Georges ‚Büchern‘ und Rolicz-Lieders ‚Wiersze V‘, symbolisiert durch die gegenseitigen Widmungen dieser Werke. In den folgenden Jahren nahm die Intensität des freundschaftlichen Austausches und der dichterischen Zusammenarbeit deutlich ab. Zwar übersetzte Rolicz-Lieder weitere Gedichte aus den ‚Büchern‘, deren polnische Adaptionen aber erst einige Jahre später in die Sammlung der ‚Nowe Wiersze‘ (1903) eingehen sollten. Dass er kein einziges Gedicht aus dem ‚Jahr der Seele‘ (1897) übertrug, zeigte bereits ein Nachlassen seines Interesses oder seiner Kraft. Seit dem Jahresende 1897 schrieb Rolicz-Lieder auch keine Briefe mehr an George, er teilte nach seinem Umzug von Paris nach Warschau noch nicht einmal die neue Adresse mit. Ein Grund für diesen Beziehungsabbruch wird sein Verstummen als Dichter gewesen sein, das er 1898 in der Einleitung zu einer öffentlichen Ausgabe seines lyrischen Gesamtwerks – die Unternehmung wurde nach dem ersten Band mangels Käufern aufgegeben − eingestand. Allgemein scheint Rolicz-Lieder in dieser Zeit eine tiefe Krise durchlebt zu haben, in der er sich, auch finanziell in Schwierigkeiten geraten, zeitweilig als Angestellter einer metallurgischen Fabrik durchschlagen musste. Was George betrifft, so führte er die Reihe der von ihm übersetzten Gedichte Rolicz-Lieders, sieht man von den erwähnten Nachzüglern ab, in den ‚Blättern‘ nicht weiter fort. Dass er sich jenseits der dichterischen Zusammenarbeit um den Erhalt der persönlichen Freundschaft bemühte, lässt sich indirekt aus vereinzelten Zeugnissen erschließen. Wiederholt erkundigte er sich nach Rolicz-Lieders Verbleib. So fragte er, wie Georg Peter Landmann ermittelt hat, bei Henri Héran im September 1900 nach: „Haben Sie inzwischen einige nachforschungen über unsern freund Lieder anstellen können? ich klammere mich an jeden rettungsbalken, der mich zu diesem teuren verschollenen führen könnte.“32 Erst im Februar 1901 erfuhr er über einen anderen Bekannten, den polnischen Dichter Zenon Przesmycki, Rolicz-Lieders Adresse in Warschau und wird danach einen Brief an den Freund geschrieben haben. 32 Zit.

nach Landmann, Chronik der Freundschaft (Anm.   9), S.   145.

Poetik der Freundschaft191

Jedenfalls entschuldigte sich Rolicz-Lieder am 1. September 1901 für sein jahrelanges Schweigen: Je me sens très coupable envers vous mon ami aimé pour cause de mon silence. Depuis mon depart de Paris j‘ai mené une existence d‘une banalité parfaite. Maintenant je veux renaître. Je vous prie, cher Ami, de croire à mes sentiments envers vous qui restent toujours aussi tendres qu‘auparavant.33

Aus den folgenden Jahren sind allerdings nur einige wenige Briefkarten überliefert. Offenbar kam die Korrespondenz selbst dann nicht mehr in Gang, als George eine Sammelausgabe seiner in den ‚Blättern für die Kunst‘ erschienenen Übertragungen mit dem Arbeitstitel ‚Zeitgenössische europäische Dichtung‘ vorbereitete und zugleich einen Separatdruck der Gedichte Rolicz-Lieders plante. Die beiden Vorhaben gehörten zu einer ganzen Reihe von Publikationen, mit denen George nach 1900 das vorangegangene Jahrzehnt der ‚Blätter für die Kunst‘ sowohl dokumentierte als auch zu einer abgeschlossenen Phase seiner eigenen, inzwischen in ein neues Stadium eingetretenen Werkentwicklung erklärte. Neben der öffentlichen Ausgabe seiner früheren Gedichtbände, die bis zum ‚Jahr der Seele‘ nur als Privatdruck erschienen waren, sind hauptsächlich die zweite ‚Auslese‘ (1903) von deutschsprachigen Dichtungen aus den ‚Blättern für die Kunst‘ und die sie ergänzende Auswahl von Übersetzungen zu nennen, die letztlich in zwei Bänden unter dem Buchtitel ‚Zeitgenössische Dichter‘ (1904/05) veröffentlicht wurde.34 Der erste Band versammelte Dichter aus England, Dänemark, Holland und Belgien, mithin, von dem Sonderfall des Französisch schreibenden Flamen Emile Verhaeren abgesehen, Autoren aus dem germanischen Sprachkreis; der zweite Band dagegen Dichter aus Frankreich und Italien, also dem romanischen Sprachkreis, ergänzt durch den Polen Wacław Lieder. Dass der Autor einer slawischen Sprache hier eingereiht wurde, mag George mit der lautlichen Nähe des Polnischen zum Französischen oder mit der kulturellen Affinität von Rolicz-Lieder zu Frankreich begründet haben; möglicherweise ging es aber bloß um eine pragmatische Lösung des

33 Rolicz-Lieder / George,

Gedichte ∙ Briefe (Anm.   9), S.   106. den Kommentar in SW XV, S.   114−122, und Schloon, Zeitgenössische Dichter (Anm.   8), S.   269−290.

34 Vgl.

192

Kai Kauffmann

räumlichen Problems, das mit Abstand größte Korpus von Übersetzungen in einem der beiden Bände unterzubringen. Ein Zeichen besonderer Wertschätzung war die separate Veröffentlichung von Rolicz-Lieders Gedichten im Verlag der Blätter für die Kunst, für die der Satz des Sammelbandes verwendet werden konnte. Fünfundzwanzig Exemplare der Broschüre wurden gedruckt. Von den aus anderen Sprachen übersetzten Dichtern ist ansonsten nur Albert Verwey eine solche Ehrung zuteil geworden. Die Einzelausgabe von Rolicz-Lieders Gedichten in Georges Übersetzung lässt sich als Denkmal einer Dichterfreundschaft verstehen. Ähnlich wie im Fall der ‚Ausgewählten Gedichte‘ Hugo von Hofmannsthal, die George 1903 im Verlag der Blätter für die Kunst herausgegeben hatte, handelte es sich bei diesem Denkmal aber zugleich um eine Art Mausoleum für einen Dichter, der als solcher für George gestorben war.35 Die abschließende Ausgabe aller Übertragungen sollte ein letzter Akt dichterischer Freundschaft sein. Im Leben sind George und Rolicz-Lieder noch einmal 1906 für einige Tage in Berlin zusammengetroffen und haben bei dieser Gelegenheit die Erinnerung an ihre alte Freundschaft aufgefrischt. Zum Gedenken an diese Begegnung hat George in die bereits fertige Druckvorlage seines Gedichtbands ‚Der Siebente Ring‘ einen „an Waclaw“ gerichteten Vierzeiler eingeschoben: Beim abschied damals lag noch in der leere Das buch gediehen ganz an heimischer statt .  . Nun bin ich dankbar dass dies lezte blatt Doch noch dein ritterlicher schatten quere. (SW VI/VII, S.   187)

Indes, es war nur der Schatten des ehemaligen Dichters, der hier das eigene, zu neuem Leben erwachte Werk ein letztes Mal querte.

35 Zum

Abschied von Hofmannsthal vgl. Verf.: ‚Soll nun der mund sich klagend öffnen‘? Dichtung als Kommunikationsmedium im Verhältnis zwischen George und Hofmannsthal. In: George-Jahrbuch 13, 2020, S.   27–54, hier: S.   49–54.

Maik Bozza

„Ja, Stephan, alles lacht“ … Ein weiterer Überlieferungsträger der George-Parodien von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, oder: Von den kleinen Freuden der Katalogisierungsarbeit1 Über lange Jahre hinweg gab es im Stefan George Archiv etwas, das intern gewissermaßen als Wundertüte galt. Etwas, von dem man sprach, als könne es sich um einen ungehobenen Schatz handeln. Ob aus Glasperlen oder Edelsteinen, das war freilich völlig ungewiss. In einem Aktenschrank verwahrt, handelte es sich um mehrere Dutzend großformatiger, jeweils mit einem Schlagwort – meistens einem Namen, mitunter aber auch einem Begriff wie etwa „Studienarbeiten“ – beschrifteter Umschläge, die als Sammelmappen genutzt wurden und noch auf den Archivgründer Robert Boehringer (1884–1974) zurückgingen, der 1933 der testamentarische Erbe des Dichters Stefan Georges (1868–1933) geworden war. So sprach man gemeinhin von ‚Boehringers Personenumschlägen‘, auch wenn das Stefan George Archiv in der WLB (StGA) die Umschläge nach der Übernahme von 1974 an über viele Jahre hinweg selbst zur Ablage von Einzelarchivalien, Materialien, Notizen etc. weiternutzte und die ursprüngliche Sammlung somit, archivalisch gesprochen, anreicherte. Nun ist das Problem größerer Sammlungen, dass sie irgendwann unübersichtlich werden. Oder anders formuliert: Was nicht katalogisiert, d. h. nach definierten Normen beschrieben und mit einer Standort­ signa­tur versehen ist, nach dem lässt sich nicht kontrolliert suchen. Für Recherchen im Netz ist alles Unkatalogisierte beinahe völlig unsichtbar. Genau hierin liegt der Grund für die Anstrengungen des StGA, die Erschließung seiner Nachlassbestände voranzutreiben, nicht zuletzt mithilfe von dafür eingeworbenen Drittmitteln. Wir hatten Erfolg: Die Zahl der katalogisierten Nachlasspapiere wurde in den letzten zehn Jahren verdreifacht. Waren 2011 nach zwei Jahrzehnten der digitalen Erschließungsarbeit 34.064 Nachlasspapiere katalogisiert, so sind es  1 Der

folgende, leicht modifizierte Text erschien zuerst in: WLBforum 23, 2021, Nr.   2, S.   28–31.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-007

194

Maik Bozza

heute, präzise: am 25. Februar 2022, schon mehr als 101.250 Archiv­ stücke. Und ungefähr seit Mitte des ersten deutschen Covid-19-Lockdowns sind diese Daten für selbständige Recherchen verfügbar: Im April 2020 konnten wir nach einigen Jahren der Arbeit an den zuvor nur intern benutzbaren Systemen die Nachlassdatendank des StGA online gehen lassen.2 Freilich handelte es sich dabei um einen Zwischenschritt. Die Migration unserer Daten in die von der Staatsbibliothek zu Berlin betreute, von mehr als 100 Bibliotheken, Archiven und Museen aktiv genutzte nationale Datenbank für Nachlässe und Autographen namens ‚Kalliope‘3 wird bereits vorbereitet. Der Abschied von einer ‚Insel­lösung‘ hin zu einer Verbunddatenbank hat nämlich viele Vorzüge. Neben hoher Datenqualitätssicherung durch die Verwendung gemeinsam gepflegter Normdaten und Reglements liegt der größte Nutzen wohl in der Reichweite für die Suchenden. Mit einer einzigen Recherche werden in ‚Kalliope‘ beinahe 5 Millionen Datensätze aus über 1.000 Institutionen durchsucht und können Quellen aus über 26.000 Nachlassbeständen gefunden werden. Während den endgültigen Schritt nach ‚Kalliope‘ zu tun für uns noch etwas brauchen wird, läuft die Arbeit an der Katalogisierung von Beständen im StGA kontinuierlich weiter. Und so wurde auch die ‚Wundertüte‘ der Boehringerschen Personenumschläge in 2021 in Angriff genommen und das, nach Vorsortierung, Umlagerung und Aussonderung von manchem ‚Katzengold‘ in Form von sehr, sehr vielen historischen Fotokopien und Abschriften von Stücken, die sich mittlerweile im Original im StGA befinden, ungefähr sieben Archivkästen umfassende Konvolut unter dem Namen ‚Sondersammlung A‘ von unserer Kollegin Tug˘çe Can katalogisiert. Einen der Funde aus dieser Sammlung möchten wir hier präsentieren. Es handelt sich um ein kleinformatiges Doppelblatt linierten Schreibpapiers (vgl. Abb. 1–2) mit beiliegendem Briefumschlag (vgl. Abb. 3), das unsere Vorgänger:innen im StGA bereits am 3. 6. 1988 in der Hand gehabt hatten, wie eine aufnotierte Zugangsnummer belegt. Im Zugangsjournal Geschenke findet sich dazu der Eintrag:  2 Vgl.

StGA, Nachlassdatenbank, Stand: 15. 03. 2022, online unter: https://avanti. wlb-stuttgart.de/george/wk1access.  3 Vgl. https://kalliope-verbund.info. Für die Zulieferung der folgenden aktuellen Daten zum ‚Kalliope‘-Bestand danke ich Cornelia Abo von der Arbeitsstelle Kalliope-Verbund an der Staatsbibliothek zu Berlin.

„Ja, Stephan, alles lacht“195

„Zeitungsausschnitte u. anderes Material zur Blättergesch[ichte]. Aus: Nachlass Wolters“. Nun finden sich im Nachlass des Historikers und George-Freundes Friedrich Wolters (1876–1930), der zu großen Teilen bereits 1982 ins StGA kam, 2006 und 2010 durch größere Nachlieferungen ergänzt wurde und seit einiger Zeit katalogisiert ist, gleich mehrere Archivkästen von Arbeitsmaterialien zu einem Buch, das Wolters seit 1913 geplant hatte und das er als sein Opus Magnum verstanden wissen wollte.4 Das Buch heißt ‚Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890‘. Es erschien Ende 1929 vorausdatiert auf 1930 in Georges Reihe ‚Werke aus dem Kreis der Blätter für die Kunst‘ bei Georg Bondi in Berlin.5 Für Stefan George war Wolters’ Studie die Chance zur Steuerung seiner Historisierung ebenso wie zur Fortsetzung seiner Fundamentalkritik an den gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen der Zeit mit anderen als poetischen Mitteln. Nicht zuletzt deshalb hatte er die mitunter verschleppte Weiterarbeit am Buch immer wieder bei Wolters angemahnt, hatte selbst intensiv mitgearbeitet6 und immer wieder Quellen zugeliefert. So überrascht es nicht, dass auch in Georges eigenem Nachlass eine Sammlung von Arbeitsmaterialien zur sogenannten ‚Blättergeschichte‘ existiert. Deshalb ist mit höchster Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das kleine, hier präsentierte Doppelblatt nicht nur, wie durch die Bleistiftnotiz aus der Hand von Ernst Morwitz belegt, durch mancherlei Hände aus dem vertrautesten Umfeld Stefan Georges gegangen ist, sondern dass auch George es selbst in der Hand hatte und den auf ihm gegebenen Text kannte.

 4 Vgl.

Bastian Schlüter: Wolters, Friedrich Wilhelm. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   3, Berlin – Boston 2012, S.   1774–1779, hier insb. S.   1775.  5 Vgl. das Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf, Stand 15. 03. 2022, online unter: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/ pageview/1256249.  6 Belege gesammelt bei Schlüter, Wolters (Anm.   4), S.   1777 mit Anm.   29.

196

Maik Bozza

Abb.   1 StGA/SoSa A,8690 (vgl. https://avanti.wlb-stuttgart.de/george/ wk1access/find.php?ufC=IDN+00011413): Außenseite des Doppelblatts.

Abb.   2 StGA/SoSa A,8690: Innenseite des Doppelblatts.

„Ja, Stephan, alles lacht“197

Abb.   3 StGA/SoSa A,8690a (vgl. https://avanti.wlb-stuttgart.de/george/wk1access/find.php?ufC=IDN+00102147): Vorderseite des beiliegenden Umschlags.

Um welchen Text nun handelt es sich dabei? Karl Wolfskehl (1869–1948), dichtender Altgermanist, büchersammelnder Polyhistor und Georges wohl literarisch am breitesten vernetzter Freund, der die Abschrift für George beschafft haben dürfte, notiert auf dem beiliegenden Umschlag zu Autorschaft und Inhalt: „U. v. Wilamowitz-Möllendorf / Parodieen auf St. George“.7 Bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) nun handelte es sich um den seinerzeit wohl bekanntesten und einflussreichsten Altphilologen des Deutschen Kaiserreichs. Für George und sein Umfeld stellte er ein besonders beliebtes Feindbild dar.8 Seine Werke, vor allem die Übersetzungen der griechischen Tragiker, galten ihnen als Symbol der verniedlichenden Popularisierung wie verwissenschaftlichten Austrocknung einer griechischen Antike, die George  7 Am

oberen Rand des Umschlags wiederholt Ernst Morwitz den Urhebernamen „Wilamowitz“ dann noch einmal, wohl wegen Wolfskehls schwer leserlicher Handschrift (vgl. Abb. 3).  8 Für die folgende Darstellung durchgehend benutzt und in Bezug auf die George-Parodien von Wilamowitz grundlegend: Ulrich K. Goldsmith: Wilamowitz and the Georgekreis. New Documents. In: Wilamowitz nach 50 Jahren. Hg. von William M. Calder, Darmstadt 1985, S.   583–612 bzw. ders.: Wilamowitz as Parodist of Stefan George. In: Monatshefte 77, 1985, Nr.   1, S.   79–87, hier S.   79  f. Vgl. auch jüngst Stefan Rebenich: Die Antike in „Weihen-Stefan“. Platon im Georgekreis. In: Ders.: Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung, Stuttgart 2021, S.   225–241.

198

Maik Bozza

und seine Anhänger zu eigenen programmatischen Zwecken heroisiert sehen wollten. Noch in der ‚Blättergeschichte‘ von 1929 waren Wolters „die Übersetzungskünste und Betrachtungsweise von Wilamowitz“ Belege eines „typisch[] zeitgenössischen“ „Verfalls[]“ und er zieh den Gräzisten der „bürgerlich-moralische[n] Verflachung und Verhunzung der antiken Tragiker und Platons, als habe kein Nietzsche gelebt und sei unser Traum von Hellas für immer erloschen.“9 Überraschender als die Angriffe der Georgeaner auf das Werk des Großordinarius ist dabei wohl, dass eben dieser Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff schon recht bald nach seinem Ruf an die Universität zu Berlin im Jahr 1897 (es war sein bereits dritter Lehrstuhl nach Stationen in Greifswald und Göttingen) den seinerzeit erst knapp dreißigjährigen Dichter Stefan George wahrnahm. Indes war gerade ‚Das Jahr der Seele‘10 erschienen, Georges fünftes Gedichtbuch, das gewissermaßen die Schwelle zu seiner wachsenden Bekanntheit markierte. Eine erste Lesung fand am 14. November 1897 im Haus seiner Freunde, des Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius, im Berliner Westend vor einem Publikum kommender Prominenz statt: Neben Lou Andreas-Salomé und ihrem jungen Geliebten Rainer Maria Rilke war etwa auch das Ehepaar Georg und Gertrud Simmel zugegen; die Berliner Künstlerin und Salonnière Marie von Bunsen berichtete am 9. 1. 1898 in der ‚Vossische Zeitung‘ unter dem Titel ‚Stefan George. Ein Dichter und eine Gemeinde‘ über den Abend. Ebenfalls und gemeinsam mit seiner Frau Estella dabei gewesen war der Germanist Richard Moritz Meyer, der bereits im Februar 1897 einen Vortrag über Georges Dichtung gehalten und unter dem Titel ‚Ein neuer Dichterkreis‘ in den ‚Preußischen Jahrbüchern‘ publiziert hatte. (Die Publikation hatte für Georges literarischen Durchbruch erheblich positive Folgen.) Richard M. Meyer nun dürfte Wilamowitz durch diesen Aufsatz mit Georges Dichtung bekannt gemacht haben. Was der Altphilologe davon hielt? Er drückte es literarisch aus. War bisher nur ein einziger Überlieferungsträger für die parodistischen Gedichte be-

 9 Wolters,

George und die Blätter (Anm.   5), S.   385 (vgl. im Digitalisat der ULB Düsseldorf, Stand 15. 03. 2022, online unter: https://digital.ub.uni-duesseldorf. de/ihd/content/pageview/1256630). 10 Vgl. das Digitalisat der Staatsbibliothek zu Berlin, Stand 15. 03. 2022, online unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN826388 40X&PHYSID=PHYS_0009.

„Ja, Stephan, alles lacht“199

kannt,11 die Wilamowitz in Reaktion auf Georges Dichtung schrieb und die in Berliner Salons vor 1900 anscheinend eine gewisse Bekanntheit erlangten (gedruckt wurde eine erste der Parodien erst 1943),12 so liegt im StGA nun ein weiteres Zeugnis vor. Es handelt sich um zwei gegen das Reimschema hintereinanderweg notierte Sonette, die hier gegen die auf den Abbildungen dokumentierte Vorlageform als solche wiedergegeben werden. Stephan George. In eines Junineumondsabends Dämmern trat ich auf den Balcon Die kalten Schranken erfasst die matte Hand Die Kniee wanken, und in den blutlos bleichen Schläfen hämmern Wie von des Dichterrausches Katzenjammern, die blauen neurasthenischen Gedanken. Da kühlt ein frischer Friedensthau den Kranken die milde Milch von weissen Wolkenlämmern. Ein fernes Rauschen. Horch. Najaden schaukeln auftauchend ihrer Glieder glaue Pracht. Vom Weiher weht es her so lind, so lau. Auf der Glycinie Blütentrauben gaukeln die Sammetpfauenaugen. Alles lacht so blau. Ja, Stephan, alles lacht. So blau.

11 Erhalten

hat sich die Abschrift, die Wilamowitz’ Gräzistenkollege Alfred Körte (1866–1946) von einer verlorenen Abschrift Therese Leos, der Schwester von Wilamowitz’ Latinistenkollegen Friedrich Leo (1851–1914), nahm. Sie ist im Nachlass Wilamowitz an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Wilamowitz-Moellendorff 952/Nr.   6/1 erhalten. Vgl. Edition und Kommentar bei Goldsmith, New Documents (Anm.   8), S.   585–590. 12 Aus welchen Quellen „In eines junineumondabends dämmern   …“. In: Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck. Die schönsten Parodien auf Goe­ the bis George. Gesammelt und verlegt von Ernst Heimeran, München 1943, S.   32  f. gedruckt wurde, bleibt ungeklärt. Vgl. dazu Goldsmith, New Documents (Anm.   8), S.   587  f.

200

Maik Bozza

Du stilvoll Mausegrau der Deckelhülle, stilvolle Stumpfheit des Papiers der Bütte Würdig Gefäss, in das der Dichter schütte, farblosen Stumpfsinns mausegraue Fülle. Der Rede freien Faltenwurf zerknülle kein Komma. Kein brutaler Punkt zerrütte Der Träume Knäuel, des Gefühles Schütte, sonst fort damit zu Goethes Mülle. Mag Schiller stolz in Diamanten flimmern in Perlen Dante und in buntem Kranze Homer von allem was erblüht im Lenz: Wen soll das W. Berlin entrückt ˹bauchrutschend soll˺ umwimmern, dem steht allein die glanzlose Nüance, stilvoll, das Mausegrau der Impotenz.

Aus wessen Hand die von Karl Wolfskehl sicherlich vor 1900 gelieferte Aboder Mitschrift stammt, die Friedrich Wolters unter seinen Arbeitsmaterialien zur ‚Blättergeschichte‘ bewahrte, ist nicht erschlossen.13 Ebenso unbekannt ist, von wem die Korrektur in schwarzer Tinte stammt, die Vers 12 des zweiten Sonetts zu bessern suchte. Zwar behebt der Eingriff einen tatsächlichen Mangel des ursprünglichen Verses, wenn er den rhythmisch notwendigen, aber syntaktisch hässlichen Artikel „das“ vor „W[est] Berlin“ tilgt, zugleich aber verfehlt das „bauchrutschend“ das parodistische Register von Wilamowitz, der insbesondere Georges gesuchten Wortschatz auf die Spitze nimmt. Auch wenn die von Wilamowitz gewählte strenge Sonettform für Georges Dichtung quasi keine Rolle spielte, George zudem eher Zeilen- als den parodistisch intensiv eingesetzten Enjambementstil schrieb und man weitere Makel an den Parodien aufzeigen könnte (beispielsweise die homophobe Andeutung im „Mausegrau der Impotenz“14): etwas an Georges Stil aus der Zeit vor 13 Sie

stammt nicht aus der Hand Wilamowitz selbst, wie durch Autographenvergleich abgesichert wurde. Mein Dank gilt Dietlind Willer von der SUB Göttingen bzw. Heidrun Fink vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für die digitale Bereitstellung von Cod. Ms. Wilamowitz-Moellendorff 952/Nr.   5 bzw. A: Ernst/61.2100, 4 u. 2. 14 Vgl. dazu Robert E. Norton: Secret Germany. Stefan George and his Circle, London 2002, S.   439.

„Ja, Stephan, alles lacht“201

der Jahrhundertwende trifft Wilamowitz eben doch. Und George und sein Umfeld fühlten sich getroffen. Denn noch in der bereits zitierten ‚Blättergeschichte‘ von 1929 nutzt Friedrich Wolters die Gelegenheit, Wilamowitz wegen der (natürlich nicht abgedruckten oder auch nur zitierten) Parodien als talentlosen Besudler der Georgeschen Größe und zugleich als überkommenen Dinosaurier eines Ancien Régime darzustellen: In Berlin versah der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf das parodistische Amt, ein Mann an dem der traurige Ruhm haften bleibt, daß er jeden deutschen Genius, den seine Zeit gebar, Wagner, Nietzsche, George angemistet hat. Da der Herr Professor seine Parodien nur in privaten Zirkeln verbreitete, könnten wir uns mit der privaten Bemerkung [Friedrich] Dernburgs begnügen, der den Unwillen seiner Gäste bei der Verlesung einer solchen Parodie mit den Worten beschwichtigte: „Aber meine Herren, wenn Wilamowitz sich erlaubt hat, den Sophokles zu parodieren, warum soll er nicht auch George parodieren dürfen!“ […] Doch genug davon! Das Lachen der Jugend wird uns die Mühe lohnen all diese Dummheiten [wahrgenommen] zu haben, die so noch ein Jahrzehnt und länger die gleichen Themen weiter spielten, bis sie vor der Gewalt der Tatsachen – so sagt man doch? – langsam verstummten.15

Dass Wolters und damit auch George die Wilamowitzsche Parodie auf seine Dichtung nicht nur vom Hörensagen kannte, sondern die hier zitierte kulturkämpferische Sottise auf präziser Kenntnis aufbauen konnte, das ist mit dem bisher unkatalogisierten, in der vormaligen Personenumschlagssammlung lange verborgenen, nun unter der Signatur ‚StGA/ SoSa A,8690‘ verzeichneten Stück belegt. Auch kleine Archivfunde machen eben Freude. Ihnen hoffentlich auch.

15 Wolters,

George (Anm.    5), S.    183   f. (vgl. auch ULB Düsseldorf, Stand 15. 03. 2022, online unter: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/ pageview/1256429).

Mario Zanucchi

Futuristische Brandstiftung Theodor Däublers Nachdichtungen aus Aldo Palazzeschis ‚L’Incendiario‘ Die Rezeption des italienischen Futurismus im deutschen Expressionismus wurde von der Germanistik seit Jahrzehnten intensiv erforscht.1 Allerdings ist die übersetzerische Futurismus-Aneignung bisher eher vernachlässigt worden.2 Dabei spielten – neben der bildenden Kunst – gerade Übersetzungen eine herausragende Rolle, um die Ästhetik des Futurismus in Deutschland zu vermitteln. Bisher blieb die Rezeption des Florentiner Futuristen Aldo Palazzeschi (Pseud. von Aldo Pietro Vincenzo Giurlani, 1885–1974) unbeachtet.3 Gerade im Expressionismus er 1 Hinzuweisen

ist vor allem auf folgende Studien: Armin Arnold: Die Literatur des Expressionismus, Stuttgart 1966; Carmine Chiellino: Die Futurismusdebatte. Zur Bestimmung des futuristischen Einflusses in Deutschland, Frankfurt a. M.   1978; Dorothea Eimert: Der Einfluss des Futurismus auf die deutsche Malerei, Köln 1974; János Riesz: Deutsche Reaktionen auf den italienischen Futurismus. In: Arcadia 2, 1976, S.   256–271; Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde 1912–1934, München 1990; Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland – Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus. Ein literarhistorischer Beitrag zum expressionistischen Jahrzehnt, Stuttgart 1991; Sara Terpin: Die Rezeption des italienischen Futurismus im Spiegel der deutschen expressionistischen Prosa, München 2009; Petra Brunnhuber: Die Rezeption des Futurismus in Deutschland und der Einfluss auf die deutschsprachige Literatur. In: Futurismus: Kunst, Technik, Geschwindigkeit und Innovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. von Irene Chytraeus-Auerbach / Georg Maag, Berlin 2016, S.   245–262; Irene Chytraeus-Auerbach: Germany. In: Handbook of International Futurism. Hg. v. Günter Berghaus, Berlin – Boston 2019, S.   484–505.  2 Für eine erste Sichtung des Corpus vgl. Verf.: Futurismus im Expressionismus. Zu den expressionistischen Übersetzungen italienischer und französischer Futuristen: eine Bestandsaufnahme. In: Europäische Avantgarden um 1900: Kontakt – Transfer – Transformation. Hg. von Jurij Lileev / Yvonne Pörzgen / Ders., Paderborn 2021, S.   47–84.  3 Zu Palazzeschis Biographie und seiner schriftstellerischen Entwicklung vgl. den vorzüglichen Dokumentationsband: Scherzi di gioventù e d’altre età. Album Palazzeschi (1885–1974). Hg. von Simone Magherini / Gloria Manghetti. Vorwort

https://doi.org/10.1515/9783110774320-008

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Mario Zanucchi

freute sich Palazzeschi einer intensiven Aufmerksamkeit, er wurde gar zu dem meist übersetzten futuristischen Dichter, und zwar vor allem dank des Dichter-Übersetzers Theodor Däubler (1876–1934), der als wichtiger Katalysator der expressionistischen Futurismus-Rezeption sowohl für Herwarth Waldens ‚Sturm‘4 als auch für Franz Pfemferts ‚Aktion‘ wirkte.5 Däublers bisher vernachlässigte Nachdichtungen, deren Edition gerade erschienen ist,6 sind größtenteils unveröffentlicht geblieben und unter dem Titel ‚Literatenschmaus‘ in einem Nachlasskonvolut in den Archivbeständen der Klassik Stiftung Weimar überliefert. Sie sollen im Folgenden als ‚Fallstudie‘ der translatorischen Kommunikation zwischen den Avantgarden literarhistorisch kontextualisiert und exemplarisch ausgewertet werden. In den Jahren unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Däubler im Florentiner Milieu um die Avantgarde-Zeitschrift ‚Lacerba‘ verkehrt und konnte mit Augenzeugenberichten aus dem Florentiner Futurismus aufwarten. In Florenz war auch die erste, ‚Florentiner‘ Fassung seines monumentalen Hauptwerks, des episch-lyrischen von Gino Tellini, Florenz 2001. Zu Palazzeschis deutscher Rezeption vgl. Birgit Tappert: La ricezione di Palazzeschi in Germania. In: Palazzeschi Europeo. Hg. von Gino Tellini / Willi Jung, Florenz 2007, S.   125–161. Der Florentiner Schriftsteller ist heute in Deutschland in Vergessenheit geraten, trotz der regen Bemühungen des Zürcher Benziger-Verlags, der in den 1960er Jahren einige seiner späten Romane publizierte – darunter ‚Die Schwestern Materassi‘ (1966), ‚Die Brüder Cucculi‘ (1967), ‚Der Doge‘ (1968) sowie den letzten Roman ‚Storia di un’amicizia‘ unter dem Titel ‚Ungleiche Freunde‘ (1973, später bei Wagenbach wiederaufgelegt). 1970 erschien, ebenfalls in Benziger Verlag, auch ein Band Erzählungen (‚Die Mechanik der Liebe‘). Unübersetzt blieb u. a. der bedeutende Experimentalroman ‚Il Codice di Perelà‘ (‚Der Perelà-Kodex‘, 1911), für den die Wiener Übersetzerin Dagmar Kübler immer noch vergeblich nach einem Verlagshaus sucht (Dagmar Kübler: Il codice di Perelà. Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar. Diss., Wien 2001).  4 Aldo Palazzeschi: Verbotene Spielerei. Übertr. von Theodor Däubler. In: Der Sturm 6, 1. und 2. Aprilhälfte 1915, 1/2, S.   9; in derselben Ausgabe erschienen, ebenfalls von Däubler übertragen, ‚Rio Bo‘, ‚Wer bin ich?‘ und ‚Der Bummel‘, S.   9  f.  5 So verantwortete Däubler die Sondernummer der ‚Aktion‘ vom 19. Februar 1916, die dem Futurismus gewidmet war.  6 Theodor Däubler: Literatenschmaus. Nachdichtungen aus Aldo Palazzeschis ‚L’Incendiario‘. Aus dem Nachlass herausgegeben und eingeleitet von Mario Zanucchi, Würzburg: Ergon 2022.

Futuristische Brandstiftung205

Zyklus ‚Das Nordlicht‘, entstanden, dessen Erscheinen durchaus einiges Aufsehen erregt hatte.7 In seinem Florentiner Kreis war Däubler vor allem von Palazzeschis Dichtungen fasziniert und entschied sich für ihre Übersetzung. Zu einer solchen interkulturellen Mittlerrolle war der 1876 in Triest geborene Däubler aufgrund seiner Vertrautheit mit der italienischen Sprache prädestiniert.8 Über seine Florentiner Jahre unterrichtet die Korrespondenz mit dem in Paris kennengelernten Freund Arthur Moeller van den Bruck.9 Der von finanzieller Not geplagte und unter starken Depressionen und Selbstzweifeln leidende Däubler besuchte regelmäßig das Café Giubbe Rosse, den Treffpunkt der Florentiner Futuristen, die für ihn ein existenzieller Anhaltspunkt waren. Besonders intensiv war Däublers Umgang mit der Florentiner Gruppe in den Jahren 1913 bis 1914. Im Januar 1913 war die Zeitschrift ‚Lacerba‘ gegründet  7 Besprochen

wurde das ‚Nordlicht‘ von Paul Adler, Rudolf Pannwitz, Johannes Schlaf sowie von Carl Schmitt, der ihm eine Monographie widmete (Theodor Däublers ‚Nordlicht‘. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, München 1916).  8 Trotz der Geburt in Triest wurde aus Däubler allerdings kein zweisprachiger Dichter. Er selbst reflektiert in der Korrespondenz mit dem Freund Moeller van den Bruck über die Grenzen seiner Italienisch-Kompetenz („Marinetti sucht mich sehr an sich zu ziehen, ich könnte neben ihm eine entscheidende Rolle spielen, auch politisch. Ich würde es versuchen, wenn ich italienisch schreiben könnte, nun aber entfällt mir diese Sprache ganz. Die Deutschen vertreiben und beleidigen mich, die Sprache aber hält mich ganz umschränkt fest“, Brief vom Dezember 1913, Mscr. Dresd. App.   2716, S.   119). Zu Däublers interkultureller Mittlerrolle vgl. den tiefschürfenden Aufsatz von Marina Bressan: Theodor Däubler: Vermittler zwischen Italien und Deutschland für ‚Der Sturm‘ und ‚Die Aktion‘. In: Der Aufbruch in die Moderne. Herwarth Walden und die europäische Avantgarde. Hg. von Irene Chytraeus-Auerbach u. a., Berlin 2013, S.   115–136. Däubler stammte aus einer deutschen, protestantischen Familie, erwarb die Schulreife in Rijeka und zog schon 1898 mit den Eltern nach Wien. Eine lange Reise durch Italien weckte allerdings seine Faszination für das Land, in dem er sich seitdem für längere Zeit aufhielt. Zu Däublers Vita Thomas Rietzschel: Theodor Däubler. Eine Collage seiner Biographie, Leipzig 1988, sowie: Theodor Däubler – Biographie und Werk. Die Vorträge des Dresdner Däubler-Symposions 1992, Mainz 1996.  9 Der Briefwechsel, von welchem Marina Bressan die Briefe mit Futurismus-Bezug in ihrem Beitrag transkribiert hat, umfasst insgesamt 175 Briefe aus den Jahren 1905, 1907–1915, 1919 und 1925 und befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (Mscr. Dresd. App.   2716).

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worden, welche zunächst die Annäherung der Florentiner Literatenkreise an Marinetti dokumentiert. Herausgeber war Giovanni Papini. Als Mitarbeiter waren der Maler und Schriftsteller Ardengo Soffici, der Triestiner Philosophiestudent Italo Tavolato und der 28-jährige Aldo Palazzeschi beteiligt. Palazzeschis erste Gedichtsammlungen waren im Eigen­verlag erschienen, bis Marinetti, der von der humoristischen Poetik der ‚Poemi‘ (1909) begeistert war, den jungen Dichter entdeckte und in die Gruppe der Futuristen aufnahm. So erschien auch Palazzeschis erster Roman ‚Il Codice di Perelà‘ (‚Der Perelà-Kodex‘) 1911 beim Florentiner Drucker Vallecchi in der Editionsreihe von Marinettis Zeitschrift ‚Poesia‘, ‚Edizioni Futuriste‘.10 I. Palazzeschis Nietzsche-Rezeption Davon, dass Nietzsche das Milieu des Florentiner Futurismus maßgeblich prägte, legt bereits Däubler beredtes Zeugnis ab. In einem Brief vom 20. Januar 1914 an seinen Freund Moeller van den Bruck schreibt er über die Florentiner Verhältnisse: „Im Augenblick triumphiert Nietzsche: Und ich bin glücklich darüber“, und weiter heißt es: „Alle sind Nietzscheaner“.11 Erfreulicherweise lassen sich Palazzeschis Nietzsche-Lektüren konkret belegen, und zwar anhand des Ausleihregisters („Libro dei Prestiti“) der Bibliothek des Gabinetto G. P. Vieusseux von Florenz, die der Dichter mit 10 Der

Antiroman greift den bereits für die frühe Lyrik typischen, apersonalen Duktus wieder auf. Die Entpersönlichung zeigt sich sowohl inhaltlich – der Protagonist ist ein Mann aus Rauch, der gerade aufgrund seiner Selbstlosigkeit mit der Aufgabe eines neuen Kodex des menschlichen Zusammenlebens beauftragt wird – als auch formal, in der Beseitigung der traditionellen, ordnenden Instanz des Erzählers. Dadurch bringt Palazzeschi die Gattung ‚Roman‘ auf eine narratologische Schwundstufe und antizipiert die im ‚Technischen Manifest der futuristischen Literatur‘ (1912) von Marinetti erhobene Forderung nach der Beseitigung des Ich aus der Literatur. Dazu Winfried Wehle: Im Reich der Intranszendenz – Aldo Palazzeschis Parabel ‚Il Codice di Perelà‘ (1911). In: Pensées, Pensieri, Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in den Literaturen der Romania. Festschrift für Werner Helmich. Hg. von Klaus-Dieter Ertler / Siegbert Himmelsbach, Wien 2006, S.   425–453, hier S.   427. 11 Brief Däublers an Moeller van den Bruck vom 20. Januar 1914 aus Florenz (Mscr. Dresd. App.   2716, S.   122) (zit. nach Bressan, Theodor Däubler (Anm.   8), S.   121).

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einer gewissen Regelmäßigkeit zwischen 1903 und 1907 besuchte. Aus dem Ausleihregister geht hervor,12 dass er im Sommer 1906 Nietzsches ‚Zarathustra‘ in der italienischen Übersetzung von Romualdo Giani13 sowie die Aphorismensammlung ‚Der Wanderer und sein Schatten‘, den zweiten und letzten Nachtrag zu ‚Menschliches, Allzumenschliches‘, in der französischen Übersetzung von Henri Albert entliehen hatte.14 Nietzsches Bedeutung für Palazzeschi kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Bereits der Titel seiner Sammlung ‚L’Incendiario‘ (‚Der Brandstifter‘), der sich zugleich auf das gleichnamige Gedicht bezieht, verrät die Spuren seiner Nietzsche-Lektüre. In der ‚Vorrede zu Zarathustra‘ wird Zarathustra ausdrücklich als „Brandstifter“ charakterisiert, der den Leuten das befreiende Feuer seiner Philosophie in die Täler bringt, und es ist dort auch von den „Strafen“ die Rede, die – wie in Palazzeschis Titelgedicht – dem Brandstifter durch die etablierte Ordnung drohen. „Damals“ – so wird Zarathustra von einem Greis apostrophiert – „trugst du deine Asche zu Berge: willst du heute dein Feuer in die Thäler tragen? Fürchtest du nicht des Brandstifters Strafen?“15 Palazzeschi übernimmt von Nietzsche die Metaphorik der Brandstiftung und widmet sie auf Marinetti um, dem das Gedicht ‚L’Incendiario‘ auch dediziert ist („A F. T. Marinetti / anima della nostra fiamma“).16 Der von der bürgerlichen Öffentlichkeit verpönte Futu-

12 Vgl.

Simone Magherini: Palazzeschi lettore alla Biblioteca del Gabinetto G. P. Vieusseux di Firenze (1903–1907). In: Scherzi (Anm.   3), S.   231–236. 13 Friedrich Nietzsche: Così parlò Zarathustra, Torino: Fratelli Bocca 21906 (Vgl. Biblioteca del Gabinetto Scientifico Letterario G. P. Vieusseux: Inv.-Nr.   36469). Entliehen wurde der Band am 1. August 1906. 14 Friedrich Nietzsche: Le voyageur et son ombre. Opinions et sentences mêlées (Humain, Trop humain, p. ii), tr. par Henri Albert, Paris: Societé du Mercure de France 41902 (Vgl. Biblioteca del Gabinetto Scientifico Letterario G. P. Vieus­ seux: Inv.-Nr.   33517). Auch dieser Band wurde von Palazzeschi am 1. August 1906 entliehen. 15 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari. Bd.   4, Berlin – New York 1988, S.   12 (‚Zarathustra’s Vorrede‘). Auch der Titel von Palazzeschis zweitem Gedichtband, ‚Lanterna‘, spielt vermutlich auf den 18. Aphorismus von ‚Menschlichem, Allzumenschlichem‘ an (dazu Simome Magherini: L’esordio poetico. In: Scherzi (Anm.   3), S.   31–48, hier S.   31–32). 16 Aldo Palazzeschi: L’Incendiario 1905–1909, Milano: Edizioni futuriste di „Poesia“ 21913, S.   8 („An F. T. Marinetti / Seele unserer Flamme“).

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risten-Anführer erscheint bei Palazzeschi als gefangener und auf dem Marktplatz vorgeführter Brandstifter, der an den Pranger gestellt und von Schaulustigen, die sich an seiner Bloßstellung ergötzen, beschimpft und herabgewürdigt wird. Besungen wird er dagegen vom Dichter, der in ihm den neuen Messias erkennt und ihn am Ende des Gedichts zum Entsetzen der Umstehenden in die Freiheit entlässt. Die Metaphorik der ‚Brandstiftung‘ knüpft somit unmittelbar an Nietzsche an und umschreibt die futuristische Liquidation einer überlebten und erstarrten Kultur. Palazzeschis Nietzsche-Rezeption unterscheidet sich von dem dionysischen Nietzsche-Kult der deutschen Expressionisten und ist auf die Komik als Subversion etablierter Werte fokussiert. Palazzeschis humoristische Poetik repräsentiert insofern eine von der expressionistischen Avantgarde kaum verwirklichte Variante der Nietzsche-Lektüre, die in literarhistorischer Perspektive auf den Dadaismus vorausweist. Wie Palazzeschi folgten auch die Dadaisten Nietzsches Forderung nach einer „anderen Kultur“, die eine „spöttische, leichte, flüchtige, göttliche, unbehelligte, göttlich künstliche Kunst“ als Ziel hatte.17 In diesem Sinne merkt der Berliner Dadaist Raoul Hausmann in seiner Satire ‚Adolf Kutschenbauch‘ (1920) ironisch an, die Deutschen hätten, anstatt der „komischen Selbsttäuschung als Überallesmenschen“ zu verfallen, durch Nietzsche auch die Wahl gehabt, „romanischer, gesünder, dadaistischer zu werden.“18 Nietzsche wirkte auf den jungen italienischen Dichter vor allem als Philosoph, der sein subversives Programm der Umwertung der Werte 17 „Nein,

wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn uns hinterdrein besser auf Das, was dazu zuerst noth thut, die Heiterkeit, jede Heiterkeit, meine Freunde! Auch als Künstler“ (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Studienausgabe (Anm.   15). Bd.   3: Morgenröthe. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, S.   351, ‚Vorrede zur zweiten Ausgabe‘, § 4). 18 Raoul Hausmann: Adolf Kutschenbauch (Eine bürgerliche Entwicklung). In: Ders.: Texte bis 1933. Bd.   1: Bilanz der Feierlichkeit, München 1982, S.   157. Dazu Oliver Zybok: Komik in der Kunst und Karikatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. von Uwe Wirth. Unter Mitarbeit von Julia Paganini, Stuttgart 2017, S.   319–328, hier S.   322.

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durch die beißende Waffe der Komik vorantreibt.19 So erklärt Zara­thustra gerade das Lachen zu einem entscheidenden Medium der Umwertung: Und ich hiess sie ihre alten Lehr-Stühle umwerfen, und wo nur jener alte Dünkel gesessen hatte; ich hiess sie lachen über ihre grossen Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und Welt-Erlöser. Über ihre düsteren Weisen hiess ich sie lachen, und wer je als schwarze Vogelscheuche warnend auf dem Baume des Lebens gesessen hatte.20

Satire, Ironie und Witz nutzt Nietzsche als Medien des Spotts und der Entlarvung, um überlebte und veraltete Werte zu demaskieren und auf diese Weise den Boden für die Etablierung neuer Werte zu bereiten. Diese philosophische Konzeption des Komischen wird von Palazzeschi im Rahmen der ästhetischen Umwertung, welche die Avantgarde vollzieht, rezipiert und nicht nur in seiner Lyrik adaptiert, sondern auch in seinem Humorismus-Manifest ‚Il Controdolore‘ (‚Der Gegenschmerz‘, 1914) theoretisch reflektiert. Nietzsche und Palazzeschi gemeinsam ist die Ablösung der tragischen Vision, die Nietzsche selbst in seinem Frühwerk, in der ‚Geburt der Tragödie‘, entwickelt hatte und welche auf Schopenhauers Leidensphilosophie basierte, durch eine humoristische Perspektive, in der die Erfahrung des Schmerzes aufgehoben ist und sich das Spiel als ein Letztes erweist. Bereits Piero Pieri hat auf die Affinitäten hingewiesen, die zwischen Nietzsches parodistischer Strategie und der spielerischen Umkehrungspoetik der Avantgarde im Allgemeinen und Palazzeschis insbesondere herrschen. Vor allem hat er auf die intertextuellen Korrespondenzen zwischen einem Aphorismus aus ‚Menschlichem, Allzumenschlichem‘ – „Der Mensch, der Komödiant der Welt“ – und Palazzeschis ‚Controdolore‘-Manifest aufmerksam gemacht.21 Nietzsche zerstört den christlichen Anthropozentrismus durch die Widerlegung der Gottesebenbildlichkeit. Der Mensch – so Nietzsche – war nie Ebenbild Gottes. Sein Ursprung hängt vielmehr von 19 Zu

Nietzsches Auffassung des Komischen, die in der Forschung immer noch unterbelichtet ist, vgl. Tarmo Kunnas: Nietzsches Lachen. Eine Studie über das Komische bei Nietzsche, München 1982. 20 Nietzsche, Zarathustra (Anm.   15), S.   247. 21 Zum Folgenden Piero Pieri: Ritratto del saltimbanco da giovane. Palazzeschi 1905–1914, Bologna 1980, S.   187–193. Zu Palazzeschis Nietzsche-Rezeption vgl. auch Fausto Curi: Palazzeschi e Nietzsche. In: Palazzeschi europeo. Hg. von Gino Tellini / Willi Jung, Florenz 2007, S.   39–64.

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Gottes Wunsch ab, zur Vertreibung der eigenen Langeweile einen Affen auf Erden zu haben: Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlass zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem Schmerz kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche sein Lieblingsthier, um an den tragisch-stolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der geistigen Erfindsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben – als Erfinder dieses Erfinders. Denn wer den Menschen zum Spaasse ersann, hatte mehr Geist, als dieser, und auch mehr Freude am Geist.22

Im Licht dieser parodistischen Subversion der christlichen Anthropologie erweist sich der Schmerz nicht mehr als die Quelle der tragischen Vision, sondern nur noch als das Instrument des göttlichen Spotts. Daraus folgt die ästhetische Unmöglichkeit der Tragödie, welche unweigerlich eine parodistische Faktur offenbart. In seinem Manifest ‚Il Controdolore‘ entwirft der italienische Dichter eine humoristische Anthropogonie, hinter welcher sich unschwer Nietzsches Signatur erkennen lässt: Beruhigt euch, er [Gott] hat die Welt nicht zu einem tragischen, melancholischen oder sentimentalen Zweck erschaffen; er schuf sie, weil ihm das Spaß machte. […] Und ihr werdet gut verstehen, daß es seltsamer und ewiger Schauspiele bedarf, damit sich alle auf ewig vergnügen können!23

II. Däublers Nachdichtungen aus Palazzeschis ‚L’Incendiario‘ Das handschriftliche Konvolut von Däublers Palazzeschi-Nachdichtungen, ‚Literatenschmaus‘, stammt aus Däublers unveröffentlichtem Nachlass und befindet sich in den Archivbeständen der Klassik Stiftung

22 Friedrich

Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Studienausgabe (Anm.   15). Bd.   2, S.   548. 23 Aldo Palazzeschi: Der Gegenschmerz. In: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Hg. von Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Hamburg 2009, S.   98–105, hier S.   98. „Egli non à creato no, rassicuratevi, per un tragico, o malinconico, o nostalgico fine; à creato perchè ciò lo divertiva. […] E comprenderete bene che per divertirsi tutti in eterno, ce ne vogliono dei curiosi ed eterni spettacoli“ (Aldo Palazzeschi: Il controdolore. In: I Manifesti del futurismo, Florenz: Lacerba 1914, S.   170–180, hier S.   171).

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Weimar.24 Eingetragen sind die Versionen in einem linierten und nicht paginierten Heft von 48 Blättern.25 Däublers Vorlage war offensichtlich Palazzeschis Sammlung ‚L’incendiario‘ in der Edition von 1913.26 Diese Auflage stellt eine Auswahl aus den bereits publizierten Bänden ‚I cavalli bianchi‘, ‚Lanterna‘, ‚Poemi‘ und ‚L’incendiario‘ in der Edition von 1910 dar und enthält sämtliche von Däubler übertragene Dichtungen. Aus dieser Ausgabe übernahm Däubler auch die von Marinetti stammende Apostrophierung Palazzeschis als „Futurista“, die er auf seinem Titelblatt wiederholte („Aldo Palazzeschi | Futurist“) und auch für sich in Anspruch nahm („Theodor Däubler | Futurist“). Als „Futurist“ verstand sich Däubler allerdings eher im Sinne Palazzeschis und der um die Zeitschrift ‚Lacerba‘ gescharten Florentiner Futuristen, während er Marinetti gegenüber großen Reserven hegte. Wenig später grenzte er sich von dem inzwischen von Marinetti dominierten Futurismus auch explizit ab.27 Palazzeschi wiederum teilte mit der futuristischen Bewegung vor allem den Hang zur Komik, der sich auch in seiner Verspottung zeitgenössischer Autoritäten wie Giovanni Pascoli und Gabriele d’Annunzio zeigte. Dagegen fehlt in der Lyrik des Florentiner Dichters jede Spur von Marinettis ‚Modernolatrie‘, Technikfetischismus und Kriegsverherrlichung. Däublers Versionen entstanden hauptsächlich zwischen 1913 und dem Frühjahr 1914. Am 21. Februar 1914 teilte Däubler aus Florenz seinem Freund Arthur Moeller van den Bruck mit, dass er gerade an der Übertragung von Palazzeschis „herrliche[m] Gedichtbuch“ sitze28 und etwa einen Monat später, am 23. März, dass die Übersetzung fast fertig sei.29

24 Das

Manuskript trägt folgende Signatur: Klassik–Stiftung Weimar GSA 12/II, 10. 25 Seitenspiegel: 19 × 13 cm. 26 Palazzeschi, L’Incendiario (Anm.   16). 27 „Ein Futurist bin ich niemals gewesen. Erstens, weil ich aus rein geistigen Gründen keiner sein konnte: das Programm der Futuristen gefiel mir in vielen Punkten, ich fühlte jedoch in mir bloß futuristische Elemente“ (Theodor Däubler: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften. Hg. von Friedhelm Kemp / Friedrich Pfäfflin, Darmstadt 1988, S.   134). 28 Brief Däublers an Moeller van den Bruck vom 21. Februar 1914 (Mscr. Dresd. App.   2716, S.   124). 29 Brief Däublers an Moeller van den Bruck vom 23. März 1914 (Mscr. Dresd. App.   2716, S.   128).

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Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 vereitelte das Pu­ blikationsvorhaben. Einige von Däublers Versionen konnten jedoch trotz des Krieges veröffentlicht werden. Von den 1915 im ‚Sturm‘ publizierten Nachdichtungen30 allerdings stammt nur ‚Verbotene Spielerei‘ aus dem Weimarer Konvolut, während die restlichen Übertragungen (‚Rio Bo‘, ‚Wer bin ich?‘, ‚Der Bummel‘) im ‚Literatenschmaus‘ fehlen. Das Weimarer Manuskript stellt eine Auswahl dar, die noch auf das dekadente Frühwerk fokussiert ist. Anschließend übertrug Däubler aber auch die späteren futuristischen Dichtungen, die ebenfalls im ‚Incendiario‘ von 1913 publiziert worden waren, und veröffentlichte diese Versionen in den expressionistischen Zeitschriften ‚Der Sturm‘ und ‚Die Aktion‘.31 Dass Däubler die Publikation sämtlicher Nachdichtungen unter dem Titel ‚Der Mordbrenner‘ plante, geht nicht nur aus entsprechenden Anzeigen im Band ‚Der sternhelle Weg‘ (1915) und in der ‚Aktion‘ (1916) hervor.32 Auch die Zeitschrift ‚Lacerba‘ hatte – bereits im April 1914 – Däublers Band angekündigt: Unser großer Freund Theodor Däubler hat kürzlich die deutsche Übersetzung von Aldo Palazzeschis ‚L’Incendiario‘ fertiggestellt. Das Buch wird in Kürze bei einem der größeren Münchner Verlage erscheinen, und dann werden wir diese außergewöhnliche Übersetzung ausführlich besprechen, die in Deutschland nicht nur eine neue Methode und ein neues Konzept von Übersetzung ansto-

30 Aldo

Palazzeschi: Gedichte. Übertr. von Theodor Däubler. In: Der Sturm (Anm.   4), S.   9–10. 31 Die meisten der im ‚Sturm‘ und in der ‚Aktion‘ 1915 und 1916 publizierten Übertragungen haben Texte zur Vorlage, die aus den Werkstufen der ‚Poemi‘ (1909) sowie des ‚Incendiario‘ von 1910 stammen und allesamt in der Neuauflage des ‚Incendiario‘ von 1913 wiederabgedruckt wurden. Den ‚Poemi‘ entnommen sind ‚Rio Bo‘, ‚Wer bin ich?‘ (‚Chi sono?‘), ‚Die Kaiserin Charlotte‘ (‚Regina Carlotta‘), ‚Die Bildnisse der Ammen‘ (‚I ritratti delle nutrici‘) und ‚Paradiesische Einblicke‘ (‚I prati del paradiso‘), aus dem ‚Incendiario‘ (1910) stammt der ‚Besuch bei der Gräfin Eva Pizzardini Bo‘ [sic] (‚Visita alla contessa Eva Pizzardini Ba‘). Als einziges Gedicht, das nicht einer früheren Sammlung angehört, hat Däubler ‚Den Bummel‘ (‚La passeggiata‘) übersetzt, der im ‚Incendiario‘ von 1913 erstmals publiziert worden war. 32 Vgl. „In Vorbereitung: […] DER MORDBRENNER | VON ALDO PALAZZESCHI – GEDICHTE | Übersetzung aus dem Italienischen“ (Theodor Däubler: Der Sternhelle Weg. Dresden: Hellerauer Verl. 1915, [S.   93]), „Palazzeschi: ‚Der Mordbrenner‘ (von Theodor Däubler für Georg Müller übertragen)“ (Notiz zu dieser Sondernummer ‚Italien‘. In: Die Aktion 6, 19. Februar 1916, 7/8, S.   104).

Futuristische Brandstiftung213 ßen, sondern die deutsche Literatur zweifellos um ein Meisterwerk bereichern wird.33

Die Nachdichtungen des ‚Mordbrenners‘ hätten im Münchner Georg Müller-Verlag erscheinen sollen, bei dem Däublers Hauptwerk, der episch-lyrische Zyklus ‚Das Nordlicht‘, 1910 in drei Bänden publiziert worden war. 1914 erschienen dort auch Däublers „autobiographische Fragmente“ ‚Wir wollen nicht verweilen‘. Das Weimarer ‚Literatenschmaus‘-Konvolut ist somit mit dem angekündigten ‚Mordbrenner‘ nicht identisch, sondern spiegelt offenbar eine Vorstufe davon wider, die noch ein frühes Stadium der Übersetzungsarbeit dokumentiert. Wie bereits aus dem scherzhaften Titel hervorgeht, der das Genre des Symposions und die Dichterbankette des 19. Jahrhunderts anklingen lässt, sind Däublers Nachdichtungen nicht an den bürgerlichen Durchschnittsleser, sondern an ein Schriftstellerpublikum adressiert. Die ‚Schmaus‘-Metaphorik evoziert ein geselliges Festmahl für gleichgesinnte Dichter. Der provokatorische Gebrauch des pejorativen Begriffs ‚Literat‘ besitzt vermutlich einen selbstironischen Unterton und dient dazu, das humoristische poetologische Selbstverständnis der Avantgarde zu artikulieren. Im ‚Literatenschmaus‘ traf Däubler eine Auswahl aus dem ‚Incendiario‘, von dem er etwa ein Drittel übertrug. Von insgesamt 78 Gedichten übersetzte er 23 Texte. Entstehungsgeschichtlich stammen die ausgewählten Gedichte hauptsächlich aus den ältesten Werkstufen, d. h. vor allem aus den frühen dekadenten Sammlungen ‚I cavalli bianchi‘ (1905) und ‚Lanterna‘ (1907). Elf Texte waren bereits in ‚I cavalli bianchi‘ erschienen.34 Wiederum sieben Gedichte sind der Sammlung ‚Lanterna‘

33 „Il

nostro grande amico Theodor Däubler ha ultimato di questi giorni la traduzione tedesca dell’Incendiario di Aldo Palazzeschi. Il libro uscirà tra poco presso uno dei maggiori editori di Monaco, e allora parleremo diffusamente di questa straordinaria traduzione che in Germania non soltanto inizierà un nuovo metodo e sistema di versione, ma che senza dubbio arricchirà la letteratura tedesca di un capolavoro.“ (Caffè. In: Lacerba 2, 1. April 1914, 7, S.   109, Übers. vom Verf.). 34 Es handelt sich um folgende Dichtungen: ‚Lo specchio delle civette‘; ‚Le fanciulle bianche‘; ‚La lancia‘; ‚Il segno‘; ‚L’orto dei veleni‘; ‚Ara, Mara, Amara‘; ‚La ferita del silenzio‘; ‚Oro, Doro, Odoro, Dodoro‘; ‚La vasca delle anguille‘; ‚Il pastello del tedio‘ und ‚La casa di Mara‘.

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entnommen.35 Aus den protofuturistischen ‚Poemi‘ (1909) stammen ‚La fontana malata‘ und ‚Diana‘. Drei weitere Dichtungen – ‚Villa Celeste‘, ‚E lasciatemi divertire!‘ und ‚L’orologio‘ – gehören schließlich der spätesten Werkstufe an und waren bereits 1910 in der ersten Edition des ‚Incendiario‘ publiziert worden. III. „Aus dem Italienischen frei übersetzt“ – Strategien der ‚Brand-Begrenzung‘ Däubler charakterisiert seine Palazzeschi-Versionen auf dem Titelblatt des Weimarer Manuskripts ausdrücklich als „freie“ Übersetzungen: „Aus dem Italienischen frei übersetzt von Theodor Däubler“.36 Nicht zuletzt aufgrund der Zweisprachigkeit des Triestiner Übersetzers, der seine Jugendzeit in Triest und Venedig verbrachte, sind sie – bis auf einige punktuelle Missverständnisse – eher getreue Übertragungen. Aber auch der Zusatz „frei“ ist nicht unangebracht, denn Däublers Übersetzungen repräsentieren in der Tat ‚Nachdichtungen‘, welche Palazzeschi konservativ überformen und den futuristischen ‚Brand‘ einzugrenzen versuchen. Vier Aspekte fallen ins Gewicht: die Selektion der übersetzten Dichtungen, die Metrisierung von Palazzeschis versi liberi, die expressive Emotionalisierung seiner verstörenden, sachlich-distanzierten Diktion sowie schließlich eine klangliche Auratisierung, welche die Zäsur der futuristischen Avantgarde mit dem Symbolismus entschärfen soll.37 Däublers Bemühungen um die Konstruktion einer Kontinuität, da, wo bei Palazzeschi ein Bruch mit der Tradition herrscht, sind überraschend. Sie lassen sich zum einen personalbiographisch gut nachvollziehen. Der 1876 geborene Triestiner Autor gehörte generationsmäßig nicht zu der Alterskohorte der meist zwischen 1885 und 1896 geborenen Expressionisten. Er zählte eher zu den – noch vom Symbolismus geprägten – ‚Va35 D. h.

‚Passo delle nazzarene‘; ‚Palazzo Oro Ror‘; ‚Palazzo Mirena‘; ‚Raggi x‘ [unter dem Titel ‚Rosario‘]; ‚Gioco proibito‘ [unter dem Titel ‚:Riflessi‘]; ‚Parco umido‘ und ‚La veglia delle tristi‘. 36 Klassik–Stiftung Weimar GSA 12/II, 10, Titelblatt. 37 Dies verrät die Bedeutung, welche die symbolistische Poetik für Däubler immer noch besaß und die auch seine zahlreichen Übersetzungen des belgischen Symbolisten Émile Verhaeren belegen. Einige erschienen im Belgien-Heft der ‚Aktion‘ vom 5. Februar 1916.

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terfiguren‘ der jungen Bewegung. Andererseits bemühte er sich, Palazzeschis Futurismus in der verhältnismäßig konservativeren deutschen Literaturlandschaft einzubürgern und dies konnte nur um den Preis einer Abschwächung von dessen Modernität gelingen. Im Hinblick auf die Selektion der übertragenen Dichtungen gibt der Übersetzer in seiner Auswahl eindeutig der frühen dekadenten, noch nicht futuristischen Produktion (den Sammlungen ‚Cavalli bianchi‘ und ‚Lanterna‘) den Vorzug und spart einige der kühneren Texte aus. Nicht übertragen wurden etwa die skandalösen ‚Fiori‘, eine Parodie der Zivilisationsflucht in die Natur, bei der sich die Gartenidylle als Ausbund aller denkbaren sexuellen Perversionen herausstellt. Ebenso unterdrückt wurde die höhnische Entweihung des Dichteramtes in ‚Postille‘. Däubler zielt auf die metrische Regulierung von Palazzeschis freien Versen ab und nimmt dafür auch eine Abweichung von der Versanzahl der Originaltexte in Kauf. Das Idealziel metrischer Stabilisierung zeigt sich etwa im ‚Landsitz Himmelblau‘ im Einsatz von Doppelfügungen: Esangui dame, sottili nelle loro vesti celesti a grandi code, di rasi lucenti, di pallidi damaschi.

Lauter Damen, schwach und blass, Hell und schlank im Blaugewand Zogen lange Schleppen nach Ganz aus Atlas, ganz aus Glanz.38

Durch Hendiadyoin wird „esangui“ zu „schwach und blass“ verdoppelt, ebenso „sottili“, das zu „hell und schlank“ wird – offensichtlich aus metrischen Gründen, um den unruhigen verso libero zu normieren. Der ergänzte Binnenreim („Ganz“/„Glanz“) belegt seinerseits bereits die große Bedeutung, die Däubler der Klangebene beimisst. Ebenso deutlich ist Däublers expressive Emotionalisierung von Palazzeschis befremdendem sachlichem Stil, der sich oft von der Alltagssprache kaum unterscheidet und den für die Gattung Lyrik geradezu konstitutiven, subjektiven Ausdruck vermissen lässt.39 Diese Emotionslosigkeit wird von Däubler zurückgenommen. Aussage­sätze werden zu38 Däubler:

Landsitz Himmelblau, V.   22–25. Anette Hülsen: Der Weg der Lyrik Aldo Palazzeschis – von ‚I cavalli bianchi‘ bis ‚Nove sinfonie‘. Diss., Münster 1990, S.   30. Ein lyrisches Ich ist in den ‚Cavalli bianchi‘ weder grammatisch noch indirekt durch Anredeformen präsent.

39 Dazu

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weilen in Fragen40 oder Ausrufe umgewandelt,41 manchmal durch die Ergänzung von Abtönungspartikeln und Ausrufezeichen,42 welche den Bildern zusätzliche Ausdruckskraft verleihen. Ferner ergänzt Däubler oft eine typisch expressionistische Wir-Perspektive43 und führt einmal auch eine Ihr-Apostrophe ein, welche auf die Leserschaft abzielt.44 Durch seinen provokatorischen Kolloquialstil und die parodistische Entzauberung der Dichter-Rolle verfolgt Palazzeschi einen futuristischen Bruch mit der Tradition, der von Däubler nur halb mitvollzogen wird. Markant sind bei ihm vielmehr Strategien der Auratisierung, welche die Zäsur zwischen Futurismus und Tradition dämpfen und Palazzes­ chis Aufnahme bei der konservativen deutschen Leserschaft begünstigen sollten. Eine ganz entscheidende Bedeutung misst der Übersetzer dem Reim bei. In ‚Laßt mir mein Vergnügen‘ erreicht Däubler mit 15 Reimen fast dieselbe Anzahl an Reimen der Vorlage (16) und zeigt sich Pa­lazzes­ chis humoristischer Poetik durchaus gewachsen. Dies bezeugen effektvolle komische Reime wie „Strophen“/„Ofen“ oder „Näse“/„Japanese“: Aber was sind das für Unanständigkeiten? So sehn wir doch, den Blödsinn solcher Strophen! Ihr sagt mir Freiheiten des Dichters: Fort damit, marsch in den Ofen!45 Mir scheint, er lacht uns unter die Näse, Er quieckt [sic] und gaukelt wie ein Japanese.46 40 Vgl.

„Di fuori più nulla. // Silenzio“ und: „Kommt Niemand mehr hinzu? // Schweigt alles?“ (Auf Schloss Goldenhorst, V.   21–22). 41 Vgl. „pesante trascinano il manto di lutto, le donne“ und: „Wie schwer allen dreien / Die schleppende Trauergewandung herabfällt“ (Der feuchte Park, V.   24–25). 42 Vgl. „grondante di dense fanghiglie“ und: „Ja träufelnde Fäulnisbehänge!“ (ebd., V.   5, Hervorhebung vom Verf.). 43 Vgl. etwa: „Unsichtbare Spiegel bestreichen uns leise“ (Verbotene Spielerei, V.   1), „Und leise weitherwogend / Erreicht uns, beinahe erloschen / Der Schwall einer Glocke“ (V.   5–7), „Grosse Bäume beugen ihre Äste / Unter der Apfellast 〈zu uns〉 herüber“ (Der Anger mit den Giftbeeten, V.   4–5), „Sie naht uns geschwind wie der Wind“ (Goldenhorst (Anm.   40), V.   24), Hervorhebungen vom Verf.). 44 Vgl. „Di fuori ecco il parco serrato serrato serrato“ und: „So seht ihr von aussen: Der Park ist verschlossen!“ (Park (Anm.   41), V.   17, Hervorhebung vom Verf.). 45 Däubler: So laßt mir mein Vergnügen!, V.   16–19. 46 Ebd., V.   68–69.

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Manchmal allerdings dämpft Däubler Palazzeschis Humor durch Poe­ tisierung ab. Die theatralische Rollendichtung ‚X-Strahlen‘ setzt sich aus einer Reihe komischer Couplets zusammen, welche den Singsang kirchlicher Litaneien als Nonsens persiflieren. Die Begine Corilla etwa singt folgendermaßen: Corilla (beghina): Per Cristo gioisco subisco finisco.47

Edelherz (Eine Betschwester): Den Tag vom Herrn Erleide ich gern Mir winkt von fern Mein Tränenstern.48

In seiner Übertragung schwächt Däubler den komischen Effekt ab, der sich aus der apodiktischen Kürze des fanatischen Glaubensbekenntnisses ergibt, und konstruiert eine narrative Mikrosequenz, welche die lakonisch-burleske professio fidei der Begine in eine elegische Stimmung taucht. Däubler überschreibt auch die von Palazzeschi inszenierte perte d’auréole durch sein eigenes, noch sakrales Dichterkonzept.49 Bezeichnend dafür ist, dass Palazzeschis Gedicht ‚Postille‘, das ebenfalls Teil der ‚Incendiario‘-Sammlung ist, nicht übersetzt wurde. Dort destruiert der italienische Dichter auf unerhört provokatorische Weise das Konzept auratischer Autorschaft. Der marmorne Grabstein, den sich ein in seiner Villa eingemauerter Dichter zu Lebzeiten hat legen lassen („Hier lebt / begraben / ein Dichter“), wird durch die Vorübergehenden mit 47 Aldo

Palazzeschi: Raggi X. In: L’Incendiario (Anm.   16), S.   30, V.   5–9 („Für Christus jauchze ich, leide ich, endige ich“, Übers. vom Verf.). 48 Däubler: X-Strahlen, V.   6–10. 49 Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist ein kolportiertes Gespräch mit dem dadaistischen Lautdichter und Stramm-Schüler Rudolf Blümner, in dem sich Däubler vom dadaistischen Nihilismus abgrenzt und die theologischen Fundamente seiner Sprachphilosophie darlegt: „Nein, Freunde, es ist ein theologisches Problem. Der Schöpfergott ist Wort und Bild zugleich. Wer das Gedankenbild wegnimmt, zerstört auch das Wort und bleibt hängen in der Welt der Elemente, die für sich nichts sind. Das führt zum Nihilismus. […] Die Malerei ist leidendes geformtes Licht. Ob sie eine äußere Erscheinung der Natur benutzt oder nicht, ist gleichgültig. […] Das Wort aber ist der Mensch. Es ist ein Abfall, das Wort durch den bloßen Klang der Elemente aus Menschenmund zu ersetzen“. (Lothar Schreyer: Erinnerungen an Sturm und Bauhaus. Was ist des Menschen Bild, München 1956, S.   42).

218

Mario Zanucchi

Schimpfworten beschmiert, die der Dichter als „postille“, d. h. Marginalien zu bagatellisieren versucht: Il giorno seguente due camerieri accorron dal loro signore affannati e stravolti. – Che c’è? – Signore! – Signore! – Che è stato? – Sapete?  … La fuori al cancello  … sul marmo ov’è scritto: qui vive … sapete? Accanto alla parola poeta … c’è scritto … – C’è scritto? – Una brutta parola signore. – Sentiamo. – C’è scritto … imbecille – Oh! … Dio … Sarà forse passato Qualche compagno antico, qualche collega, qualche vecchio amico. Restate tranquilli Non son che … postille …50

Dessen ungeachtet nehmen die ‚Glossen‘ in einem furiosen Crescendo von Schmähungen zu. Nachdem die Diener sie mühsam entfernt haben, animiert der lyrische Ich-Erzähler schließlich die Leser dazu, selbst den Marmor als Schreibtafel zu nutzen. Eine solche vernichtende Persiflage des Dichteramtes konfligierte offenbar allzu stark sowohl mit Däublers Konzept vom poeta vates als auch mit dem Erwartungshorizont seiner Leserschaft, deshalb schloss er den Text aus seiner Sammlung aus. Aber auch in den übersetzten Dichtungen entschärft Däubler die futuristische Dichterparodie, wie seine Übertragung eines der bekanntesten Texte Palazzeschis, ‚E lasciatemi divertire!‘ (‚Und laßt mir mein Vergnü-

50 Aldo

Palazzeschi: Postille. In: L’Incendiario (Anm.   16), S.   210, V.   25–48 („Am nächsten Tag / eilten zwei Kellner / außer Atem und aufgeregt / zu ihrem Herrn. / – Was ist los? / – Mein Herr! / – Mein Herr! / – Was ist? / – Wissen Sie … / Da draußen am Tor … / auf dem Marmor, / worauf geschrieben steht: / ‚hier lebt‘ … wissen Sie? / Neben dem Wort Dichter … / steht geschrieben … / – Steht geschrieben? / – Ein böses Wort, Herr. / – Ich höre. / – Es steht geschrieben … ein Dummkopf / Oh! … Gott … / Vielleicht wird / Ein alter Kamerad, / ein Kollege, ein alter Freund / vorbei gelaufen sein. / Bleiben Sie ruhig / Das sind nichts als … / Fußnoten …“, Übers. vom Verf.).

Futuristische Brandstiftung219

gen!‘) beweist.51 Dort inszeniert das sinnlose und unartikulierte Lallen des Dichters den Traditionsbruch der Avantgarde und wechselt sich mit den verdutzten Kommentaren des konsternierten Publikums ab, das den Dichter vulgärsprachlich als „fesso“ (Dummkopf) tituliert: Ma se d’un qualunque nesso son prive, perché le scrive quel fesso?52

Palazzeschis Dichterschmähung wird von Däubler domestiziert. Er verwandelt „fesso“ in „Bengel“ und konstruiert um die verniedlichte Apostrophierung einen entsprechenden infantilen Kontext: Das ist ganz ohne Zusammenhang! So  was schreibt jeder Bengel hin. Warum macht er mit solchem Widersinn Nicht lieber seiner Amme bang.53

Der Übersetzer schwächt auch den gegen den Dichter gerichteten Vorwurf der Pose: Ma giovinotto, ditemi un poco una cosa,  non è la vostra una posa, di  voler con così poco tenere  alimentato un sì gran foco?54

Die vorgeworfene Diskrepanz zwischen Schein („großes Feuer“) und Wesen („così poco“) findet bei Däubler keine Entsprechung. Vielmehr ist das Publikum bei Däubler ehrerbietig bereit, trotz aller Bizarrerie die Größe des Dichters anzuerkennen, wie der interpolierte Vers über die Gewalt seiner Visionen belegt:

51 Übers.

vom Verf. Palazzeschi: E lasciatemi divertire! In: L’Incendiario (Anm.   16), S.   247, V.   34–37 („Aber wenn seine Worte jeden Sinns beraubt sind, warum schreibt er sie, dieser Idiot?“, Übers. vom Verf.). 53 Däubler: So laßt mir mein Vergnügen!, V.   34–37. 54 Palazzeschi: E lasciatemi divertire!, S.    248, V.   58–63 („Aber junger Mann, / sagen Sie mal, / ist die Ihre nicht eine Pose, / mit so wenig / ein so großes Feuer / weiter zu füttern?“, Übers. vom Verf.). 52 Aldo

220

Mario Zanucchi So glimmt in Euch gewiss ein grosses Feuer, Eure Visionen sind ungeheuer.55

Bei Palazzeschi ist der Bruch zwischen avantgardistischem Dichter und Publikum eklatant: Infine io ò pienamente  ragione, i tempi sono molto  cambiati, gli uomini non dimandano più nulla dai poeti, e lasciatemi divertire!56

Ein solches Verständnis der Avantgarde als historischer Zäsur fehlt bei Däubler. „Die Zeiten für die Poesie“ sind heute „wie immer“ „schlecht“: Nun so habe ich doch recht, Die Zeiten sind wie immer  schlecht. Die Leute pfeifen auf  die Dichter: So laßt mir mein Vergnügen.57

Abschließend sei noch Däublers Übertragung von Palazzeschis ‚Chi sono?‘ (‚Wer bin ich?‘) exemplarisch analysiert, denn dort kommen sämtliche Tendenzen seiner Übersetzungspoetik nochmals gebündelt zum Ausdruck. Der kurze Text aus dem Vorwort zu ‚Poemi‘ (1909) ist als Dialog mit der Leserschaft angelegt. In freien Versen und in denkbar unpoetischem, kolloquialem Ton gehalten, setzt er sich aus einer Reihe von Fragen zusammen, welche der Identitätsbestimmung des lyrischen Ichs gelten:

CHI SONO?



Chi sono? Son forse un poeta? No certo. Non scrive che una parola, ben strana,

55 Däubler:

So laßt mir mein Vergnügen!, V.   62–63. E lasciatemi divertire!, S.   249, V.   89–93 („Letztlich habe ich völlig recht, / die Zeiten sind gänzlich anders geworden, / die Menschen verlangen / nichts mehr von den Dichtern / so laßt mir mein Vergnügen!“, Übers. vom Verf.). 57 Däubler: So laßt mir mein Vergnügen!, V.   89–92. 56 Palazzeschi:

Futuristische Brandstiftung221 5 la penna dell’anima mia: follìa. Son dunque un pittore? Neanche. Non à che un colore la tavolozza dell’anima mia: 10 malinconìa. Un musico allora? Nemmeno. Non c’è che una nota 15 nella tastiera dell’anima mia: nostalgìa. Son dunque  …  che cosa? Io metto una lente dinanzi al mio cuore, per farlo vedere alla gente. 20 Chi sono? Il saltimbanco dell’anima mia.58

Das lyrische Ich ist kein „Dichter“ („poeta“). Im Gegensatz zu den Parnassiens ist es aber auch kein „Maler“ und wiederum in Abgrenzung von den Symbolisten kein „Musiker“, vielmehr beansprucht es für sich die Rolle des Akrobaten und Zirkusartisten. Dies entspricht einem poe­ to­lo­gi­schen Topos der Avantgarde, der sich aus Baudelaire (‚Le Vieux Saltimbanque‘) herleitet.59 Darin könnte allerdings auch eine weitere Nietzsche-Filiation liegen. Nietzsches Philosophie des Lachens impliziert nämlich auch die Fähigkeit, über sich zu lachen.60 Bereits Nietz58 Palazzeschi,

L’Incendiario (Anm.   16), S.   95. Dazu u. a. Tatiana Bisanti: Traditionsbruch und Poetik des Vergnügens in der frühen Lyrik Aldo Palazzeschis. In: Avantgarde und Komik. Hg. von Ludger Scherer / Rolf Lohse, Amsterdam – New York 2004, S.   55–73, S.   62. 59 Dazu Jean Starobinski: Portrait de l’artiste en saltimbanque, Genf 1970; zu dessen Rezeption bei Palazzeschi vgl. Marta Barbaro: I poeti-saltimbanchi e le maschere di Aldo Palazzeschi, Pisa 2008, S.   13–65. 60 Der nicht nur als „Wahrsager“, sondern auch als „Wahrlacher“ auftretende Zarathustra zählt im Kapitel ‚Vom höheren Menschen‘ gerade die Selbstironie zu den Wesenszügen des „höheren Menschen“: „Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss! Was Wunders auch, dass ihr missriethet und halb geriethet, ihr Halb-Zerbrochenen! Drängt und stösst sich nicht in euch – des Menschen Zukunft? Des Menschen Fernstes, Tiefstes, Sternen-Höchstes, seine ungeheure Kraft: schäumt Das nicht alles gegen einander in eurem Topfe? […] Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setze mir

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Mario Zanucchi

sches Zarathustra erscheint als „ein guter fröhlicher Hanswurst“, „ein Tänzer und Wind und Wildfang“, als „irgend ein alter Narr“.61 Diese komische Selbstdegradierung macht sich auch Palazzeschi zu eigen. Sein ‚Dichter-Jongleur‘ steht auch in Nietzsches Nachfolge und erinnert an die berühmte, burleske Gleichsetzung „Nur Narr! Nur Dichter!“ aus Zarathustras ‚Lied der Schwermuth‘.62 Im reimlosen Gedicht stechen in den V.   4/5, 9/10, 14/15 die Paarreime hervor, welche die dichterische Seele („anima mia“) mit den drei zen­ tralen Zuständen des Wahns („follia“), der Melancholie („malinconia“) und der Nostalgie („nostalgia“) verbinden. Metrisch bedient sich Palazzeschi des freien Verses, er baut allerdings Responsionen und Symmetrien zur Stabilisierung der Gedichtstruktur ein. So setzen sich die Frageverse 2, 7, 14 jeweils aus einem doppelten Amphibrachys zusammen (V_VV_V: „Son forse un poeta?“, „Son dunque un pittore?“, „Son dunque … che cosa?“), der in den Antworten zu einem einfachen Amphibrachys verkürzt wird (V_V: „No certo“, „Neanche“, „Nemmeno“). Auch die Evokation der eigenen Seele in V.   10, 15, 22 erfolgt nach dem gleichen metrischen Schema eines katalektischen daktylischen Vierhebers (_VV_VV_VV_V: „la tavolozza dell’anima mia“, „nella tastiera dell’anima mia“, „Il saltimbanco dell’anima mia“). Däublers Übertragung von ‚Chi sono?‘ erschien 1915 im ‚Sturm‘:

diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen anderen fand ich heute stark genug dazu. […] Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher […]. So verlernt mir doch Trübsal-Blasen und alle Pöbel-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken mich heute des Pöbels Hanswürste noch! […] Wie Vieles ist noch möglich. So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer, hoch! höher! Und vergesst mir auch das gute Lachen nicht!“ Nietzsche, Zarathustra (Anm.   15), S.   364–368. 61 „Es muss erst Einer kommen, – Einer, der euch wieder lachen macht, ein guter fröhlicher Hanswurst, ein Tänzer und Wind und Wildfang, irgend ein alter Narr: – was dünket euch? Vergebt mir doch, ihr Verzweifelnden, dass ich vor euch mit solch kleinen Worten rede, unwürdig, wahrlich!“ Ebd. 62 „Das – der Wahrheit Freier? / Nur Narr! Nur Dichter! / Nur Buntes redend, / Aus Narren-Larven bunt herausschreiend, / Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, / Auf bunten Regenbogen, / Zwischen falschen Himmeln / Und falschen Erden, / Herumschweifend, herumschwebend, / – Nur Narr! Nur Dichter!“ Ebd.

Futuristische Brandstiftung223

WER BIN ICH?

Wer bin ich? Etwa ein Dichter? Nein. Und ich allein Weiß das Nein. 5 Ein einziges Wort Hat das Entsetzen ausgedrückt: Berückt! Nun so wäre ich ein Maler? Nein! Eine blasse Farbe 10 In der Seele leicht und weit: Traurigkeit. Ein Spielgeselle vielleicht? Unerreicht! 15 Ich kenne nur einen tastenden Ton, Der sanft über Stufen zu gehen sucht: Sehnsucht. Nein, etwas bin ich, bin ich doch! Ich tue eine scharfe Linse, Eine Linse, vor das Herz 20 Und die Leute sehen durchs Loch: Ein Scherz! Ich bin in der eigenen Seele ein Schauckler [sic], Mein einziger Gaukler.63

An seiner Nachdichtung lässt sich Däublers symbolistische Überformung von Palazzeschis Futurismus deutlich belegen, wie bereits die Bedeutung der Klangebene zeigt. Der Übersetzer vermag zwar nicht den Reimklang nachzubilden, der bei Palazzeschi die Seele des Dichters („anima mia“) mit den poetologischen Leitkategorien „follìa“, „maliconìa“ und „nos­ talgìa“ verbindet. Er konstruiert für sie allerdings entsprechende, kongeniale Reime: „ausgedrückt“/„Berückt“, „weit“/„Traurigkeit“ sowie die Paronomasie „sucht“/„Sehnsucht“. Wie oft in Däublers Palazzeschi-Versionen, besitzt auch in diesem Fall der Reim einen zentralen Stellenwert. Die Interpolation von V.   3/4 erlaubt dem Übersetzer, einen zusätzlichen (identischen) Reim sowie einen Binnenreim zu ergänzen („Nein. Und ich allein / Weiß das Nein“). Für den fehlenden Reim zwischen „gente“ 63 Aldo

Palazzeschi: Wer bin ich? Übertr. von Theodor Däubler. In: Der Sturm (Anm.   4), S.   9.

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Mario Zanucchi

und „lente“ schafft er durch einen ergänzten Reim Abhilfe, der ihm auch die Möglichkeit gibt, Palazzeschis humoristische Poetik zusätzlich zu pointieren: „Ich tue eine scharfe Linse, / Eine Linse, vor das Herz / Und die Leute sehen durchs Loch: / Ein Scherz!“ Schließlich rundet Däubler seine Übertragung durch einen interpolierten Reim („Ich bin in der eigenen Seele ein Schauckler, / Mein einziger Gaukler“) ab, der die zentrale Kategorie des „saltimbanco“ durch ein Hendiadyoin amplifiziert. Die euphonische Textur intensiviert Däubler nicht nur durch die Reimpoetik, sondern auch durch gezielte Assonanzen („leicht und weit“), Alliterationen („tastenden Ton“, „sanft … sucht  .  . Sehnsucht“, „Scherz … Schaukler“) und Wiederholungen („bin ich, bin ich“, „eine scharfe Linse, / Eine Linse“). Metrisch bemüht sich der Übersetzer, die Symmetrien und Regelmäßigkeiten der Vorlage nachzubilden.64 Palazzeschis ludische Degradierung der Dichterrolle brachte den Übersetzer andererseits offensichtlich in Verlegenheit und wird von ihm gebremst. Bereits der von Däubler interpolierte Doppelvers 3/4 („Und ich allein / Weiß das Nein“) verleiht dem dichterischen Ich eine heroische Qualität, die dem antiheroischen Duktus der Vorlage eklatant zuwiderläuft. Durch das „Entsetzen“, das den dichterischen Wahnsinns­ ausbruch begleitet, führt der Übersetzer eine pathetisch-expressionistische Qualität ein, die dem spielerischen Tenor des Originals fremd ist. Schließlich ist „Berückt“ (V.   7) deutlich gehobener als „follìa“. Darin zeigt sich Däublers Bemühen, Palazzeschis befremdlichen Kolloquialstil zu nobilitieren.

IV. Bilanz Die expressionistische Futurismus-Rezeption erschöpfte sich nicht im Interesse für Marinetti. Däublers Nachdichtungen belegen vielmehr die Wirkung der konkurrierenden parodistischen Poetik des Florentiner Fu64 Dazu

zählt etwa die metrische Symmetrie zwischen den beiden Antworten „Weiß das Nein“ und „Unerreicht“ – beiden liegt ein sog. Amphimazer (_V_) zugrunde. In V.   10–12 setzt Däubler ein fallendes Metrum ein, um die Vorstellung der „Traurigkeit“ hervorzuheben: „Eine blasse Farbe / In der Seele leicht und weit: / Traurigkeit“ (_V_V_V / _V_V_V_ / _V_). Auch die Doppelsenkungen im Finale verraten eine strukturierte Schlussklausel: „Ich bin in der eigenen Seele ein Schauckler, / Mein einziger Gaukler“ (V_VV_VV_VV_V / V_VV_V).

Futuristische Brandstiftung225

turismus, die in ihren Nietzsche-Filiationen ein merkwürdiges Re-Import-Phänomen darstellt. Die übersetzerische Vermittlung Palazzeschis ging allerdings mit einer Abschwächung seiner Modernität einher. Der Übersetzer intervenierte durch metaphorische Interpolationen sowie durch Strategien der Musikalisierung, die noch symbolistischer Provenienz sind und dem italienischen Dichter zu verstärkter Akzeptanz bei dem deutschen, mit dem Futurismus völlig unvertrauten Publikum verhelfen sollten. Däublers poetische Fortschreibung repräsentiert somit zugleich eine Rückschreibung, eine Retrodatierung der Avantgarde aus dem Geist symbolistischer Klangmagie heraus. Gegenüber der futuristischen Entzauberung der poetischen Aura verhält sie sich wie eine erneute Verzauberung, die den futuristischen ‚Incendio‘ unter Kontrolle zu bringen versucht.

Wilfried Ihrig

„ein dröhnen“. Stefan Georges ‚ENTRÜCKUNG‘ und Paul Celans ‚EIN DRÖHNEN‘ ENTRÜCKUNG Ich fühle luft von anderem planeten. Mir blassen durch das dunkel die gesichter Die freundlich eben noch sich zu mir drehten. Und bäum und wege die ich liebte fahlen Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter Geliebter schatten – rufer meiner qualen – Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten Um nach dem taumel streitenden getobes Mit einem frommen schauer anzumuten. Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · Ungründigen danks und unbenamten lobes Dem grossen atem wunschlos mich ergebend. Mich überfährt ein ungestümes wehen Im rausch der weihe wo inbrünstige schreie In staub geworfner beterinnen flehen: Dann seh ich wie sich duftige nebel lüpfen In einer sonnerfüllten klaren freie Die nur umfängt auf fernsten bergesschlüpfen. Der boden schüttert weiss und weich wie molke .  . Ich steige über schluchten ungeheuer · Ich fühle wie ich über lezter wolke In einem meer kristallnen glanzes schwimme – Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-009

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Wilfried Ihrig

Das Gedicht ‚ENTRÜCKUNG‘ von Stefan George erschien zuerst 1907 in seinem Gedichtband ‚Der siebente Ring‘.1 Es war das letzte Gedicht, quasi der Epilog zu den Gedichten für Maximin, für den früh verstorbenen Dichter Maximilian Kronberger (1888 Berlin – 1904 München). George hatte Kronberger verklärt, als eine Art ‚Erlöser‘, zu einer zen­ tralen Figur für das eigene Leben und Werk. Dies war vielleicht die Provokation eines Autors, der einem jungen Mann die Bedeutung verlieh, die für andere Dichter Frauen haben, aber es scheint keinen Beleg für eine homosexuelle Beziehung Georges zu Kronberger zu geben. Die Beziehung war nicht profan, sondern die Verklärung eines dichterischen Ideals. Mit ‚ENTRÜCKUNG‘ findet George eine beeindruckende Darstellung für ein dichterisches Selbstbewusstsein, fern unserem Zeitgeist genau wie schon dem damaligen Zeitgeist. Nach dem Tod, dem nahezu paradox formulierten Erlöschen des ‚lichten‘ geliebten ‚Schattens‘, findet sich das Ich in einer Entrückung über die reale Welt, über Berge und Wolken in ein Meer kristallenen Glanzes, weniger pathetische Autoren, wie zum Beispiel Friedrich Wilhelm Wagner, haben den damals populären Begriff ‚Äthermeer‘ verwendet. Mit den letzten zwei Zeilen führt die Entrückung zu einer dramatischen Selbsterkenntnis. Der Dichter ist entpersonalisiert, nur ein Funke vom heiligen Feuer, ein Dröhnen der heiligen Stimme. Man erfährt nicht, wessen Stimme noch spricht, die Stimme Gottes durch einen zum Propheten verklärten Dichter, oder die Stimme des verklärten Geistes der Dichtung, oder gar die Stimme des vergöttlichten Maximilian Kronberger durch seinen Propheten Stefan George.2 Man erfährt nur, die Stimme ist heilig. Das Gedicht rückt damit in die Nähe einer Offenbarung, der Darstellung einer höchsten Wahrheit. Aber die Offenbarung bleibt ein Dröhnen, ein Geräusch, sie findet keine Worte. Die Stimmgewalt des Propheten bleibt sprachlos, ein lautstarker, aber vergeblicher Widerhall einer übergeordneten Wahrheit. Damit könnte man es bewenden lassen, das Gedicht deuten als Darstellung der Unsagbarkeit des Wesentlichen. Es liest sich wie ein Gedicht aus einer anderen Zeit, durch nichts mit unserer Zeit verbun 1 SW

VI/VII, S.   111. Lesart ist tatsächlich die ‚aktuellste‘, vgl. Jürgen Egyptien: Stefan George. Dichter und Prophet, Darmstadt 2018, S.   264  f.

 2 Diese

„ein dröhnen“229

den. Aber gerade dieses Gedicht dürfte Paul Celan, einen der für unsere Zeit zentralen Dichter, zu dem kurzen Gedicht ‚EIN DRÖHNEN‘ angeregt haben, das er 1967 in seinem Gedichtband ‚Atemwende‘ veröffentlicht hat.3 EIN DRÖHNEN: es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber.

Es wäre nicht der erste und nicht der einzige Titel eines Gedichts, für den Celan ein Zitat verwendet.4 Gerade weil man in seiner Lyrik viele Zitate findet, wurde schon darauf hingewiesen, man solle die Identifizierung von Zitaten für das Verständnis nicht überbewerten.5 Auch wenn Celan mit ‚EIN DRÖHNEN‘ ein Zitat aus Georges ‚ENTRÜCKUNG‘ verwendet, ersetzt das Wissen darum nicht die Interpretation. Es belegt aber, dass George nicht nur ein Vorbild für Celans frühe Lyrik war, wie bisher angenommen,6 sondern dass die deutlichste und vielleicht wichtigste Bezugnahme auf ein Gedicht von George relativ spät erfolgt. In Celans Gedicht erscheint das Dröhnen als die Verkörperung, in der sich die Wahrheit den Menschen darzubieten imstande ist. Das menschliche Reden wird mit seinem berühmten Wort ‚Metapherngestöber‘ bezeichnet. Welche Wahrheit das Dröhnen verkündet, bleibt unbestimmt.  3 Paul

Celan: EIN DRÖHNEN. In: Ders.: Die Gedichte. Neu kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Hg. von Barbara Wiedemann, Berlin 2018, S.   210.  4 Zu Zitaten als Gedichttitel und anderen Zitaten in der Lyrik von Celan vgl. u. a.: Georg Michael Schulz: „fort aus Kannitverstan“. Bemerkungen zum Zitat in der Lyrik Paul Celans. In: Paul Celan. Text + Kritik 53/54, 1977, S.   26–41; Arno Barnert: Mit dem fremden Wort. Poetisches Zitieren bei Paul Celan, Frankfurt a. M. – Basel 2007; Verf.: Über Paul Celan und …Carl Einstein, David Morley, Jacques Tati und andere. Aufsätze und Gedichte, Berlin 2019.  5 Vgl. Winfried Menninghaus: Zum Problem des Zitats bei Celan und in der Celan-Philologie. In: Werner Hamacher / Ders.: Paul Celan, Frankfurt a. M. 1988, S.   170–190.  6 Vgl. Joachim Seng: Mohn und Gedächtnis. In: Markus May  / Peter Goßens / Jürgen Lehmann (Hg.): Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2012, S.   54–63, hier: S.   58; Jürgen Lehmann: Deutschsprachige Literatur vor 1945. Ebd., S.   298  f.

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Wilfried Ihrig

Es kommt nicht aus etwas Heiligem, ist aber fern dem Alltagsbewusstsein. Wessen Wahrheit es verkündet, bleibt auch ungesagt. Es ist vordergründig die Wahrheit von Celan, der im selben Gedichtband schrieb, „es sind / noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen“,7 hintergründig auch noch ein wenig die Wahrheit von George. Celan hat nicht das Heilige übernommen und nicht den Maximin-Kult. Aber er setzt das Dröhnen der Wahrheit als einen Gegensatz zur Alltagssprache, wie George das Dröhnen der heiligen Stimme. Er scheint an die Vorstellung von der lautstarken, aber sprachlosen, unverstandenen wie unverständlichen Verkündigung angeknüpft zu haben, als Darstellung seiner eigenen Aufgabensetzung als Dichter. George erwähnt „inbrünstige schreie“ und den „taumel streitenden getobes“, Celan nur die Menschen und ihr „Metapherngestöber“, das desorientierend wie ein Schneesturm, aber auch fast wie eine Anspielung auf „Getobe“ wirkt. In Georges Gedicht spricht das Ich, das sich selbst wie mit einem nicht ganz durchschauten Paradox nur als ein sprachloses Dröhnen bezeichnet; in Celans Gedicht gibt es, wie um das Paradox aufzuheben, niemanden, der die Wahrheit verständlich ausspricht, und auch kein Ich. Mit ‚EIN DRÖHNEN‘ evoziert Celan das Bewußtsein Georges von der Vergeblichkeit der dichterischen Prophetie, nicht ohne zugleich die historische und poetologische Distanz zu ihm zu markieren. Seit dem Band ‚Sprachgitter‘ ist der Begriff ‚Atem‘ eine zentrale Vokabel in Celans poetischem Repertoire, in ihr verbinden sich der lebensnotwendige kreatürliche Akt der Aufnahme von Luft […] mit der auch bereits bei Rilke belegten poetologischen Dimension dichterischen Sprechens, z. B. in ‚Atmen, du unsichtbares Gedicht!‘8

Das Gedicht in ‚Sprachgitter‘ (1959), mit dem Celan die Vokabel „Atem“ eingeführt hatte, war „Entwurf einer Landschaft“, das seinen Titel und das Motiv „Atem“ von Carl Einsteins Gedicht mit demselben Titel hat.9 Georges Gedicht ‚ENTRÜCKUNG‘ von 1907 mit der Zeile „Dem grossen atem wunschlos mich ergebend“ bildet einen wesentlich frühe 7 Paul

Celan: FADENSONNEN. In: Ders, Die Gedichte (Anm.   3), S.   183. May: Atemwende. In: Celan-Handbuch (Anm.   6), S.   89–98, Zitat: 90.  9 Verf.: Landschaftsentwürfe. Paul Celan und Carl Einstein. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 136, 1984, Bd.   221, S.   298–305; auch in: Verf., Über Paul Celan und … (Anm.   4), S.   19–29; vgl.: Johannes R. Becher: Entrückung. In: Ders.: Verfall und Triumph. Erster Teil. Gedichte,  8 Markus

„ein dröhnen“231

ren Beleg als Rilkes Gedicht von 1922 und Einsteins Gedicht von 1930 für die poetologische Dimension der Vokabel „Atem“, die mit ‚Atemwende‘ (1967), in dem sich das Zitat „EIN DRÖHNEN“ von George findet, auch in den Titel eines Gedichtbands aufgenommen wurde. Die Widersetzlichkeit Georges gegenüber der modernen Alltagswelt war stärker als diejenige Celans. In Georges Welt fanden weder die Fortpflanzung noch derart profane Dinge wie Autos und Industrie jemals Eingang. Celan war der Alltagswelt näher, dem Heiligen ferner, er war heterosexuell, hat sich fortgepflanzt und in die Psychiatrie werfen lassen müssen nach den Regeln einer Welt, auf die er nicht charismatisch genug wirkte, im Gegensatz zu George, den niemand jemals in seiner Entrückung anzutasten wagte. Aber auch Celan hat versucht, sich zu widersetzen, nicht die Sprache dieser Welt zu reden, zu schreiben, sondern ein sprachloses „Dröhnen“. Celan hat das ‚Dröhnen‘ säkularisiert, es dadurch in die spätere Dichtung hinüberretten können. Aber indem er es von vermeintlich antiquiertem Ballast zu befreien versuchte, hat er ihm zugleich die Wirkung genommen, die George gerade deshalb hatte, weil er sich, vielleicht als letzter der bedeutenden deutschsprachigen Lyriker, der säkularisierten Welt selbst widersetzte.

Berlin 1914, S.   165. Auch das Gedicht ‚Entrückung‘ von Becher hat den Titel von George, wie die Worte „es dröhnet“ belegen. Ein Aufsatz darüber ist geplant.

Paulus Tiozzo

Stefan George und der Nobelpreis I. Einleitung Es dürfte vielen bekannt sein, dass Stefan George für den Nobelpreis nominiert war. Es dürfte allerdings weniger bekannt sein, wie George bewertet wurde, insbesondere, warum er am Ende abgelehnt wurde. Seine Ablehnung geschah zwar in Übereinstimmung mit der kritischen Haltung der Schwedischen Akademie gegenüber experimentellen Lyrikern, die für die Preispolitik der 1920er bis 1930er Jahre kennzeichnend ist.1 Trotz dieser Haltung wurde George aber als Dichter keineswegs unterschätzt. Er erweckte sogar Sympathie innerhalb der Schwedischen Akademie. Dass diese Tatsache eher unbekannt ist, dürfte darin begründet sein, dass die Unterlagen dazu kaum bekannt und außerdem auf Schwedisch verfasst sind.2 Ein weiterer Grund dürfte die Tatsache sein, dass der Literaturnobelpreis ein eher kompliziertes Thema ist. Denn obwohl der Literaturnobelpreis weltweit berühmt ist, ist die Geschichte der einzelnen Vergaben aber nicht besonders bekannt. Aus Platzgründen kann sie im Folgenden nicht in gesamter Länge beschrieben werden. Durch das Beispiel Stefan George kann aber deren Widersprüchlichkeit gezeigt werden. Im Folgenden sollen also die Nobelpreisnominierungen von Stefan George, die 1929 und 1931 erfolgten, untersucht werden. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Unterlagen zu den Nominierungen im Archiv der Schwedischen Akademie. Bevor diese erläutert werden können, ist aber eine einführende Beschreibung der Kriterien notwendig, damit die Beweggründe hinter der Bewertung Georges begreiflich werden.

 1 Vgl.

Kjell Espmark / Sture Allén: Der Nobelpreis für Literatur. Eine Einführung, Stockholm 2011, S.   29–33.  2 Alle Zitate aus dem Schwedischen wurden vom Autor übersetzt.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-010

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II. Das Nobelkomitee und die Kriterien während der 1920er bis 1930er Jahre Die Geschichte des Literaturnobelpreises ist, wie Kjell Espmark bemerkt, im Grunde genommen die Geschichte der Interpretation eines unklaren Testaments.3 Die 18 Mitglieder der Schwedischen Akademie müssen die Entscheidung treffen, wer „im vorausgegangenen Jahr das Ausgezeichnetste idealischer Richtung“ geschrieben und dabei der Menschheit „die größten Dienste geleistet“ hat, so Alfred Nobels Vorgaben.4 Da diese Kriterien von Nobel aber nicht weiter erklärt wurden, sind sie im Laufe der Jahre unterschiedlich interpretiert worden.5 Es ist bei der historischen Auseinandersetzung mit den Nobelpreisen daher ein Anliegen gewesen, zu begreifen, was Nobel eigentlich damit gemeint hat und erreichen wollte. Mittlerweile weiß man, dass Nobel ein idealistisches Ziel verfolgte: Er wollte, ohne Rücksicht auf besondere Nationalitäten, durch seine Preise sowohl naturwissenschaftliche Forschungen als auch humanistische Werte fördern. Die Naturwissenschaften und die Literatur sollten also nach seinen Wünschen die Bedingungen der Menschheit verbessern. Dabei war der Zweck des Literaturnobelpreises, solche Schriftsteller zu fördern, die durch ihr Werk zur Toleranz zwischen den Völkern beitragen.6 Neben Nobels Intentionen sind es aber vor allem die Rahmenbedingungen und Ergebnisse, also die Faktoren hinter den Entscheidungen der Akademie, die im Vordergrund der Nobelpreisforschung stehen. Dies ist auch generell der Fall bei Preisforschungen, in denen Anmerkungen zum Literaturnobelpreis vorkommen, wie beispielsweise James F. Englishs ‚The Economy of Prestige‘. English zeigt auf eine elegante und Interesse erregende Art, dass die Vergabe von Literaturpreisen im Wesentlichen durch eine Mischung aus Regeln, Symbolkapital sowie persönliche Kompromisse innerhalb der preisverteilenden Organisationen gesteuert wird.7 Das ist auch bei  3 Vgl.

Kjell Espmark: Litteraturpriset. Hundra år med Nobels uppdrag, Stockholm 2001, S.   8.  4 Vgl. Espmark / Allén, Nobelpreis (Anm.   1), S.   1–16.  5 Vgl. ebd., S.   25–57.  6 Vgl. ebd., S.   5–12. Siehe auch Alfred Nobel: Testament in deutscher Übersetzung. In: Nobelstiftung (Hg.): Nobel. Der Mann und seine Preise, Zürich 1972, S.   13.  7 Vgl. James F. English: The Economy of Prestige. Prizes, Awards, and the Cir-

Stefan George und der Nobelpreis235

dem Nobelpreis der Fall. Gleichzeitig dringen Englishs Erläuterungen zum Literaturnobelpreis nicht besonders tief in dessen Mechanismen und Besonderheiten ein, weil er die Dokumente – Vorschlagsbriefe und Gutachten – im Archiv der Akademie nicht kennt. Er übersieht aber vor allem die Bedeutung der persönlichen Präferenzen der Akademiemitglieder als entscheidenden Faktor hinter den Nobelpreisentscheidungen. Aber selbst bei Forschern, die dieses Quellenmaterial erforscht haben, kommt diese Tendenz vor. Dies ist vor allem der Fall bei Untersuchungen, in denen das Material ohne Rücksicht auf den historischen Kontext interpretiert wird.8 Dabei spielt insbesondere die mit den Jahren wechselnde Interpretation von Nobels Kriterien eine zentrale Rolle. In den ersten zwei Jahrzehnten der Literaturnobelpreisvergaben, von 1901 bis 1921, wurden sie im Sinne eines christlichen Idealismus verstanden.9 Dies ist darauf zurückzuführen, dass die damaligen Vorsitzenden des Nobelkomitees, der Lyriker und Literaturkritiker Carl David af Wirsén (1901–1912) und der Historiker Harald Hjärne (1912–1921), beide sehr fromme Christen waren. Beide konnten keine Kandidaten dulden, deren Weltanschauung nach ihren Einschätzungen irgendwie im Widerspruch zu den Idealen der protestantischen Schwedischen Staatsculation of Cultural Value, Cambridge (Massachusetts) – London 2005, S.   38, S.   47, S.   52, S.   122 und S.   130.  8 Vgl. Kerstin Bohne / Ralf Grüttemeier: Die Nominierungen deutschsprachiger Autoren für den Literaturnobelpreis 1901–1966. In: Christoph Jürgensen / Antonius Weixler (Hg.): Literaturpreise. Geschichte und Kontexte, Stuttgart 2021, S.   119–138. Die Autoren dieser Untersuchung versuchen die Nominierungen deutschsprachiger Kandidaten auf eine mathematische Deduktionsart zu erklären. Die Anzahl der Nominierungen und deren Provenienz werden analysiert, um daraus ein Prinzip hinter dem Beschlussverfahren zu erkennen. Die These dabei ist, dass ein entscheidender Faktor für eine Nobelpreisverleihung eine quantitativ große Anzahl von Nominierungen aus dem Land des Preiskandidaten sei. Dies ist aber eine fragwürdige Konklusion, da es diesbezüglich mehrere Gegenbeispiele gibt, die diese These widerlegen, zum Beispiel die Kandidaturen von Thomas Mann und Hermann Hesse. Die Autoren gehen auch von falschen Grundannahmen aus, zum Beispiel, dass Nobelpreiskandidaten aus Schweden eine positive Sonderbehandlung bekamen – das Gegenteil ist der Fall. Siehe hierzu: Per Rydén: Den framgångsrike förloraren. En värderingsbiografi över Carl David af Wirsén, Stockholm 2010, S.   618–622; Per Rydén / Jenny Westerström: Svenska Akademiens modernisering. 1913–1977, Stockholm 2018, S.   336–340.  9 Vgl. Espmark, Litteraturpriset (Anm.   3), S.   15–40.

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kirche stand.10 Beide konnten zum Beispiel Autoren nicht dulden, die atheistische oder republikanische Tendenzen aufzeigten. Ihr Maßstab betraf aber auch Autoren, die einen naturalistischen Stil verwendeten. Schriftsteller, die naturalistisch schrieben, wurden grundsätzlich abgelehnt, weil ihr Stil als Beweis für einen Mangel an idealistischer Weltanschauung wahrgenommen wurde. Man legte also gewissermaßen einen größeren Wert auf die geistige Haltung als auf die stilistisch-technischen Fähigkeiten eines Kandidaten. Aus diesem Grund erklärt sich zum Beispiel die Ablehnungen von Henrik Ibsen und Émile Zola, die zu dieser Zeit erfolgten.11 Hjärnes Nachfolger als Vorsitzender des Nobelkomitees, der Schriftsteller Per Hallström (1922–1946) hatte eine andere Perspektive in ästhetischen beziehungsweise ethischen Fragen. Er legte einen größeren Wert auf die ästhetische Dimension, obwohl die ethisch-religiösen und politischen Dimensionen bei den Kandidaten deswegen aber nicht unwichtig waren. Ein Unterschied war immerhin, dass sein Maßstab nicht auf eine ausgeprägt christliche Perspektive ausgerichtet war. Hallström, der in religiöser Hinsicht agnostisch war, legte ungeachtet der religionsphilosophischen Basis einen Wert darauf, wie Menschen und deren Schicksale dargestellt wurden.12 Für ihn war es vor allem wichtig, dass Schriftsteller diese mit Mitgefühl, Wärme und Humor und ohne eine hinterfragende, zynische oder sarkastische Tendenz darstellten. Dabei war insbesondere der große englische Schriftsteller William Thackeray sein wichtigstes Vorbild bei der Bewertung.13 Es waren vor allem Reminiszenzen an ihn, die Hallströms Sympathie erweckten. Eine Folge davon war, dass besonders populäre Romanschriftsteller innerhalb des Nobelkomitees hoch im Kurs standen.14 Man lehnte aus diesem Grund aber gleichzeitig Lyriker oder Dramatiker nicht grundsätzlich ab. Jedoch bekamen Romanciers den Vorzug, weil man meinte, dass sie zu einem höheren Grad dem allgemeingültigen Zweck von Nobels Intentionen entsprachen.15

10 Vgl. 11 Vgl. 12

Vgl.

13 Vgl. 14

Vgl.

15 Vgl.

ebd. ebd. ebd., S.   57–103. Per Hallström: Levande dikt. Essayer, Stockholm 1914, S.   217–244. Espmark, Litteraturpriset (Anm.   3), S.   15–40. ebd.

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Der praktische Bewertungsprozess der Preiskandidaten ist aber trotz der Entwicklung der Kriterien während der gesamten Literaturnobelpreisgeschichte fast unverändert geblieben. Das bereits erwähnte Nobelkomitee nimmt erstens bis Ende Januar Nominierungen aus der ganzen Welt von den Vorschlagsberechtigten entgegen.16 Die Vorschlagsberechtigten sind Professoren für Sprachen und Literatur, Mitglieder von nationalen Akademien mit einem ähnlichen Status wie die Schwedische Akademie, Vorsitzende von bedeutenden, nationalen Schriftstellerverbänden und Literaturnobelpreisträger.17 Zweitens findet unmittelbar danach der Bewertungsprozess statt. Das Komitee erstellt Gutachten zu den einzelnen Kandidaten und verhandelt untereinander, wen sie für den Nobelpreis vorschlagen möchten. Im Laufe des Jahres wird somit die Liste mit den potenziellen Kandidaten gekürzt, so dass es bis September nur noch einige wenige sind. Dann wird drittens das Ergebnis der Bewertungen des Komitees der gesamten Akademie übergeben. Das Komitee, das aus etwa einer Handvoll der insgesamt 18 Mitglieder besteht, entscheidet also nicht, wer Nobelpreisträger wird, sondern besitzt eher eine konsultative Rolle. Gleichwohl ist es eher selten der Fall gewesen, dass die Empfehlung des Komitees von den übrigen Akademiemitgliedern ignoriert wird.18 Bei der Erstellung der Einzelgutachten haben deren Verfasser dabei einen ziemlich entscheidenden Einfluss, ob ein Kandidat überhaupt erwogen werden soll. Ihre Rolle ist aber nicht autonom; meistens waren sie sogar Mitglieder im Komitee. Während Hallströms Epoche war es meistens sogar Hallström selbst, der die Gutachten schrieb. Zu den deutschsprachigen Kandidaten hat er mit wenigen Ausnahmen fast alle verfasst, einschließlich des George-Gutachtens. Die Bewertung von Stefan George durch das Nobelkomitee ist daher ein typisches Beispiel dafür, wie die Bewertungen subjektiv geprägt sind. III. Die Nobelpreisnominierungen von Stefan George (1929–1931) George wurde insgesamt von drei Vorschlagenden für den Nobelpreis nominiert. Der erste, der ihn vorschlug, war Ernst Bertram, der als Professor das Vorschlagsrecht besaß. Er nominierte ihn 1929 durch 16 Vgl.

Espmark / Allén, Nobelpreis (Anm.   1), S.   12–15. ebd. 18 Vgl. ebd. 17 Vgl.

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ein knappes Vorschlagsschreiben, in dem er George lediglich als den „würdigste[n] Dichter“ Deutschlands beschrieb. Um den Vorschlag zu verstärken, legte er aber dem Brief Ludwig Landmanns Laudatio zu George für den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main bei.19 Darin hieß es, dass George „zu Zeiten der Verwirrung des Sprachgeist Goethes, Novalis und Hölderlins für uns wahrte und doch in neuen Eigenformen den ewigen Sinn der Poesie bewies […].“20 1929 wurde George außerdem von Gerhart Hauptmann nominiert, der gleichzeitig Thomas Mann vorschlug. Hauptmanns Nominierung geschah allerdings nicht nach den gängigen Formen. Statt an das Nobelkomitee zu schreiben, nominierte er nämlich durch einen persönlichen Brief an den Literaturkritiker Fredrik Böök, ein Mitglied des Nobelkomitees. Dieser Brief wurde allerdings erst am 18. Oktober 1929 geschrieben, also wenige Tagen vor der Preisentscheidung. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Hauptmanns Brief einen entscheidenden Einfluss auf die Preisdiskussion gehabt hat. Immerhin ist Hauptmanns Begründung nichtsdestoweniger interessant. Bemerkenswert ist vor allem die Reaktion, die der Brief beim Empfänger veranlasste. Denn Hauptmann, der Thomas Mann bereits 1924 mit einer kurzen Begründung nominiert hatte, konzentrierte sich diesmal darauf, die allgemeine Bedeutung seiner Kandidaten zu unterstreichen.21 Hauptmann hat insbesondere betont, welche Ehre es für Deutschland sein würde, wenn beide Autoren den Nobelpreis bekämen: [I]m gegenwärtigen Zeitpunkt würde, und zwar ganz unzweifelhaft, die Preiskrönung einer von zwei sehr entgegengesetzten Persönlichkeiten des stärksten Echos und der allgemeinen Zustimmung in Deutschland sicher sein: der Stefan Georges und der Thomas Manns.   Dass Thomas Mann mehr als Stefan George mitten im Leben steht, ist Ihnen gewiss bekannt. Durch seine geschlossene Prosakunst, seinen schlichten, unbeirrbaren Mut besitzt er das Ohr und das Vertrauen unserer Öffentlichkeit. Bei der augenblicklichen Spaltung Deutschlands in zwei politische Lager hat er, politisch dem einen angehörend, natürlich im andern seine Gegnerschaft. Unzweifelhaft wird aber auch dort seine Bedeutung nicht verkannt und durchaus

19 Ernst

Bertram: Vorschlagsbrief für Stefan George, 28. Januar 1928. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 20 Ebd. 21 Vgl. Gerhart Hauptmann: Vorschlagsbrief für Thomas Mann, Dezember 1923 [kein Datum]. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm.

Stefan George und der Nobelpreis239 respektiert. Die Preiserteilung an ihn würde zwar, wie immer in solchen Fällen, hie und da Missgunst erwecken, aber, wie ich mit Bestimmtheit aussprechen darf, jedermann verständlich sein.   Mit Stefan George wäre es nicht ganz der gleiche Fall. Die hohe Verehrung, die er in bestimmten Kreisen genießt, beruht auf einer Kunst, die Popularität weder sucht, noch gewinnen kann. Sein Name wird indes auch in der weiteren Öffentlichkeit, ich möchte sagen, mit einer mythischen Achtung genannt, und seine Krönung mit dem Nobelpreis würde allgemein als organisch erfunden werden. Freilich müsste man sicher sein, dass er den Preis nicht zurückweise. Das Gegenteil glaube ich nicht, es besteht aber dafür bei der ausschließenden Art seiner hochgestimmten Seele eine entfernte Möglichkeit.   Die beiden von mir genannten Kandidaten haben bereits Weltruf erlangt: der Krönung eines von ihnen würde ein weites Echo antworten. Die Stellung aber, die sie in ihrem Volke einnehmen, würde die Absicht des [Nobel-]Institutes verwirklichen, die, über die Person hinaus, das Volk des Preisträgers ehren will. Denn dass man die Preiserteilung an Stefan George oder Thomas Mann in Deutschland als Ehre empfinden würde, ist nicht zweifelhaft.22

Böök antwortete Hauptmann vertraulich, dass er für beide Kandidaten stimmen würde. Am Ende hat er seine Stimme lediglich Mann gegeben.23 Dass er dies tun würde, kann man bereits durch seine Antwort vernehmen: Ich kann mir vielleicht die Indiskretion zulassen, dass ich mich dabei bereits erklärt habe, für die zwei von Ihnen eben genannten zu stimmen. Ich darf mich wohl aber mit den Heiden des bewussten, langen und schwierigen Bibelspruches vergleichen, von denen gesagt wird, dass sie zwar des äußeren Gesetzes entbehren müssen, dennoch das Gesetz im Herzen tragen und danach handeln.   Jetzt geht die Sache weiter zu der Schwedischen Akademie, deren sämtliche achtzehn Mitglieder die definitive Entscheidung treffen sollen, was in zwei Wochen geschehen wird. Ich darf ja weder von dem Ausfall in der Kommission noch von dem, künftigen, wahrscheinlichen Ausfall in der Akademie etwas berichten, aber als Freund von Deutschland und der deutschen Dichtung bin ich zufrieden und guter Hoffnung. Ich werde mich, geehrter Meister, freuen, wenn ich einen großen deutschen Dichter zum ersten Male nach dem Kriege, hier in Stockholm als Ihren Nachfolger begrüßen darf – hätte er auch eigentlich nicht so viele Verse geschrieben.

22 Gerhart

Hauptmann: Brief an Fredrik Böök, 18. Oktober 1929. Archiv der Universitätsbibliothek Lund, Schweden. 23 Zu Fredrik Bööks Eintreten für den Nobelpreis an Thomas Mann siehe George C. Schoolfield: Thomas Mann und Fredrik Böök. In: Deutsche Weltliteratur. Von Goethe bis Ingeborg Bachmann, Tübingen 1972, S.   158–188.

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  Ich darf vielleicht bitten, dass Sie diese Mitteilung, bei der ich meinen Gefühlen wohl mehr gefolgt bin als ich eigentlich verantworten könnte, geheim halten.24

Bertrams Nominierung war aber genug, um das Interesse des Nobelkomitees für George zu erwecken. Aus Hallströms Gutachten geht hervor, dass er von George sehr beeindruckt war: „Von Stefan Georges so oft schwerzugänglichem Schaffen können Gedichte, Strophen und vor allem Zeilen von höchstvollendeter Schönheit aus seltsamem Wohlklang und Zaubermacht, die in der Erinnerung verweilen, herausgepickt werden, […] die nimmer in der Geschichte der Lyrik seiner Zeit und seinem geistigen Leben überhaupt übergangen werden können“.25 Er stufte aber Georges Werk gleichzeitig als bedauerlich schwerverständlich ein. Hallström wollte aber Georges Werk offensichtlich besser einschätzen können. Darum bemühte er sich, es begreifen zu lernen, indem er die Schriften der George-Adepten untersuchte. Ihre Beschreibungen hat er aber als wenig hilfreich eingestuft, weil sie ihm zu überschwänglich vorkamen. Hallström meinte, dass selbst der „initiierte Deuter von Georges Dichtung“ eine geistige Entwicklung durchlaufen haben musste, weshalb dieser danach angeblich „nicht [mehr, P. T.] leicht wieder nieder zum Plan kommt, wo der gewöhnliche Mensch bleibt“.26 Hallström hatte es zuerst bei Friedrich Gundolf versucht – vermutlich mit den Büchern ‚Dichter und Helden‘ beziehungsweise ‚George‘. Diese beiden Werke sind nämlich im Katalog der Nobelbibliothek verzeichnet. Gundolf, „eine tiefe und gründliche Natur“, wie Hallström ihn beschrieb, war ihm aber zu ausführlich und theoretisch angelegt.27 Denn Gundolf sei „ein wirklicher Bagger“, der vor den Füßen des Lesers „Eimer auf Eimer von der […] Materie aus den Abgründen der Begriffe häuft, und man flieht in Würde und im Schrecken, lebendig begraben zu werden“.28 Darum sei es, „als ob die ganze Kulturentwicklung nur deswegen zustande gekommen ist, um vom Dichter [George, P. T.] herausgepresst zu werden“, 24 Fredrik

Böök: Brief an Gerhart Hauptmann, 29. Oktober 1929. Staatsbibliothek, Berlin (Original auf Deutsch). 25 Per Hallström: Gutachten für Stefan George 1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd.

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um damit „zu einem Podest unter seinen Füßen zu werden“.29 Nach anderen „fruchtlosen“ Versuchen, wie es Hallström ausdrückte, landete er schließlich bei Franz Dülbergs ‚Stefan George. Ein Führer zu seinem Werke‘. Dieses Werk hielt er für den geeignetsten Schlüssel, George zu verstehen, und zwar weil Dülberg Georges Gedichte einzeln erläutert.30 Dass Hallström sich dieses Werkes bediente, dürfte wahrscheinlich einer der Gründe dafür sein, weshalb er George trotz seiner Bedenken im Ganzen relativ positiv gegenüberstand. Dülberg zitiert nämlich nicht nur besonders schöne Beispiele aus den Gedichten Georges, sondern macht zahlreiche Vergleiche zwischen ihm und gewissen historischen Vorbildern, die sowohl zu den persönlichen ästhetischen Vorbildern von Hallström als auch des Nobelkomitees gehörten: Goethe, Schiller, Klopstock, Jean Paul, Hölderlin, Platen, Heine, Grillparzer, Schopenhauer, Conrad Ferdinand Meyer, Stéphane Mallarmé, Victor Hugo, Verlaine, Baudelaire, Willem Kloos und Dante.31 Sogar Richard Wagner wird erwähnt.32 Viele dieser Gestalten, vor allem Heine, hatte Hallström seit seiner Jugend leidenschaftlich verehrt.33 Daher ist es eigentlich kaum ein Wunder, dass diese Vergleiche Hallström überzeugen konnten. Dabei erkannte er sogar: „Es lohnt sich kaum, irgendeine Parallele zu ziehen, wenn es George gilt, immer eigenartig wie er ist und ungewöhnlich selbstständig in seiner Kunst, wo er auch die Inspiration für sie geholt hat“.34 Hallström war so beeindruckt von George, dass er sogar den Nietzsche-Einfluss, der von Dülberg erwähnt wurde, verzeihen konnte. Nietzsches Denken wurde von Hallström für einen krankhaften Größenwahn gehalten. Bei der Erläuterung von George sprach er aus dem Grund von einer abstoßenden „Größenmanie“. Da er aber von Georges Originalität offensichtlich beeindruckt war, meinte er in diesem Fall, dass „Größenmanie“ nicht unbedingt ausschließen müsste, „dass wirkliche Größe dahinter vorkommen kann“. Bei George erschien ihm das 29 Ebd. 30 Vgl.

ebd. Franz Dülberg: Stefan George. Ein Führer zu seinem Werke, München – Leipzig 1908, S.   12–14, S.   25, S.   27, S.   29, S.   39–40, S.   42 und S.   55. 32 Vgl. ebd. 33 Vgl. Rolf Arvidsson: Den unge Per Hallström. Lyriskt åttital, Lund 1969, S.   318– 326. 34 Hallström, Gutachten für George (Anm.   25). 31 Vgl.

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der Fall zu sein.35 Außerdem meinte Hallström, dass Georges Nietzsche-Prägung im Vergleich besser als bei anderen Schriftstellern sei. Hier handelte es sich seiner Meinung nach nicht um Eitelkeit, die man durch Nietzsches Denken legitimieren wolle, wie Hallström bei seiner Nietzschekritik generell meinte. Denn: „Von Eitelkeit dürfte George, gleich wie sein Meister Nietzsche, ganz freigesprochen werden, der Stolz ist bei beiden zu stark und echt für sowas. Aber Hochmut ist ihnen nicht fremd, und so wird die gepanzerte Figur, auch mit heruntergelassenem Visier, nicht so einfach und selbstgeschrieben würdig, wie es sein sollte. Das heruntergelassene Visier macht die Rede hinzu undeutlich; Stolz sollte gerne stumm sein“.36 Der Einfluss von Dülbergs Buch wird außerdem dadurch deutlich, dass Hallström einige der dort zitierten Zeilen ebenfalls zitiert und sich offenbar auch durch den Aufbau der Darstellung inspirieren lässt. Denn die ersten zwei Seiten von Hallströms Gutachten beginnen nicht auf die für ihn sonst übliche Art mit einer kurzen biografischen Skizze, sondern mit einem bildhaften Gleichnis. Er beschreibt die Begegnung mit Georges Werk wie einen Traum. Daraus geht auch hervor, dass Hallström Karl Bauers George-Porträt neben dem Titelblatt eingehend studiert hatte. George ist auf diesem in einer für ihn typischen Pose zu sehen, in schwarzer priesterähnlicher Kleidung und mit einem strengen Blick in die Ferne schauend. Hinter seiner rechten Schulter ist ein reitender Ritter in Rüstung zu sehen. Georges Werk und Kreis wurde folgendermaßen von Hallström beschrieben: Stefan Georges Gedichte zu lesen, verleiht eine Stimmung wie ein Traum, kein leichter Traum, sondern ein solcher, in den man hineingerückt wird, auf eine unpassende Art gekleidet, oder ganz unbekleidet, und tief verstimmt und von der eigenen unwürdigen Ausrüstung geplagt. In den prachtvollen und etwas kalten Sälen sieht oder spürt man undeutlich eine Menge Gestalten, die anwesend sind; man wird aber keinem vorgestellt, und ihre stolzen Mienen verbieten den geringsten Versuch zur Annäherung. Dort werden Feste gefeiert, und das köstlichste Essen wird herumgetragen; dort wird in einer außerordentlich schönen, klingenden ausgemeißelten Sprache gesprochen und gesungen; dort herrscht überhaupt eine Vornehmheit, die sogar im Traum überraschend streng und hoch ist. Man hat jedoch keine große oder unmittelbare Freude an irgend-

35 Ebd. 36 Ebd.

Stefan George und der Nobelpreis243 jemandem, denn man ist offenbar nicht zum Fest eingeladen; Gold- und Onyxgefäße gehen an einem vorbei, und die vollendete Sprache ist selten richtig zugänglich […].37

Danach beschrieb Hallström den Dichter selbst. Das Aussehen eines Dichters war für Hallström keine Kleinigkeit. Hallström sah nämlich darin den konkretesten Ausdruck vom Geist eines Menschen, außer dem künstlerischen Werk selbst: Man bekommt einen klareren Eindruck vom Gastgeber […], obwohl er bloß auf Abstand beobachtet werden kann, wo er allein in Prozession wandert, mit dem weißen Gewand um sich gewickelt, teils um die Falten plastisch schön zu halten, teils um nicht den geringsten Staub zu berühren, der sich von einer groben und stilllosen Außenwelt eingeschlichen haben könnte. Man sieht ihn im Profil mit dem Kopf fast peinlich hoch erhoben, ungefähr wie Robespierre ihn getragen hat, – „comme un Saint-Sacrement“, sagte Danton, – und obwohl hier unvergleichbar mehr Echtheit und Schwung in der Pose ist, findet man diese jedoch etwas zu stark betont. Das Gesicht hat Seele, aber das unerhört willensstarke Kinn dominiert mehr als die Stirn, die auch nicht gerade schön geschöpft ist.   Man fühlt sich vor einem Menschen mit fanatischer Intensität in seiner Berufung stehend, so ganz damit beschäftigt, so wie in unserer kaputten Welt wohl nur bloß Künstler es sein können, Erneuerer und Neubewerter, unermüdliche Arbeiter in ihrer Kunst, die sich gleichwie in diese einbohren und dabei einen guten Teil von ihrer Menschlichkeit zurücklassen.38

Nach diesen Eindrücken folgt eine mehr ‚konventionelle‘ Beschreibung des Werkes. Hallström geht es chronologisch durch. Dabei hat er insbesondere die Werke geschätzt, in denen er einen persönlicheren Ton zu erkennen glaubte. So meinte er, dass ‚Das Jahr der Seele‘ „als lyrische Kunst als Sammlung die meistvollendete“ sei, die George in seinem Frühwerk erschaffen habe, weil der Inhalt dieser Sammlung „menschlich zugänglicher [ist] und mehr Ruhe als früher“ habe, weil es sich hier vor allem um „Liebesgedichte“ handelt.39 Hallström merkte hierbei an: „[I]ch lasse es meinerseits unentschieden, inwieweit sie selbst erlebt sind, oder bloß Gestaltung vom Traum und Gedanken“ seien.40

37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd.

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Bei der Beschreibung von den Gedichtzyklen in ‚Der siebente Ring‘ – eine Sammlung, die Hallström schätzte, weil George „seine Exklusivität“ hier verlassen habe „und sich mehr berührt und ergriffen vom Leben um ihn herum“ zeige – schätzte er ‚Gezeiten‘ als „einen Zyklus von Liebesgedichten mit mehr Prägung vom Erlebtem als früher in Das Jahr der Seele“.41 Dabei schätzte Hallström insbesondere das schöne Gedicht, das mit „Da waren trümmer nicht noch scherben“ beginnt, als „entzückend“ und die Gedichte insgesamt als „einen Lobgesang zur Hingabe und zum Leben“.42 Hallström schätzte auch aus demselben Grund ‚Maximin‘: „Es ist kein bloß egozentrischer Künstler, der über den toten Freund klagt und jubelt“.43 Er lässt aber vorsichtig seine Bedenken zu den offenbar homoerotischen Zügen erkennen: „Diese ganze Gefühlstimmung ist ja für einen gegenwärtigen Leser sehr fremd und weckt Erinnerung an literarische Meister aus älteren Zeiten, aber man fühlt keine Lust, deren Echtheit zu bezweifeln, trotz einer gewissen Überspannung im Ton“.44 Dass Hallström sich dabei nicht kritischer äußerte, dürfte vor allem daran liegen, dass er über wenige Fakten zu sowohl George als auch dem George-Kreis verfügte. Er unterstreicht ja mehrmals im Gutachten, dass es für ihn schwierig gewesen war, konkrete Informationen zu George zu finden. Wenn er von den homosexuellen Neigungen Georges gewusst hätte, ist es sehr wahrscheinlich, dass er ihn insgesamt kritischer beurteilt hätte. Da Hallström es nun nur andeutungsweise vernehmen konnte, spricht er stattdessen davon, wie in ‚Das Jahr der Seele‘ „die weibliche Figur mit der männlichen in menschlicher Bedeutung nicht richtig gleichgestellt ist“.45 Aus ähnlichen Gründen wie bei ‚Der siebente Ring‘ schätzte Hallström auch den ‚Stern des Bundes‘.46 Am höchsten schätzte aber Hallström vor allem das jüngste Werk Georges. Vor allem ‚Das neue Reich‘ bekam seine Anerkennung, weil er hier patriotische Töne vernommen hat, insbesondere in den Gedichten ‚Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg‘ und ‚Balduin‘ sowie

41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Vgl.

ebd.

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in den Sprüchen ‚An die Toten‘. Bei diesen Texten meinte Hallström besonders schöne Kriegsgedichte gefunden zu haben. Denn hier „bebt [es] von einem so echten und […] mächtigen Pathos, [das] wirklich seinem Thema würdig ist“.47 Ferner „brennt [hier] endlich einfache Vaterlandsliebe und Nationalstolz in einer Seele, dessen Maß sich nun am besten geltend macht, als der Dichter sich dessen am wenigsten bewusst ist“.48 Darum kann man „mit den frühen Eigentümlichkeiten des Dichters versöhnt“ werden.49 Denn, trotz der Anerkennung des Stils, war ja Hallström offensichtlich skeptisch gegenüber der Exklusivität Georges. Seine Kritik hatte auch, sozusagen, ‚optische‘ Gründe. In dieser Hinsicht erwähnte er nämlich die besondere Typographie in ‚Die Fibel‘ und auch, dass George sich dabei nicht an konventionelle Sprachregeln hielt, insbesondere bei der Kommutierung und Großschreibung von Substantiven. Hallström hielt das für bedenklich und verwirrend. Immerhin konnte er es mit der außerordentlichen Originalität und dem ästhetischen Streben Georges entschuldigen: [George] hat sein ganzes Leben intensiv für die Hoheit der Dichtung gebraucht, er hat sie als einen Stern über sich gesetzt und nach ihr seine Fahrt gerichtet, ohne die geringste Furcht davor, dass es für die meisten zur Verrücktheit und Ärgernis wird. Der Stolz, den er zum Übermaß auf rein ästhetischen Boden gepflanzt hat, hat bei der unerhörten Prüfung, die viele andere schwer verwüstet haben, bei ihm […] echten Halt gefunden. Trotz […] allen Einwendungen, ist es mit großer und aufrichtiger Anerkennung und teilweise mit Bewunderung, dass ich mein Gutachten über ihn abschließe und ihn zur Aufmerksamkeit der Akademie empfehle.50

Diese Apologie kann man darauf zurückführen, dass Hallström sich selbst in diesem Bestreben wohl wiedererkennen konnte. Als Belletrist hatte er sich nämlich selbst ähnliche Ziele gesetzt und am Anfang seiner Schriftstellerkarriere innovative literarische Formen ausprobiert. 51 Trotzdem stellte er sich nicht hinter die Kandidatur Georges. Als Grund dafür gibt er an, dass ihm Georges Persönlichkeit zu enigmatisch und fanatisch sei: „Sein literarischer Rang ist zweifelsohne ansehnlich genug dafür, dass eine Auszeichnung mit dem Nobelpreis im Ernsten diskutiert 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Vgl.

Arvidsson, Per Hallström (Anm.   33), S.   358–380.

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werden könnte. Dagegen spricht [aber] seine Dunkelheit und die vielen Eigenheiten im Gemüt und Wesen.“52 Der tatsächliche Grund dafür war aber eher praktisch motiviert. Hallström wollte nämlich diesmal Thomas Mann, den er sehr schätzte, für den Nobelpreis vorschlagen.53 Mann entsprach Hallströms Realismus-Ideal; er betrachtete Mann als einen meisterlichen Schüler von Thackeray und war vor allem von den ‚Buddenbrooks‘ begeistert. Dieses Werk betrachtete er sogar als den besten realistischen Roman der deutschsprachigen Literatur überhaupt. Aus diesem Grund wollte er Mann prämieren. Bereits 1924 hatte Hallström deshalb Hauptmanns Initiative unterstützt. Damals hatte aber seine Linie wenig Anklang im Komitee gefunden.54 So hat also Hallström George nicht ohne weiteres abgelehnt, sondern diplomatisch vorgeschlagen, dass die Akademie George im Auge behalten sollte.55 Dabei erkannte er zu Recht, dass George in der Zukunft eine literaturhistorische Bedeutung bekommen würde.56 Folglich wurde Hallströms zwiespältiges Urteil zu Protokoll gegeben.57 Es gibt auch Gründe anzunehmen, dass das Komiteemitglied Anders Österling einen Einfluss auf Hallströms positive Bewertung von George ausübte. Denn Hallström hatte in seinen Schlussbemerkungen unterstrichen, dass George auch in Schweden einen gewissen Einfluss ausgeübt hatte.58 Österling war nämlich schon seit seiner Jugend ein leidenschaftlicher Bewunderer von George gewesen, weshalb man sich dessen gewiss sein kann, dass er, als Komiteemitglied, sich positiv für ihn ausgesprochen habe. Am Ende gelang es Hallström, den Nobelpreis für Thomas Mann zu sichern. In der Ergänzung seines Gutachtens unterstrich er erneut ‚Buddenbrooks‘ als das wichtigste Werk Manns, sogar bedeutender als 52 Hallström,

Gutachten für George (Anm.   25). Per Hallström: Gutachten für Thomas Mann 1924 und 1928. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm; vgl. Bo Svensén (Hg.): Nobelpriset i litteratur. Nomineringar och utlåtanden 1901–1950. Bd.   2: 1921–1950, Stockholm 2001, S.   139–140. 54 Vgl. ebd., S.   54. 55 Vgl. Hallström, Gutachten für George (Anm.   25). 56 Vgl. ebd. 57 Vgl. Svensén, Nobelpriset (Anm.   53), S.   137. 58 Vgl. Hallström, Gutachten für George (Anm.   25). 53 Vgl.

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‚Der Zauberberg‘.59 Dieses Werk schätzte Hallström weniger, da ihm der Detailreichtum zu übertrieben war. Zwei Jahre später wurde George zum nächsten und letzten Mal nominiert. Diesmal von Andreas Hofgaard Winsnes, einem norwegischen Literaturhistoriker und Professor an der Universität Oslo. Er begründete den Vorschlag mit ‚Der Stern des Bundes‘, ‚Der siebente Ring‘ und ‚Das neue Reich‘ und unterstrich, dass diese Werke Georges „auf dem höchsten Platz in der Gegenwartsliteratur“ stünden, und versuchte dabei, Georges Exklusivität zu relativieren.60 So meinte er, dass sowohl das „Sektiererische“, das für seinen Kreis prägend war, verschwunden sei und dass „[m]ehr und mehr“ Menschen Georges „wirklich geistige[n] Gehalt und die Botschaft, die er zu bringen hat“ erkannten.61 Abschließend wies er auf jenes Urteil Hermann Bahrs hin, dass in George „das alte Deutschland doch noch lebt, jenes Deutschland, dem es in Wissenschaft und Kunst niemals um Erfolg und Geschäft, sondern allein um Wahrung des Schönen, Guten, Wahren geht“.62 Die Begründung führte aber zu keiner Revision des Komitees. Es wurde lediglich zu Protokoll gegeben, dass George seit der vorigen Nominierung nichts Neues veröffentlicht hatte. Damit gab es also keinen Grund, den Vorschlag erneut zu erwägen. Immerhin wurde zu Protokoll gegeben, dass man sich nach wie vor im Komitee „trotz teilweise großer Anerkennung von der Kunst Georges“ nicht auf den Vorschlag einigen konnte. Dies zeigt, dass es doch eine Diskussion gegeben hat. Im selben Jahr konnte sich das Komitee übrigens nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen.63 Die Mitglieder waren zwischen John Galsworthy und dem griechischen Schriftsteller Kostis Palamas gespalten. Am Ende wurde aber keiner von ihnen gewählt, sondern der schwedische Lyriker Erik Axel Karlfeldt, ein Mitglied des Nobelkomitees, der aber kurz vor der Wahl gestorben war. Das ist das einzige

59 Vgl.

Hallström, Gutachten für Mann (Anm.   53). Andreas Hofgaard Winsnes: Vorschlagsbrief für Stefan George, 26. Januar 1931. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 61 Ebd. Original auf Norwegisch. 62 Ebd. Siehe auch: Hermann Bahr: Der Zauberstab. Tagebücher 1924/1926, Hildesheim 1928, S.   318. 63 Vgl. Svensén, Nobelpriset (Anm.   53), S.   170  f. 60 Vgl.

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Mal in der Geschichte des Nobelpreises, dass ein Literaturnobelpreis posthum verliehen wurde, was die Statuten damals erlaubten. IV. Schlussbetrachtung Stefan Georges Nobelpreisnominierung ist ein typisches Beispiel aus der Geschichte des Literaturnobelpreises, das zeigt, wie merkwürdig die Beweggründe hinter den Entscheidungen des Nobelkomitees manchmal sind. Im Fall von George waren es offensichtlich vorwiegend politische Motive, weshalb Hallström George relativ sympathisch gegenüberstand. Bei anderen Kandidaten, die bei ihrer Ästhetik experimenteller waren, war er ansonsten unerbittlich in seiner Ablehnung. Dies war beispielsweise der Fall bei Arno Holz und Theodor Däubler, die beide während Hallströms Epoche vorgeschlagen wurden. Deren Originalität wurde zwar von Hallström ähnlich wie bei George anerkannt, sie haben aber nicht wie George eine Sympathie bei ihm erweckt.64

64 Vgl.

Per Hallström: Gutachten für Arno Holz 1919 und 1923. Per Hallström: Gutachten für Theodor Däubler 1928. Beide im Archiv der Schwedischen Akademie.

Joe Paul Kroll

Fachmann oder Humanist? Zu Friedrich Gundolfs ‚Paracelsus‘ Für Lorenz Jäger I. Suchte, wer zu Stefan George kam, nicht vielmehr einen Arzt?1 Und war es die Loslösung von George, die eine latente Krankheit wieder auf­ flammen ließ? Allerdings übergeht Stefan Breuers Deutung des ‚ästhetischen Fundamentalismus‘ als einer den George-Kreis bestimmenden Pathologie und seiner Einzelbiographien als Krankengeschichten – mit dem ‚Meister‘ in der Rolle des Chefarztes – die wechselseitigen Abhängigkeiten. Die Krankheit, die Georges letzte anderthalb Lebensjahrzehnte bestimmte, verkompliziert das Bild weiter. „Er will Arzt sein wo er Patient ist“: Der Satz Shakespeares bietet eine Formel für Georges Anspruch auf Führerschaft in dessen Konfrontation mit seiner tatsäch­ lichen Angewiesenheit auf den guten Willen anderer.2 Angelegt ist Breuers Deutung bereits in früheren Darstellungen des Bruchs zwischen George und seinem einstigen Lieblingsjünger Frie­ drich Gundolf. Anlass war Gundolfs 1926 geschlossene Ehe mit der beim Meister in Ungnade gefallenen Elisabeth („Elli“) Salomon. Die pathologisierende Lesart hat George selbst vorgegeben: „[D]a ist eine kranke Stelle im Gehirn“, soll er über Gundolfs letzten brieflichen Versuch einer Versöhnung gesagt haben.3 „Fünf Jahre nach seiner Vermählung, 1931, ist Gundolf gestorben“, scheint Wolfgang Frommel einen Zusammenhang anzudeuten, konzediert aber, der „Prozess der Ablösung“  1 Stefan

Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S.   67.  2 William Shakespeare: Troilus und Cressida. In: Shakespeare in deutscher Sprache. 6 Bde. Hg. von Friedrich Gundolf. Bd.   4, Berlin 1921, S.   435–523, hier S.   470. Zu Georges letzten Jahren vgl. u. a. Clotilde Schlayer: Minusio. Chronik aus den letzten Lebensjahren Stefan Georges. Hg. von Maik Bozza / Ute Oelmann, Göttingen 2010.  3 Edith Landmann: Gespräche mit Stefan George, Düsseldorf – München 1963, S.   157.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-011

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habe schon früher begonnen, auch wenn er sich „um die Person Ellis zu kristallisieren scheint“.4 Dass Trennungsschmerz auf beiden Seiten verspürt wurde, verschweigt Frommel nicht. Tenor seiner Deutung bleibt jedoch, Gundolf habe sich falsch entschieden und sei infolgedessen an einem gebrochenen Herzen zugrunde gegangen. So sah es auch Karl Wolfskehl, der im Rückblick schrieb: „Er konnte nicht in der Trennung leben und ging daran zugrunde wie der von Prospero entlassene Ariel.“5 Auf diese Deutung der Trennung in shakespeareschen Motiven wird noch zurückzukommen sein. Zurecht warnen die Herausgeber des erst viel später entdeckten Briefwechsels zwischen Gundolf und Elli vor solchen Kurzschlüssen und verweisen auf die stabilisierende Wirkung, die in Gundolfs letzten Lebensjahren von seiner Frau ausging.6 Auffällig ist hier, wie sich die Deutungen unterscheiden, je nachdem, ob sie aus der (im Falle Frommels angemaßten) Kreisperspektive oder von außen erfolgten. Bei Frommel heißt es, Gundolf sei „fortan in der Gesellschaft Ellis auf mancherlei Parties und geselligen Veranstaltungen erschienen“, wobei er „unter witzigen Wortspielen und Kalauern ein innerstes Abwesendsein und eine tiefe Müdigkeit“ verborgen habe.7 Hingegen erinnert sich Golo Mann, der 1929 als Student nach Heidelberg kam, dass Gundolf gerade zu solchen Anlässen „ganz aus sich heraus [ging], wenn wir über Dichter und Gedichte sprachen“; nur wenn es nach einigen Flaschen Wein um die „Welträtsel“ gegangen sei, habe „seine Frau ihn auf etwas anderes zu bringen“ gesucht.8

 4 Lothar

Helbing [d.  i. Wolfgang Frommel]: Gundolf und Elli. Vorwort. In: Elisabeth Gundolf: Stefan George. Zwei Vorträge mit einem Vorwort von Lothar Helbing, Amsterdam 1965, S.   27, 29.  5 Zit. n. Stefan George  / Friedrich Gundolf: Briefwechsel. Hg. von Robert Boehringer / Georg Peter Landmann, München – Düsseldorf 1952, S.   377.  6 Gunilla Eschenbach / Helmuth Mojem: Nachwort. In: Friedrich Gundolf / Elisabeth Salomon: Briefwechsel (1914–1931). Hg. von Gunilla Eschenbach / Helmuth Mojem, Berlin – Boston 2017, S.   705–723, hier S.   720.  7 Helbing, Vorwort (Anm.   4), S.   27.  8 Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt a. M.   1986, S.   286.

Fachmann oder Humanist?251

II. Jenseits psychologischer Mutmaßungen besteht jedoch eine durchaus konkrete Verbindung zwischen Werk- und Krankengeschichte Gundolfs, in Gestalt nämlich seines 1927 erschienenen Buches ‚Paracelsus‘. Dort geht es um Theophrastus von Hohenheim, der Nachwelt als Paracelsus bekannt,9 ein Mediziner an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, Humanismus und Naturwissenschaft; Widmungsträger ist ein literarisch gebildeter Arzt und über den Bruch hinaus Freund Gundolfs wie Georges, Walter Kempner (1903–1997).10 In der Gestalt des Paracelsus, wie Gundolf sie zeichnet, lassen sich Züge des Autors ebenso ausmachen wie solche Kempners; im Hintergrund wirken die Verstoßung durch George und die eigene Krankheit. Zugleich gibt der ‚Paracelsus‘ jedoch auch Aufschluss über Gundolfs Selbstverständnis als Wissenschaftler und Biograph. Nicht nur, dass Gundolf wie Paracelsus den ganzen Menschen erfassen wollte, er wollte dies in seinen ‚Gestalt-Biographien‘ vor allem aus dem Werk selbst tun, den Menschen aus dem Werk sprechen lassen. Doch gerade im ‚Paracelsus‘ stößt Gundolf an die Grenzen dieses Verfahrens. Die Entstehung des ‚Paracelsus‘ hat im veröffentlichten Briefwechsel Gundolfs11 nur wenige Spuren hinterlassen. Gemäß seiner Praxis, Vorlesungen in der Schriftform zu halten und seine Publikationen wiederum aus seinen Vorlesungsmanuskripten hervorgehen zu lassen, geht der ‚Paracelsus‘ auf Gundolfs seit 1913 gehaltene ‚Vorlesungen zu Humanismus und Reformation‘ zurück.12 Doch die Vorbereitung des Buches  9 Zu

den Schwierigkeiten der Namensbestimmung vgl. Udo Benzenhöfer: Paracelsus, Reinbek bei Hamburg 1997, S.   20  f. 10 Zu Kempner vgl. Maik Bozza: Art. Kempner, Walter. In: Achim Aurnhammer / Wolfgang Braungart / Stefan Breuer / Ute Oelmann (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. 3 Bde. Bd.   3, Berlin – Boston 2012, S.   1480–1484. 11 Wozu allerdings derjenige mit Kempner leider nicht gehört. Für die Entstehung des ‚Paracelsus‘ ist der erhaltene Briefwechsel zwischen Gundolf und Kempner anscheinend aber auch unergiebig (Mitteilung von Maik Bozza an den Autor, Februar 2021). 12 Vgl. Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Philipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft, Köln – Weimar – Wien 2016, S.   243. Als wichtige Quelle des gundolfschen Paracelsus-Bildes (und mithin einiger Textpassagen) hat Udo Benzenhöfer (Friedrich Gundolfs „Paracelsus“-Buch. In: Ruperto Carola 78, 1988, S.   35–41, hier S.   36) die

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fällt mit einer Verschlimmerung seines körperlichen Leidens zusammen: 1927 wird bei Gundolf Magenkrebs diagnostiziert. Dem Freund Erich von Kahler berichtet er: „Aber die Arbeit geht bisher nach Wunsch weiter, und die Seelenqualen haben aufgehört, so dass ich gerne die fleischlichen Übel als Zoll ans Verhängnis zahle.“13 Das Buch erscheint wenige Monate später, ungefähr zeitgleich mit einer Operation, von der Gundolf wenig später mit altertümlichen Anklängen schreibt: „Ich war aber dem Tod sehr viel näher als ich vorher ahnte, von der Operation bleiben 80–90 % tot. Wer nicht bleibt aber, treibsts [sic!] voraussäglich umso lebiger.“ Der „Parazelsus“ sei „ein Parergon, doch mir durch coincidentia oppositorum nahgewachsen“;14 seinem Bruder schreibt er von

Biografie ‚Theophrast von Hohenheim‘ (1904) von Reinhold Julius Hartmann ausgemacht. Der Medizinhistoriker und Paracelsus-Biograph Benzenhöfer konzentriert sich aber ansonsten vor allem auf die Stimmigkeit von Gundolfs Darstellung im Kontext der Paracelsus-Forschung seiner Zeit. In der vorliegenden Betrachtung soll es hingegen vielmehr um die Bedeutung des ‚Paracelsus‘ für Gundolfs Selbstverständnis als Wissenschaftler sowie um die biographischen und werkhistorischen Umstände seiner Entstehung gehen. Bereits zuvor hatte aus medizinhistorischer Sicht Heinrich Schipperges (Friedrich Gundolf – Ein Beitrag zur Paracelsus-Forschung. In: Euphorion 75, 1981, S.   234–244), auch er bereits als Paracelsus-Biograph hervorgetreten, das Paracelsus-Bild Gundolfs systematisch rekonstruiert. Anders als Benzenhöfer, der zum Schluss Gundolf dem ideologiekritischen Verdikt Adornos und Benjamins übergibt, würdigt Schipperges an Gundolfs Darstellung Einblicke, mit denen er dem Forschungsstand seiner Zeit voraus war: so etwa in der Betonung der paracelsischen Theologie (die theologischen Schriften seien damals noch gar nicht ediert gewesen) wie auch in der Warnung vor dem „populären Mißbrauch“ zu warnen, „der mit dem Magier Paracelsus getrieben wurde, um den Mangel an genauem Denken und wissen zu verschleiern oder angenehmes Gruseln und Wallen zu erregen“ (ebd. S.   241; die kursivierten Passagen sind Zitate aus Friedrich Gundolf: Paracelsus, Berlin 11927, S.   74, hier im Text unter der Sigle P zitiert). Zu erwähnen wäre außerdem, dass Gundolf Robert Brownings Versdrama ‚Paracelsus‘ (1835) gekannt hat, in dem die historische Figur als Folie für die Selbstinszenierung des Dichters als Genie dient (Friedrich Gundolf / Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel 1899–1931. Hg. von Karlhans Kluncker. Bd.   1, Amsterdam 1977, S.   203). 13 Gundolf an Kahler, Ende Mai 1927. In: Friedrich Gundolf / Erich von Kahler: Briefwechsel 1910–1931. Hg. von Klaus Pott. Bd.   2, Göttingen 2012, S.   53. 14 Friedrich Gundolf an Erich von Kahler (noch aus dem Spital), 3. Oktober 1927. In: Ebd., S.   58  f.

Fachmann oder Humanist?253

einem „Beiwerk […] nur betret ich eine ganz neue Provinz darin“.15 Ernst Robert Curtius, dessen Briefkontakt mit Gundolf im Laufe der Jahre an Intensität verloren hat, scheint im neuen Buch eine Rückkehr zu alter Stärke ausgemacht zu haben: „Seit langem habe ich keines ihrer Opera mit solcher Freude gelesen wie den Paracelsus […]. Sie haben mir diese schwer fassbare Existenz fühlbar gemacht und mir die geheime Anziehung erklärt, die er auf mich wie auf so viele unserer Generation ausübte.“16 Welcher Art diese Anziehung gewesen sein mag, deutet Gundolf selbst an: Paracelsus hatte im Guten wie im Bösen, durch sein schlechthin eigenwüchsiges Wesen, seinen fremdartigen Lebenswandel und seine unerklärlichen Heil­ erfolge einen tiefen Eindruck auf die Phantasie seiner Zeitgenossen gemacht und war, wie der Doktor Faust, eine halb sagenhafte Gestalt geworden, mitten im Tag der Reformationszeit. (P 57)

Der historische Paracelsus erscheint hier als schillernde Figur in unsicheren Zeiten – Curtius meint mit „unserer“ vermutlich die Weltkriegsgeneration. Die 1920er und 1930er Jahre erlebten denn auch eine gewisse Paracelsus-Welle, getragen von einer von Karl Sudhoff besorgten großen Ausgabe (14 Bände, 1922–1933). In diese Welle gehört auch die Romantrilogie (1917–1926) Erwin Guido Kolbenheyers, wobei Gundolf aber gerade nicht versucht, die Lücken in der urkundlichen Überlieferung dichterisch-fiktiv zu überbrücken.17 Dem gundolfschen

15 An

Ernst Gundolf, ca. 6. Oktober 1927, zit. n. Gundolf / George, Briefwechsel (Anm.   5), S.   382. 16 Ernst Robert Curtius an Friedrich Gundolf, 15. Oktober 1927. In: Friedrich Gundolf: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius. Hg. von Lothar Helbing / Claus Victor Bock, Amsterdam 1963, S.   284. 17 Zu diesem Zeitkontext vgl. Benzenhöfer, Paracelsus (Anm.   9), S.   122; eine Gegenüberstellung der Werke Kolbenheyers und Gundolfs findet sich bei Achim Weuthen: Zum Paracelsusbild des 20. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie 38, 1986, Nr.   32/33, S.   58–60: „Sah Kolbenheyer in Paracelsus seine nationalistischen Vorstellungen verkörpert, so ist er für Gundolf eine Identifikationsfigur einer spezifisch deutschen geistesgeschichtlichen Bewegung. Gemeint ist ein antitraditionalistischer und antimodernistischer Universalismus, der seinen Bogen von Luther über Paracelsus und Faust hin zu Goethe spannt.“ (ebd., S.   60) Man mag sich über diese Attribute und Bezugsgrößen im Einzelnen streiten; der Unterschied zwischen den Vorstellungen des Ge-

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‚Paracelsus‘ eignet aber insofern etwas vom Geheimbuch, als hier – wie schon im für den Bruch mit George mitverantwortlichen ‚Heinrich von Kleist‘ (1921) – keine im Kreis kanonische Figur behandelt wird, ja nicht einmal eine Figur, die in Gundolfs engere fachliche ‚Zuständigkeit‘ als Germanist fiele.18

III. Aus der Reihe der typischen Leitgestalten fällt Paracelsus auch deshalb heraus, weil die Art seines Wirkens sich dem von Gundolf gepflegten biographischen Zugang über das Werk verschließt. In ‚Shakespeare und der deutsche Geist‘ hatte es noch geheißen: „Doch so wenig Krankheit und Gesundheit konkrete, vom konkreten Individuum loszulösende Dinge sind, so wenig gibt es geistige Prozesse, die sich nicht an Werken offenbaren.“19 Während der erste Teil dieses Satzes auf den ‚Paracelsus‘ und die ganzheitliche Lehre Hohenheims vorzugreifen scheint, gibt der zweite eine Devise aus, die sich im Buch mehr befolgen lässt, zu dünn ist nämlich die Quellenbasis: „Was von Paracelsus unmittelbar in die deutsche Geistesgeschichte einging war, wie bei den meisten wichtigen Männern gerade der deutschen Frühzeit, seine Gestalt und sein Lebenswandel, sowie ein trüber Begriff seiner Lehre – nicht eigentlich seine Werke.“ (P 58) Diese Eigenheit des ‚Paracelsus‘ hat auch Erich von Kahler bemerkt: Den Paracelsus hab ich nun gelesen mit großer Bewunderung und vielem Gewinn […], vor allem hab ich mich gefreut darüber, dass Du diesmal gezwungenermaßen nicht nur die Werkgeschichte oder die Menschen- und Geistesgeschichte aus der Werkgeschichte heraus gegeben, sondern unmittelbar den Menschen selbst gezeigt hast. Würdest du das doch auch bei den andern mehr tun, bei denen genügend Werk da ist! Es weitet, füllt, regt und variiert so sehr die Formung.20 orge-Kreises und dem völkischen Nationalismus ist damit aber nicht schlecht getroffen. 18 An dieser Feststellung setzt Benzenhöfer (Gundolfs „Paracelsus“-Buch [Anm.   12], S.   35–41) an. 19 Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist (1911), Berlin 71923, S.   32. 20 Erich von Kahler an Friedrich Gundolf, Dezember 1927. In: Gundolf / Kahler, Briefwechsel (Anm.   13), Bd.   2, S.   64.

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Anders als es Gundolf im ‚Goethe‘ (1916) vorexerziert hat, zeigen die Schriften Paracelsus’ eben nicht den ganzen Mann, das ganze Bild – das ist der Punkt, auf den Kahler abhebt. Die „geheime Anziehung“, von der Curtius schreibt, ist die eines Mystikers, nicht eines Systematikers – und auch nicht die eines Mannes, der mit seinen Schriften politisieren oder herrschen will: Wenn wir von Luther und Hutten nur ihre Schriften hätten, so stünden sie als geistesgeschichtliche Gestalten eindrücklich vor uns. Daß wir Paracelsus ebenso erkennen, das danken wir den autobiographischen und bekennerischen Stellen seiner Bücher mehr als seinen Lehren und Sachinhalten. (P 60)

Wieder anders als im ‚Goethe‘ kann Gundolf denn auch nicht die Chronologie des Werkes zum Leitfaden nehmen. In noch stärkerem Maße als in seinen früheren Texten besteht Gundolfs Stil im ‚Paracelsus‘ aus einer Beschwörung, der Wiederholung – oder, um mit Kahler zu sprechen, der Variation – bestimmter Motive und Begriffe, die eine gewisse Eindringlichkeit bezwecken soll. Da aber eine klare Ausrichtung ebenso fehlt wie eine Gliederung, muss der Text seine Dynamik aus sich selbst, aus seiner eigenen kreisenden Bewegung ziehen; seine Teile ließen sich mitunter beliebig anordnen. Man muss hierin keinen Vorgriff auf postmoderne Erzähltechniken und -theorien erkennen; das Verfahren bezieht seine Berechtigung aus dem Gegenstand und trägt umgekehrt zu dessen Charakteristik bei. Da es Paracelsus ebenso wie seinem Biographen stets um den ganzen Menschen zu tun ist, gilt es, diesen vor positivistischer Zerlegung und Sezierung zu schützen und ihn möglichst auf jeder Seite, ja in jedem Satz gegenwärtig sein zu lassen. Die Sätze fügen sich damit weniger zu einem Gesamtbild, als dass sie jeder für sich ein Bild enthalten. Das Bild des Paracelsus wird nicht nach und nach aufgebaut; es ist schon am Anfang und im Hintergrund vorhanden und jeder Satz ist sein gleichberechtigter Ausdruck. Das ist der mystische Platonismus in Gundolfs Darstellungsweise, der hier jenem seines Gegenstands entspricht.

IV. Zwischen Mittelalter und Neuzeit stehen alle großen Neuerer von 1200 bis 1600 – von Dante bis Shakespeare. Ob man eine Gestalt nun der früheren oder späteren Epoche zuschlägt, ist Gundolf zufolge eine

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zweitrangige, ja falsch gestellte Frage: „Wir alle sind latente Behälter der ganzen Weltgeschichte und nur deren heutiger Tag wirft gerade sein Licht auf unser dürftiges und enges Äußern.“ (P 60) Gundolfs Zeitgenosse Alexandre Koyré veröffentlichte 1933 einen Aufsatz über Paracelsus. Koyré ist umfassender an der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Revolution interessiert, auch an Galilei. In dieser Revolution ist Paracelsus für ihn eher eine Schwellenfigur, eine noch nicht vollends moderne oder wissenschaftliche Gestalt. In Koyrés Darstellung erscheint Paracelsus auch nur nebenbei als Arzt, sondern zuvorderst als Astrologe und Alchimist, dessen medizinische Tätigkeit lediglich Ausdruck seines Denkens in Analogien ist – zwischen Leib und Seele, Mikrokosmos und Makrokosmos. Doch auch Koyré ist Kritiker des Positivismus und kann in Paracelsus einen Sucher nach der Wahrheit unterhalb der Erscheinungen würdigen. Er spricht vom „grobschlächtigen Genie“ des Paracelsus, bei dem „die Auflösung der mittelalterlichen Wissenschaft“ und ihrer aristotelisch-scholastischen Gewissheiten eher einen Rückfall in den Aberglauben als einen Fortschritt bewirkt habe.21 Die Wahrnehmung einer geistigen oder wissenschaftlichen Umwälzung als Fortschritt oder Rückschritt wird oft von späteren, von den Protagonisten so wenig beabsichtigten wie von den Zeitgenossen erahnten Entwicklungen bestimmt. Hans Blumenberg erwähnt Paracelsus mehrfach im Kontext eines von Fontenelle erdachten „Totengesprächs“ im Hades. Dort trifft der Geisterkundige Paracelsus auf den Skeptiker Molière. Blumenberg sieht Molière dabei als stellvertretend für den Cartesianismus – die „anschauliche Wahrheit“ – gegen Newton, der, obschon Neuerer, aus der cartesischen Perspektive wie Rückfall ins Mittelalter scheinen musste: „Dessen Physik war eine Theorie der leeren Räume und der über sie hinweg unerklärt wirkenden Kräfte, die Geister zu nennen nur ihre Gesetzmäßigkeit zurückscheuen ließ.“22 Eine andere ihrem Selbstverständnis nach gar nicht „fortschrittliche“ Gestalt zwischen Mittelalter und Neuzeit war Martin Luther, der gegen die „anschauliche Wahrheit“ der aristotelisch-scholastischen Theologie das Absolute des Glaubens setzte. Wie Luther steht auch Paracelsus 21 Alexandre

Koyré: Paracelsus (1933), Zürich 2012, S.   14. Blumenberg: Die nackte Wahrheit. Hg. von Rüdiger Zill, Berlin 2019, S.   79  f.

22 Hans

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noch mit einem Bein im Mittelalter – „[m]ittelalterlich wäre dabei an Paracelsus nicht so sehr sein medizinischer Glauben als das gesamte Weltgefühl das seiner Medizin zugrunde liegt“ (P 82). Zwar hat er die Methode der Beobachtung noch nicht systematisiert, doch ist Paracelsus mit seiner beweisorientierten Empirik jeglicher Mystifikation abgeneigt, sondern „einer von dem Geschlecht, (nach Goethes Wort) das aus dem Dunklen ins Helle strebte, ja geradezu einer der ersten Aufklärer“ (P 78). Gundolf bezeichnet ihn gar als „de[n] vielleicht traditionsfeindlichsten (wenn auch nicht immer traditionslosen) deutschen Genius dieser Zeit.“23 Tatsächlich schätzt Gundolf die Neuerer höher als die Beharrenden; man findet bei ihm echte Begeisterung für den Aufbruch, die mutige Tat – etwa die Einführung der Chemie in die Medizin. In diesem Zusammenhang erscheint Paracelsus schon ein Jahrzehnt früher im ‚Goethe‘ als Vorläufer der Titelgestalt. Über den jungen Goethe der Straßburger Zeit heißt es dort: Die Chymie, damals noch nicht so weit von der Alchymistik getrennt, war für den jungen Goethe die Wissenschaft vom Leben, von den Gesetzen und Zusammenhängen der lebendigen Kräfte. Diesen Geist hatte ihr Begründer Paracelsus ihr eingehaucht, der wahre Prototyp des faustischen Forschers, wie ihn die deutsche Renaissance hervorgebracht.24

Eine komplexe Übergangsfigur ist Paracelsus auch in seinem Natur- und Gottesbegriff, versuchte er doch die heidnische „Naturliebe“ mit der „Christgottesliebe“ zu vereinigen (P 65). Wenn Gundolf die paracelsische Naturlehre und Gotteserfahrung an anderer Stelle mit dem Attribut „deutsch“ versieht (P 17), so will er sie damit keineswegs nationalistisch überhöhen, sondern vielmehr eine Verlegenheit bezeichnen. Paracelsus „deutet in Hauptsätzen“ (P 128), „Wahrnehmung und Deutung“ (P 126) seien bei ihm eins. Mit dieser Ausdrucksform stößt Paracelsus jedoch an eine Grenze in Gestalt der Schwierigkeit, Kausalitäten in deutscher Sprache zu behandeln: „die deutsche Sprache war zur Umfassung von vielen Einzelinhalten noch nicht so reif wie die italienische zur Zeit Lionardos, an sich schon dumpfer und schwerfälliger“ (P 119  f.). Das Buch schließt mit Überlegungen zum Verhältnis von Wahrnehmung und Aus-

23 Friedrich

Gundolf: Paracelsus und Dante. Ein Nachtrag zur Geschichte von Caesars Ruhm. In: Neue Schweizer Rundschau 2, 1930, S.   105–106. 24 Friedrich Gundolf: Goethe (1916), Berlin 121925, S.   86.

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druck. In Theologie und Geschichtsschreibung sei die Sprache damals immerhin schon weiter gewesen. Selbst kein Sprachschöpfer und beschränkt von den Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen, habe Paracelsus unter seinesgleichen – „Lionardo, Dürer, Kepler, Haller“ (P 119) – eine besonders ungünstige Stelle in Raum und Zeit eingenommen. Der Vorzug einer solchen ,Verspätung‘ (um Plessners der deutschen Nation gestellte Diagnose aufzugreifen) liegt für Gundolf darin, dass Paracelsus noch nicht der „verhirnlichten und verstofflichten Zeit“ angehört (P 79), sondern die praktische Dimension der Wissenschaft stets in den Vordergrund gestellt hat. „Nur in der Praxis aber konnten sein Glaube und sein Wissen sich treffen.“ (P 54) Im Lob der „Täternatur dieses Forschers“ (P 74) klingt womöglich die Rede vom „Ethos der Tat“ im George-Kreis an; Gundolfs „Täter“ ist jedoch mehr „Magier“ denn „Haudegen“, wie er mit Blick auf Paracelsus als geistigen Ahnen Goethes ausführt: „Wie viel mehr Fäden führten aus Goethes Herzen zu Paracelsischen Naturen als zu Götzisch-Sickingischen.“25 Zu diesen paracelsischen Naturen zu rechnen wäre auch die Figur des Doktor Faustus. Paracelsus sei „der echteste und lauterste Träger jenes deutschen Weltspürens und Weltwerdens, der in Faust zum Mythos geworden.“ (P 113) Man mag hier an Spenglers Begriff der „faustischen Naturerkenntnis“ denken, wie Spengler sich seinerseits an einem Goethe orientierte, der in der Tradition des Paracelsus steht. Es ist dies der Goethe der Morphologie und der Farbenlehre; Aby Warburg sprach denn auch von Gundolfs „Complementärfarbenpsychologie“.26 Dieser Goethe steht für die Vorstellung einer ganzheitlichen Naturwissenschaft, die ihren Gegenstand gleichsam am Leben lässt. Er gewährt dem Licht seine Ungebrochenheit und damit den Farben ihre Realität – gegen Newton und den tendenziellen Nominalismus der positivistischen Naturwissenschaft – wie auch Paracelsus den Organismus als mehr betrachtet denn als bloßen Körper, als einfachen Gesetzmäßigkeiten unterliegende Materie, sondern als in mannigfache Zusammenhänge und Wahrnehmungen eingebunden: „Paracelsus fühlte und wußte daß nicht 25 Ebd.,

S.   130. nach Michael Thimann: Vorbilder und Nachbilder. Friedrich Gundolf (1880–1931). In: Jörg Probst / Jost Philipp Klenner (Hg.): Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, Frankfurt a. M.   2009, S.   75–96, hier S.   78.

26 Zit.

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das kleinste Krankheitszeichen faßbar sei ohne die Einsicht in eine ganze Merkwelt, daß kein Glied vereinzelt und abgeschnitten sich erklären lasse“ (P 111). V. Vor diesem Hintergrund mag es zunächst verwundern, dass Michael Thimann Gundolfs ‚Paracelsus‘ als einen „Hymnus auf die Macht der Sachforschung“ bezeichnet, als „befreiende[s] Lob auf die Wissenschaft“ – bis es zur entscheidenden Einschränkung kommt: „solange diese in einem ganzheitlichen Kosmos verwurzelt bleibe und sich nicht in Spezialistentum verliere.“27 Tatsächlich scheint der ‚Paracelsus‘ sowohl Gundolfs eigene Stellung innerhalb der Wissenschaft zu behandeln als auch seine Vorstellung einer lebendigen, der Zeit mehr als instrumentell dienenden Wissenschaft zu enthalten. Für George war der Fall klar: Er, der in Gundolfs wissenschaftlicher Laufbahn stets die Gefahr einer Ablenkung von dessen eigentlicher Berufung gewittert hatte, witterte nun Gundolfs „endgültige Konversion […] zum Gelehrtenstand“.28 Die Sache verhielt sich jedoch komplizierter, sowohl auf der persönlichen als auf der wissenschaftspolitischen Ebene, wie Victor A. Schmitz treffend bemerkt hat: Für George war […] gerade das Paracelsus-Buch ein Beispiel dafür, wie sehr sich Gundolf von ihm und den seinen entfremdet und zur akademischen Berufssphäre hinüber gefunden habe, „der Gelehrtenwelt konvenieren müsse“. Doch ließe sich aus der Betonung vom Außenseitertum des Paracelsus in der damaligen Gelehrtenzunft auch schließen, dass Gundolf sich seiner Sonderstellung in der wissenschaftlichen Welt bewusst und nicht willens war, sich ganz in sie einzufügen. Er ehrte die Wissenschaft und er verehrte große Gelehrte, aber er scheute den wissenschaftlichen Betrieb.29

Gundolfs exzentrische Position als weithin bekannter und doch von den Kollegen beargwöhnter Vertreter seines Faches, als „schillerndes Faszinosum, dem es an akademischer Macht und Rückhalt […] fehl27 Michael

Thimann: Caesars Schatten. Die Bibliothek von Friedrich Gundolf. Rekonstruktion und Wissenschaftsgeschichte, Heidelberg 2003, S.   160. 28 Ebd., S.   158. 29 Victor A. Schmitz: Gundolf. Einführung in sein Werk, Düsseldorf – München 1965, S.   206.

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te“,30 gehört zum biographischen Hintergrund des Buches. Kein ganzes Jahr vor Erscheinen des ‚Paracelsus‘ war eine Berufung Gundolfs auf den Münchner Lehrstuhl gescheitert;31 weiterhin hatte sich Gundolf gegen Anwürfe zu wehren, kein ordentlicher Wissenschaftler zu sein.32 Zugleich gehört die Rettung der Wissenschaft vor den Fachleuten und ihrem Spezialistentum zu den wichtigsten Motiven, die Gundolf in der Gestalt des Paracelsus erkennt, sei doch in ihm die deutsche Naturwissenschaft noch nicht auseinandergetreten in zahllose dingliche Kenntnisfelder, sondern gerade noch menschlich durchgriffen, nicht mehr gebunden in ein unpersönliches Geistesgefüge, sondern schon regsames Schaffen und Künden der besonderen Seele. (P 135)

Paracelsus stand also an der Schwelle zwischen einer Wissenschaft, die zwar noch an die scholastische Orthodoxie gebunden ist, dafür aber das Weltganze als Gegenstand im Blick hat, und einer solchen, die ihre Freiheit gewinnt und dafür den Preis der Zersplitterung und des Fachmenschentums zu entrichten haben wird. Wenn Gundolf schon im ersten Satz des Vorwortes schreibt: Paracelsus gehört wie kein andrer Arzt der neueren Zeit unmittelbar der Geistesgeschichte, weil er aus der ursprünglichen Weltansicht wirkte auf einem Stoffgebiet das heute fast ausschließlich den Fachmännern zugewiesen ist (P 7),

so rührt er an eben dieses Problem des „Fachmenschentums“, das sich heute mit dem Streit um Max Webers 1919 veröffentlichte Schrift ‚Wissenschaft als Beruf‘ verbindet. In diesem zunächst 1917 vor studen-

30 Thimann,

Vorbilder (Anm.   26), S.   77. Osterkamp: Friedrich Gundolf zwischen Kunst und Wissenschaft. Zur Problematik eines Germanisten aus dem George-Kreis. In: Christoph König / Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, Frankfurt a. M.   1993, S.   177–198, hier S.   177. 32 „Dass ich mich so gegen diese Vorwürfe, die schon Clichés der Handbücher zu werden drohen, wehre, mag Ihnen bezeugen wie ernst es mir damit ist, gerade der Wissenschaft anzugehören.“ Gundolf an Harry Maync, 11. Januar 1927. In: Friedrich Gundolf: Briefe. Neue Folge. Hg. von Lothar Helbing / Claus Victor Bock, Amsterdam 1965 (= Castrum Peregrini 66–68), S.   223. Zu dieser Kon­ troverse vgl. auch Redl, Dichtergermanisten (Anm.   12), S.   249. Ausführlicher zu Gundolfs wissenschaftlicher Sonderstellung auch Osterkamp, Friedrich Gundolf (Anm.   31). 31 Ernst

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tischem Publikum gehaltenen Vortrag beschreibt Weber die Spezialisierung und Zersplitterung der Wissenschaft, mithin des Wissens als solchem, als Schicksal, das ebenso mannhaft zu ertragen und bejahen sei wie die Amoralität und letztendliche Vergeblichkeit politischen Handelns.33 So konstatiert Weber: Daß Wissenschaft heute ein fachlich betriebener Beruf ist im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, und nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt – das freilich ist eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation […].34

Gundolf, der sich die Wissenschaft zum Beruf gemacht hatte und dennoch dem charismatischen „Propheten“ George treu bleiben wollte, musste sich hier an einem besonders wunden Punkt getroffen fühlen. Statt sich aber selbst in die Kontroverse einzuschalten, überließ Gundolf die publizistische Stellungnahme aus kreisnaher (wenngleich keineswegs ‚amtlicher‘) Perspektive seinem Freund Erich von Kahler.35 Dieser plante als Erwiderung auf Weber „eine Generalabrechnung mit der alten Wissenschaft in der immerhin nobelsten Gestalt, die sie besitzt“ – auch Gundolf verehrte den Menschen Weber – sowie die „Entfaltung des neuen Banners“.36 Dies tut Kahler 1920 mit dem Buch ‚Der Beruf der Wissenschaft‘, das bei Bondi erscheint, dem Hausverlag des Kreises, allerdings (wie auch später der ‚Paracelsus‘) ohne die Swastika der ‚Blätter für die Kunst‘. Mit der „alten Wissenschaft“ ist hier nicht die mittelalterliche Scholastik

33 Zu

letzterem vgl. Webers zweiten berühmten Vortrag jener Zeit, ‚Politik als Beruf‘ (1918). 34 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1917). Hg. von Matthias Bormuth, Berlin 2018, S.   87. 35 Vgl. hierzu Edgar Salin: Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis (1948), München – Düsseldorf 21954, S.   252. Dieser berichtet, George habe sich von Kahlers Buch distanziert und wollte darin nicht die quasi-amtliche Position des Kreises verstanden wissen. Kahler seinerseits (Gundolf / Kahler, Briefwechsel [Anm.   13], Bd.   1, S.   384) vermerkt in diesem Zusammenhang, dass es in „orthodoxen Publikationen von Wolters bis Salin“ stets darum gegangen sei, seine Nähe zum Kreis kleinzureden. 36 Erich von Kahler an Friedrich Gundolf, 24. August 1919. In: Gundolf / Kahler, Briefwechsel (Anm.   13), Bd.   1, S.   216.

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gemeint, von der Paracelsus sich abhob, sondern deren neuzeitlicher Nachfolger. Diese aber stehe mit der ganzen Welt vor den Trümmern einer „Katastrophe“, einem „letzten Niedergang des Alten“ und einer „radikale[n] Umwälzung unseres ganzen Grundstandes“.37 Wie vor ihm Paracelsus bescheinigt Kahler der alten Wissenschaft, „daß sich die lebendige Welt in dieses System nicht verarbeiten läßt“.38 Die Natur gelte es als organische Einheit zu erkennen, wie es etwa Jakob von Uexküll in Ansätzen gezeigt habe; in den Geisteswissenschaften richtungsweisend sei Gundolfs Versuch, „die Gestalt Goethes aus ihrem eigenen Gesetze heraus […] in der neuen, der runden organischen Übereinstimmung“ gezeigt zu haben.39 Von Paracelsus sollte Gundolf später schreiben, „daß er auch als Wundarzt nicht mehr die einzelnen Symptome, sondern die gestörten Kräfte wahrnahm, […] die Vorgänge von innen begriff und dem Leib als einem lebendigen Ganzen half.“ (P 22  f.) Eine solche Besinnung aufs Ganze, dieses Absehen von einem Sezieren und Zerlegen, das den lebendigen Leib nur töten kann, fordert Kahler von der „neuen“ Wissenschaft: Was uns obliegt, ist ein neues Ausheben des lebendigen, und das ist wohl Vergeistigung aber nie und nimmer Intellektualisierung. […] Geist ist in der Sphäre des Bewusstseins der lebendige Körper selbst in seiner großen natürlichen Ordnung, ist der lebendige Körper selbst […]. Einen neuen Geist schaffen heißt im Grunde so viel wie einen neuen lebendigen Körper heraufheben […].40

Diese Beschwörung des „lebendigen Körpers“ als vergeistigter Physis schließt auch die Forderung nach einem harmonischen, komplementären Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ein. Eine fortschreitende Spezialisierung bewirkt die Zerteilung dieser Einheit, die Tötung des Leibes. Die webersche Doktrin, wonach „die Beschränkung auf Facharbeit, mit dem Verzicht auf die faustische Allseitigkeit des Menschentums, welchen sie bedingt, in der heutigen Welt Voraussetzung wertvollen Handelns überhaupt ist“,41 kann Kahler nicht gelten lassen. 37 Erich

von Kahler: Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920, S.   32, 34. Ebd., S.   99. 39 Ebd., S.   79. 40 Ebd., S.   100. 41 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05). In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd.   1, Tübingen 91988, S.   17–206, hier S.   203. 38

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Die Unerträglichkeit der restlosen Spezialisierung und Verwissenschaftlichung erscheint bei Gundolf auch als Problem der Sprache und des Ausdrucks. Die „exakt[e] Forschung“ der Gegenwart habe „mit der vollständig durchgeführten Fachsprache sich außerhalb des gesamtmenschlichen Geist- und Seelenausdrucks“ gestellt (P 131) – hier hat Gundolf explizit die „Naturkunde“ im Blick, deren paracelsische Sprachmacht mit Alexander von Humboldt verklungen sei. Bemerkenswert ist jedoch, dass Gundolf „[d]en vollen Redegeist des Paracelsus“ eben nicht in seinen im engeren Sinne wissenschaftlichen, sondern „in seinen Bekenntnis- und Schutzschriften“ ausmacht (P 132). Eine gewisse Sprödigkeit der Darstellung mag dem Gegenstand durchaus angemessen sein; indessen stellt sich die Frage, ob Gundolf vom Naturwissenschaftler hier auch die Fähigkeit verlangt, als Propagandist in eigener Sache zu sprechen. Eine solche Forderung führte immerhin weiter als die im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder geäußerte und damit zum Gemeinplatz gewordene Feststellung, die Wissenschaft entwickele sich in zwei einander unverständliche Kulturen auseinander. VI. Es geht im gundolfschen ‚Paracelsus‘ nicht um den Arzt als Dichter oder auch nur um den dichtenden Arzt, sondern um den Mediziner als geistige Gestalt eigenen Ranges und Rechts, deren Voraussetzungen eben nicht nur die positivistisch aufgefassten „Tatsachen“ sind, die seinen Beruf bestimmen, sondern eine Gesamtschau des Menschen. Der Arzt hat in ganz besonderem Maße Humanist zu sein, und dieser Humanismus ist denn auch keine vorwissenschaftliche Verlegenheit, sondern Kern des Arztberufes. Gundolfs Beschäftigung mit Paracelsus ist selbstverständlich auch im Kontext der eigenen Krankheit zu sehen. Sie zeugt nicht zuletzt von den Ängsten, Zweifeln und Unsicherheiten, die sich mit deren Behandlung verbanden. Umso mehr bedeutete Gundolf die Freundschaft mit dem jungen Mediziner Walter Kempner, einem späten Beispiel eines Arztes, dessen Verständnis seines Berufs und seiner Welt sich nicht in Materialismus und Positivismus erschöpft. Der ‚Paracelsus‘ ist das ‚Geistbuch‘ dieses Mannes, der Arzt und Humanist zugleich war – und offensichtlich zur Freundschaft besonders begabt. Damit entspricht er den Forderungen, die Paracelsus selbst an den Arztberuf gestellt hat:

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Das Höchste, das wir Ärzte an uns haben, ist die Kunst; nachfolgend, das dem gleich ist, ist die Liebe … Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe. […] Ein Arzt soll der Höchste, der Beste, der Begründetste sein in allen Teilen der Philosophei, physica und Alchimei. […] Und was er ist, das soll er mit Grund sein, mit Wahrheit und höchster Erfahrnis.42

Doch auch über sein eigenes berufliches Tun verschafft sich Gundolf an der Figur des Paracelsus Orientierung. Es mag Zufall sein, dass Gundolf seine Monographie mit 47 Jahren veröffentlichte und damit in ungefähr dem Alter, das Paracelsus erreichte.43 Gundolf, der 1931 mit gerade 51 Jahren sterben sollte, war 1927 am Gipfel seiner beruflichen Laufbahn angelangt. Als Ordinarius und Dekan der Heidelberger philosophischen Fakultät stand er in höchsten akademischen Würden und gehörte zu den berühmtesten Gelehrten Deutschlands. Den Umstand, dass gerade ein Jahr zuvor die Gundolfs ganzes Erwachsenenleben durchziehende Verbindung zu Stefan George zerbrochen war, muss man nicht als Auslöser der Krankheit betrachten. Zusammen mit dieser mag er aber Anlass zu einer Selbstbefragung gegeben haben, die sich auch im ‚Paracelsus‘ niederschlägt: „Also soll die Krankheit gesucht werden in dem, da sie ist“, hat Paracelsus gelehrt.44 Es ist wohl müßig, einzelne Züge, die Gundolf seinem Paracelsus gibt, auf den Autor zurückzuprojizieren, so verlockend es auch ist, in einer Charakteristik wie „was seine forscherliche Größe ausmacht, die Einheit von Wahrnehmung und Deutung, das verwirrt seinen Stil“ (P 126) Eigenlob und Selbstkritik zugleich erkennen zu wollen. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass Gundolf an Paracelsus, „dem unruhig fahrenden, verdeutlicht […], was Er-Fahrung im ursprünglichen Sinne besagt. Der Gelehrte, der dem Leben folgt, ist ihm ein Vorbild seines eigenen Standes und Amtes“.45 Wer „theoriziern will“, so Paracelsus, „der muß die Bücher der Arznei wohl lesen“. Damit meint er aber nicht die bekannten Standardwerke der mittelalterlichen Mediziner, „sondern die Bücher, so Gott selbst geschrieben hat. Die sind recht,

42 Paracelsus:

Vom Licht der Natur und des Geistes. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk (1960). Hg. von Kurt Goldammer, Stuttgart 1993, S.   134  f. 43 „Das Leben des Paracelsus umfaßt die Jahre von 1493/94 bis 1541.“ Benzenhöfer, Paracelsus (Anm.   9), S.   10. 44 Paracelsus, Vom Licht der Natur (Anm.   42), S.   100. 45 Schmitz, Gundolf (Anm.   29), S.   97.

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ganz vollkommen und ohn Falsch.“46 In dieser Verwendung der Metapher vom ‚Buch der Natur‘ liest Hans Blumenberg eine Aufforderung zur „empirischen Wanderschaft“, zum Hinausgehen in die Welt Zwecks deren Beobachtung: „Die Bücher der Natur müsse man, um sie zu durchforschen, mit den Füßen treten.“47 Nur so lasse sich unmittelbare Anschauung dessen gewinnen, was Gott mit der Schöpfung habe bezwecken wollen: „Also bleibt Gott in allen Dingen der oberste Skribent, der erste, der höchste und unser aller Text.“48 Die Wahrheit offenbart sich in der Schöpfung: Es ist dies eine Doktrin, von der sich wohl behaupten ließe, Gundolf habe sie auf die Werke der großen Autoren übertragen, die ihm doch die wahre Welt darstellten. Doch gerade hier zeugt, wie bereits angedeutet wurde, der ‚Paracelsus‘ davon, dass sich Gundolfs Blick geweitet hat – und mit ihm seine Methode. Michael Thimann spricht von einer „humanistische[n] Wende“ des späten Gundolf.49 Eine Seite dieses Humanismus ist die verstärkte Hinwendung zum Menschen, seiner Persönlichkeit, seinem Handeln und Leiden nicht weniger als seinem Erkennen – wie Kahler zufolge Gundolf am Beispiel des Paracelsus „unmittelbar den Menschen selbst gezeigt“ habe. Vom Humanismus heißt es nun dementsprechend: Nicht ein Weltgebäude, sondern ein Menschenraum sollte erforscht und benutzt werden, und das kopernikanische System, das übrigens erst im 17. Jahrhundert in das Bewußtsein und die Vorstellung der Europäer richtig einging, hatte eher die Wirkung den Menschen auf sich selbst und seine festgegründete dauernde Erde zurückzuweisen statt ihn zu richten nach den unmittelbar herabwirkenden Sphären wie das mittelalterliche Himmelsbild. (P 80  f.)

Unter den großen Gestalten der frühneuzeitlichen Wissenschaft steht Paracelsus damit für den Weg, den die neuzeitliche Naturwissenschaft in der Wahrnehmung ihrer Kritiker eben nicht gegangen ist. Bei ihm geht die Erfassung der Welt im Ganzen vor Spezialistentum; er stellt den Menschen in den Mittelpunkt, statt ihn zu verkleinern. 46 Paracelsus,

Vom Licht der Natur (Anm.   42), S.   85. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.   21983, S.   69. 48 Paracelsus, Vom Licht der Natur (Anm.   42), S.   86. 49 Thimann, Caesars Schatten (Anm.   27), S.   160. Ulrich Raulff lässt diese Wende bereits mit dem ‚Caesar‘ von 1921 einsetzen, vgl. ders.: Nachwort zur Neuausgabe. In: Friedrich Gundolf: Anfänge deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann (1931). Hg. von Edgar Wind, Frankfurt a. M.   1993, S.   139. 47 Hans

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Der Humanist erscheint bei Gundolf damit als Gegenbegriff zum Fachmenschen. Über seinen Edinburgher Kollegen H. J. C. Grierson, eine Bekanntschaft der letzten Lebensjahre – als prägende Figur der englischen Literaturwissenschaft übrigens durchaus ein „Fachmann“ –, schreibt er an Kahler, er sei ein reiner Gentleman, ein Typus des alten Humanisten wie er bei uns gar nicht vorkommt .  . wir haben entweder sympathische Professoren oder gebildete Geschäftsträger .  . aber fast immer sind es Vertreter der Ideale .  . und hier ist ein old fellow in dem sie sinnfällig gediegen und anmutig erscheinen, wirken und wandeln.50

Nichts gegen die Ideale – doch es macht einen Unterschied, ob sie verkörpert oder lediglich vertreten werden, ob sie verkündet und beschworen werden oder in menschlicher Gestalt „wirken und wandeln“. Diese Unterscheidung gilt auch für das 16. Jahrhundert. Es war in Deutschland nicht das Jahrhundert des Erasmus, sondern Luthers; seinen „Geist […] beherrschte nicht der Humanist, sondert der Prophet und Theologe, der Begründer des neuen Glaubens“.51 Paracelsus ist bei aller Kühnheit gegenüber fachlichen Grenzen keine titanische Gestalt lutherischen Ausmaßes, von kleinerem Format auch als die Helden der ‚großen‘ Monographien Gundolfs. In einem Nachruf auf Gundolf vermerkt Richard Alewyn über diese Trias: „Gundolf hat es selbst in seiner schlichten Art einmal so ausgedrückt, in seinem ‚Goethe‘ habe er geschrieben, was er von der Dichtung, im ‚Caesar‘, was er von der Geschichte, und im ‚Shakespeare‘, was er vom Leben wisse.“52 Die ergänzende Behauptung, was Gundolf von der Wissenschaft wisse, stehe im ‚Paracelsus‘, griffe gewiss zu hoch. Doch enthält dieses schmale Buch nicht wenig von dem Anspruch, den Gundolf seinem eigenen Beruf, seiner eigenen Daseinsform gegenüber erhebt.

50 Friedrich

Gundolf an Erich Kahler, 29. Juli 1930. In: Gundolf / Kahler, Briefwechsel (Anm.   13), Bd.   2, S.   115. 51 Schmitz, Gundolf (Anm.   29), S.   94. 52 Richard Alewyn in der Vossischen Zeitung, Nr.   162, 15. Juli 1931, Morgenausgabe.

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VII. Es bei der Feststellung zu belassen, der ‚Paracelsus‘ diente allein der Selbstverständigung und -bestätigung des Wissenschaftlers Gundolf, hieße aber, die Leiden Gundolfs in seinen letzten Lebensjahren zu übergehen. Mehr noch, es wäre dem Geist der Tragödie zuwider. „Shakespeare“, so hat uns Edith Landmann einen Ausspruch Gundolfs überliefert, „ist für die Bürger ebenso unannehmbar wie die Welt und das Leben selbst. […] Gleich nach Shakespeare kommt Cordelia nicht mehr um. Da gibt es nur noch gute Schlüsse.“53 Der ‚Paracelsus‘ ist das Buch eines Leidenden – ganz gleich, ob man nun mit Frommel die Selbstentfremdung durch Ausschluss aus dem Kreis, durch Ehe und gesellschaftliche Verpflichtungen in den Vordergrund rückt oder mit Golo Mann eine umfassendere Verzweiflung am Leben: „Gundolf gehörte zu jenen, die, zumal in der Krankheit, und er kränkelte längst, sich auf die Welt, das Sein, keinen Reim machen konnten, ein quälendes und ganz unfruchtbares Leiden.“54 So wenig aber die überlieferten Quellen hinreichen, um nachträglich eine psychosomatische Verursachung von Gundolfs Krebsleiden zuzulassen, so sehr hat doch die zeitliche Koinzidenz mit der Trennung von George Anlass gegeben zu Deutungen, die ihre Motive bei Shakespeare und Paracelsus zu finden scheinen. Eine solche Deutung lautet etwa: „Ist es der Schmerz der verschmähten Liebe, der sich ins Pathologische steigert? Ist es der Trennungsschmerz Liebender (George / Gundolf, Elli / Gundolf), der den Keim zu Krankheit und Tod in sich trägt?“55 Es ist dies eine leicht paracelsisch anmutende Formulierung, möchte man sagen, sowohl im Bild des Keims (bei Paracelsus „Samen“56) als auch in der Analogie von Leib und Seele. Die Tragödie von Eitelkeit und verschmähter Liebe lässt aber vor allem an ‚König Lear‘ denken. Dort bringt erst Lears vollständige Erniedrigung und Entsagung seine Heilung, ohne aber dass der Tod ihm und Cordelia erspart bliebe. Ist der George in diesem Bild der greise König, der Lieblingsjünger Gundolf

53 Landmann,

Gespräche (Anm.   3), S.   96. Golo Mann, Erinnerungen (Anm.   8), S.   286. 55 Petra Kuse: Nachwort zu Gundolf  / Kahler, Briefwechsel (Anm.   13), Bd.   2, S.   500–537, hier S.   532. 56 Paracelsus, Vom Licht der Natur (Anm.   42), S.   83, 102. 54

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die Lieblingstochter, die dem Vater nicht mehr schmeicheln will und dafür verstoßen wird?57 Doch auch in Gundolfs Leiden lassen sich Züge Lears erkennen. Es ist, als hätte Golo Mann in seiner Erinnerung an den kranken Gundolf ebenjenes Drama im Sinn gehabt, wo der noch nicht vollends wahnsinnig gewordene König, seinen eigenen Untergang vorwegnehmend, spricht: Krankheit verabsäumt jeden Dienst zu dem Wohlsein verpflichtet ist. Wir sind nicht wir, Wenn unterm Druck Natur dem Geist befiehlt Zu leiden mit dem Körper.58

Selbst untertreibt Gundolf wohl eher, wenn er befindet: „Auf mancherlei Rinnsalen mögen paracelsische Ansichten zu Shakespeare gelangt sein, nicht als eine bestimmte benamte Lehre, doch als Fluidum und Stimmung.“ (P 103) Gundolf neigt nämlich insgesamt dazu, Shakespeares Verwurzelung im Kontext seiner Zeit gegenüber seiner überzeitlichen Genialität zu minimieren. Doch die Lehren des Paracelsus – gleichwie tradiert – gehören sehr wahrscheinlich zum Kanon medizinischen Wissens, von dem Shakespeare zehrte.59 Die im ‚Lear‘ so prominente Verbindung von körperlichem und seelischem Leiden ließe sich als im weiteren Sinne ‚paracelsischer‘ Gedanken anführen, ebenso die Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, außen und innen, der sturmumtosten Heide und Lears Raserei. KENT. Wer ist da ausser schlechtem Wetter? RITT. Ein Mensch, gleich diesem Wetter, höchst bewegt.60

57 Gundolf

hatte eine uneheliche Tochter, die von ihrer Mutter, der Konzertpianistin Agathe Mallachow, wohl nicht ohne Hintersinn Cordelia genannt wurde. Gundolf hat Cordelia (1917–2008) nach längeren Rechtsstreitigkeiten nachträglich adoptiert; die Vorgänge finden in den Briefwechseln mit Elisabeth Salomon und Erich von Kahler vielfachen Niederschlag. 58 William Shakespeare: König Lear. In: Gundolf, Shakespeare (Anm.   2), Bd.   5, S.   171–251, hier S.   205. 59 Vgl. Elizabeth D. Harvey: Medicine. King Lear, Macbeth, The Tempest. In: Katherine A. Craik (Hg.): Shakespeare and Emotion, Cambridge 2020, S.   34–48, hier S.   36. 60 Shakespeare, König Lear (Anm.   58), S.   211.

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„Lears Größe und Schwäche ist sein Einssein mit den Mächten – zugleich Besessenheit und Verlassenheit“.61 Wo Distanz fehlt, fehlt auch Schutz. Doch Lear ist den Mächten eben nicht nur ausgeliefert, er verkörpert analogisch deren Ungleichgewicht. Von den „Mächten“, einem Lieblingsbegriff in Gundolfs Shakespeare-Deutung,62 ist im ‚Paracelsus‘ nirgends die Rede, umso mehr aber von den „Kräften“. Für Hohenheim standen „die sämtlichen Weltkräfte, himmlische und irdische, […] in Wechselwirkung – was oben ist auch unten“ (P 88). Dementsprechend ist die Krankheit Anzeichen einer makrokosmischen Störung. Bei Lear ist es demnach nicht der Sturm, der die Krankheit erzeugt oder auch nur symbolisiert, sondern beide zeugen von derselben Störung der Mächte: „Der da weiss den Ursprung des donners, der wind, der wetter, der weisst von wannen colica kompt und die torsiones,“ zitiert ihn Gundolf (P 95). „Lears Leiden“ ist denn auch – und das ist der Kernsatz von Gundolfs Interpretation des Dramas – „nicht eine Folge von Ursachen, sondern eine Form des Weltwesens selber.“63 Lears Verfall in den Wahnsinn wird von Gewittern begleitet – eine paracelsische Analogie für eine aus den Fugen geratene Natur. Erst die Versöhnung mit Cordelia bringt Heilung; die Kräfte der Natur haben sich stabilisiert. Doch diese Versöhnung verlangt nicht nur den Tod beider, sie ist zugleich auch die Bedingung dafür, dass sie beide erlöst sterben können. Die Interpreten, die Gundolfs Krankheit als Zeichen der Entfremdung von George und damit von seinem eigenen wahren Selbst deuten, greifen damit einen Gedanken auf, der mit Shakespeare wohl mindestens so viel zu tun hat wie mit Paracelsus. Die Pointe des gundolfschen Paracelsus-Bildes ist indessen, dass die Unterscheidung von literarisch-tragischen und naturwissenschaftlich-medizinischen Motiven nicht das letzte Wort sein muss. In dieser Sichtweise verursacht nicht die Trennung von George Gundolfs Krankheit, sondern beide stehen für eine – um wiederum mit Shakespeare zu sprechen – aus den Fugen geratene Zeit, deren Signatur an den Sternen abzulesen ist:

61 Friedrich

Gundolf: Shakespeare. Sein Wesen und Werk. Bd.   2, Berlin 1928, S.   228. 62 Vgl. Eudo C. Mason: Gundolf und Shakespeare. In: Shakespeare-Jahrbuch 98, 1962, S.   110–177, hier S.   139  f. 63 Gundolf, Shakespeare (Anm.   61), S.   224.

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Aber der Mikrokosmus wirkt nicht auf den Makrokosmus, sondern umgekehrt, und so kann man aus den Störungen des Makrokosmus mikrokosmische Krankheiten voraussagen. Der Himmel ist für Paracelsus der Träger, der Bringer des rechten Augenblicks und der verschiedenen Reifezustände, des Blühens und Welkens, des Faulens und Sprossens. Der Sternenstand ist ihm nicht die Ursache, sondern das Zeichen dieser Zustände, wie der ausgehängte Kranz am Wirtshaus nicht die Ursache, sondern das Zeichen ist daß darin neuer Wein ausgeschenkt wird. (P 97)

Ist ‚König Lear‘ das Drama von den Mächten, die sich im Sturm und an Lear austoben, so ist Shakespeares Abschied von der Bühne – ‚Der Sturm‘ – das Schauspiel von der Bändigung ebendieser Mächte durch den (paracelsischen64) Magier Prospero. Doch den Sturm, der 1931 im Aufziehen war, vermochte niemand zu bändigen. Erich von Kahler scheint die Himmelszeichen schon wenige Monate nach dem Tod des Freundes in diesem Sinne gedeutet zu haben: „Was für ein goldener und schrecklicher Herbst! Es ist als brüte er über einem Sturm, der uns alle ergreifen und aufheben wird wer weiss wohin – dass der Gundel geborgen ist, sein schönes, seliges Leben gerettet, denk ich manchmal sogar gerne  .  .“.65

64 Vgl.

Harvey, Medicine (Anm.   59), S.   45–47. von Kahler an Elisabeth Gundolf, 19. Oktober 1931. In: Gundolf / Kahler, Briefwechsel (Anm.   13), Bd.   2, S.   512.

65 Erich

Rezensionen

Markus Pahmeier

Cornelia Heinsch: „sappho gibt es nicht“. Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Baden-Baden: Ergon 2020 (= Klassische Moderne 41), 301 S.

Seit der Antike ist Sappho für zahlreiche Künstlerinnen und Künstler ein Faszinosum, vor allem wegen ihres nur ansatzweise bekannten Lebens, wegen der Spekulationen und Legenden, die sich zu ihrem Leben gebildet haben, und wegen ihrer nur fragmentarisch überlieferten Dichtung, die vielen als besonders authentische Gefühls- und Liebesdichtung gilt – oft unter Vernachlässigung ihres pragmatischen Kontextes, ihres Sitzes im Leben. Auch Sapphos Status als „erste und nahezu einzige Dichterin der Antike“ trägt zum Faszinosum bei.1 Cornelia Heinsch widmet sich nun der „Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“. Zu Beginn ihrer Studie beschreibt Heinsch in Kapitel I nach dem Forschungsstand und dem Untersuchungskorpus ihre theoretische Herangehensweise. Heinsch behandelt sowohl Personen- als auch Werk­ rezeption. Für die Personenrezeption knüpft sie an das Konzept der „allelopoetischen Transformation“ an, das der Berliner SFB ‚Transformationen der Antike‘ entwickelt hat und dem zufolge sich „Referenzbereich“ und „Aufnahmebereich“ bei der „Anverwandlung“ gegenseitig erschaffen (S.   21). Dieses Konzept wendet sie auf drei Felder an: „Sappho als Dichterin: poetologische Aussagekraft“, „Sappho als Frau: Geschlechterdiskurs“ und „Sappho als archaische Dichterin: Antikeverhältnis“ (S.   22  f.). Für die Werkrezeption, also die Rezeption einzelner Fragmente, distanziert sich Heinsch von einem poststrukturalistischen Intertextualitätsverständnis, dem zufolge ein Text „in jeder Hinsicht intertextuell“ ist (S.   26). Sie geht für ihre Analysen vielmehr in den 1

Zu Sappho vgl. zuletzt vor allem das Nachwort Anton Bierls in: Sappho: Lieder. Griechisch/Deutsch. Hg. und übersetzt sowie mit Anmerkungen und Nachwort versehen von Anton Bierl, Ditzingen 2021, S.   387–447. Das Zitat entstammt dem Klappentext dieser Ausgabe.

https://doi.org/10.1515/9783110774320-012

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Fällen von einem relevanten intertextuellen Bezug aus, in denen im entsprechenden Gedicht ein „ostentatives Sichbeziehen“ erkennbar ist (S.   30). Nach der Theorie folgt Kapitel II über Sapphos Leben, ihre erhaltenen Fragmente und die wichtigsten Forschungspositionen zu ihr und ihrem Werk. Anschließend beschreibt Heinsch in Kapitel III die literarische Rezeption Sapphos vor dem 20. Jahrhundert. Ihr besonderer Fokus liegt dabei auf der Antike und dem 18. und 19. Jahrhundert. Der sapphischen Strophe in deutschsprachiger Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts ist ein eigener kurzer Abschnitt gewidmet. In Kapitel IV behandelt Heinsch die formalen Eigenschaften sap­ phischer Dichtung und deren Rezeption. Sie beschreibt zuerst die „Faszination des Fragmentarischen“ und anschließend die „Rezeption der sapphischen Strophe: Reminiszenz und Neubelebung“ (S.   83 und 97). Zur Rezeption der sapphischen Strophe analysiert Heinsch „Oden und Odenreminiszenzen“ von Rudolf Borchardt und Ricarda Huch, „Hymnische Oden“ von Josef Weinheber und Arthur Fischer-Colbrie, „Hymnische Porträtgedichte“ von Volker Ebersbach und Ludwig Greve sowie „Formalästhetische Experimente“ von Urs Allemann, Marion Poschmann und Jan Wagner (S.   99, 105, 108 und 113). Es folgt ein kleiner Abschnitt über die Rezeption einzelner Kola wie des Adoneus. In den beiden umfangreichsten Kapiteln analysiert Heinsch die Rezeption der Dichterfigur Sappho (Kapitel V) und die Rezeption einzelner sapphischer Fragmente (Kapitel VI). Zur Rezeption der Dichterfigur Sappho behandelt Heinsch Gedichte von Rainer Maria Rilke, Johannes Bobrowski, Marcus Roloff und Odile Kennel. Als Beispiele für die Rezeption einzelner sapphischer Fragmente analysiert sie Karl Mickels ‚Nach Sappho‘ zu fr.   16, Gabriele Eckarts ‚EROS, beim Lesen der Sappho‘ zu fr.   130 und Ann Cottens ‚Variationen über ein Fragment von Sappho‘ zu fr.   168b. Es folgen jeweils kurze Abschnitte zur Rezeption der entsprechenden Fragmente durch andere Lyrikerinnen und Lyriker mit kurzen Beispielanalysen. In einem Anhang beschreibt Heinsch die sapphische Strophe genauer und zitiert einige ausführlicher behandelte Fragmente Sapphos vollständig. Darüber hinaus enthält der Anhang ein Verzeichnis von Sappho-Gedichten, die zwischen 1900 und 2019 erschienen sind. Dieses Verzeichnis aktualisiert Heinsch unter sapphozeitlos.wordpress.com laufend und ist für Ergänzungen dankbar.

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Heinsch kommt zu folgendem Fazit (Kapitel VII): „Während die lyrische Sappho-Rezeption in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eher auf Sapphos Person konzentriert ist, der sie in Form von Rollengedichten oder Anrufen huldigt, setzt sich die neuere Lyrik verstärkt intertextuell mit ihrem Werk auseinander. Personen- und Werkrezeption durchdringen einander jedoch: Sappho verschmilzt mit ihrer Dichtung. Ihr Name evoziert ihre Dichtung, ihre Dichtung evoziert ihre Person.“ (S.   263) In der Personenrezeption habe sich das Bild von Sappho im Untersuchungszeitraum gegenüber früher verändert. Sie sei „nicht länger die frivole oder verlassene Dichterin, als die sie aus der Rezeptionsgeschichte bekannt“ sei; der „Mythos um sie und Phaon“ sowie ihre Sexualität grundsätzlich rückten zunehmend in den Hintergrund (S.   264). Sappho gelte nun „als unerreichbare, leidenschaftliche und bewunderte Dichterin“ (ebd.). Die jüngste Gegenwartslyrik schließlich sei „nicht länger von Mythen und Idealisierung bestimmt“, sondern vollziehe sich „kritisch-reflektiert und mit Bezugnahmen auf die Sappho-Philologie“ (S.   265). Manche Gedichte seien auf „der Suche nach Sappho“ und führten die Schwierigkeiten bei der Annäherung performativ vor, etwa durch Evokationen des Fragmentarischen (ebd.). In Bezug auf die Rezeption einzelner Fragmente kommt Heinsch zu folgenden Schlüssen: Fr.   130 werde insbesondere wegen des Oxymorons „süßbitter“ rezipiert, durch das ambivalente erotische Erfahrungen poetisch zum Ausdruck gebracht werden sollen (S.   267). Gabriele Eckart deute die ambivalente Eros-Erfahrung etwa als „Zustand zwischen Überforderung und Beglückung, der auf ein widersprüchliches Selbstverhältnis zurückzuführen“ sei, das zwischen „Selbstkontrolle und Nachgeben“ schwanke (S.   268). Fr.   16 interessiere vor allem wegen des Vergleichs zwischen Liebe und Krieg. Karl Mickel etwa nutze das Fragment für eine Parodie: Eros werde „hauptsächlich sexuell vereindeutigt und auf komisch-absurde Weise mit der Sphäre des NVA-Militärs verbunden“ (ebd.). Das Pleiaden-Gedicht fr.   168b habe „die größte Resonanz in der deutschsprachigen Lyrik des Untersuchungszeitraums hervorgerufen“ (ebd.). Es werde vor allem als „Ursprungsszene für unglücklich Liebende“ rezipiert, etwa in Ann Cottens Variationen über die „ewige Wiederholung der Situation des schlaflosen Liebenden […] und das Herumwälzen des Wachenden“ (ebd.). Die Studie von Cornelia Heinsch bietet einen sehr vielfältigen Überblick darüber, wie verschieden Sappho und ihr Werk von deutschspra-

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Markus Pahmeier

chigen Lyrikerinnen und Lyrikern des 20. und 21. Jahrhunderts rezipiert wurden. Neben der Verdeutlichung dieser Vielfalt überzeugt Heinschs Studie zum einen dadurch, dass sie drei verschiedene Rezeptionsarten gleichermaßen berücksichtigt: die Rezeption von Sapphos Person – bzw. genauer: der Spekulationen und Legenden über ihr Leben –, die Rezeption ihres nur fragmentarisch überlieferten Werkes und die Rezeption der Form dieses Werkes. Zum anderen überzeugt die Studie durch die sehr detaillierten und präzisen Analysen beispielhafter Gedichte. Von Stefan George bespricht Heinsch in einem Unterkapitel zu „Sappho und Erinna“, das Rilkes Sappho-Gedichte kontextualisiert, lediglich kurz das Gedicht ‚Erinna‘ aus den ‚Hirten- und Preisgedichten‘ (vgl. S.   128). Inwieweit Heinschs Studie die George-Forschung weiterführen kann, erscheint daher fraglich. Aber für die Erforschung der deutschsprachigen Lyrik zu Georges Lebzeiten ist Heinschs Studie auf jeden Fall ein sehr großer Gewinn – und auch für die Erforschung der deutschsprachigen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts insgesamt. Für die Zukunft wären Vergleiche mit anderssprachigen lyrischen Sappho-Rezeptionen sicher bereichernd.

Marco Rispoli

Gabriele Guerra / Maurizio Pirro (Hg.): Stefan George Napoli: Università degli Studi Suor Orsola Benincasa 2020 (= Cultura Tedesca 59), 157 S.

Eine George-Renaissance lässt sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur in Deutschland beobachten. Ein Beispiel für die internationale Dimension des Phänomens kann man unter anderem auch in Italien finden: Hier hat eine jüngere Germanistik seit etwa zwanzig Jahren mit einigen beachtenswerten monographischen Studien, mit Sammelbänden und vereinzelten Artikeln das frühere, auffallend lange Schweigen der Forschung gebrochen. Der vorliegende Band (ein thematisches Heft der Zeitschrift ‚Cultura Tedesca‘) liefert nun einen weiteren, wertvollen Beleg für die Aufmerksamkeit, der sich George in Italien erfreut. Die wichtigsten Stimmen, die in den letzten Jahren an dieser literaturwissenschaftlichen Blüte teilnahmen, erscheinen hier versammelt, so dass bei der Lektüre die Hauptlinien der neueren italienischen George-Forschung erkennbar werden. Hierbei handelt es sich jedoch um kein einförmiges Bild: Dass George in Italien zum Gegenstand eines regen Interesses wurde, lässt sich nicht zuletzt aus der Vielfalt der Forschungsansätze und -themen ersehen, die in diesem Band vertreten sind und sich von der Analyse einzelner Texte bis zur Betrachtung breiter kulturgeschichtlicher Kontexte, von der Untersuchung intertextueller Verhältnisse bis hin zur Beleuchtung gedanklich-theoretischer Konstellationen erstrecken. Umso ratsamer, auf jeden Beitrag einzeln einzugehen. Eröffnet wird der Band von Maurizio Pirro mit einem Artikel über Georges strenges Zyklusbewusstsein und den besonderen poetologischen Wert der Anfangsgedichte: ‚„Am Anfang aller neuen Dichtung“. Tre poesie incipitarie in George‘ (S.   15–28). Nicht nur in thematischer Hinsicht handelt es sich um einen besonders angemessenen Auftakt: Der Autor zeigt bei der Analyse der einzelnen Texte (‚Weihe‘, ‚Komm in den totgesagten park und schau‘, ‚Ich forschte bleichen eifers nach dem horte‘) jenes souveräne hermeneutische Vermögen, das bereits seine George-Monographie aus dem Jahr 2011 (‚Come corda troppo tesa. Stile https://doi.org/10.1515/9783110774320-013

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e ideologia in Stefan George‘) charakterisierte und diese zu einem der bedeutendsten Beiträge der neueren George-Forschung machte. Im darauffolgenden Artikel, ‚La dissidenza della parola. Stefan George e l’avanguardia‘ (S.   29–42), widmet sich Gabriele Guerra, ein ausgewiesener Kenner der avantgardistischen Moderne, dem Verhältnis zwischen Georges Poetik und den zeitgenössischen Avantgardebewegungen: Bei aller scheinbaren Gegensätzlichkeit der jeweiligen Gesten und Texte hebt Guerra mit überzeugenden Argumenten einige wichtige gemeinsame Züge hervor, nicht zuletzt im Anschluss an Gert Mattenklotts wegweisender Würdigung von Georges „ästhetischer Opposition“. Ein deutlicher oppositioneller Zug im Werk Georges und einiger Kreis-Mitglieder ergibt sich auch aus dem bedeutenden Beitrag von Francesco Rossi, ‚La Germania segreta. Poesia e ideologia nel circolo di Stefan George‘ (S.   67–81). Der Autor, der 2011 eine wichtige Monographie über den im George-Kreis grundlegenden epistemologischen Ansatz veröffentlichte (‚Gesamterkennen. Zur Wissenschaftskritik und Gestalttheorie im George-Kreis‘), untersucht hier das Mythologem eines ‚Geheimen Deutschland‘ anhand Hellingraths Vortrag über ‚Hölderlin und die Deutschen‘, Kantorowicz’ Antrittsvorlesung über ‚Das Geheime Deutschland‘ sowie Georges Dichtung selbst. Dabei wird nicht nur die berühmte Hymne ‚Geheimes Deutschland‘ aus dem ‚Neuen Reich‘, berücksichtigt; Rossi zeigt vielmehr, dass ein ideelles, durch eine romanisch-deutsche Symbiose geprägtes Bild Deutschlands in einigen Kompositionen aus dem ‚Siebenten Ring‘ präfiguriert wird und in seinem kontrafaktischen Wert als eine radikale Alternative zum real existierenden Deutschen Reich gelten kann. Mit dem Beitrag ‚Forma della filosofia e filosofia della forma. Stefan George e Georg Simmel‘ (S.   83–99) versucht Giancarlo Lacchin die theoretisch-poetologische Grundlage des formbewussten Schaffens von Stefan George zu untersuchen; als ertragreich erweist sich dabei der Vergleich mit Georg Simmels Ästhetik, indem der Autor einige interessante Perspektiven über die Affinitäten zwischen dem Dichter und dem Denker eröffnet, zugleich jedoch auf einige Differenzen hinweist, wie sie etwa in Georges Versen über den ‚Weisheitslehrer‘ Simmel Ausdruck finden. Die ästhetisch-dichterischen Zusammenhänge zwischen George und anderen Autoren stehen auch in zwei weiteren Artikeln im Vordergrund. Im ersten (‚Questioni di forma. Gottfried Benn e Stefan George‘, S.   113–

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125) widmet sich Amelia Valtolina den im Werk Gottfried Benns häufig auftauchenden George-Bezügen. Mit gedanklicher Eleganz liefert sie einerseits, in Hinsicht auf Benns Frühwerk, eine weitere Reflexion über das Verhältnis zwischen George und der literarischen Avantgarde; andererseits eine präzise Untersuchung von Georges Nachleben in den essayistischen und dichterischen Texten des späten Benn. Im anderen Beitrag (,Distorsioni del ‚classico‘ in George e Mallarmé‘, S.   127–139) versucht Massimo Blanco durch einen Vergleich mit Mallarmé die Beziehung Georges zu einem Klassizismus Winckelmannscher Prägung zu bestimmen, mit einigen durchaus interessanten Ausführungen, die sich jedoch nur selten auf bestimmte Textgebilde, viel häufiger auf einige Reihen von Adjektiven beziehen, die er für das Werk als charakteristisch erachtet (vgl. S.   128, 131, 133, 135). Gloria Colombo stellt schließlich in ihrem Beitrag (‚La poesia di Stefan George nelle scuole superiori del Terzo Reich‘, S.   141–157) fest, dass Georges Verweigerung jeglicher Indienstnahme seiner Person durch den Nationalsozialismus und die zunehmende Feindseligkeit der nationalsozialistischen Machthaber gegenüber seinem Nachleben nicht verhindern konnten, dass etliche Gedichte Georges Aufnahme in den Lesebüchern des NS-Regimes fanden. Natürlich hat sich in Italien das kritische Interesse an George stets im engen Dialog oder gar in produktiver Zusammenarbeit mit der deutschen Forschung entwickelt. Der Band wird daher durch die Beiträge von zwei an deutschen Universitäten tätigen Forschern, Wolfgang Braungart und Mario Zanucchi, abgerundet. Letzterer wirft Licht auf einen intertextuellen Bezug, der sonst unbeachtet geblieben, ja kaum vorstellbar erschien: In seinem Artikel (‚Stefan George und Felix Dörmann. Zu einem unbekannten Dichterdialog des Fin de siècle‘, S.   101–111) unternimmt er eine eingehende Analyse des knappen Briefwechsels zwischen den beiden Dichtern und hebt vor allem einige Affinitäten zwischen Dörmanns ‚Sensationen‘ und Georges ‚Algabal‘ hervor, die einen möglichen Einfluss des Wieners auf George als wahrscheinlich erscheinen lassen. Von besonderem Wert, auch dank der weiten und zugleich extrem scharfen Perspektive, die er darin vor Augen führt, ist der Beitrag von Wolfgang Braungart: ‚Poetische ‚Idealtypen‘. Stefan George – der Dichter als Autorität. Mit einem Blick auf Rilke und Hofmannsthal‘ (S.   43–66). Ausgehend von einer allgemeinen Reflexion über die Entwicklung der Literaturgeschichtsschreibung in der neuesten Zeit entwirft der Autor eine Typologie der dichterischen Produktivität um 1900. Anhand einer

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exemplarischen Lektüre von drei Gedichten unterscheidet er den „Typus des Dichters als Autorität“ (George) von einer durch Rilke vertretenen „Autorschaft aus rigoroser Subjektivität“ und einer von Hofmannsthal verkörperten „Autorschaft aus sozialer und schließlich politischer Sehnsucht“ (S.   54). Damit liefert er eine literaturgeschichtliche Skizze, die tatsächlich viel tiefer als die übliche Zuordnung dieser Autoren (Symbolismus – Dekadenz – Ästhetizismus) in das Verständnis der Dichtkunst um 1900 hineinführt und einen idealen Rahmen für die anderen hier versammelten Beiträge bildet. Im Wechsel der Stimmen und Sichtweisen bietet der Band alles andere als eine statische Bestandaufnahme der italienischen George-Forschung. Er gibt vielmehr Einblick in das bewegte Bild einer Forschungstätigkeit, die in ihrer Vielfalt weitere Entwicklungen vorauserkennen lässt und unter anderem die Hoffnung weckt, dass Georges Werk in der Zukunft eine umfassende italienische Übersetzung finden wird.

Aus der Stefan-George-Gesellschaft

Gabriele von Bassermann-Jordan

Nachrichten Zur Jahrestagung 2019 Am 2. November 2019 fand im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) eine kleine Tagung mit dem Titel „Poetik der Lesung“ statt. PD Dr. Annette Dorgerloh (HU Berlin) sprach über die ästhetische Inszenierung Georges im Salon von Sabine und Reinhard Lepsius um 1900 („Zwischen Salon und ‚Mysteriengrotte‘“), PD Dr. Friederike Günther (FU Berlin) widmete sich dem musikalisierten Sprechen bei Hof­manns­ thal und Celan („Tremolo und Tonverhalt“). Im Anschluss gab es eine Lesung des Lyrikers Oswald Egger („Triumph der Farben“), die von einer Ausstellung begleitet wurde. Die Jahrestagungen 2020 und 2021 mussten wegen der CoronaPandemie entfallen.

Zur Jahrestagung 2022 Am 4. und 5. November 2022 soll in Bingen die ursprünglich für 2020 bzw. 2021 geplante Tagung zum Thema „Umdichten und Nachdichten in der europäischen Literatur um 1900“ stattfinden. Zur Mitgliederversammlung 2. November 2019, LCB, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin Der Tätigkeitsbericht von Prof. Dr. Wolfgang Braungart, der seit November 2018 nicht mehr dem Vorstand der George-Gesellschaft angehört, wurde im Juni 2019 an die Mitglieder verschickt. Prof. Dr. Kai Kauffmann, der im November 2018 zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde, trug seinen Tätigkeitsbericht vor. Im März 2019 besuchte er das Stefan-George-Gymnasium in Bingen. Die Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums sehen sich immer wieder mit Kritik an ihrem Namenspatron Stefan George konfrontiert. Prof. Dr. Kauffmann stellte in seinem Vortrag am Gymnasium den Diskussionsstand in der Forschung dar. https://doi.org/10.1515/9783110774320-014

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Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan berichtete kurz über die finanzielle Lage. Im Jahr 2018 musste die Gesellschaft einen Druckkostenschuss von ca. 3.300 € für das George-Jahrbuch 12 aufbringen, zudem am 12. Juli 2018 eine Veranstaltung anlässlich Georges 150. Geburtstags sowie die reguläre Jahrestagung am 10./11. November 2018 ausrichten. Dennoch übersteigen im Jahr 2018 die Ausgaben die Einnahmen nur um ca. 800 €. Dies ist einem Zuschuss der ALG von 950 € sowie einer Spende von 1.000 € von der „Stiftung zur Förderung begabter und bedürftiger Jugendlicher sowie junger Schriftsteller und Publizisten im Stefan-George-Haus in Bingen“ zu verdanken. Dr. Markus Pahmeier und Kim-Kristin Walla haben den Kassenbericht 2018 geprüft und alles in bester Ordnung gefunden. Für die Prüfung der Bücher des Jahres 2019 stehen beide weiterhin zur Verfügung. Auf Antrag von Prof. Dr. Wolfgang Braungart wurde der Vorstand bei Enthaltung der Stimmen der Vorstandsmitglieder einstimmig entlastet. Sodann erfolgte die Neuwahl eines / einer stellvertretenden Vorsitzenden, da Prof. Dr. Christine Haug (München) aus gesundheitlichen Gründen ihren Rücktritt aus dem Vorstand der Stefan-George-Gesellschaft erklärt hatte. Der Vorstand dankte Prof. Dr. Haug sehr herzlich für die langjährige gute Zusammenarbeit und ihr Engagement für die Gesellschaft. Dies betrifft unter anderem die von ihr initiierte Analyse der Buchkunst Georges im Kontext der Buchkultur um 1900 sowie die Aufarbeitung der Beziehung zwischen Stefan George und seinem Verleger Georg Bondi. Als Nachfolger wurde der Wissenschaftshistoriker Janus Gudian (Frankfurt am Main) vorgeschlagen, der einstimmig von den Mitgliedern gewählt wurde und die Wahl annahm. Zur Mitgliederversammlung 7. November 2020, online Zu Beginn der Mitgliederversammlung gedachten die Anwesenden der verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft, Liselotte Bergh, Ilse und Rudolf Müngersdorff. Sodann folgte der Tätigkeitsbericht des Vorsitzenden, Prof. Dr. Kai Kauffmann, der im Juni 2021 an die Mitglieder der Gesellschaft verschickt wurde. Die Filmemacherin Maren Adler hat einen kurzen Film über das Stefan-George-Museum (ca. 3 Minuten) erstellt, der auf der Homepage der Gesellschaft zu sehen ist.

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Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan berichtete über die finanzielle Lage. Für das Jahr 2019 kann die Gesellschaft einen Überschuss von ca. 3.700 € ausweisen, der der Finanzierung des Films dient. Dr. Markus Pahmeier und Kim-Kristin Walla haben den Kassenbericht 2019 geprüft und alles in bester Ordnung gefunden. Für die Prüfung des Kassenberichts 2020 stehen Dr. Pahmeier und Dr. Sven Berger zur Verfügung. Auf Antrag von Dr. Maik Bozza wurde der Vorstand bei Enthaltung der Stimmen der Vorstandsmitglieder einstimmig entlastet. Zur Mitgliederversammlung 18. September 2021, online Zu Beginn der Mitgliederversammlung gedachten die Anwesenden der verstorbenen Mitglieder der Gesellschaft, Dr. Dr. h. c. Georg Buddruss und Prof. Dr. Christian Farenholtz. Prof. Dr. Kai Kauffmann konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht die Mitgliederversammlung leiten. Prof. Dr. Cornelia Ortlieb verwies auf den Tätigkeitsbericht des Vorsitzenden vom 16. Juni 2021, der den Mitgliedern der Gesellschaft vorlag. Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan berichtete über die finanzielle Lage. Da wegen der Corona-Pandemie keine Jahrestagungen in Präsenz stattfinden konnten, hat sich die finanzielle Situation der George-Gesellschaft weiter stabilisiert. Dr. Markus Pahmeier und Dr. Sven Berger haben den Kassenbericht 2020 geprüft und alles in bester Ordnung gefunden. Für die Prüfung des Kassenberichts 2021 stehen beide weiterhin zur Verfügung. Dr. Maik Bozza berichtete über die Arbeit des in der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) in Stuttgart beheimateten Stefan George Archivs. Trotz der Einschränkungen durch die Pandemieprävention sind im Bereich der Erschließung, v. a. aber bei den digitalen Angeboten, größere Fortschritte gemacht worden. Homepage des StGA: https:// www.wlb-stuttgart.de/sammlungen/stefan-george-archiv. Auf Antrag von Dr. Maik Bozza wurde der Vorstand bei Enthaltung der Stimmen der Vorstandsmitglieder einstimmig entlastet.

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Zum Stefan-George-Museum Janus Gudian engagiert sich im Rahmen seiner Tätigkeit als stellvertretender Vorsitzender der Stefan-George-Gesellschaft insbesondere für das Museum. Um dem Manko des fehlenden Katalogs abzuhelfen, soll auf der Homepage der Gesellschaft jeweils ein „Objekt des Monats“ kurz besprochen werden, um so nach und nach einen Museums-Katalog entstehen zu lassen. Alle Mitglieder der George-Gesellschaft sind herzlich eingeladen, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen. Zusätzlich möchte Gudian an das Stefan-George-Gymnasium herantreten: Schülerinnen und Schüler (bevorzugt eines Leistungskurses Deutsch) können Objekte aus dem Museum besprechen, sie bekommen damit ihre erste Online-Publikation und werden an das Museum herangeführt. Voraussetzung, um das „Objekt des Monats“ regelmäßig mit einer Abbildung und einem kurzen Text vorstellen zu können, ist die professionelle technische Überarbeitung der Homepage der George-Gesellschaft. Schülerpreis Der Preis für die beste Leistung im Fach Deutsch im Abiturjahrgang 2018/19 ging an Milena Breitenbach, im Jahrgang 2019/20 an Elena Klein, im Jahrgang 2020/21 an Markus Gaskin. Die Preisträger*innen erhalten für 5 Jahre eine kostenlose Mitgliedschaft in der Stefan-George-Gesellschaft. Neuerscheinungen (Auswahl von Buchtiteln) 2020 und 2021 Stefan George. Hg. von Gabriele Guerra / Maurizio Pirro, Neapel 2020 (Cultura Tedesca, Bd.   59;) George-Jahrbuch 13 (2020/2021) Dank Die Stefan-George-Gesellschaft hat vielfältigen Dank für Förderung und Unterstützung auszusprechen – den Mitgliedern und den genannten Institutionen für Spenden, der Stadt Bingen für die jährlich wiederkehrende Spende. Besonderer Dank gilt Herrn und Frau Giesbert, die bis Jahresende 2020 das Museum betreuten und die Museumsaufsicht koor-

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dinierten. Seit Anfang Januar 2021 nimmt Michael Bieberich diese Aufgaben wahr. Auch ihm gilt der herzliche Dank des Vorstandes. Weitere Informationen zur Gesellschaft und ihren Veranstaltungen erhalten die Mitglieder durch die ausführlichen Rundschreiben im Frühsommer eines jeden Jahres.

Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen

Vorstand (seit November 2019) Prof. Dr. Kai Kauffmann (Vorsitzender) Universität Bielefeld Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld Tel.: 0521-106-3712 E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Cornelia Ortlieb (stellv. Vorsitzende) Freie Universität Berlin Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin Tel.: 030-83866789 E-Mail: [email protected] Janus Gudian M. A. (stellv. Vorsitzender) Goethe-Universität Frankfurt am Main Theodor-W.-Adorno-Platz 1 D-60323 Frankfurt am Main Tel.: 069-798-12343 E-Mail: [email protected] Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan (Geschäftsführerin) Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 80799 München Tel.: 089-2180-2334 E-Mail: [email protected] Der Oberbürgermeister der Stadt Bingen gehört dem Vorstand kraft Amtes an. https://doi.org/10.1515/9783110774320-015

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Stefan-George-Gesellschaft e. V. Bingen

Kuratorium Dr. Hans-Peter Geh (Bad Homburg), Prof. Dr. Hannes Kopf, Präsident der Struktur- und Genehmigungsdirektion Süd (Neustadt an der Weinstraße). Beirat Prof. Dr. Katharina Mommsen (Stanford / USA), Prof. Dr. Christoph Perels (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Klaus Reichert (Frankfurt am Main), Prof. Dr. Reimar Schefold (Leiden / NL), Prof. Dr. Michael Thimann (Göttingen), Jutta Schloon (Bergen / N), Diana Richtsteiger (St. Goarshausen). Stefan-George-Museum Stefan-George-Haus Freidhof 9 D-55411 Bingen am Rhein Ausstellung zu Leben und Werk Stefan Georges. Korrespondenzadresse für das Museum ist die Adresse der Geschäftsführerin. Periodika George-Jahrbuch Im Auftrag der Stefan-George-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Kai Kauffmann und Prof. Dr. Cornelia Ortlieb (ab George-Jahrbuch 13, 2020/2021). Mitgliedschaft Die Mitgliedschaft wird durch schriftliche Beitrittserklärung gegenüber dem Vorstand (Brief an die Geschäftsführerin) erworben. Der Mitgliedsbeitrag beträgt z. Zt.   45 € jährlich, für Studierende (mit Studierendenausweis) 20 €.

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Bankverbindung Deutschland: Sparkasse Rhein-Nahe IBAN: DE88 5605 0180 0030 0447 70 SWIFT-BIC.: MALADE51KRE

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Gabriele von Bassermann-Jordan, Deutsche Philologie, Arbeitsstelle ‚Literatur in Bayern‘, Ludwig-Maximilians-Universität München, Schellingstraße 3, 80799 München Dr. Maik Bozza, Stefan George Archiv / Württembergische Landesbi­ bliothek, Konrad-Adenauer-Straße 10, 70173 Stuttgart Dr. Annette Dorgerloh, Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin PD Dr. Friederike Felicitas Günther, Freie Universität Berlin, Institut für deutsche und niederländische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Dr. Wilfried Ihrig, Trautenaustraße 24, 10717 Berlin Prof. Dr. Kai Kauffmann, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld Dr. Joe Paul Kroll, Bernhard-May-Straße 58  f, 65203 Wiesbaden Christin Krüger, Kopenhagener Straße 22, 10437 Berlin Apl. Prof. Dr. Reinhart Meyer-Kalkus, Mommsenstraße 23, 10629 Berlin Dr. Ute Oelmann, Faullederstraße 11, 70186 Stuttgart Dr. Markus Pahmeier, Freier Lektor, Dieselstraße 23, 32657 Lemgo Prof. Dr. Marco Rispoli, Via E. Vendramini 13, 35137 Padova, Italien Paulus Tiozzo, Kullegatan 9, 41262 Göteborg, Schweden Prof. Dr. Mario Zanucchi, Albert-Ludwigs-Universität, Deutsches Seminar: Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg